Osterzeit
April und Mai
I
Kevin musterte sich im Spiegel. Er versuchte, seine Haare glatt zu bürsten, dann zog er seine Finger hindurch, bis sie in stachligen Strähnen abstanden. Glatt? Verstrubbelt?
Hinter ihm zog Lyle MacAuley den Reißverschluss hoch. »Um Gottes willen, Kevin, wir gehen in die Morgenbesprechung, nicht zu einem Schönheitswettbewerb.« Er trat an das Waschbecken neben Kevin und drehte den Wasserhahn auf. »Außerdem ist es egal, wie du dich frisierst, Junge, sie bleiben rot.«
Eric McCrea tauchte aus einer der Kabinen auf, ein Lied auf den Lippen: »It’s Howdy Doody time!«
»Als ob du schon mal Howdy Doody gesehen hättest.« MacAuley schüttelte seine Hände ab und zog ein Papierhandtuch aus dem Spender.
»Ich versuche nur, einen Bezug herzustellen, den Sie begreifen, Deputy. Wenn ich unseren jungen Officer hier mit den Weasley-Zwillingen vergleiche, würden Sie doch nicht begreifen, wovon ich rede.«
»Ich kannte mal ein Stripperpärchen, das sich die Beaver-Zwillinge nannte, aber von den Wieseln habe ich nie was gehört.«
»Harry Potter?«, fragte Kevin. »Das kennt doch jeder.«
MacAuley schnitt eine Grimasse. »Kinderbücher.«
»Mir gefallen sie.« McCrea drehte den Hahn auf. »Als der letzte Band rauskam, hab ich ihn noch vor meinem Sohn gelesen.«
»Erwachsene, die Kinderbücher lesen«, sagte MacAuley voller Abscheu. »Kein Wunder, dass wir Männer aus Mexiko importieren, die unsere Arbeit für uns tun. Wir werden alle zu blöd, um den Stiel eines Hammers vom Kopf zu unterscheiden.« Er streckte die Hand nach dem Türgriff des Männerwaschraums aus und wurde gegen die Wand gedrückt, als Noble Entwhistle sie von der anderen Seite aufschob. Kevin, der gerade kontrollierte, ob zwischen seinen Zähnen Reste vom Frühstück steckten, grinste.
»Der Chief lässt fragen, wo, zum Teufel, alle stecken«, verkündete Noble.
McCrea drehte den Hahn ab und trocknete sich die Hände. »Wenn du die Tür freigibst, wäre Lyle vielleicht in der Lage, rauszugehen.«
Noble schob seine schrankähnliche Gestalt durch die Tür. »’tschuldigung, Deputy.«
Kevin und McCrea kicherten, als MacAuley und Entwhistle einander in der Tür umtanzten. Schließlich quetschte sich der Deputy Chief an Noble vorbei und verschwand im Flur. Flüche untermalten seinen Abgang.
»Was macht ihr denn so lange hier?«, fragte Noble. »Ihr kennt doch den Spruch: Mehr als dreimal schütteln heißt an sich rumspielen.«
»Nee. Wir geben Kevin ein paar Schönheitstipps. Siehst viel besser aus, seit du dir die Fusseln vom Kinn rasiert hast, Kevin.«
»Das war ein Ziegenbärtchen«, murmelte Kevin. Und ein echt gutes, aber leider hatte der Chef ihn letzte Woche im Mannschaftsraum angestarrt und geknurrt: »Keine Bärte. Rasier dich.«
Noble verdrehte die Augen. »Ich hab einen Tipp für euch. Kommt nicht zu spät. Wenn der Chief sie ignorieren kann« – er wies mit dem Kopf zum Flur, wo die ehemalige Besuchertoilette zum Frauenwaschraum umfunktioniert worden war –, »ist es ihm mit tödlicher Sicherheit egal, wie hübsch ihr seid.«
Kevin konnte im Spiegel beobachten, wie er errötete. Alle zogen ihn mit seinen Sommersprossen auf, aber ihn störten sie nicht. Die leuchtenden Flecken seiner Jugend waren fast verblichen, übrig geblieben waren nur ein paar Sprenkel auf Nase und Wangenknochen. Aber bei Gott, er hasste seine blasse Haut! Sie war wie ein verdammtes Stimmungsbarometer.
»Wir kommen sofort«, sagte McCrea. Noble grunzte und trollte sich zurück in den Flur. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, meinte McCrea: »Ich habe auch einen Tipp für dich, Kev.« Sein Tonfall war leicht, aber ernst. »Nicht neu, aber gut. Man scheißt nicht dort, wo man isst.«
Kevin senkte den Blick auf das Waschbecken. »Was willst du damit sagen?«
McCrea seufzte. »Kevin, dir war es immer vollkommen egal, wie du aussiehst, bis letzte Woche Hadley Knox angefangen hat, an den Besprechungen teilzunehmen. Ich gebe ja zu, dass sie eine heiße Braut ist. Aber in diesen Gewässern willst du mit Sicherheit nicht fischen. So viel solltest du meiner Meinung aus allem, was zwischen dem Chief und MacAuley vorgefallen ist, gelernt haben.«
»Das war was ganz anderes«, widersprach Kevin. »MacAuley« – er senkte unbewusst die Stimme – »hat die Frau vom Chief gebumst. Ich würde nie was mit einer verheirateten Frau anfangen.«
»Es geht nicht um verheiratet oder ledig. Es geht darum, dass man niemanden anbaggert, den man jeden Tag bei der Arbeit sieht.«
»Ich baggere niemanden …«
McCrea hob die Hände. »Ich will es gar nicht wissen. Denk einfach über das nach, was ich gesagt habe, okay?«
Die Tür sprang auf. »Wartet ihr zwei auf eine schriftliche Einladung?«, erkundigte sich MacAuley.
Sie folgten dem Deputy Chief hinaus, Kevin wie immer als Schlusslicht. Er richtete den Blick fest auf MacAuleys struppigen Hinterkopf, bis er seinen üblichen Platz im Mannschaftsraum eingenommen hatte, einem unübersichtlichen Raum, der zwanzig Jahre vor Kevins Geburt durch die Zusammenlegung mehrerer kleiner Büros entstanden war.
»Sehr nett von Ihnen, meine Herren, uns Gesellschaft zu leisten.« Der Chief saß auf dem zerschrammten Holztisch, die in Stiefeln steckenden Füße auf zwei Stühlen.
»Entschuldigung«, sagte McCrea. Noch im letzten November hätte er einen Witz darüber gerissen, dass der Salon oder Bücherladen, den sie führten, ihnen eben nicht mehr Zeit ließ. Aber das war, ehe die Frau des Chiefs ihn hinausgeworfen hatte. Ehe sie starb. Ehe das Revier in einer rauchenden Schuttmasse aus alten Verfehlungen und Verrat implodiert war.
Heute riskierte niemand in Hörweite des Chiefs einen Witz.
Kevin klappte seinen Laptop auf, und während der Chief die Berichte und Fahndungsmeldungen weitergab, blickte er verstohlen zu Hadley Knox. Eric McCrea hatte sie als heiße Braut bezeichnet, aber das wurde ihr nicht gerecht. Kevin hatte noch nie jemanden wie sie gesehen, mit ihrem perfekten Teint und den riesigen braunen Augen und dem vollen Schmollmund. Selbst in der braunen Polyesteruniform, ohne Make-up, das braune Haar kurz geschnitten, sah sie noch besser aus als 99,9 Prozent der Frauen in Millers Kill. McCrea hatte sich außerdem in einem weiteren Punkt geirrt. Kevin wusste, dass er bei einer Frau wie dieser nicht den Hauch einer Chance hatte. Es würde ihn sehr wundern, wenn er mehr als sechs Worte mit ihr gewechselt hatte, seit sie vor einer Woche angefangen hatte, mit auf Streife zu fahren. Er wollte einfach … wollte sie einfach bewundern. Und glauben, dass sie ihn nicht für einen kompletten Idioten hielt, wenn sie ihn zufällig einmal ansah.
»… mit Kevin«, verkündete der Chief in diesem Moment.
Mit einem Ruck kam er zu sich.
»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte MacAuley. »Ich meine, wäre das nicht so wie der Blinde, der den Blinden führt?«
»Wir reden hier über eine ganz normale Verkehrsstreife«, gab der Chief zurück. »Und ich möchte, dass Knox so viel Zeit wie möglich hinter dem Steuer verbringt. Eric kann sie nicht übernehmen, er bearbeitet den Christie-Einbruch.«
»Paul?«, fragte MacAuley.
Der Chief sah ihn nur an.
»Stimmt«, erwiderte der Deputy. Kevin nahm an, dass Paul Urquhart schon wieder einen dreckigen Witz über die neue Rekrutin gerissen hatte. Oder ein unangemessenes Verhalten an den Tag gelegt. Was immer es war, der Deputy hatte verstanden.
Alles, was zwischen dem Chief und MacAuley vorgefallen ist. Es war Verschwendung und eine Schande, wie sein Dad sagen würde: zwei alte Knacker, die so gut zusammenarbeiteten, dass sie nur mit einem Wort und einem Blick ein ganzes Gespräch führen konnten. Heutzutage waren das die einzigen Gespräche, die sie führten.
»Falls eine kritische Situation eintritt, während Kevin mit Officer Knox unterwegs ist, meldet er sich umgehend. Verstanden?«
»Ja, Sir.« Kevin sah wieder zu ihr hinüber, diesmal mit einem beruhigenden Lächeln. Sie erwiderte den Blick mit ausdrucksloser Miene. Was hatte das zu bedeuten? War sie nervös, weil sie mit ihm fahren sollte? Sauer, weil sie nicht einem der erfahreneren Beamten zugeteilt war?
»Eric, den Bericht über den Einbruch bei Christie, bitte.« Jetzt waren sie bei den laufenden Ermittlungen. Kevin wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Laptop zu.
McCrea schlug die Fallakte auf und begann vorzulesen. »Samstag, sechster April, siebzehn Uhr dreißig. Bruce Christie stellt bei seiner Heimkehr fest, dass in seinen Trailer im Meadowbrook Estates Wohnwagenpark eingebrochen worden ist, und meldet den Vorfall. Die Einrichtung wurde verwüstet, soweit Noble und ich das feststellen konnten« – ein leises Kichern an dieser Stelle –, »aber Christie behauptet, es würde nichts fehlen. Der Geschäftsführer hat ausgesagt, dass er gegen siebzehn Uhr dreißig ein Auto gesehen hat, das mit hoher Geschwindigkeit den Park verließ. Keine Beschreibung außer ›groß und teuer‹.« Er schaute von seinen Notizen auf. »Das trifft auf jeden beliebigen Pick-up oder Geländewagen mit mehr Stahl als Rost zu. Christie meinte, es könnte jemand gewesen sein, dem seine Brüder Geld schulden, und nannte uns eine Reihe von Namen.« Er zog einige Blätter aus dem Ordner und schob sie zu Kevin hinüber, der sich eines nahm und die anderen weiterreichte. »Der Manager hielt es für möglich, dass es die Brüder selbst waren.« McCrea sah auf. »Ich halte das für unwahrscheinlich. Was immer man über die Christies auch sagen kann, sie halten fest zusammen.«
»So kann man das auch nennen«, murmelte MacAuley.
»Was glaubst du, wonach sie gesucht haben?«, fragte der Chief McCrea.
Der zuckte die Achseln. »Geld? Dope? Neil Christie wurde vor ein paar Jahren wegen Handels angeklagt. Konnte sich auf Besitz rausreden.«
»Schafe?«, fragte jemand. Schnaubendes Gelächter folgte, das sofort unterdrückt wurde.
»Warum hat er den Einbruch gemeldet?« Kevin war die Frage herausgerutscht, bevor ihm wieder einfiel, dass er sich vor ihrem neuen Officer cool und kenntnisreich geben wollte. »Falls die Einbrecher nach etwas Illegalem gesucht haben, meine ich.« Gott, klang er dürftig.
Der Chief wirbelte zu ihm herum. »Sag du es mir.«
»Äh … ist er wirklich sauber?«
MacAuley schnaubte, aber der Chief bedeutete ihm mit einer Handbewegung, fortzufahren. Kevin dachte fieberhaft nach. »Er hat gelogen, als er sagte, dass nichts fehlt. Er baut darauf, dass wir ihn zu den Typen führen, die was auch immer haben mitgehen lassen.«
Der Chief klopfte an seine Nase. »Durchaus eine Möglichkeit, nicht?« Er sah McCrea an. »Natürlich könnte es auch jemand gewesen sein, der einen Groll gegen ihn hegt, Bruce Christie eigentlich die Scheiße aus dem Leib prügeln wollte und sich dann darauf verlegt hat, seinen Trailer zu verwüsten. Die Vorstrafenregister der drei Christies zusammen sind so dick wie das Telefonbuch von ganz Cossayuharie. Körperverletzung, Besitz …« Er warf MacAuley einen Blick zu. »Hat nicht einer von ihnen wegen Widerstands gesessen?«
»Donald. Bekam fünf Jahre in Plattsburgh, nach drei entlassen. Hat versucht, den Staatspolizisten zu überfahren, der ihn wegen Trunkenheit am Steuer verhaften wollte.«
»Passt also auf.« Der Chief zeigte auf McCrea. »Falls dir was komisch vorkommt, zieh dich zurück und fordere Verstärkung an.«
»Mach ich, Chief.«
Der Chief schob die Stühle weg und rutschte vom Tisch. »Das ist alles.«
Er sammelte seine Ordner ein und stapfte aus dem Mannschaftsraum. Durch die offene Tür konnte Kevin hören, wie Harlene ihm seine Anrufe aufzählte.
