Sechs Monate früher
Die Zeit nach Epiphanias
Januar und Februar
I
Hadley stellte den Wagen gegenüber der Kirche ab, erfüllt von einem Gefühl der Erleichterung, das sie seit Genevas Geburt nicht mehr empfunden hatte. Vielleicht war es sogar noch intensiver. In der Rangfolge der schrecklichsten Dinge zählten dreieinhalb Tage unterwegs mit zwei Kindern unter zehn Jahren mindestens genauso viel wie über zwanzig Stunden Wehen.
Sie drehte sich um und kontrollierte den Rücksitz. Genny schlief, ihr Kindersitz versank beinah unter Unmengen von Stofftieren, Buntstiften, Wasserflaschen und Bilderbüchern. Hudson schaute von seinem Gameboy auf, sein Gesicht war verkniffen und müde. »Wo sind wir, Mom?«
»Wir sind da, Liebling. In Millers Kill. Das ist die Kirche, wo dein Opa arbeitet.«
Seine Augen wurden groß, wodurch er wie ein verhungernder Waisenjunge aussah. Sie stopfte ihn mit Essen voll, aber seine nervöse Energie schien alles zu verbrennen, ehe er ein bisschen Speck ansetzen konnte. Das hiesige Klima würde nicht einfach für ihn werden.
»Warum warten wir nicht in Opas Haus auf ihn?«
»Ich habe keinen Schlüssel. Wir sind früher angekommen, als ich gedacht hatte. Opa wird überrascht sein. Komm, zieh deinen Pulli an, dann gehen wir hallo sagen.«
Er betrachtete zweifelnd seine Schwester. »Sollen wir Genny wecken?«
Hadley schnallte sich ab und drehte sich um, um ihre Sechsjährige besser sehen zu können. Ausgeschaltet wie die sprichwörtliche Glühbirne. In L.A. wäre es ihr nicht im Traum eingefallen – sie hätte niemals eines der Kinder im Wagen gelassen. Hier … sie schaute flüchtig auf die vereisten Schneehaufen, die den Parkplatz säumten, die bleifarbenen, schweren Schneewolken. Eisig kalte Luft wehte durch das halb geöffnete Fenster. »Es ist zu kalt«, meinte sie. »Sie muss mitkommen.«
»Mama«, protestierte er. »Du könntest den Motor anlassen. Den klaut doch keiner.«
Das war allerdings richtig. Sie öffnete den Mund. Änderte Seit Ohio hab ich was gerochen, ich fürchte, der Auspuff hat noch ein Loch in »Frische Luft wird ihr guttun«.
»Frische Luft«, wiederholte Hudson mit aller Verachtung, die ein Neunjähriger aufbringen konnte. »Wir fahren doch seit New York mit zwei offenen Fenstern.«
»Sie sind nur einen Spalt geöffnet. Hör auf zu nörgeln.« Sie beugte sich über die Lehne und rüttelte Geneva sanft. »Aufwachen, meine Kleine.« Während sie ihre benommene Tochter in die Jacke steckte, dachte sie darüber nach, wie viel Zeit und Mühen sie täglich darauf verwendete, ein Das können wir uns nicht leisten zu vermeiden. Die Beutel mit Spielzeug und Büchern von der Wohlfahrt. Die Styroporschachtel mit belegten Sandwiches und Billig-Limo. Die Tragetasche voller Hörbücher, die sie zurück an die Leihbücherei schicken musste. Damit sie auf die Fragen Können wir zu Toys’r’Us gehen? Kann ich ein Buch haben? Können wir zu McDonald’s fahren? Können wir einen DVD-Player leihen? eine plausible Antwort geben konnte. Die nicht lautete Das können wir uns nicht leisten.
Einen Augenblick schien es draußen gar nicht so kalt zu sein. Doch während sie darauf wartete, dass Hudson sein Spiel beendete, spürte sie die Kälte, die durch ihre Jeans und ihren Pullover drang, an der Haut. Sie fragte sich, ob die »Kochender Frosch«-Analogie auch andersherum funktionierte. Wenn man mit einer normalen Temperatur begann und diese kontinuierlich absenkte, würde man dann merken, dass man erfror? Sie zitterte. Dies war der Ort, an den sie ihre Kinder gebracht hatte, die kalte Stadt, die ihre Mutter mit achtzehn Jahren verlassen hatte, um niemals zurückzukehren. Jetzt tat sie das Gegenteil, kehrte der Welt und jedem, der sie kannte, den Rücken.
Hudson kletterte heraus. Endlich. »Mach die Tür zu«, ermahnte sie ihn, dann nahm sie Genny auf den Arm und eilte mit den Kindern über die Straße zur Kirche. Hadley hatte mindestens einen Parka in Großvaters Haus, der ihr noch passte, aber bei ihrem letzten Besuch im Winter waren die Kinder ein und vier Jahre alt gewesen. Sie würde ihnen Jacken kaufen müssen. Mützen. Handschuhe. Stiefel. Sie hoffte, dass es in dieser Gegend eine Wohlfahrt gab.