»Die Christies. Das Synonym für Pack.« MacAuley schüttelte den Kopf. Unter seinen buschigen Augenbrauen hervor blinzelte er McCrea an. »Ich war bei Bruce Christie zu Hause. Wie konntest du eigentlich die absichtliche Verwüstung von der allgemeinen Verwahrlosung unterscheiden?«
McCrea schnaubte. »Ich wollte dort keinen Moment länger bleiben als nötig, das kann ich dir sagen.« Er wies mit dem Daumen auf Entwhistle. »Noble war total geschockt von dem Wandteppich mit dem glubschäugigen Jesus, den er an die Wand getackert hat.«
»Das war echt unheimlich«, bestätigte Noble. »Die Augen folgten einem überall hin. Wie in diesem Buch von Stephen King.«
»Carrie«, soufflierte Kevin.
»Danke, Kevin.« McCrea lächelte ihn an. Scheiße. Jetzt machte er das schon wieder. Er musste unbedingt aufhören, immer so verdammt hilfsbereit zu sein.
»Wisst ihr, woran man erkennt, dass ein Mädchen der Christies noch Jungfrau ist?« MacAuley grinste. »Sie kann schneller rennen als ihre Brüder.«
McCrea sah ihn vielsagend an und neigte den Kopf in Richtung Hadley Knox.
»Äh …« Der Deputy Chief erlitt praktischerweise einen Hustenanfall.
Hadley erhob sich von ihrem Stuhl. Betrachtete MacAuley. Betrachtete McCrea. »In der Version, die ich kenne, heißt es, sie kann schneller rennen als die Schafe.« Sie klemmte sich ihren Ordner unter den Arm. »Kommst du, Flynn?«
II
Clare befand sich drei Meilen vor Millers Kill, am Ende einer fünfstündigen Fahrt von Fort Dix, als ihr bewusst wurde, dass ihr der Alkohol ausgegangen war. Bei der Aussicht auf die Rückkehr in ihr kaltes Haus – wenn sie zu den Übungseinheiten der Nationalgarde fuhr, drehte sie immer die Heizung auf zehn Grad herunter, um Öl zu sparen – und einen Abend mit nichts Stärkerem als unzweifelhaft sauer gewordener Milch und einer Thermoskanne mit zwei Tage altem Kaffee stöhnte sie auf. Kein Wein. Kein Sherry. Kein Scotch.
Ausgeschlossen. Sie fuhr über die Route 57, mit Blick auf den Fluss, dem die Stadt ihren Namen verdankte und der braun und golden im Licht der untergehenden Sonne dahinströmte. Vorbei an St. Alban’s, weiter auf der Main, dann über den Fluss, in Richtung der Stadtgrenze. Eigentlich erledigte sie ihre Einkäufe immer in Glens Falls, um ein Zusammentreffen mit Russ Van Alstyne zu vermeiden. Aber Napolis Schnapsladen sollte sicher sein, da der Polizeichef trockener Alkoholiker war.
Auf dem Parkplatz wand sie sich aus dem Sitz und streckte sich dankbar – hoch, runter, nach rechts und links. Die von Westen wehende Brise war wegen des Schnees in den Bergen noch kühl, doch die Wärme, die der Asphalt abstrahlte, bewies die Kraft der Frühlingssonne. Der Winter war vorüber, auf Nimmerwiedersehen. Ihr würde nichts fehlen, wenn sie nie wieder im Leben eine Schneeflocke zu Gesicht bekam.
Sie zog das Handy aus der Tasche und kontrollierte ihre Nachrichten. Eine von ihren Eltern, die sich nur mal melden wollten, eine von Elizabeth de Groot, die ihr versicherte, dass alle hervorragend ohne sie zurechtkamen, und eine von Hugh Parteger. »Vikarin! Vielen Dank für deinen Kurzbesuch zum Mittagessen auf deinem Weg zu diesem Pestilenzdorf südlich des Grenzzauns.« Sie nahm an, dass er New Jersey meinte. Hugh mochte in England geboren sein, in seinem Herzen war er echter New Yorker. »Nächstes Mal« – er senkte die Stimme – »warum erzählst du deiner Gemeinde nicht einfach, du würdest deinen Militärdienst leisten, und verbringst stattdessen das Wochenende mit mir? Ich verspreche dir, ich kann dir Manöver zeigen, von denen die Army nicht mal zu träumen wagt.«
»Keine Chance, Hugh«, versicherte sie dem Telefon. Lachend löschte sie die Nachricht.
Während er ihre Bestellung zusammensuchte, spähte Mr. Napoli immer wieder zu ihr herüber und runzelte leicht die Stirn, als er den Macallan, den Harveys und die Flaschen mit Shiraz in den schmalen Papiertüten verstaute. Erst als sie Führerschein und Scheckbuch zückte, lächelte er sie an. »Reverend Fergusson!« Er hielt ihren Führerschein mit beiden Händen, während sein Blick zwischen dem Foto und ihr hin und her wanderte. »Ich hab Sie in dieser Soldatenmontur nicht erkannt.« Er wedelte mit den Händen und musterte ihre Tarnkleidung. »Wir haben Sie in letzter Zeit gar nicht mehr gesehen. Jetzt kann ich Mrs. Napoli auch sagen, warum.« Er nahm ihren Scheck, pling. »Die Armee. Ist das denn der richtige Ort für so ein hübsches Mädchen wie Sie?«
Clare erinnerte sich zu spät, dass sie es hatte vermeiden wollen, in der Öffentlichkeit in Uniform herumzulaufen. Zu viele Erklärungen. Sie lächelte kokett. »Aber, aber, Mr. Napoli. Sie haben doch mein Geburtsdatum gelesen.« Sie nahm ihren Führerschein vom Tresen. »Ich bin wohl kaum ein Mädchen.«
Während er galant ihr Recht auf Jugendlichkeit verteidigte, obwohl ihr siebenunddreißigster Geburtstag nur noch zwei Monate entfernt war, zog sie sich mit dem Versprechen, sich in Zukunft häufiger blicken zu lassen, aus der Affäre. Als sie mit einer Tragetasche voller Alkoholika aus dem Laden polterte, nahm sie sich vor, beim nächsten Mal Zivilkleidung zu den Wehrübungen mitzunehmen und sich umzuziehen, ehe sie ins Auto stieg und nach Hause fuhr.
Russ Van Alstyne stand neben seinem großen roten Pick-up auf dem Parkplatz.
Starrte sie an.
Sie schluckte. Drückte ihre Papiertüte fester an die Brust. Ihr erster Gedanke lautete: War er immer schon so groß? Ihr zweiter: Er hat abgenommen. Er trug seine halbzivile Uniform: braunes MKPD-Hemd zu Jeans, die schon bessere Tage gesehen hatten, und als Gegengewicht zu den salzfleckigen Jagdstiefeln eine offizielle Windjacke.
Dann wurde ihr bewusst, wo er stand. Ihre Augen wurden groß. Seine ebenfalls.
»Was machst du vor einem Schnapsladen?«, fragte sie.
»Was machst du in Uniform?«, fragte er gleichzeitig.
Sie verstummten. Seine Bestürzung – weil er erwischt worden war? – spiegelte sich deutlich in seinem Gesicht. »Hast du wieder angefangen zu trinken?«, fragte sie. Ihre widerstreitenden Gefühle – Sorge, nicht besorgt sein wollen – ließen ihre Stimme schärfer klingen als beabsichtigt.
Er zwinkerte. Runzelte die Stirn. »Was?«
Sie wies mit der Hand auf Napolis Schaufenster mit den Sonderangeboten für Dewar’s, Bombay Sapphire und alle australischen Weine. »Was machst du vor einem Schnapsladen?« Sie trat einen Schritt näher, weil sie ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte, indem sie in Hörweite von Passanten sein Problem lauthals diskutierte. »Bitte sag mir, dass du nicht wieder angefangen hast zu trinken.« Er schloss einen Moment die Augen. Öffnete sie. Als er sprach, klang seine Stimme angespannt vor Selbstbeherrschung. »Ich habe nicht wieder angefangen zu trinken. Ich bin hier, um Napolis Anzeige wegen eines geplatzten Schecks aufzunehmen.«
Ihr Mund formte ein stummes O.
»Hättest du jetzt die Güte, mir zu verraten, warum du, verdammt noch mal, in Militärklamotten steckst?«
Sie schob die Schulter nach vorn, damit er das Abzeichen der Nationalgarde sehen konnte. Seine Hand wanderte nach oben und berührte seinen Kragen, wo, wie bei ihr, ein Abzeichen der Welt seinen Rang verkündete. »Wo ist dein Seelsorgerkreuz?«
Sie wiederholte seine Bewegung und berührte ihre Offiziersstreifen. »Ich bin nicht bei der Militärseelsorge. Ich bin beim 142. Flugbataillon. Kampfunterstützung.«
»Du bist was?« Mit drei schnellen Schritten stand er vor ihr. »Du bist bei der Kampfunterstützung? Bist du wahnsinnig? Wir führen einen gottverdammten Krieg! Wer, zum Teufel, meldet sich freiwillig zur Front, wenn Krieg herrscht?«
Sie sah zu ihm auf. »Ich weiß nicht. Du vielleicht?«
Er zischte durch die Zähne. Das Geheimnis, das er vermutlich mit ins Grab genommen hätte, wenn er es nicht mit ihr geteilt hätte. Plötzlich schämte sie sich, als hätte sie mit Kanonen auf Spatzen geschossen. »Mach dir keine Gedanken«, sagte sie. »Ich habe es niemandem verraten. Und das werde ich auch nie.« Denn im Gegensatz zu dem, was alle anderen glaubten, war Russell Van Alstyne nicht zum Dienst in Vietnam eingezogen worden. Er hatte sich freiwillig gemeldet.
»Himmel, das weiß ich. Glaubst du, ich würde mir deswegen Gedanken machen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte wenigstens eine Entschuldigung. Ich war achtzehn und dumm und wollte dringend weg aus der Stadt. Welchen Grund hast du?«
Sie schob die Papiertüte zurecht. »Der Bischof und ich hatten mehrere lange Gespräche geführt, nachdem … nachdem …« Sie suchte nach einem beschönigenden Wort für das, was sie getan hatte. Das sollte sie nicht. Und würde es nicht. »Nachdem ich Aaron MacEntyre ermordet hatte.«
»Das war Notwehr, kein Mord. Du hast uns in der Scheune das Leben gerettet. Und das seines miesen Kumpels.«
»Ich wollte vom Amt zurücktreten, aber er hat das seltsamerweise nicht akzeptiert.«
»Du willst – was?«
Sie ignorierte die Unterbrechung. »Letzten Endes hält der Bischof nicht das, was ich … getan habe, für das Problem. Das hält er für ein Symptom meines inneren Zustands, weil ich nicht weiß, ob ich eine Priesterin bin, die früher als Offizier in der Armee gedient hat, oder ein Offizier, der Priesterin geworden ist. Er hat mir empfohlen« – sie sah zu ihm auf, ihr Mund zuckte –, »er hat mir dringend empfohlen, als Lösung der Nationalgarde beizutreten.« Sie zuckte die Achseln. »Und so bin ich eingetreten. Ende Januar.« Sie schwieg kurz. »Hast du nichts davon gehört?«
»Nein. Deine Name wurde nicht mehr erwähnt …« Sein blauer Blick verschwamm. Sie konnte förmlich sehen, wie ihm ein Licht aufging. »Niemand spricht mehr über dich.« Sie war nicht sicher, ob er wusste, dass er laut redete. »Niemand spricht jemals mit mir über dich.«
Ein weiteres Beispiel brillanter Schlussfolgerung vom Polizeichef von Millers Kill. Idiot. Sie grub ihre Finger in die Papiertüte, um sich daran zu hindern, ihm die Überraschung aus dem Gesicht zu schlagen.
Ein Pontiac fuhr in die Lücke neben ihrem Subaru. Automatisch traten sie beide einen Schritt zurück. Auseinander.
Sein Blick wurde wieder scharf. »Dein Bischof hat dich zurück in den Dienst gedrängt. Mit dem Wissen, dass du an die Front versetzt werden könntest.«
»Ich bin nicht gedrängt worden. Es war meine eigene …«
Sein Schnauben beendete ihre Rationalisierungsversuche. »Weil du Aaron MacEntyre ausgeschaltet hast.«
»Weil ich eine lange Liste …«
»Er wollte mich erschießen. Er war bereit dazu.«
Clare presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Diesen speziellen Pfad der Erinnerung wollte sie nicht betreten. »Nein.«
»Wegen mir.«
»Nein.« Lauter diesmal. Der ältere Herr, der gerade aus dem Pontiac stieg, erstarrte und musterte sie nervös. Stand der Polizeichef im Begriff, eine streitlustige Soldatin zu verhaften?
»Dieses Gespräch führen wir nicht.« Sie drehte sich zu ihrem Auto um. Russ packte ihren Ärmel, und in diesem Moment begann das Handy in ihrer Hosentasche zu klingeln. »Joyful, Joyful, We Adore Thee«. Der Beweis, falls sie je einen gebraucht hatte, dass ein barmherziger Gott existierte.
»Und ob wir das tun«, sagte er.
Sie fischte das Handy heraus und klappte es auf. »Hallo?« Sie drehte sich weg, entschlossener diesmal, und löste sich aus seinem Griff.
»Clare? Hier spricht Schwester Lucia. Lucia Pirone.« Die Stimme der Schwester klang schwach. Clare lehnte sich an ihren Subaru, den Blick auf Russ gerichtet. Er trat einen Schritt auf sie zu. Dann begann sein Handy zu klingeln.
»Lucia? Was ist los? Tut mir leid, ich kann Sie kaum verstehen.« Sie stellte die Tüte auf der Motorhaube ab. Russ kam noch einen Schritt auf sie zu. Sie zeigte auf seine Jackentasche. Dein Handy, sagte sie lautlos.
»Zum Teufel mit meinem Handy«, knurrte er.
»Ich hatte einen Unfall«, sagte Schwester Lucia. »Mein Lieferwagen …«
»Einen Unfall?« Clare stieß mit dem Finger in Russ’ Richtung, dann schnitt sie eine Grimasse »Alles in Ordnung?«
Er öffnete seine Jacke und holte das Handy heraus. Kontrollierte die Anruferkennung. Runzelte die Stirn. Er ging zurück zu seinem eigenen Fahrzeug, um das Gespräch anzunehmen.
»Nein, eigentlich nicht, glaube ich.« Clare wurde klar, dass die leise Stimme der Nonne wohl weniger der schlechten Verbindung, sondern ihren Verletzungen zuzuschreiben war.
»Lucia, haben Sie 911 angerufen?«
»Ja.« Dann ein Geräusch, als würde die Frau um Luft ringen. »Bei mir sind zwei Polizisten. Der Krankenwagen ist unterwegs.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich war …« Ihre Stimme verklang.
»Lucia? Lucia? Wo sind Sie?«
»Verzeihung. Neben der Route 137 in Cossayuharie. Der Lieferwagen. Einer der Reifen ist geplatzt. Wir sind von der Straße abgekommen.«
»Wir?«
»Einige der Männer sind verletzt«, sagte die Nonne. »Sie haben Angst. Sie laufen fort, in die Wälder – bitte, Clare, bitte …«
»Ich bin gleich da. Ich steige jetzt in meinen Wagen. Sie rühren sich nicht und tun, was die Sanitäter Ihnen sagen. Um alles andere werde ich mich kümmern.«
»Danke …« Die Verbindung war unterbrochen. Clare steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. Klappte die Hecktür auf und stellte die Tüte mit Alkoholika auf den Boden. Die Hand an der Tüte, die Finger um die Schlüssel gekrümmt, hielt sie einen Moment inne. Sie konnte einfach einsteigen und losfahren. Sie musste nicht mehr mit Russ sprechen.
Feige. Master Sergeant Ashley »Hardball« Wright, ihr ehemaliger Armeeausbilder, feixte.
Ungezogen, rügte Großmutter Fergusson.
Sie drehte sich wieder zu ihm um und stellte überrascht fest, dass er bereits den Parkplatz überquert hatte und dicht vor ihr stand. »Ich muss mich beeilen«, sagte sie. »Die Nonne, der ich helfen will, Schwester Lucia, hatte …«
»Einen Autounfall ohne Fremdbeteiligung. Es sieht nicht gut aus. Ich bin auf dem Weg dorthin.«
»Oh.« Sein Anruf. Natürlich. »Ich schätze, dann sehen wir uns dort.«
»Ich schätze, ich nehme dich mit.« Er wandte sich zu seinem Truck um und winkte ihr, ihm zu folgen.
»Ich halte das für keine gute Idee.«
Er drehte sich zu ihr um. »Weißt du überhaupt, wo du hinmusst?«
»Neben der Cossayuharie Road …« Sie verstummte, als ihr klarwurde, wie groß das Gebiet war, das sich mit Schwester Lucias Beschreibung deckte.
»Ich garantiere dir, dass wir zehn, fünfzehn Minuten schneller sind, als wenn du allein fährst.« Er marschierte zu seinem Pick-up.
Einen Augenblick blieb sie reglos stehen. Seien Sie nicht blöd, blaffte Hardball Wright. »Geh einfach weg«, drängte ihre Großmutter.
»Warte!« Sie rannte über den Parkplatz. »Ich komme mit.«
III
Er stieß die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte, aber er behielt dasselbe gleichmäßige Tempo auf dem Weg zu seinem F-250 bei. Als er die Fahrerseite erreichte, war sie bereits in die Kabine geklettert, hatte sich angeschnallt und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe, als wäre das Schild von Napolis Laden das Interessanteste, was sie an diesem Tag gesehen hatte.
Er ließ den Motor an. Löste das Blaulicht aus der Halterung, kurbelte das Fenster herunter und knallte es aufs Dach. »Festhalten«, kommandierte er.
Er bog auf die Route 137 ab und beschleunigte, bis sie gut zwanzig Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit den Highway entlangdonnerten. Er wandte seine Augen einen Sekundenbruchteil von der Straße ab, gerade lang genug, um ihr einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. Es war komisch. Wenn er in den vergangenen Monaten an sie gedacht hatte – wenn er sich gestattet hatte, an sie zu denken –, hatte er sie immer so vor sich gesehen wie an dem Tag, als Linda starb; bleich, voller Blutergüsse, mit blutigem Mund. Ihre Augen tiefgrün vor Grauen, als sie auf ihre Hände starrte. Oh, mein Gott, hatte sie geweint. Was habe ich getan?
Die spitze Nase und hohen Wangenknochen dieser Clare waren von rosiger Gesundheit. Sie verströmte Energie, von den verschränkten Armen bis zu den Stiefeln, die fest auf dem Boden standen. Was immer ihre Augen braun schimmern ließ, Grauen war es nicht.
»Nun?«, fragte sie.
»Nun was?«
»Willst du mir nicht erzählen, es sei deine Schuld, wenn mir etwas zustößt? Dass ich, wenn du nicht wärst, in Gebet und Meditation versunken wäre, statt auf meinen Einsatzbefehl zu warten? Willst du nicht die Verantwortung dafür übernehmen, dass ich meine geistlichen Pflichten so schlecht erfülle und Linda und ihre Schwester gestorben sind, und für jeden Menschen, mit dem du arbeitest, und für alle Verbrechen, die während deiner Amtszeit jemals begangen worden sind, und« – sie wies mit der Hand auf die kaffeebraunen Felder, die sich in alle Richtungen erstreckten –, »und für die globale Erwärmung? Hast du nicht gesagt, wir müssten dieses Gespräch führen?«
Hatte er. Doch wenn er alles wiederholen würde, was sie gesagt hatte, würde er wie ein Idiot dastehen. Himmel, was hatte er zu gewinnen geglaubt, indem er sie mitnahm? Er hätte sie dort auf dem Parkplatz stehenlassen sollen, sie und ihren mickrigen kleinen Subaru und ihre Einkaufstüte voller Alkoholika.
»Machst du dir keine Gedanken, dass du vielleicht zu viel trinkst?«, fragte er und stürzte sich auf ein anderes Thema, so wie ein Mann, dem die Munition ausgeht, sich auf einen Stock stürzt.
»Ach, um …«
Sie fuhren über einen Hügel und sahen sich mit einer Reihe von Bremsleuchten konfrontiert, die sich bis zum Talboden erstreckte. »Scheiße!«, fluchte er. »Festhalten!« Er stieg auf die Bremse. Der Pick-up schleuderte, schrammte in einem Hagel aus Kies und altem Salz über den Fahrbahnrand und kam zehn Zentimeter vor der Stoßstange eines Toyota Corolla zum Stehen, dessen Fahrerin sie mit angstgeweiteten Augen im Rückspiegel beobachtete.
Er drehte sich zu Clare. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Sie klopfte sich auf die Brust. Holte tief Luft. »Ja.«
Er schaltete die Sirene ein und kroch auf die Gegenfahrbahn. Von dort konnte er das Hindernis erkennen – die Scheibenegge irgendeines Farmers hatte beschlossen, den Geist aufzugeben. Sie hing noch halb am Traktor, und die beiden Geräte blockierten den größten Teil der Fahrbahn. Der Farmer, der ergebnislos am Hinterrad der Egge gezerrt hatte, funkelte sie wütend an, als Russ neben ihm hielt. Russ stellte die Sirene ab, nicht aber das Blinklicht. Ließ das Beifahrerfenster heruntergleiten.
»Haben Sie niemandem, der Ihnen mit dem Ding helfen kann?«, erkundigte er sich.
»Nein, ich hab gottverdammt niemand, der mir mit dieser verdammten Scheiße hilft! Ich kriege weder für Geld noch gute Worte Scheißhilfe. Dreckskacke, verdammte.«
»Ich schicke Ihnen jemand von der Feuerwehr.« Russ schloss das Fenster vor dem stetigen Strom von Flüchen und fuhr um das instabile Gewirr herum, wobei er das nächste Auto fast bis in den Abwassergraben zwang, wenn es nicht gerammt werden wollte. Clare wies auf den Fahrer, der Russ mittels Körpersprache deutlich machte, was er von ihm hielt.
»Und noch ein zufriedener Kunde«, spottete sie.
»Der Idiot hätte nicht so dicht an die Unfallstelle fahren sollen.« Er gab ein wenig Gas. »Hast du die Nummer von John Huggins in deinem Handy?« John Huggins war der Leiter der hiesigen Feuerwehr.
»Nur zu Hause.«
Er zerrte sein Handy aus der Tasche und reichte es ihr. »Vielleicht ist er schon bei dem Autounfall. Sag ihm, er soll ein paar von seinen Leuten hier rüberschicken, um den Verkehr zu regeln und Farmer Miesnick zu helfen, seine Maschinen von der Straße zu ziehen.«
Clare studierte seine Kontaktliste. »Hab ihn.« Sie wählte und drückte das Handy ans Ohr. Als er an der Autoschlange vorbei war, gab Russ wieder Gas. »Äh, nein«, stotterte Clare neben ihm. »Hier ist Clare Fergusson.« Sie warf Russ einen Blick zu. »Er hat es mir gegeben. Er hat mich gebeten …« Sie seufzte. »Es geht ihm gut. Er sitzt direkt neben mir. Er hat mir das Handy überlassen, damit er sich aufs Fahren konzentrieren kann.«
Schweigen.
»Ja. Ist das ein Problem?« Ihr Ton war schneidend. »Nein, antworten Sie nicht. Hören Sie, wir haben hier einen Farmer, dessen …« Sie sah zu Russ hinüber.
»Scheibenegge«, soufflierte er.
»Dessen Scheibenegge den Geist aufgegeben hat, ungefähr zwei bis zweieinhalb Meilen von Napolis Laden die Cossayuharie Road hinunter. Russ – der Chief möchte, dass Sie ein paar Männer zum Helfen rüberschicken.« Mit der freien Hand fummelte sie an einer der Haarnadeln, die dazu dienen sollten – allerdings ohne besonderen Erfolg –, ihr whisky- und honigfarbenes Haar in einem Dutt an ihrem Hinterkopf zu befestigen. »Das weiß ich. Wir sind bereits auf dem Weg.« Sie verdrehte die Augen in Richtung Russ. »Danke – äh, Mr. Huggins.« Sie beendete die Verbindung. »Ich weiß nie, was ich zu ihm sagen soll. Er nennt mich immer Fergusson.«
»Auf Chief würde er bestimmt hören.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und produzierte ein unhöfliches Geräusch. »In dieser Stadt gibt es nur einen Chief, und der ist er ganz bestimmt nicht.«
Er blinzelte.