Im Inneren von St. Alban’s war es nur unwesentlich wärmer als draußen. Während der zehn Jahre, die ihr Großvater hier als Küster arbeitete, war sie selbstverständlich schon hier gewesen. Die Steinsäulen, Holzschnitzereien und reichen Buntglasfenster hatten ihr immer eine Gänsehaut verursacht. Als beträte man das Mittelalter.
Geneva hob den Kopf von Hadleys Schulter. »Mama, ist das ein Schloss?«
Hadley lachte. »Nein, Baby, eine Kirche. Komm, Hudson, hier entlang.« Sie ging zu der Tür, die zu den Büroräumen führte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Hadley unterdrückte einen überraschten Aufschrei. Neben einem Fenster, auf dem Buntglaskinder in alle Ewigkeit vor den Thron Gottes geführt wurden, trat eine Frau aus den steinernen Schatten. Schwarzes Hemd. Schwarzer Rock. Es dauerte einen Moment, ehe Hadley merkte, dass sie keinen Rolli, sondern einen Priesterkragen trug.
»Ich bin Clare Fergusson.« Sie kam zu ihnen hinüber, so dass Hadley ihr Gesicht erkennen konnte, Wangenknochen, Kinn und Nase, nur Ecken und Kanten. »Ich bin die Pastorin von St. Alban’s.« Sie lächelte herzlich, trotzdem umgab eine abgrundtiefe Traurigkeit sie, die das Lächeln nicht verbergen konnte.
»Ich weiß«, sagte Hadley. »Ich meine, ich habe von Ihnen gehört. Glenn Hadley ist mein Großvater.«
Reverend Fergussons Lächeln versuchte, stärker zu werden. »Sie müssen Hadley Knox sein. Mr. Hadley redet schon seit vierzehn Tagen von Ihrem Besuch.« Sie warf einen kurzen Blick zur Kirchentür. »Hm, falls Sie auf der Suche nach ihm sind, ich fürchte, er ist kurz zum Mittagessen verschwunden, und dann wollte er zum Eisenwarenladen. Ich schätze, er ist in einer Stunde zurück.«
Hadley stöhnte »O nein«, ehe sie sich bremsen konnte.
Reverend Fergusson sah sie an. Dann die Kinder. »Sie haben eine lange Reise hinter sich.« Es war keine Frage. »Kommen Sie, begleiten Sie mich. Sie können im Sonntagsschulraum auf Ihren Großvater warten. Dort stehen Sessel und ein bequemes Sofa und« – sie lächelte Hudson an – »ein Fernseher mit Videorekorder.«
»Haben Sie Filme?«, erkundigte sich Hudson, als sie den zu den Pfarrbüros führenden Flur betraten.
»Ja. Aber ich warne dich, die sind alle religiös. Wir haben Veggie Tales, Der Prinz von Ägypten, Joseph – König der Träume und natürlich die ganzen Star Wars-Filme.«
»Die Star-Wars-Filme sind nicht religiös«, antwortete Hudson.
»Nicht?« Reverend Fergusson blieb mit offenem Mund auf dem Treppenabsatz stehen. »Verflixt, wieso hat mir das nie einer gesagt?«
Das zögernde Lächeln ihres Sohnes tat Hadley gut. Scheidung, die Änderung der Lebensumstände, der Umzug – die vergangenen Monate waren für ihren kleinen Jungen brutal gewesen. Sie folgte ihm die Treppe hinunter in die Krypta, während sie zusah, wie er sich eng an die Pastorin hielt.
»Als Nächstes behauptest du noch, Power Rangers wären auch nicht religiös.«
Hudson kicherte. »Sind sie nicht.«
»Verdammt, da wird jemand Rede und Antwort stehen müssen. Wer hat diese unpassenden Filme bloß gekauft?« Ihre Augen wurden groß, und sie presste die Hand vor den Mund. »Oh-oh.«
Hudson lachte laut, ahnte den Witz. »Du! Das warst du!«
Reverend Fergusson sackte in sich zusammen, während sie durch den dämmrigen Flur stapfte. »Ich schäme mich so«, klagte sie. Hudson kicherte wieder. »So, da wären wir.« Sie öffnete eine Tür und schaltete das Licht ein. Der Raum war so gemütlich, wie ein fensterloses, neonbeleuchtetes Zimmer nur sein konnte. Hudson lief los, um das niedrige Bücherregel mit Spielzeug zu untersuchen, und sogar Genny wand sich aus den Armen ihrer Mutter, um die Spielzeugküche in der Ecke genauer zu mustern.
Reverend Fergusson rollte den Fernsehwagen von der Wand weg und schloss den Fernseher an. »Wir haben hier unten keinen Empfang, deshalb ist der Videorekorder schon angeschlossen«, erklärte sie. »Man schaltet ihn einfach ein und drückt auf Play.« Sie richtete sich auf. Musterte Hadley auf dieselbe Weise wie oben an der Treppe, als könnte sie durch ihre Haut in sie hineinschauen. »Was kann ich für Sie tun?«, sagte sie halb fragend, halb zu sich selbst.