»Ich meine, man kann sich doch nicht selbst einen Titel geben und glauben, dass einen das zu einem Anführer macht«, sagte sie rasch. »Ich meine, Anführer ist man doch aus sich selbst heraus, der Titel kommt dann von allein. Ich meine, ich kann mich zwar Großfürstin Anastasia nennen, aber …«
»Ich weiß, was du meinst.«
Sie klappte den Mund zu. Stieß zischend die Luft aus.
»Du weißt, dass man Männer und Frauen nicht führen kann, ohne sich für sie verantwortlich zu fühlen.«
Sie wandte den Kopf ab. Schaute aus dem Fenster. Die Straße stieg ihnen entgegen, trug sie auf einen der Ausläufer des Gebirges, die sich in das wellige Farmland von Cossayuharie bohrten. Es wurde dunkel, als die Bäume sich um sie schlossen. Als sie sprach, war ihre Stimme fast nicht zu hören. »Ich wollte nie, dass du mich führst«, sagte sie. »Ich wollte nur …«
Er hörte nicht mehr, was sie wollte. Sie fuhren in einem großen Bogen nach unten und um einen tiefen Einschnitt im Hügel herum und dann lag der Unfall vor ihnen, an einer Stelle, wo der Wald in das Farmland ragte. Die Szenerie wirkte, als hätte ein Riesenkind mit Spielzeugautos gespielt und sie dann liegen lassen.
»Oh, mein Gott«, stöhnte Clare.
Zwischen den Bäumen lag ein großer weißer Lieferwagen auf dem Dach, dessen verbeulte Seite zeigte, wohin er gerollt war. Er musste sich mehrmals überschlagen haben. Nur ein Krankenwagen aus Corinth – er runzelte die Stirn –, aber er konnte zwei Sanitäter sehen, die sich über jemanden an der Seite des Lieferwagens beugten. Die Löschwagen der Feuerwehr parkten am Straßenrand, Huggins’ SUV direkt dahinter. Er stellte sich hinter Huggins. Ehe er den Motor ausschalten konnte, hatte Clare sich schon abgeschnallt und drückte die Tür auf. Sie lief zum Krankenwagen. »Bleib aus dem Weg«, rief er. Als Antwort hob sie nur die Hand.
Er entdeckte Kevin Flynn, der sich mit Huggins stritt. Hadley stand daneben, die Arme fest um sich geschlungen. »Sind Sie okay?«, fragte Russ. Sie nickte.
»… was für Hilfe sollten sie schon brauchen?«, sagte Huggins soeben zu Flynn. Das schuhlederne Gesicht des Feuerwehrchefs und seine vierschrötige kurze Gestalt ließen Flynn noch mehr als sonst wie einen Basketballspieler einer Schulmannschaft wirken, aber der Junge gab keinen Zentimeter nach.
»Das werden wir erst wissen, wenn Ihre Männer sie gefunden haben.«
»Beruhig dich, Kevin. Bericht.«
Flynn warf ihm einen frustrierten Blick zu. »Die Fahrerin sagt aus, dass sie ein lautes Geräusch gehört und dann die Kontrolle verloren hat. Sieht aus, als wäre der linke Vorderreifen geplatzt. Der Wagen brach aus und – Sie sehen ja selbst, was dann passiert ist.« Er wies mit dem Arm auf das aufgerissene zarte, junge Gras und die niedergewalzten Ahornschösslinge. »Keine Zeugen, die der Rede wert wären. Die Fahrerin sagt, sie hätte ein großes, kastenförmiges Fahrzeug gesehen, möglicherweise einen Aztec oder Hummer oder Jeep Cherokee, aber der hat nicht angehalten.« Er klang empört. »Hat auch nichts gemeldet. Die Fahrerein klagt über Schmerzen in Brust und Schultern und Atemprobleme. Außerdem kann sie die Beine nicht richtig bewegen und ist benommen. Einer der Männer ist bewusstlos, ein Mann hat sich den Arm gebrochen, und einer wurde ziemlich übel durchgeschüttelt.«
»Sind das alle Verletzten? Ein Fahrer, drei Passagiere?«
Kevin stieß die Luft aus. »Das weiß ich nicht. Knox und ich hatten Blaulicht und Sirene eingeschaltet. Genau nach Vorschrift.«
Russ nickte.
»Als wir auf der Hügelkuppe waren, sahen wir Männer in den Wald laufen; ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele. Sie haben sich zerstreut.« Er blickte an Russ vorbei, hinter dem die langen Schatten der Berge Wald und Felder in Dunkelheit tauchten. »Einige der Männer könnten verletzt sein.«
»Wie ich dem Jungen bereits gesagt habe: Wenn sie gesund genug waren, vor der Verhaftung wegzurennen, kommen sie ganz gut allein klar.« Huggins nahm den Helm ab und kratzte seine kahle Stelle. »Ich sehe überhaupt keinen Grund, meine Männer auf die Suche zu schicken.«
»Vor der Verhaftung wegzurennen?« Russ hatte die Frage an Flynn gerichtet, doch es war Huggins, der antwortete.
»Illegale. Muss so sein. Keiner von denen, die noch hier sind, spricht auch nur ein Wort Englisch. Vermutlich sind sie …, wo sie reingeschmuggelt werden.«
»Die Fahrerin ist Nonne«, protestierte Kevin.
Russ massierte unter der Brille seine Nasenwurzel. »John, wir arbeiten nicht bei der Grenzpolizei. Wir arbeiten für die Stadt, und die Stadt möchte nicht, dass Verletzte in den Wäldern von Cossayuharie herumlaufen, selbst wenn sie kein Englisch sprechen. Organisieren Sie die Suche, und lassen Sie Ihre Männer ein Muster abschreiten. Sagen Sie ihnen, sie sollen immer wieder No soy del I-C-E. Estoy aquí ayudarle. rufen. Können Sie das wiederholen?«
Huggins verzog das Gesicht, als müsse er etwas Ekliges schlucken. »No soy del I-C-E. Esstoy acki a-ju-darrel.«
»Das genügt.«
»Ich weiß nicht, warum die nicht einfach Englisch lernen können«, schimpfte Huggins und stapfte zurück zum Löschwagen.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Spanisch sprechen, Chief.«
»Bei der Armee sieht man es gern, wenn die Offiziere mehrsprachig sind. Ich hatte in Panama und auf den Philippinen Gelegenheit zum Üben.«
Flynn wirkte beeindruckt. Doch natürlich brauchte es nicht viel, um einen Vierundzwanzigjährigen zu beeindrucken, der den Staat New York noch nie verlassen hatte.
»Komm, schauen wir mal, was wir mit den Leuten anfangen können.« Er ging zu dem verbeulten Lieferwagen, und Flynn begleitete ihn. Nach einem Moment schloss Knox sich an. »Haben Sie irgendetwas gesehen oder gehört, das darauf hinweist, dass sie aus einem anderen Grund geflüchtet sein könnten?«
Flynn schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Nun …« Knox zögerte.
»Was?«
Russ blieb stehen und drehte sich zu seinem neuesten Officer um. Sie kaute auf ihrer Wange. »Hören Sie«, sagte er. »Sie wissen doch, dass Sie Ihren Kindern immer sagen, es gebe keine dummen Fragen. Nun, es gibt auch keine unwichtigen Einzelheiten. Auf alles zu achten, bei einem Unfall, an einem Tatort, auf Streife, wenn man jemanden anhält, könnte eines Tages den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Ihres Lebens und Tods.«
Sie nickte. »Okay. Ja. Zwei der Männer, die zurückgeblieben sind, haben sich über den Unfall unterhalten. Einer von ihnen sagte, er hätte zwei Knalle gehört, zwei Geräusche, als wenn ein Reifen geplatzt wäre, und der andere Mann meinte, er hätte drei gehört.« Sie sah Flynn an. »Aber Officer Flynn hat gesagt, es sei nur ein Reifen geplatzt. Als wir eintrafen.«
Flynn neben ihm wurde steif. »Du sprichst auch Spanisch? Warum hast du mir das nicht gesagt? Wir hätten die Männer befragen können!«
Sie zuckte die Achseln. »Du hast mir gesagt, unsere Aufgabe wäre es, die Unfallstelle zu sichern.«
Russ seufzte. »Hadley. Wir sind ein kleines Revier. Wir können es uns nicht leisten, dass sich jemand auf seinen Arsch setzt und sagt ›Das ist nicht meine Aufgabe‹. Entschuldigen Sie den Ton.«
»Ich habe mich nicht …«
Er hob die Hand. »Wir arbeiten als Team. Falls Sie dem Team irgendwie helfen können, ob mit einer Beobachtung, einem Talent oder speziellem Wissen, erwarte ich von Ihnen, dass Sie das tun. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Sir.«
Er ging weiter zu dem auf dem Dach liegenden Lieferwagen. Jenseits seines Blickfelds konnte er spüren, wie Knox Flynn mit wütenden Blicken durchbohrte. Er beschloss, es zu ignorieren.
Ein ferner Sirenenton klang durch die kühler werdende Luft, und einen Moment später erschien oben auf dem Hügel der Krankenwagen aus Millers Kill. Er fuhr so weit wie möglich an den Lieferwagen heran, und die Sanitäter waren bereits herausgesprungen und auf dem Weg zu den Verletzten, ehe die Sirene verstummte.
Nein … das war kein Echo des Krankenwagens. Weit unten im Tal, wo die Straße sich im nächsten Bergeinschnitt verlor, sah er rot-weiße Blinklichter, gefolgt von den blendenden Scheinwerfern eines dahinrasenden Fahrzeugs.
»Christus auf Krücken«, fluchte er. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, irgendein besoffener Volltrottel, der meinte, er könnte sich mit einem der Streifenwagen ein Rennen durch die Unfallstelle liefern. »Zurück!«, brüllte er die Sanitäter an, die einen Mann auf die Trage geschnallt hatten und nun zum Heck des Krankenwagens liefen. Er drehte sich in Richtung Huggins, der gerade seine Freiwilligen instruierte. »Alle runter von der Straße.«
IV
Wo war …? Er lief zum Krankenwagen, die Brust wurde ihm eng, bis er Clare entdeckte, die neben jemandem auf einer weiteren Pritsche kniete. Ihre Wüstenmontur leuchtete fahl in der anbrechenden Dunkelheit. Weit entfernt vom Straßenrand. Okay. Aus dem Augenwinkel sah er rote Haare aufflammen. »Kevin, ab zum Funkgerät«, kommandierte Russ. »Ich will wissen, was, zum Teufel …« Er verstummte.
Der rasende Wagen wurde langsamer. In der Schussfahrt. Die Reifen wirbelten Staub auf, als er auf den gegenüberliegenden Seitenstreifen steuerte und schleudernd zum Stehen kam. Der Streifenwagen folgte und parkte direkt dahinter.
Zwei Männer stiegen aus dem Auto, einem aufgemotzten GTO, der zu klein für Fahrer und Beifahrer schien. Ihre dunkelblonden Haare und langgliedrigen Körper ähnelten sich, obgleich einer der beiden einen rostroten Vollbart trug, der die untere Hälfte seines Gesichts vollkommen verbarg plus ein paar Zentimeter der oberen.
»Wer ist das?«, frage Knox.
»Bruce Christie und sein Bruder Donald«, erwiderte Russ.
»Was wollen die denn hier?«, fragte Flynn.
»Nun, das ist die Frage, oder?« Auf der anderen Straßenseite stieg Eric McCrea aus dem Streifenwagen und setzte seine Mütze auf. Er beobachtete die Christies stirnrunzelnd, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten. »Ihr beide geht rüber zu den Männern aus dem Unfallwagen«, befahl Russ, ohne sich umzudrehen. »Nehmt ihre Aussagen auf. Knox?«
»Ja, Sir?«
»Behalten Sie im Kopf, was ich Ihnen gesagt habe.«
»Ja, Sir.«
Die Christies gingen in Richtung Lieferwagen. Russ wollte sie aufhalten, aber zugleich gelassen erscheinen. »Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte er sich mit erhobener Stimme, um das Gewirr aus Fragen und Klagen und Funksprüchen, das die Luft erfüllte, zu übertönen.
Die Brüder blieben stehen. Blickten zu ihm hinüber. Als er dieses Paar das letzte Mal gesehen hatte, hielt er einen Knüppel in der Hand und drohte, Donald Christie die Kniescheiben zu zertrümmern, wenn er nicht nachgab und seinen Bruder vom Dew Drop Inn nach Hause fahren ließ.
Bruce, der Kleinere – sofern man einen der Christies als klein bezeichnen konnte –, legte beruhigend eine Hand auf die Brust seines bärtigen Bruders. »Chief Van Alstyne«, grüßte er.
»Bruce.« Russ wies mit dem Kopf auf ihren frisierten Angeberwagen. »Sie hatten es aber verdammt eilig, herzukommen.«
»Ihr Mann war drüben bei Donald, als der Funkspruch kam. Wir haben gehört, dass sich ein Lieferwagen überschlagen hat.« Bruce warf einen Blick zu dem Fahrzeug, dessen Gestell nach oben wies. »Wir haben einen Lieferwagen. Wir wollten uns vergewissern, dass es nicht unserer ist.« Wie alle Christies sprach Bruce mit schwerem Cossayuharie-Akzent.
Russ schüttelte den Kopf. »Nein, es sei denn, Sie hätten ihn einer Nonne geliehen.«
»Einer Nonne!« Donald Christies Augen wurden groß. »Zur Hölle, nein. Wir kennen keine Nonnen nich.« Russ roch einen Hauch von Schafen und Mist, als der große Mann seine Stiefel am Asphalt abkratzte.
»Das weiß er, Donald.« Bruce, allgemein bekannt als das Gehirn der Familie, verdrehte die Augen. »Was ist passiert?«
»Geplatzter Reifen. Sie hat die Kontrolle verloren.« Russ zuckte die Achseln. »Nur vier oder fünf Verletzte, nichts Lebensgefährliches.«
Bruce wies mit seinem eckigen Kinn auf die Löschwagen. »Kann er explodieren? Einen Brand auslösen?«
»Nein.«
»Warum trampeln die Feuerwehrleute dann hier rum?«
Russ drehte sich um und sah eine Reihe von Huggins’ Freiwilligen zwischen den Bäumen verschwinden. Er wandte sich wieder an die Christies. »Warum interessiert Sie das?«
Bruce nickte in Richtung Wald. »Das ist Christie-Land. Das ganze Gebiet den Berg hoch und runter und die Weiden unten.« Er zeigte auf die Lichter eines Hauses, die in der Ferne blinkten. »Da drüben ist Donalds Haus. Wenn ein Brand droht, wollen wir das wissen.«
»Selbstverständlich. Nein, Ihr Besitz ist sicher. Die Nonne – die Schwester – hat eine Gruppe, äh, Wanderarbeiter gefahren. Einige sind weggelaufen, als sie meine Männer gesehen haben. Meine Officer«, korrigierte er sich.
»Wanderarbeiter? Sie meinen Mexikaner?« Bruce runzelte die Stirn.
»Diejenigen, die geblieben sind, sprechen Spanisch. Ich weiß nicht, woher sie kommen.«
»Mexikaner. Die frei in unseren Wäldern rumlaufen.« Er sah seinen Bruder an, der dem größeren Mann mit dem Daumen gegen die Brust stieß, eher er sich wieder an Russ wandte.
»Sie werden sie einfangen«, forderte Bruce.
»Wir werden es versuchen, ja. Wir müssen wissen, ob einige von ihnen Hilfe brauchen.«
»Wenn sie Hilfe brauchen« – Donald klang, als ob er ausspucken wollte – »bekommen sie eine Freifahrt zum Krankenhaus und so viel zu essen, wie sie wollen. Wenn einem von uns was fehlt, müssen wir selbst zur Klinik fahren und eine Stunde warten, bis sich eine Frau um uns kümmert, die noch nicht mal Arzt ist. Und wir sind Amerikaner. Die Christies leben hier seit 1720!«
Und haben sich vermutlich die ganze Zeit durch Inzest vermehrt.
»Ruhe«, sagte Bruce. »Können wir irgendwie helfen? Sie einzufangen, meine ich.«
»Sie … wollen helfen?«
»Ich will, dass sie von unserem Land verschwinden.« Bruce sah nach oben, wo der erste Stern am rosablauen Himmel schimmerte. »Falls es heute Nacht kalt wird, werden sie nicht in den Wäldern frieren, wenn sie durch die Wiesen spazieren und in einer von Donalds Scheunen Schutz suchen können.«
»Sachen klauen«, fügte Donald hinzu.
»Wir sollten die anderen Jungs holen.« Bruce wandte sich an seinen Bruder. »Wo ist dein Handy?«
»Brrr, stopp.« Russ hob die Hand. »Ich werde niemanden zum Suchen schicken, der was gegen Immigranten hat.«
Donald trat einen Schritt auf ihn zu. »Glauben Sie, Sie können uns von unserem eigenen Besitz fernhalten?«
Bruce stieß ihn wieder zurück. »Ruhe.« Er sah Russ an. »Wir wollen nichts anderes als Sie, Chief. Dass die Männer von unserem Land verschwinden. Bringen Sie sie ins Krankenhaus oder schaffen Sie sie zurück nach Mexiko, mir völlig egal, was Sie mit ihnen anstellen, sobald sie hier weg sind. Ha?« Er warf seinem Bruder einen Blick zu. »Ha? Benimm dich.«
Donald grollte in sich hinein, nickte aber.
»Okay«, fuhr Bruce fort. »Wir können ein paar von unseren Cousins anrufen, damit sie bei der Suche helfen. Oder wenn Sie das nicht wollen, können sie auf der anderen Waldseite campieren. Das Land auf der anderen Seite der Seven Mile Road gehört Donald. Sie können alle aufhalten, die aus dem Wald kommen.«
Russ nahm die Brille ab und putzte sie mit dem Hemdzipfel. Seven Mile Road war per Auto verdammt weit weg. Dieser Ausläufer des Gebirges war größer, als er geglaubt hatte – wesentlich größer. »Okay«, stimmte er zu und setzte seine Brille wieder auf. »Sie können uns unterstützen. Sie und Ihre Cousins.« Er hakte die Daumen in den Gürtel, was ihn größer wirken ließ und die Aufmerksamkeit auf seine Waffe lenkte. »Aber ich warne Sie, und das nur ein einziges Mal. Wenn es Probleme gibt, wenn es an irgendeinem Punkt so aussieht, als würden Sie einen der vermissten Männer schikanieren, nehme ich Sie alle fest. Dann überlasse ich es der Staatsanwältin, festzustellen, wer wem was angetan hat. Sie dürfte dafür nicht länger als ein paar Wochen brauchen.«
Donald knurrte erneut, bedrohlich, aber Bruce nickte. »Abgemacht.« Er streckte die Hand nach seinem Bruder aus. »Gib mir dein Handy.« Der größere Christie griff in die Innentasche seiner Jacke, eine Bewegung, die unangenehm an jemanden erinnerte, der eine Waffe aus dem Schulterhalfter zieht. »Wie viele von diesen Typen sind denn abgehauen?«, erkundigte sich Bruce.
»Gute Frage. Gehen wir rüber und stellen fest, was meine Officer herausgefunden haben.« Er trat einen Schritt zurück und ließ viel Raum, damit die Christies neben ihm hergingen, nicht hinter ihm. Von links hörte er das satte Klonk einer zuschlagenden Tür, und die Rückleuchten des Krankenwagens aus Corinth blinkten rot und weiß. Er fuhr von dem zertrampelten Flecken Erde herunter, auf dem er geparkt hatte, hielt kurz am Seitenstreifen und bog dann mit aufleuchtendem Blaulicht auf die Straße ab. Zurück blieb eine einsame Gestalt in Wüstenmontur, die sich umdrehte, ihn entdeckte und auf ihn zulief. »Russ«, rief sie.
»Gleich«, antwortete er. Sie trafen gleichzeitig am Krankenwagen aus Millers Kill ein. Karl und Annie, die beiden Sanitäter, befestigten soeben einen aufblasbaren Gips am Arm eines jungen Latinos, dessen verschlossene Miene eine Folge des Schmerzes sein mochte oder auch des extremen Widerwillens, mit Knox zu reden, die auf dem Boden neben der Pritsche kauerte.
»Por los menos dígame si cualasquiera de sus amigos estovieron lastimados«, sagte sie gerade. Der Verletzte ignorierte sie. Sie stand auf und drehte sich zu Russ.
»Hal-lo, Baby«, sagte Donald. Er schnalzte und schmatzte mit den Lippen. Kevin Flynn, der breitbeinig hinter Knox stand, wurde flammend rot. Er öffnete den Mund.
»Wenn ich dein Baby wäre, du Arschloch, wäre ich vermutlich blöd genug, um das schmeichelhaft zu finden. Aber das bin ich nicht, und ich tue es nicht. Zieh Leine.« Hadley sah Russ an. »Das Einzige, was ich aus ihm rauskriege, ist, dass er Amado heißt und behauptet, legal hier zu sein. Er hat so eine Art Gastarbeitergenehmigung. Die zeigt er ganz bereitwillig vor, aber alles andere kann man vergessen.«
Kevin starrte sie an, seine Miene eine Mischung aus Bewunderung und Schock. Russ verzog keine Miene. »Danke, Officer Knox.« Er ließ sich auf ein Knie hinunter – hocken war bereits vor vier oder fünf Jahren aus seinem Körpervokabular verschwunden – und betrachtete den Burschen. Er war jung, kaum Anfang zwanzig, und sein schütterer Bart und das Schnauzbärtchen ließen ihn wie einen Jungen wirken, der sich für die Schulaufführung kostümiert hat.
»Amado.« Er tippte auf sein Dienstabzeichen. »Yo no soy del ICE. No cuido sobre su estado.«
Clares Stimme. Überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass du Spanisch sprichst.«
Er sah sie nur an. Wandte sich wieder an den verletzten Mann, der zusammenzuckte, als Annie die letzten Kreppverschlüsse der Schiene festzurrte. »Amado, charla a mí.«
»Yo soy Amado Esfuentes. Soy legal.«
»No cuido. Deseo encontrar a sus amigos y ayudarles. ¿Cuántos de ellos están fuera de allí? ¿Cualquier persona estuvo lastimada?«
»Was hat er gesagt?«, fragte Flynn.
»Dasselbe wie ich«, erwiderte Knox. »Wie viele da waren, ob jemand verletzt wurde.«
»Russ.« Clares Stimme klang drängend. »Ich weiß, wie viele Männer es waren.«
Natürlich tat sie das. Er stellte überrascht fest, dass ein Teil von ihm amüsiert war, inmitten der polizeilichen Ermittlungen. Genau wie früher. Er stützte sich mit der Hand auf seinem Schenkel ab und erhob sich.
»Schwester Lucia sagt, im Lieferwagen wären acht Männer gewesen. Sie wollten zu Michael McGeochs Farm.«
Er massierte unter der Brille seine Nasenwurzel. »Mike McGeochs Farm? An der Lick Springs Road?«
Sie schüttelte den Kopf, wobei sich weitere Strähnen lösten. »Wo, hat sie nicht gesagt.«
Donald Christie beobachtete sie, vielleicht neugierig wegen ihrer Kampfmontur, ließ jedoch keine Anzeichen erkennen, es noch einmal mit seiner Charmeoffensive versuchen zu wollen. Selbstverständlich war sie auch nicht so offensichtlich attraktiv wie Knox. Ein Trottel wie Christie wusste eine Frau wie Clare überhaupt nicht zu schätzen.
Er drehte sich zu dem Verletzten um. Karl und Annie halfen ihm auf die Beine. Im Schein der Innenbeleuchtung des Krankenwagens wirkte er unter seiner karamellfarbenen Haut und dem spärlichen Bartwuchs grau. Annie runzelte die Stirn. »Sie werden die restlichen Fragen im Krankenhaus stellen müssen, Chief. Wir müssen ihn und den anderen Mann abtransportieren.«
»Okay. Danke, Annie.« Russ wies auf die Christies. »Sie zwei. Gehen Sie zum Löschwagen und lassen Sie sich von John Huggins für die Suche einweisen, ehe Sie jemanden von Ihrer Familie rufen.« Dankbar schlurften sie ohne Widerspruch davon. »Und denken Sie an meine Worte«, rief er hinter ihnen her. »Knox, Kevin.«
»Ja, Sir.«
»Ja, Chief?«
»Sie sichern den Lieferwagen, bis der Abschleppdienst kommt. Kevin, du zeigst Knox, wie man einen Unfallbericht schreibt.«
Aus dem Augenwinkel sah er die Wüstenmontur hinter sich entlanggehen. »Wo willst du hin?«, fragte er.
»Bei der Suche helfen.« Clares Miene sagte: Was hast du denn gedacht, was ich vorhabe?
Bei der Suche helfen. Klar. Es war müßig zu hoffen, dass sie sich ein einzigen Mal heraushielt. »Ich fahre jetzt«, knurrte er.
»Ach, ich finde schon jemanden, der mich mitnimmt.«
Er seufzte. Winkte seine jüngeren Officer heran. »Sorgt dafür, dass Reverend Clare zurück zu ihrem Auto gebracht wird. Und dann nach Hause fährt.«
»Möchten Sie, dass wir uns an der Suche beteiligen, Chief?« Kevin klang, als würde er nichts lieber tun. Hadley dagegen wirkte entsetzt.
»Ja, so ist es. Knox, Sie sprechen hier als Einzige Spanisch. Achten Sie darauf, verfügbar zu sein, wenn es notwendig werden sollte.«
»Ja, Sir.«
»Fahren Sie zum Krankenhaus, Chief?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fahre zu den McGeochs und sage ihnen, dass ihre Landarbeiter abgehauen sind.«
Clares Miene, die in der einbrechenden Dunkelheit von den rot-weißen Blinklichtern eingerahmt wurde, veränderte sich. Sie hatte begriffen.