Die Antwort rutschte ihr heraus, ehe Hadley sich bremsen konnte. »Verraten Sie mir, wo ich hier in der Gegend einen Job finde.« Sie hätte es am liebsten sofort zurückgenommen. Die Pastorin hatte etwas gemeint wie Soll ich Ihnen das Bad zeigen? oder Möchten Sie etwas trinken?. Wollte gastfreundlich sein. Mann, sie glaubte, Hadley würde ihren Großvater besuchen, nicht ihr Leben neu organisieren.
Aber ihre Augen wurden schmal und ihre Miene geistesabwesend, als dächte sie intensiv nach. »Was für einen Job suchen Sie denn?«
Einen, bei dem ich nicht mit menschlichen Wesen sprechen muss. Klar, großartig. »Etwas, für das man keine College-Ausbildung braucht. Ich habe nur den Highschool-Abschluss.«
Reverend Fergusson, die vermutlich bis zum Abwinken Abschlüsse erworben hatte, zuckte mit keiner Wimper. »Im Sommer gibt es eine Menge Saisonjobs. Landarbeit, auf dem Bau. Die ganzen Hotels in Lake George suchen dann Kellnerinnen und Zimmermädchen. Aber im Moment?« Sie runzelte die Stirn. »Shape stellt niemanden ein. Die Reid-Gruyn-Mühle musste Leute entlassen, nachdem sie übernommen wurde. Ich werde herumfragen, ob jemand, den ich kenne, eine Stelle für Sie hat. Was haben Sie in … Woher kommen Sie noch mal?«
»Kalifornien. L.A.«
»Aha.«
»Was?«
Reverend Fergusson errötete. Verlegen. »Ich hatte mir gedacht, dass Sie nicht von hier sind. Wegen Ihrer Bräune. Und Ihrer Frisur.«
Hadley fuhr sich durch die kurzen Haare. »Was ist damit?«
»Na ja, sie ist … trendy. Hier in Millers Kill ist trendy nicht gerade häufig.«
Hadley hätte fast gelacht. »Ein Sonderangebot der Kosmetikerschule. Fünfzehn Dollar. Zwanzig, wenn man sie auch waschen und föhnen lassen möchte. Was ich nicht wollte.«
»Waren Sie« – die Pastorin zögerte, als suchte sie nach einer taktvollen Formulierung – »Schauspielerin? Oder Model?«
Hadley dachte einen Augenblick nach, ehe sie antwortete. »Das wollte ich werden, als ich nach Kalifornien ging. Als ich dort ankam, stellte ich fest, dass umwerfende Mädchen dort buchstäblich im Dutzend billiger sind.« In ihrer Stimme lag keine Bitterkeit mehr. Es war so lange her, es schien, als wäre es etwas, das sie in einem Film gesehen, nicht etwas, das sie selbst erlebt hatte. »In den letzten Jahren habe ich für eine Firma gearbeitet, die Inventuren durchführt, als Kellnerin, solche Jobs. Davor hatte ich eine Stelle bei der staatlichen Gefängnisbehörde.«
»Als Sekretärin?«
»Als Wache.«
Die Augenbrauen der Pastorin schossen nach oben. »Aha.« Ihr Mund verzog sich, als würde sie über etwas lächeln, das nicht besonders komisch war. »Eine offene Stelle hier in der Stadt wüsste ich. Einer der Officer ist zur State Police nach Latham gegangen. Das Police Department sucht jemanden.«
II
Clare saß am Schreibtisch, hypnotisiert vom fallenden Schnee. Während ihr Predigtentwurf vor ihr abkühlte, beobachtete sie die an den Butzenscheiben vorübertreibenden Flocken, jede einzelne ein leuchtender Fleck vor dem rußgrauen Himmel. Schnipp, schnipp, schnipp. Sie war schon den ganzen Vormittag in dieser Stimmung. Unfähig, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Unfähig, sich deswegen Gedanken zu machen – oder wegen etwas anderem.
Mr. Hadley steckte den Kopf zur Tür herein, brachte den Duft von Möbelpolitur und Zigarettenrauch mit. »Morgen, Father.« Seine übliche Anrede für sie. Sie nahm an, dass er sie für geschlechtsneutral hielt – wie Captain, ihren zweiten, kürzlich erworbenen Titel. »Danke, dass Sie sich gestern um meine Enkelin gekümmert haben.« Mr. Hadleys North Country Akzent ließ es wie gessern klingen.
»Wie geht es ihnen?«
Er grunzte. »Viel besser, jetzt, wo sie ihren Scheißhaufen von Ehemann in der Schüssel runtergespült hat. ’tschuldigung, Father.«
»Hm.« Clare unterdrückte ein Lächeln. »Muss schön sein, sie wieder zu Hause zu haben.«
»Es ist eigentlich nicht ihr Zuhause, aber ziemlich nah dran. Meine Tochter, Gott schütze sie, hat das Mädchen durchs ganze Land geschleppt. Konnte einfach nicht zur Ruhe kommen, meine Sarah. Der einzige Ort, den Honey öfter als ein Mal gesehen hat, war hier. Sarah hat sie früher jeden Sommer zu mir und meiner Frau geschickt.«
Clare hatte die Übersicht verloren. »Honey?«
»Das ist ihr Taufname. Sie hat ihn als Teenager zu Hadley geändert.«
Das kann ich verstehen.
»Na ja, eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich Ihnen ein Feuer anzünden soll?«
Clare blickte zum Kamin, das Beste an ihrem Neunzehntes-Jahrhundert-Büro. An kalten Wintertagen konnte sie sich vor seiner Ziegel- und Eiseneinfassung wärmen. Darin lag eine Metapher für ihr Leben, aber sie war zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken. »Ich glaube nicht, Mr. Hadley. Ich breche bald zu einem ökumenischen Lunch in Saratoga auf.«
»Gut, aber ich bringe Ihnen noch ein bisschen Holz. Soll diese Woche kälter als im – Sie wissen schon, was – eines norwegischen Brunnenbauers werden.« Er zog sich zurück, den Duft nach Zitrone und Tabak hinterlassend, der seinen Abgang begleitete. Sie hörte, wie er jemanden im Flur begrüßte – »Hallo, Father« –, und war deshalb nicht überrascht, als ihre Verabredung zum Mittagessen eine halbe Stunde zu früh in der Tür stand, groß und hager und vorgebeugt wie ein pedantischer Geier.
»Father Aberforth.« Sie erhob sich vom Schreibtisch, um den alten Diakon zu begrüßen, der allgemein als Auftragskiller des Bischofs bekannt war.
»Ms. Fergusson.« Sie war überrascht, als er ihre Hand in seinen viel größeren Händen festhielt. Er musterte sie mit seinen durchdringenden schwarzen Augen. »Wie geht es Ihnen?«, erkundigte er sich. Es war keine Floskel.
»Verzeihen Sie, haben wir heute eine Sitzung?« Der Diakon der Diözese war in die Rolle ihres Beraters und Beichtvaters gerutscht. Es war keine einfache Beziehung. Ihre Gespräche waren wie brühheiße Duschen: reinigend, aber schmerzhaft.
»Sarkasmus steht Ihnen nicht. Wie geht es Ihnen?«
Sie senkte den Blick auf das Ranken- und Früchte-Muster des Teppichs. »Na schön. Einigermaßen.«
Er ließ zu, dass sie ihre Hand befreite. »Einigermaßen, hm?« Er ließ seinen turmhohen Körper in einen der Admiralssessel vor dem kalten Kamin sinken. »Ich nehme an, es ist immer eine Erleichterung, wenn man weiß, dass man nicht vor Gericht gezerrt und wegen Totschlags angeklagt wird.« Willard Aberforth war stets äußerst unverblümt.
Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Der Brief des Staatsanwalts des Staates New York lag noch immer dort, halb verdeckt von dem Entwurf der Predigt.
Nach Anhörung der Beweise im Fall des Todes von Aaron MacEntyre hat die Grand Jury darauf verzichtet, Anklage zu erheben. Deshalb beurteilt der Staat New York im Einklang mit der Aussage des Leichenbeschauers Ihre Mitwirkung an den Ereignissen, die zu besagtem Tod führten, als Notwehr im Sinne des Strafgesetzbuches des Staates New York, Abschnitt II, S. 1–12.
»Oh, ja«, sagte sie. »Ich bin gerade noch so davongekommen.« Sie konnte die Verbitterung in ihrer Stimme hören.
»Sie haben richtig gehandelt, Mädchen. Ich weiß es, der Bischof weiß es, und der Staat New York in seiner richterlichen Weisheit weiß es auch. Denken Sie nicht mehr daran. Sie haben drei Leben gerettet. Vielleicht mehr.« Er hielt inne. »Haben Sie etwas von Ihrem Polizeichef gehört?«
»Nein.« Ihr Ton hätte einen weniger mutigen Mann abgeschreckt, aber der Diakon, ein Überlebender der Schlacht um den Changjin-Stausee, war nicht aufzuhalten.
»Er ist jetzt Witwer«, sagte er.
»Ja.«
»Trauer braucht ihre Zeit.«
»Ja.«
»Vielleicht sollten Sie in ein oder zwei Monaten auf ihn zugehen.«
Sie faltete die Hände über der Rückenlehne ihres Stuhls und sah zu, wie die Knöchel weiß wurden. »Er wird nicht wollen, dass ich in ein oder zwei Monaten auf ihn zugehe – oder vier. Ich bin der Grund, warum seine Frau tot ist.«
Ein weiteres Schweigen. »Hätten Sie die Güte, sich zu mir umzudrehen, damit ich nicht mit Ihren Schultern sprechen muss?«
Sie drehte sich um.