»Kennen Sie ihn, Chief?«, fragte Flynn.
»O ja.« Er seufzte. »Er ist mein Schwager.«
V
Amado hörte ihn, ehe er ihn sah. Einer seiner Leute, keine Taschenlampe, kein Rufen mit grauenhaftem Akzent: »Wir sind nicht von der Einwanderungsbehörde. Wir wollen Ihnen helfen!« Nur die stampfenden Schritte und der peitschende, krachende Lärm eines Mannes, der durch den Wald rennt. Idiot. Dünne Strahlen Mondlicht fielen durch das kahle Geäst und die Kiefern, doch das Licht reichte nicht aus, um zu rennen, als sprinte man eine Straße entlang. Er hatte viel Zeit damit verbracht, sich im Dunkel zu verbergen. Das Zauberwort hieß: langsam. Man musste sehen, wohin man ging, und sich dann bewegen wie Rauch, lautlos, sicher.
Gott sei Dank war es nicht sein kleiner Bruder, der durchs Gehölz brach. In der Verwirrung nach dem Unfall – stöhnende, fluchende Männer, Schwester Lucia, die darauf bestand, dass es ihr gutging, trotz ihres blutigen Kopfs und der flachen Atmung – hatte er Octavios Arm gesehen. Sofort gewusst, dass der Junge ins Krankenhaus musste. Wo er sich, ohne Papiere und Arbeitserlaubnis, der Ausweisung gegenübersah. Amado hatte seine Arbeitserlaubnis und seinen Ausweis in die Tasche seines Bruders gestopft. »Du bist Amado«, hatte er gesagt. »Ich werde Octavio sein.« Octavio hatte ihn ausdruckslos angesehen, der Blick glasig vom Schock. »Sag es dir immer wieder«, hatte Amado ihn gedrängt. »Du bist Amado Esfuentes. Du bist Amado Esfuentes.«
»Ich bin Amado Esfuentes«, wiederholte Octavio.
Amado war so lange geblieben, wie er es gewagt hatte, bis die Lichter des Polizeiwagens oben auf der Hügelkuppe auftauchten. Dann war er mit den übrigen Unverletzten in den Wald geflohen. Sein Ausweis würde die Sicherheit seines Bruders gewährleisten. Sie sahen sich ähnlich, und die jämmerliche Imitation eines Barts, die Octavio trug, ließ die Unterschiede zwischen ihren Gesichtern noch weiter verschwimmen. Außerdem hatten Anglos sowieso Schwierigkeiten, mehr als die Hautfarbe zu sehen.
Ein lauter Aufprall, gefolgt von einem Stöhnen, ließ ihn in die Gegenwart zurückkehren: Esteban. Er war als Einziger blöd genug, so durch die Dunkelheit zu stolpern. Amado erwog einen Moment, einfach in seiner Baumstammhöhle zu verharren. Dann hörte er ein schwaches Wimmern. Heilige Mutter Gottes. Warum die Familie diesen Jungen jemals aus dem Haus gelassen hatte, ganz zu schweigen davon, ihn nach Norden zu schicken, ging über Amados Verstand. Resigniert kroch er aus den Schatten und bewegte sich – langsam, lautlos – in Richtung des Schniefens.
Der arme Junge lag platt auf dem Waldboden und versuchte verzweifelt, sein Schluchzen zu unterdrücken. Einige der Jüngeren erwischte es gelegentlich auf diese Weise. Amado hatte das schon vorher erlebt. Rede einem Jungen ein, er wäre ein Mann, und schaff ihn zweitausend Meilen weit weg an einen kalten, unwirtlichen Ort. Er sehnt sich nach seiner Mutter, seiner Freundin, seinem Zuhause. Er stolziert herum wie ein Kampfhahn, um seine Ängste zu verbergen, und weint in der Dunkelheit, wenn er glaubt, niemand könnte ihn hören.
Amado war dieser Junge gewesen – früher. Er blieb hinter der Kieferngruppe stehen und hüstelte, um Esteban Gelegenheit zu geben, sich zu fassen, während er noch glaubte, nicht gesehen worden zu sein. »Ist da jemand?«, fragte Amado.
Die Gestalt, unkenntlich in Jeans und Steppjacke, fuhr auf und kroch rückwärts, das Gesicht bleich und verängstigt. Scheiße! Ein Anglo! Er verschmolz wieder mit den Schatten, bereit zu verschwinden, als der Junge, der immer noch rückwärts kroch, gegen einen Baum prallte, was Amado zusammenzucken ließ. Es war nicht Esteban, aber er bewegte sich ebenso anmutig und koordiniert. Seine Baseballkappe fiel herunter und enthüllte lange blonde Haare.
Also kein Junge. Definitiv kein Junge. Das Mädchen hob die Hände und flüsterte in unmöglich schnellem Englisch. Sie flehte, das konnte er an ihrem Ton erkennen, aber um was? Hilfe? Amado trat ins Mondlicht, damit sie ihn sehen konnte, die Hände ausgestreckt und offen, die Arme entspannt. »Ich tu dir nichts«, sagte er, aber sie konnte ihn natürlich nicht verstehen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten – nicht gut – und sagte etwas, trotzte offensichtlich ihrer Angst. Ein Wort erkannte er: Polizei.
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte er. Langsam, die Arme weiter abgespreizt, setzte er sich auf die rostige Matte aus Kiefernnadeln unter ihnen. Machte sich kleiner. »Keine Polizei.«
»Keine Polizei«, wiederholte sie auf Englisch.
Er nickte. »Keine Polizei.« Er lächelte sie an. »Ich verdiene mein Geld mit Kühemelken.« Er imitierte die altmodische Bewegung des Handmelkens. »Ich schaufle Mist.« Er schwang eine unsichtbare Ladung mit einer eingebildeten Mistforke. »Ich fahre Heu ein« – das konnte man nicht nachmachen –, »und am Ende des Tages trete ich mir die Scheiße von den Stiefeln.« Er wischte sich die Stiefelsohlen am Waldboden ab. Beruhigende Sätze, die Art Unsinn, die er dem Vieh zuraunte, während er arbeitete. All diese Worte, die zusammen nur eins bedeuteten: Ich bin keine Bedrohung für dich.
Sie trat von der riesigen Kiefer weg, die ihr als Stütze gedient hatte. Sie beugte sich ein bisschen vor, um ihn besser sehen zu können. Im Licht des Mondes erkannte er, dass sie kein Mädchen war, sondern eine Frau in seinem Alter. Außerdem ahnte er nun, warum sie sich in ihrem eigenen Land – zumindest nahm er das an – vor der Polizei versteckte. Sie roch nach Marihuana.
Sie sagte etwas. Er verstand das Wort Mexikaner.
»Ja«, erwiderte er. »Ich bin Mexikaner. Aus Oaxaca.« Nicht, dass sie wüsste, wo das lag. Eine Hand an der Wolljacke, verbeugte er sich so gut, wie es ihm im Schneidersitz auf dem kalten Boden möglich war. »Amado Esfuentes, zu Ihren Diensten.«
»Amado Esfuentes«, wiederholte sie.
Er nickte. Fragte sich, ob er sich als Octavio hätte vorstellen sollen. Er musste sich daran gewöhnen. Andererseits, sie würde ihn wohl kaum den Behörden melden, nicht wahr?
Sie lächelte ein wenig und beugte sich etwas mehr herunter, wie ein neugeborenes Kalb, das ihn durch die Hinterbeine der Mutter beobachtete. Sie imitierte seine Bewegung und strich ihre Steppjacke glatt, was zeigte, dass sie absolut definitiv eine Frau war. »Isabel«, sagte sie. »Isabel Christie.«
Englische Vokale klangen immer so flach. »Isobel Christie«, sagte er.
Sie lächelte wieder, breiter jetzt. »Genau, Isobel.«
Langsam, eine Hand weiterhin ausgestreckt, so dass sie sie sehen konnte, griff er in seine Jackentasche. Sie schrak zurück. »Alles in Ordnung«, sagte er in demselben Ton, den er angeschlagen hätte, um eine nervöse Kuh oder ein ängstliches Pferd zu beruhigen. Er zog einen extragroßen PayDay-Schokoriegel heraus und hielt ihn ihr hin. »Hast du Hunger?« Er wedelte mit der Süßigkeit. »Nur zu. Du kannst ihn haben. Ich habe noch mehr.«
Sie streckte die Hand aus und griff mit den äußersten Fingerspitzen nach dem Riegel, und dann war er, schneller, als das Auge verfolgen konnte, von seiner Hand in ihre gewandert. Er nickte wieder und holte einen zweiten Riegel für sich selbst heraus.
Sie riss die Verpackung auf und schlang das Konfekt herunter, als wäre dies heute ihre erste Mahlzeit. Als er das Dope gerochen hatte, war er davon ausgegangen, dass sie Hunger hatte.
Sie beäugte den Riegel in seiner Hand. Er zog noch einen PayDay heraus – seinen letzten – und reichte ihn ihr. Diesmal nahm sie ihn eher entgegen, als ihn ihm aus der Hand zu reißen, und setzte sich ihm gegenüber, das Gesicht ihm zugewandt. Sie aß den zweiten Riegel fast ebenso schnell wie den ersten, dann beobachtete sie ihn, während er seinen langsam aß, die Erdnüsse zwischen den Zähnen zermalmte.
»Nun«, sagte er auf Spanisch. »Jetzt habe ich mich vorgestellt und über meine Arbeit und mein Zuhause gesprochen und eine Mahlzeit geteilt. Das habe ich zum letzten Mal bei einer arrangierten Verabredung mit der Schwägerin meines Freundes Geraldo getan. Ich nehme an, ich müsste dich jetzt nach Hause begleiten und mich deinen Eltern vorstellen.«
Sie zog die Knie an und schlang die Arme darum. Sie sagte etwas zu ihm, und ihr Ton war so angenehm, dass er sich wünschte, er könnte sie verstehen. Dann lächelte sie ihn strahlend an.
»Vielleicht ist dies das Geheimnis guter Beziehungen zwischen Männern und Frauen«, bemerkte er. »Kein Wort von dem zu verstehen, was der andere sagt.«
In der Ferne hörte er eine hohe, dünne Stimme. »Izzy!«, rief sie. »Izzy!«
Das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste. Ihre Augen wurden so groß, dass man das Weiße erkennen konnte. Er musste kein Englisch verstehen, um ihr verängstigtes Flüstern übersetzen zu können. O Gott.
Sie beide kamen taumelnd auf die Beine, während die Stimme zu hören war, bettelnd, trügerisch. Sie erinnerte ihn daran, wie sein Großvater immer liebevoll die Hühner angesäuselt hatte, ehe er eines packte und das Beil anlegte. Die Frau sah sich panisch um, ihre langen blonden Haare flogen im Mondlicht. Zu hell. Amado hob ihre Kappe vom Boden auf und reichte sie ihr. Sie drehte ihr Haar zu einem Strang und stopfte es unter die Mütze.
»Isobel«, sagte er leise. Sie sah ihn an, am Rand der Panik. Er legte den Finger auf die Lippen und zeigte durch die Bäume auf sein Versteck. Er bot ihr die Hand. Komm mit.
Sie ergriff seine Hand. Ja.
Er drehte sich um und bahnte sich den Weg zwischen den Bäumen hindurch, ließ sich Zeit, schaute erst, wohin er wollte, und bewegte sich dann. Sie zerrte an seinem Arm, schob, versuchte, ihn anzutreiben, ein Wimmern in der Kehle. Er drückte ihre Hand und tätschelte ihren Arm, einmal, zweimal, verwandelte das Tätscheln in eine Geste, die die vor ihnen liegenden Wälder umfasste. Langsam. Lautlos.
Er trat über eine umgestürzte Kiefer und wich einem Dickicht scharfdorniger Büsche aus, das daneben wucherte. Direkt auf der anderen Seite der Dornen stand ein gewaltiger Ahorn, gespalten von Alter, einem Blitz oder Eis, dessen Krone zur Hälfte in die Höhe ragte und Knospen trug, während die andere gegen den Stamm lehnte. Die toten Äste wurden von jahrzehntealtem Laub, Kiefernnadeln und winzigen Schlingpflanzen nach unten gedrückt, so dass sich der Waldboden wie eine Woge zu erheben schien. Er zeigte dorthin.
Sie drehte die Handflächen nach oben, signalisierte Verwirrung. Was?
Er beugte sich vor, machte sich so dünn wie möglich und schlängelte sich an dem dornigen Gebüsch vorbei. Kleine Zweige zitterten und bogen sich, als die Dornen sich in seiner Wolljacke verhakten, aber dann war er durch, hockte sich hin und kauerte in der Öffnung des modrigen Blätter-und-Büsche-Zelts.