Aberforth betrachtete sie aus halbgeschlossenen Augen. »Glauben Sie das wirklich?«
»Ja.«
Er schüttelte den Kopf so heftig, dass seine Bluthundwangen in Bewegung gerieten. »Gütiger Himmel, Mädchen, Ihr Stolz ist wirklich monumental.«
»Mein Stolz?«
»Ihr Stolz. Haben Sie beim Erzbischof die volle Beichte abgelegt und Reue bezeugt oder nicht?« Er verschränkte seine Arme.
»Das wissen Sie doch.«
»Hat er Sie im Namen des Herrn von Ihren Sünden losgesprochen?«
Sie wusste, wohin das führte, und es gefiel ihr nicht. »Hat er.«
»Wer sind Sie dann, anzunehmen, dass Ihre Fehler, Ihre Fehlurteile und Ihre Irrtümer so schwer wiegen, dass Gott selbst davon betroffen wäre? Glauben Sie wirklich, dass Ihre Fähigkeit, zu sündigen, Gottes Fähigkeit, zu vergeben, übertrifft?«
Sie zwinkerte heftig. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht …«
»Sie klammern sich an Ihre Fehler wie eine Frau an ihren Liebhaber.« Er beugte sich vor. »Einen Liebhaber, der sie betrogen hat.«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Sind Sie wütend auf Ihren Polizeichef?«
Sie biss die Zähne zusammen. »Natürlich nicht. Er ist derjenige, der leidet.«
»Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, erwog er die Möglichkeit, dass vielleicht Sie einen Mord begangen hätten.«
»Eine Stunde lang! Gott, warum erzähle ich Ihnen überhaupt so etwas?«
»Wem sonst könnten Sie davon erzählen?«
Russ. Aber diese Zeiten waren vorüber. Jetzt gab es niemanden mehr.
»Seine Ehe hat ihm mehr bedeutet als Sie«, fuhr Aberforth fort.
»Ich habe seine Ehe auch für bedeutender als mich gehalten.«
»Aber als er in Schwierigkeiten steckte, stand er wieder bei Ihnen vor der Tür und bat um Ihre Hilfe. Doch im Moment seiner höchsten Not kehrte er Ihnen den Rücken.«
»Seine Frau war gerade erst gestorben.«
»Und seitdem hat er hartnäckig Ihre Existenz ignoriert. Dennoch hegen Sie keinen Groll gegen ihn. Nicht den geringsten.«
Sie drehte sich wieder zum Schreibtisch. Umklammerte die Stuhllehne, damit das Zittern aufhörte. Atmete tief ein. Aus. Wartete, bis sie sicher war, dass ihre Stimme nicht brach. »Sie haben recht. Ich muss darüber hinwegkommen … über das Gefühl, für ihren Tod verantwortlich zu sein. Ich werde mich darauf konzentrieren.«
»Ach, meine liebe Ms. Fergusson.«
Jetzt drehte sie sich zu ihm um.
»Sie sind in vielerlei Hinsicht eine sehr gute Priesterin. Und eines Tages, wenn Ihre Eigenwahrnehmung mindestens halb so deutlich sein wird wie Ihre Wahrnehmung anderer, werden Sie eine außergewöhnliche Priesterin sein.« Er faltete die Hände. »Doch noch nicht heute, denke ich.«
III
Clare war zutiefst dankbar, dass der ökumenische Lunch eine gemischte Tischordnung hatte. Nach der nervenaufreibenden Fahrt von Millers Kill – die durch Father Aberforths Beharren, mit seinem Isuzu Scout auf der gesamten Strecke nach Saratoga stetig zehn Meilen unter der erlaubten Geschwindigkeit zu bleiben, nicht eben entspannter wurde – war sie eine Weile nicht sonderlich erpicht auf weitere Zweisamkeit mit ihrem geistlichen Beistand. Der Diakon saß am anderen Ende des Festsaals im Holiday Inn, während Clare an einem Tisch mit einer Nonne, einem lutherischen Pastor, einem Geistlichen der Vereinigten Kirche Christi und einem Baptistenprediger plaziert war – die sämtlich mindestens fünfundzwanzig bis dreißig Jahre älter waren als sie. Die einzige andere Person in ihrem Alter war Father St. Laurent, ein umwerfend gutaussehender römisch-katholischer Priester, der den Zölibatsschwur der katholischen Kirche wie ein Verbrechen gegen den menschlichen Genpool wirken ließ. Er hatte Clare aus der Mitte seiner eigenen Sammlung von Fossilien heraus mitfühlend zugelächelt. Erfahrener Kleriker, korrigierte sie sich.
Den Segen sprach ein Rabbi aus Clifton Park, und die drei Männer, die einander zu kennen schienen, stürzten sich in ein Gespräch über ihre Enkelkinder, ehe Clare ihr Brötchen mit Butter bestrichen hatte. Die Nonne verdrehte die Augen in Richtung Clare.