Sie nickte. Folgte seiner Spur, trat dorthin, wohin auch er getreten hatte, die Arme ausgestreckt, um sich so dünn wie möglich zu machen. Die Dornen ratschten über ihre Nylonjacke.
»Izzy? Izzy!« Die Stimme klang lauter, näher, gemeiner. Er – es war ein Er, Amado war ganz sicher – war stehen geblieben und tat so, als wollte er seine Hühner füttern. Jetzt konnten sie das Beil in seiner Hand hören. Die Frau erstarrte einen Moment, das Gesicht vor Angst verzerrt, aber ehe Amado ihr etwas Ermutigendes zuflüstern konnte, öffnete sie die Augen und machte einen weiteren Schritt. Einen, zwei, und dann war sie durch, streckte ihm die Arme entgegen. Er ergriff ihre Hände und hielt sie fest, ehe er auf das Versteck wies.
Sie kroch, drehte sich um und rutschte auf dem Rücken hinein, tiefer und tiefer, brach kleine Zweige ab, mit einem Geräusch, das angesichts der in der Luft wütenden Stimme wie Gewehrschüsse klang. Amado kroch hinterher, so weit er konnte, und dann saßen sie Knie an Knie einander gegenüber, in einer Dunkelheit, die so vollkommen war, dass er nur das verschwommene Weiß ihres Gesichts erkennen konnte. Der Geruch, Schimmel und Fäulnis und Marihuana, machte ihn schwindeln.
»Izzy! Gottverdammt! Komm sofort her, du Nutte.«
Ihre Hände zitterten an seinen, und er drückte sie fest. Sie hatte Schwielen, ebenso wie er. Eine Frau, die an harte Arbeit gewöhnt war, genau wie er. Selbst in seinem festen Griff zitterten ihre Hände. Er zog, sanft, bestimmt, bis sie sich vorbeugte und er einen Arm um sie legen und ihren Kopf in seiner Halsbeuge bergen konnte. Sie schauderte und atmete tief ein. Hörte auf zu zittern. Er hielt sie, dieser Fremde, schützte sie vor der Stimme, die tobte und kreischte und Dinge androhte, die er sich nicht einmal vorstellen konnte.
VI
Die Oberschwester der Notaufnahme des Washington County täuschte eine Begriffsstutzigkeit vor, die Clare lustig gefunden hätte, wäre sie weniger müde gewesen.
»Reverend Clare? Sind Sie das?« Alta kam um die Rezeption herum, ohne den Blick von Clares Uniform abzuwenden, deren Kaffeeflecken-Design mittlerweile durch mehrere Streifen zerquetschten Grüns und laubbraune Flecken ergänzt wurde, nachdem sie zwei Stunden im Wald herumgekrochen war, auf der vergeblichen Suche nach den vermissten Männern. »Gütiger Himmel, haben Sie das Pfarramt aufgegeben? Hatten Sie nicht erst letzte Woche Dienst?«
Clare diente im Wechsel – und ohne Bezahlung – als Krankenhausgeistliche, gemeinsam mit Reverend Inman von den Baptisten und Dr. McFeely von den Presbyterianern.
Sie seufzte. »Hi, Alta. Ja, ich war letzte Woche hier, und nein, ich habe die Pfarrstelle nicht aufgegeben. Ich bin eine Wochenendkriegerin.«
Alta wirkte unsicher. »Es ist Dienstagabend.«
»Ich bin eine Wochenendkriegerin, die mit ihren Flugstunden meilenweit hinterherhängt. Ich fahre an meinen freien Tagen immer nach Fort Dix oder Latham, um in die Luft zu kommen.«
»Flugstunden? Dann dienen Sie nicht als Geistliche?«
»Nein. Sie haben mich wieder auf den Pilotensitz verfrachtet.«
»Nun, Gott segne Sie.« Alta umarmte sie zum ersten Mal in ihrer dreijährigen Bekanntschaft. »Nach vorn treten, wenn dein Land dich braucht.« Sie hielt Clare auf Armeslänge von sich. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu kennen.«
Clare machte einen kläglichen Versuch, zu lächeln. »Ja, danke. Hören Sie, ich bin hier, um nach Schwester Lucia Pirone zu sehen. Sie wurde …«
Alta trat wieder hinter den Tresen. »Gebrochene Hüfte und innere Blutungen unbekannten Ursprungs, ja. Sie wurde zum MRT nach Glens Falls gebracht.« Der Moment des Ruhms war eindeutig vorüber.
»Was ist mit den Verletzten, die sie gefahren hat?«
Alta beugte sich über ihren Computer. »Besinnungslos-mit-Quetschungen ist über Nacht zur Beobachtung hier.« Sie sah zu Clare hoch. »Routine bei Verdacht auf Gehirnerschütterung.« Sie richtete sich auf. »Der mit den Hautabschürfungen und Blutergüssen ist zusammengeflickt und vor ungefähr einer halben Stunde entlassen worden. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt steckt.«
»Sie haben ihn einfach gehen lassen?«
Alta blickte über die Schulter und winkte dann Clare heran. Verwirrt beugte Clare sich vor. »Eine Beamtin aus Albany ist aufgetaucht.«
»Eine Beamtin?«
»Vom Zoll.« Alta verdrehte die Augen. »Früher auch bekannt als Einwanderungsbehörde. Irgendein Jungspund mit Betriebswirtdiplom hat ihnen vermutlich eingeredet, sie müssten sich umbenennen.« Sie senkte die Stimme. »Egal, ich hab dem Typen zehn Dollar und den Prospekt mit Adressen von Obdachlosenheimen in die Hand gedrückt. Ich weiß nicht, ob ihm das weiterhelfen wird, da er kein Englisch spricht, aber …«
»Das Krankenhaus hat die Männer gemeldet?«
Alta richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter achtundfünfzig auf. »Natürlich nicht! Offensichtlich hat jemand von der Unfallstelle aus angerufen.«
Einer der Polizisten? Nein. Keiner von Russ’ Officern würde so etwas tun, ohne es zu melden. John Huggins – das war eine ganz andere Sache. »Was ist mit dem dritten Mann?«, fragte sie Alta.
»Der gebrochene Arm? Er wird gegipst. Er kann entlassen werden, sobald Dr. Stillman ihn freigibt.«
»So schnell?«
Alta warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte: Und Ihr medizinisches Wissen haben Sie von …?
»Ich meine ja nur. Als Chief Van Alstyne sich letztes Jahr das Bein gebrochen hat, musste er operiert werden und über Nacht hierbleiben.«
»Der Chief« – war es Einbildung, oder betonte Alta den Titel auf ganz spezielle Weise? – »hatte eine offene Fraktur, die genagelt werden musste. Der Bruch des Illegalen ist absolut glatt. Einfach etwas Fiberglas drauf und fertig.«
Clare erwischte sich dabei, wie sie über ihre Schulter blickte, genau wie die Oberschwester kurz zuvor. »Was wird mit ihm geschehen? Wann wird er entlassen?«
Alta warf die Arme hoch. »Weiß der Himmel. Die Frau vom Zoll hat sich bereits seine Papiere angesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Den ganzen Weg von Albany wegen drei Farmarbeitern. Ich wünschte, die Regierung wäre so flott gewesen, als mein Ex-Mann aufgehört hat, Unterhalt für die Kinder zu zahlen. Die Betreuer sind schon auf dem Weg, um mit ihr zu reden.«
»Die Betreuer?«
»Die Leute, die die Männer angeheuert haben. Sie sind verantwortlich für deren Arbeitserlaubnis. Zumindest hat man mir das so erklärt.«
Betreuer. War das die Firma, die die Papiere besorgt und sich um den Transport gekümmert hatte? Oder waren das …
Die altmodischen Schwingtüren der Notaufnahme flogen krachend auf und gaben Russ Van Alstyne frei. Er wirkte nicht besonders glücklich, und seine Stirnfalten wurden noch tiefer, als er Clares ansichtig wurde.
Er marschierte den grüngestrichenen Flur hinunter zum Wartezimmer. In seinem Schlepptau folgte ein besorgt wirkender Mann mit mehr Haaren im Schnurrbart als auf dem Kopf, gemeinsam mit einer langgliedrigen blonden Frau, die so sehr wie eine weibliche Ausgabe von Russ wirkte, dass sie seine …
… Schwester sein musste. Oh.
»Was willst du denn hier?«, knurrte Russ. »Ich dachte, ich hätte Knox und Kevin angewiesen, dich nach der Suche nach Hause zu bringen.«
Sie verkniff sich die erste Antwort, die ihr in den Sinn kam. Du hast mir gar nichts zu sagen! »Mach ihnen keine Vorwürfe«, antwortete sie stattdessen. »Sie haben es versucht.«
Die Tür zu den Behandlungsräumen öffnete sich. Ein Doktor im weißen Kittel kam herein und ging zu Altas Tresen. Er zögerte, als er Russ sah, und öffnete den Mund, aber der Polizeichef ging ohne einen Blick an ihm vorbei und blieb vor Clare stehen. »Oh, ihnen mache ich keinen Vorwurf, bestimmt nicht.«
Als Priesterin führte Clare oft seelsorgerische Gespräche, und sie war gut darin. Sie erkannte die Waffen der Trauer: Zorn, das Bedürfnis, zu verletzen, die Welt auf Abstand zu halten. Sie kannte die Folgen von Schuldgefühlen: sich krümmen, wegducken, beinah alles tun, um sich nicht der schwärenden Wunde im Herzen stellen zu müssen. Sie erkannte sie. Sie wusste darum. Und es half ihr kein verdammtes bisschen, als sie jetzt Russ Van Alstyne gegenüberstand, der sich aufführte, als hätte sie ihm irgendwie unrecht getan.
»Wenn du ein Problem mit mir hast, spuck’s aus«, blaffte sie. »Sonst lass mich in Ruhe.«
»Ein Problem mit dir? Ein Problem mit dir? Wie wär’s damit, dass du dich wieder mal in Polizeiangelegenheiten einmischst, die dich überhaupt nichts angehen …«
»Ich bin hier, um Schwester Lucia zu besuchen! Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun.«
»… trotz der Tatsache, dass es beim letzten Mal, als du dich eingemischt hast …«
»Wag es ja nicht!«
»… zur Katastrophe gekommen ist, du …«
»Ich habe dir das Leben gerettet, du …«
»… idiotisches Weib.«
»… eingebildeter Trottel.«
Schwer atmend verstummten sie im selben Moment. Im Film wären sie einander jetzt in die Arme gefallen, doch Clares Bedürfnis, die Arme nach Russ Van Alstyne auszustrecken, war nie geringer gewesen, es sei denn, um ihn zu Boden zu schlagen.
Jemand hüstelte.
Oh, mein Gott. Sie sah, wie in seiner Miene der Zorn der Erkenntnis wich.
Sie hatten die komplette Szene vor Publikum aufgeführt.
»Chief Van Alstyne?«
Russ schloss einen Moment die Augen, dann drehte er sich um. Der Arzt, der vorhin hereingekommen war, starrte sie an, eine Hand auf Altas Telefon. Zweifellos bereit, den Sicherheitsdienst zu rufen.
»Dr. Stillman.« Clare konnte hören, wie er sich zwang, normal zu klingen. »Hi.«
»Äh … hi. Wie geht’s dem Bein?«
Russ sah an seinen antiken Jeans hinunter, als wäre ihm nie zuvor aufgefallen, dass dort unten etwas war, das ihn aufrecht hielt. »Prima. Einfach … prima.«
»Großartig. Äh …« Der Blick des Orthopäden wanderte zu Clare. Er starrte sie an. »Reverend Fergusson? Sind Sie das?«
Sie lächelte schwach. »Schön, Sie mal wieder zu sehen, Dr. Stillman.« Er ließ das Telefon los und kam zu ihr herüber, wobei er ihre Abzeichen auf dieselbe Weise musterte wie letztes Jahr die Röntgenaufnahmen von Russ. »Nationalgarde? Toll! Ich auch. Welche Einheit?«
»Ähem … 142. Flugbataillon.«
»Sind Sie die neue Geistliche?«
Russ verdrehte die Augen.
»Nein«, sagte sie. »Ich bin die neue Black-Hawk-Pilotin.«
»Verzeihung.« Eine Stimme hinter ihr erschreckte Clare. Sie und Dr. Stillman drehten sich um. Eine sehr große und sehr aufrechte ältere Frau war aus dem Korridor, der zu den Aufzügen führte, aufgetaucht. Sie hatte einen silbergrauen Kurzhaarschnitt und die professionelle Ausstrahlung eines Menschen, der während der letzten vierzig Jahre anderen gesagt hatte, was zu tun war, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. »Ich bin Paula Hodgden von der Einwanderungs- und Zollbehörde.« In den Händen hielt sie ein Klemmbrett. Ihr abschätzender Blick erfasste das komplette Wartezimmer-Tableau. »Ist einer von Ihnen der betreuende Arbeitgeber der nicht ansässigen Ausländer?«
»Oh!« Der Mann mit dem Schnurrbart riss sich von der Russ-und-Clare-Show los. »Das bin ich. Ich meine, ich und meine Frau.« Er stupste die Frau an seiner Seite an, die die beiden noch immer mit einem Ausdruck größten Vergnügens betrachtete.