»Hier ist es genauso wie bei den Versammlungen in meiner Stadt.« Clare sprach mit gesenkter Stimme. »Dr. McFeely und Reverend Inman überstürzen sich jedes Mal, mit ihren Fotos anzugeben.«
Die Schwester legte ihre Hand auf Clares. »Ich kann Ihnen garantieren, dass ich keine Enkel habe. Von denen ich wüsste.«
Clare hätte fast ihren Salat ausgespuckt.
»Verzeihen Sie mir«, bat die Nonne. »In meiner Lieblingsserie ist gerade ein Baby eingeführt worden, von dem der Vater weiß, die Mutter allerdings nicht.«
Clare musste einfach fragen. »Wieso nicht? Amnesie?«
»Gespaltene Persönlichkeit.« Die Nonne spießte eine Kirschtomate auf. »Man kann also nie sicher sein.«
Clares Gelächter erregte die Aufmerksamkeit anderer Gäste. Sie hielt sich die Serviette vor den Mund und hustete. »Ich bin Clare Fergusson, Pastorin von St. Alban’s in Millers Kill.«
»Lucia Pirone vom Orden Mariae Barmherzigkeit.« Sie nickte, als die Kellnerin nach ihrem Salatteller griff. »Aus Ihrem Akzent schließe ich, dass Sie nicht aus diesem Teil der Wälder stammen. North Carolina?«
»Fast«, erwiderte Clare. »South Virginia. Dann mit der Armee durch die Weltgeschichte und dann das Seminar.«
»Tatsächlich? Einer meiner Brüder war Berufssoldat. Er ist natürlich längst pensioniert. Welche Laufbahnverwendung?«
»Ich bin Helikopter geflogen.« Sie verbesserte sich. »Ich fliege Helikopter. Ich habe mich erst vor kurzem zur Nationalgarde gemeldet.«
»Tatsächlich?« Schwester Lucia beugte sich zu Clare hinüber, ohne auf das Besteck zwischen ihnen zu achten. »Obwohl Krieg herrscht? Und Sie behaupten, Sie seien Pastorin?« Die scharfen Augen der Nonne schienen in ihrem faltigen Gesicht fehl am Platz. Clare vermutete, dass es sich bei ihrem Süße-alte-Dame-Aussehen um eine gerissene Tarnung handelte. »Was sagt denn Ihr Bischof dazu?«
»Es … er befürwortet meinen Wiedereintritt. Er meint, das würde mir helfen, meine … herauszufinden, wo meine Berufung liegt.«
»Das soll Ihnen helfen zu erkennen, ob Sie einem echten Ruf folgen?« Der Blick der Schwester wanderte zu Clares weißem Kragen. »Bisschen spät, oder?«
»Meine Berufung steht nicht in Frage. Nur … zu was ich berufen bin.« Sie senkte die Stimme. »Ich glaube, der Bischof hofft, dass Onkel Sam ihn von mir befreit.«
Schwester Lucias Augen leuchteten auf. »Ach so, Sie haben ein Bischof-Problem.«
»Ich bin überzeugt, dass der Bischof sagen würde, er habe ein Clare-Fergusson-Problem.«
»Darauf trinke ich.« Die Nonne hob ihr Wasserglas und betrachtete es. Sie seufzte. »Das ist das einzig Blöde bei diesen ökumenischen Angelegenheiten. Kein Wein.« Sie warf dem Baptistenprediger einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie ihr Wasser trank. »Sie haben auf jeden Fall mein Mitgefühl. Ich habe auch ein Bischof-Problem, dabei ist er noch nicht einmal mein Bischof.«
Clare lehnte sich zurück, damit die Kellnerin eine Hühnerbrust auf Wildreis vor ihr abstellen konnte. »Nicht Ihr Bischof?«
»Kennen Sie den Orden Mariae Barmherzigkeit?«
»Tut mir leid. Mit römisch-katholischen Orden kenne ich mich nicht so gut aus, wie ich vermutlich sollte.«
Schwester Lucia dankte der Kellnerin für ihren Lachs. »Der Orden wurde 1896 von zwei reichen Schwestern gegründet, die das Leben der bedürftigen Immigranten in Boston verbessern wollten.«
»Sie meinen wie Jane Addams und Ellen Starr in Chicago?«
»Genau. Im Lauf des letzten Jahrhunderts konzentrierte sich die Aufgabe des Ordens auf die schlimme Lage der Wanderarbeiter. In der Dürreperiode während der Weltwirtschaftskrise wurde das Mutterhaus nach Westen verlegt, und der Großteil unserer Arbeit lag in Kalifornien und Arizona. Ich bin als Missionarin hier, die erste im nordöstlichen Milchwirtschaftsland.«
Clare hielt einen Moment inne, ehe sie ein Stück Huhn in den Mund schob. »Warum? Ich meine, Washington und die Warren Counties sind weißer als Mayonnaise. Sollten Sie nicht in – ich weiß nicht – Albany oder so sein?«
»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen versichere, dass allein im Washington County über dreihundert hispanische Landarbeiter leben?«
Clare blinzelte. »Dreihundert?«
»Oder mehr. Einige mit Gastarbeiterpapieren, die meisten illegal. Im Sommer wird sich die Anzahl vermutlich verdoppeln.«
»Ich würde sagen … das überrascht mich. Ich hätte nicht gedacht, dass die Agrarbetriebe in diesem Teil von New York groß genug sind, um auf Gastarbeiter angewiesen zu sein.« Sie spießte ein paar grüne Bohnen auf und fragte sich zum ersten Mal, wer sie wohl gepflückt hatte.
»Wir sind im Milchwirtschaftsland«, sagte Lucia. »Harte, undankbare Arbeit. Arbeiter in der Milchwirtschaft müssen Maschinen und Scheunen reparieren, das Getreide einbringen, Kälber auf die Welt holen und, am wichtigsten, melken können. Mais, Sojabohnen oder Weizen können vierundzwanzig Stunden warten, bis man sich darum kümmert, aber Kühe müssen jeden Morgen und Abend gemolken werden, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.«
»Sie klingen, als würden Sie aus Erfahrung sprechen.«
»Ich bin auf einer Milchfarm in Vermont aufgewachsen. Letztes Jahr bin ich zu einer Beerdigung nach Rutland gefahren und habe festgestellt, dass der Nachbar meines Bruders sechs Guatemalteken beschäftigt. Da ist mir klargeworden, dass wir im Osten wieder gebraucht werden.«
»Und Sie haben Ihre Vorgesetzten überredet, Sie zu schicken.« Sie schnitt ein Stück von ihrer Hühnerbrust ab. »Aber Sie müssten doch die Unterstützung der Diözese haben.«
»Ich habe den Segen meiner Vorgesetzten. Ich habe die Erlaubnis der Diözese von Albany. Obwohl sie nicht besonders wild darauf waren, sie zu erteilen.« Lucia lächelte Clare trocken an. »Sich um illegale Fremde zu kümmern ist christlich, aber nicht sonderlich willkommen. Insbesondere nicht, wenn ein großes konservatives Element der Diözese der Überzeugung ist, dass man alle ohne Papiere zusammentreiben und nach Mexiko zurückschicken sollte.«
»Was machen Sie denn eigentlich genau?« Clare wischte sich den Mund ab. »Ich meine, es klingt, als hätten Sie mehr im Sinn, als diesen Menschen zu einer spanischsprachigen Messe zu verhelfen.«
»Wir fangen mit grundlegenden Hilfen an, wie Transporte zu und von den Farmen und Übersetzern, die bei dem Umgang mit den Behörden helfen. Außerdem fungieren wir als Rechtsbeistand. Gastarbeiter haben kein Anrecht auf Arbeitsunfähigkeits- oder Arbeitslosenversicherung, auf Überstundenbezahlung oder auch nur einen Ruhetag. Die Männer, die ohne Papiere hier sind, gehen nicht zum Arzt, melden keine Verletzung der Sicherheitsbestimmungen, beklagen sich nicht, wenn man sie um ihren Lohn betrügt, weil sie Angst vor den Behörden haben. Sie bewahren ihren Lohn in bar auf, weil sie keinen Ausweis besitzen, mit dem sie ein Bankkonto eröffnen könnten, und wenn einer von ihnen einem Verbrechen zum Opfer fällt, geht er nicht zur Polizei. Einige von ihnen leben unter erbärmlichen Bedingungen in uralten Wohnwagen, die nicht mal 1958 die Sicherheitskontrollen bestanden hätten, acht oder neun Männer in einem Raum.«
»Puh.« Clare schob ihren Teller weg, damit sie ihre Ellbogen auf den Tisch stützen konnte, eine schlechte Angewohnheit, die sie nie abgelegt hatte. »Das klingt erstaunlich anspruchsvoll. Und lohnenswert.«
Schwester Lucia nickte. »Es freut mich, dass Sie das erkennen. Jetzt muss ich nur noch Kirchengemeinden finden, die mit mir zusammenarbeiten.«
»Werden Sie denn nicht finanziell von Ihrem Orden unterstützt?«
»Ich bekomme eine bescheidene Summe. Und mit bescheiden meine ich verhüllt von einer Burka, unsichtbar für das menschliche Auge.«
Clare lachte.
»Nein, das Problem ist, dass wir hier oben im Norden nur sehr wenig Geld haben. Kleine Gemeinden, jeder Priester betreut zwei oder drei auf einmal, Spendenrückgang … Ohne die Unterstützung des Bischofs wird der geringe Bedarf meiner Mission immer ganz unten im Stapel zerquetscht.«
»Ich möchte Ihnen helfen.«
Die Nonne setzte sich zurück. »Wie bitte?«
»Ich habe Freunde beim Entwicklungsfonds der Episkopalkirche. Das klingt ganz nach ihrem Geschmack: klein, Basisarbeit, handfeste Hilfe für einzelne Personen.«
Schwester Lucias Miene spiegelte eine Mischung aus Interesse und Zweifel. »Die Arbeit hat auch einen spirituellen Aspekt, wissen Sie. Und der ist definitiv katholisch. Spanischsprachige Messen und so weiter.«
Clare grinste. »Keine Sorge. In der Episkopalkirche sind wir ganz scharf auf die Ökumene. Wirklich, sogar sehr scharf.«
Die Kellnerin ersetzte ihre leeren Teller durch dicke Stücke Käsekuchen. »Kaffee?« Sie hielt eine Kanne hoch.
»Unbedingt«, erwiderte Clare. Schwester Lucia lehnte ab und sah dann amüsiert zu, wie Clare Tütchen um Tütchen Zucker in ihre Tasse leerte. »Vielleicht kann ich auch ein paar Helfer für Sie auftreiben.« Clare griff nach ihrem Löffel. »Die Zahl unserer Mitglieder ist im letzten Jahr leicht gestiegen, jüngere Leute« – älter konnten sie auch kaum sein, da das Durchschnittsalter von St Alban’s bei ihrer Ankunft bei siebenundfünfzig gelegen hatte –, »die noch keinen Platz in unserem gegenwärtigen Freiwilligenprogramm gefunden haben. Ich denke, Ihre Mission wäre genau das Richtige.« Ihr Löffel klirrte in der Tasse, während sie erst im, dann gegen den Uhrzeigersinn umrührte. »Als ich Geistliche wurde, machte ich mir Sorgen, ich könnte nicht fähig sein, jemanden dazu zu bringen, sich um die Randexistenzen unter uns zu kümmern. Mittlerweile glaube ich, dass die Menschen nicht unwillig sind, sondern dass sie sie einfach nicht sehen. Schauen Sie mich an. Ich lebe schon seit zwei Jahren hier und hatte bis gerade eben nicht die geringste Ahnung von diesen Arbeitern.« Sie sah die Nonne vertrauensvoll an. »Eigentlich wollte ich gar nicht zu diesem Mittagessen kommen. Jetzt bin ich froh, dass ich hier bin.«
Schwester Lucia lächelte. »Stürzen Sie sich immer so … entschlossen in die Dinge?«
»Darauf können Sie wetten«, antwortete Clare. »Ich weiß nicht, ob das eine Tugend oder ein Makel ist, aber nach sechsunddreißig Jahren habe ich allmählich gelernt zu akzeptieren, was ich bin.« Sie trank einen Schluck Kaffee und seufzte, als Hitze, Zucker und Koffein wirkten. »Ich danke Ihnen.«
»Wofür?«
»Dass Sie es Entschlossenheit nennen statt ›sich unüberlegt hineinstürzen‹.«
»Oh, ich betrachte es als Furchtlosigkeit.« Die Nonne warf einen Blick auf Clares linke, ringlose Hand. »Sie sind nicht verheiratet?«
Clare schüttelte den Kopf.
»Haben Sie einen Partner?«
»Nein! Ich meine, nein … nein.«
Schwester Lucia tätschelte ihre Hand. »Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich habe nur festgestellt, dass eine der großen Segnungen des Zölibats die Furchtlosigkeit ist. Besonders für Frauen. Man sieht, was getan werden muss, und tut es, ohne Furcht vor den Folgen für Familie und Ansehen.« Wo sie vorher getätschelt hatte, drückte sie nun zu, fest. »Lassen Sie sich nicht einreden, dass es ein Makel wäre. Wir brauchen mehr furchtlose Frauen, die Christus folgen, nicht weniger.«
IV
Auf dem Weg zurück nach Millers Kill mussten sie und Diakon Aberforth an einer Tankstelle halten, um aufzutanken.
Als sie hineinging, um zu bezahlen – der Diakon blieb unterdessen sitzen und wetterte über die verschwenderische Extravaganz eines aufgemotzten Hummer, der an der nächsten Zapfsäule zwei Plätze blockierte –, sah sie fünf junge hispanische Männer, die sich von hinten Soda holten. Fünf. Die sich anrempelten, auf Spanisch Witze machten, unzureichend für die Witterung gekleidet, in Turnschuhen und Ripstop-Jacken, die auch die Jungs ihrer Gemeinde trugen. Sie schüttelte den Kopf.
Die Menschen, die wir nicht sehen.
Mit dem Gefühl, dass ihre Entscheidung, Schwester Lucia zu unterstützen, vollauf gerechtfertigt war, kehrte sie zum Auto zurück.
»Father Aberforth.« Sie zwang sich, den Blick vom Tacho abzuwenden, als er auf der Route 9 mehr oder weniger beschleunigte. »Würden Sie mich eher als impulsiv oder als furchtlos bezeichnen?«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich, Ms. Fergusson, würde Sie als das Mittel bezeichnen, mit dem Gott mir klarmacht, dass er noch eine Menge Arbeit für mich hat.«