»Einwanderungsbehörde?«, wiederholte Russ. »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber was wollen Sie hier?«
»Und Sie sind …?«
»Russell Van Alstyne, Polizeichef von Millers Kill.«
Sie machte eine Notiz auf dem Klemmbrett. »Aha. Es muss Ihr Department gewesen sein, das sich um den Unfall gekümmert hat.«
Russ runzelte die Stirn. »Wer hat ihn gemeldet?«
Ms. Hodgden sah ihn gleichmütig an. »Sie erwarten wohl kaum, dass ich Ihnen das verrate, oder? Ich kann Ihnen allerdings sagen, dass es niemand von Ihrem Department war, was eigentlich korrekt gewesen wäre.«
Russ verschränkte die Arme, eine Bewegung, die seine Polizeiabzeichen und die Waffe in den Blick rückte. »Hier in Millers Kill laufen wir nicht herum und überprüfen die Papiere der Menschen. Das hier ist kein verdammter Polizeistaat.«
Clare musste ein Lächeln unterdrücken.
»Aber Sie und ich stehen an vorderster Front, um uns gegen mögliche Terroristen zu verteidigen, oder?« Ms. Hodgden deutete auf Clare und Dr. Stillman. »Wir erledigen unsere Arbeit, damit sie ihre nicht tun müssen.«
Russ warf Clare einen Blick zu, und sie wusste ohne jeden Zweifel, was er dachte: Die Dame hat zu viele Regierungsverlautbarungen gelesen.
Ihr Gedankenaustausch wurde unterbrochen, als sich seine Schwester an ihm vorbeidrängte. »Hi, ich bin Janet McGeoch.« Sie gab Ms. Hodgden die Hand. »Gibt es ein Problem mit unseren Arbeitern?«
»Erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. McGeoch. Darf ich fragen, ob Sie eine Agentur beauftragt haben, die Arbeitserlaubnis H-2 A zu besorgen?«
Janet warf ihrem Mann einen Blick zu. »Ja. Ist das ein Problem?«
»Die Agentur heißt Creative Labor Solutions«, erklärte Mike McGeoch. »Sie haben gute Referenzen. Wir waren bei diesem Seminar in Amsterdam, wie man Arbeiter bekommt. Einige Leute dort hatten sie schon mal beauftragt. Wir haben sämtliche Unterlagen und Kopien von allem, was wir unterschrieben haben.« Er klopfte seine karierte Wolljacke ab, als müsste sich die Dokumentation irgendwo verstecken.
Ms. Hodgden machte eine weitere Notiz auf ihrem Klemmbrett. »Creative Labor Solutions. Die kenne ich nicht. Ich würde gern die komplette Korrespondenz von Ihnen sehen.«
»Warum?«, fragte Janet unverblümt.
Die Zollbeamtin seufzte. »Mr. und Mrs. McGeoch, ich hege den Verdacht, dass Sie einem nicht ungewöhnlichen Arbeitgeberbetrug aufgesessen sind. Das Erlangen einer H-2-A-Arbeitserlaubnis kostet den Arbeitgeber Zeit und Geld und ist so beschaffen, dass sie die Arbeitsmigration aus anderen Ländern in die Vereinigten Staaten einschränkt. Können Sie mir folgen?«
Janet runzelte die Stirn. Sah ihren Mann an. »Ja, ich verstehe.«
»Einige der sogenannten Arbeitsagenturen versuchen, ihren Profit zu maximieren, indem sie dem Kunden die Kosten für eine völlig legale H-2-A-Arbeitserlaubnis in Rechnung stellen, aber stattdessen illegale ausländische Arbeitskräfte vermitteln.«
»So wie ein Dealer, der ein Zehn-Dollar-Piece für den vollen Preis verkauft, seinen Kunden aber in Wirklichkeit Backpulver andreht, meinen Sie?«, erkundigte sich Russ.
Ms. Hodgden hob die Augenbrauen. »So hätte ich es vermutlich nicht formuliert, aber Sie haben recht.«
»Und wir haben das Backpulver?« Janet sah von ihrem Bruder zu der Zollbeamtin. »Was heißt das genau?«
»Zwei der drei Männer, die hier eingeliefert wurden, haben gefälschte Arbeitspapiere. Und nicht einmal besonders gute Fälschungen, wie ich hinzufügen möchte.«
»Scheiße«, fluchte Mike McGeoch.
Janet griff nach hinten und drückte die Hand ihres Mannes. »Und der dritte?«
Ms. Hodgden konsultierte ihr Klemmbrett. »Amado Esfuentes. Seine Arbeitserlaubnis ist korrekt.«
»Na also! Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Papiere der übrigen Männer nicht auch in Ordnung sind.«
»Mrs. McGeoch.« In der Stimme der Frau lag das professionelle Mitgefühl einer Person, die es gewohnt ist, dieselben schlechten Nachrichten immer wieder zu überbringen. Sie erinnerte Clare an ihren Versicherungsagenten. »Wanderarbeiter mit gültigen Papieren fliehen gewöhnlich nicht, wenn sie bei einem Autounfall verletzt werden. Sicher, es ist möglich, dass die beiden, die nicht in der Lage waren, fortzulaufen, die Einzigen sind, die keine Papiere haben, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.«
»Was ist mit diesem Amado?« Mike klang hoffnungsvoll. »Warum sollte er Papiere haben und die anderen nicht?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Esfuentes schon früher in den Vereinigten Staaten gearbeitet. Das macht es für ihn einfacher, selbst eine Erlaubnis zu erlangen, als durch eine Agentur. Für einen erfahrenen Gastarbeiter ist es nicht ungewöhnlich, als eine Art Führer für einen Arbeitstrupp aus seinem Heimatdorf zu fungieren. Ich würde wetten, dass alle Männer in diesem Lieferwagen heute Abend aus ein und demselben Dorf stammen.«
»Ein erfahrener Arbeiter? Der mit dem gebrochenen Arm?« Russ schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist höchstens Anfang zwanzig.«
Dr. Stillman, der der Diskussion am Rande gelauscht hatte, mischte sich ein. »Ich stimme Chief Van Alstyne zu. Er ist höchstens einundzwanzig.«
Mrs. Hodgden vollführte eine Nun, was erwarten Sie-Geste. »Solche Leute fangen mit dreizehn oder vierzehn Jahren an zu arbeiten. Sein Alter ist kein Indiz.«
»Solche Leute?« Clare stemmte die Hände in die Hüften. Sie öffnete den Mund. Russ legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schloss ihn wieder.
»Was bedeutet das für uns?«, fragte Janet. »Im Endeffekt?«
»Es bedeutet, dass die beiden Nichtansässigen ohne Papiere in ihr Ursprungsland verbracht werden.« Ms. Hodgden sah auf ihr Klemmbrett und runzelte die Stirn. »Ich habe ein wenig Schwierigkeiten, einen der beiden ausfindig zu machen«, räumte sie ein. »Niemand hier scheint zu wissen, wo man ihn untergebracht hat. Sehr nachlässig für ein Krankenhaus.«
Clare betrachtete ihre Stiefel.
»Was ist mit dem Geld, das wir Creative Labor gezahlt haben?«, fragte Janet. »Wo sollen wir genug Arbeiter hernehmen, die sich um unsere Herde kümmern?«
»Ob Sie Ihre Vermittlungsgebühren zurückerhalten, ist eine Sache zwischen Ihnen und der Agentur.« Ms. Hodgden bedachte die McGeochs mit einem weiteren professionell mitleidigen Blick. »Mein Vorschlag lautet, eine andere, zuverlässigere Agentur damit zu betrauen, Ihnen Arbeitskräfte zu verschaffen.«
»Noch mal sechs Wochen!« McGeoch rammte seine Hände in die Taschen und starrte auf seine Stiefel.
»In der Zwischenzeit werden die Papiere Ihrer Angestellten überprüft, sobald sie – äh, auftauchen.« Sie warf Russ einen Blick zu, der besagte, dass dies in seine Verantwortung fiel. »Mr. Esfuentes kann sich legal im Land aufhalten, solange er angestellt ist.«
»Von uns angestellt«, sagte Janet.
»Richtig.«
»Mit Lohnfortzahlung und allem anderen?«
Paula Hodgden warf ihr einen bohrenden Blick zu. »Mrs. McGeoch, einer der Gründe für eine Arbeitserlaubnis ist es, zu verhindern, dass Arbeitnehmer aus einem anderen Land von Arbeitgebern ausgebeutet werden.«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte sagen« – Janet spreizte die Hände –, »er hat sich den Arm gebrochen! Für eine Viehfarm ist er damit so nützlich wie … wie …«
»Zitzen bei einem Stier«, bot Russ an.
Janet versetzte ihm einen Klaps. »Wie lange wird er arbeitsunfähig sein?«, fragte sie Dr. Stillman.
»Vier Wochen in dem schweren Gips und noch mal vier mit einer leichteren Version. Danach ein paar Wochen in einer Schlinge, um sicherzustellen, dass er sich nicht wieder verletzt. Kein schweres Tragen im ersten Monat und nur sehr leichte Lasten im zweiten.«
»Leichte Lasten? Was heißt das?«
Der Orthopäde zuckte die Achseln. »Er darf ein paar Bücher tragen. Seine Kleidung. Bei den meisten meiner Patienten bedeutet es, dass sie normale Hausarbeiten wieder selbst erledigen können.«
»Wir brauchen niemanden für normale Hauarbeiten«, sagte Janet. »Wir brauchen jemanden, der zwanzig Kilo schwere Schläuche abrollen und ausmisten und einen Laster mit Gangschaltung fahren kann.«
Stillman schüttelte den Kopf. »Vor Ende Juli wird der junge Mann dazu nicht in der Lage sein.«
Janet McGeoch blickte ihren Mann an, und Clare konnte erkennen, wie sie wortlos miteinander redeten, in der Art lang verheirateter Ehepaare. Mike nickte.
Janet wandte sich wieder an Paula Hodgden. »Es tut mir leid, aber wir können es uns nicht leisten, ihm für zwei Monate oder mehr Lohn zu zahlen.«
»Ich verstehe. Ich arrangiere seine Rückreise zusammen mit den anderen beiden.«
»Warten Sie!« Es war Clare entschlüpft, ehe sie sich kontrollieren konnte. »Was ist, wenn er eine Stelle findet?«
Paula Hodgden musterte erst sie und dann alle Übrigen, die in einer Gruppe zwischen den Stühlen aus der Kennedy-Ära im Wartezimmer der Notaufnahme standen. Clare konnte erkennen, wie sie jedem einen bestimmten Status zuwies – Arbeitgeber, ermittelnder Officer, behandelnder Arzt und … Frau in schmutziger Kampfmontur.
»Verzeihen Sie«, sagte die Beamtin. »Sie sind …?«
»Reverend Clare Fergusson, Pastorin der Kirche St. Alban’s.«
Ms. Hodgdens Augenbrauen wanderten empor. Sie sah Russ an.
»Ja«, bestätigte er. »Das stimmt wirklich.«
Dr. Stillman grinste. »Ich kann ebenfalls für ihre Echtheit bürgen.« Er sah kurz zum Empfangstresen. »Aber mehr kann ich nicht tun. Ich sehe gerade, dass Alta mich zu sich herüberwinkt. Entschuldigt mich, Leute. Reverend.«
Clare hob ihre Hand zu etwas, das sowohl ein Winken als ein Segen sein konnte. Dann bestürmte sie wieder Ms. Hodgden. »Was, wenn dieser Amado in den nächsten zwei Monaten eine Stelle hätte? Eine legale, bezahlte Stelle? Dürfte er dann bleiben? Und für die McGeochs arbeiten, sobald sein Arm geheilt ist?«
Russ massierte unter der Brille seine Nasenwurzel. »Woran denkst du?«
»Wir brauchen in der Kirche einen Interimsküster. Mr. Hadley hatte im März eine Herzoperation und konnte den Dienst noch nicht wieder antreten. Wir glauben, dass er im Sommer zurückkommt, aber in der Zwischenzeit stopfen wir die Lücke mit Freiwilligen. Der Junge könnte seine Aufgaben übernehmen.« Sie lächelte selbstzufrieden. »Es ist einfach perfekt.«
»Wart mal einen Moment …«, begann Russ.
»Was meinen Sie, Ms. Hodgden? Wäre das legal?«
»Nun … wenn Sie bereit sind, die Formulare auszufüllen.«
Clare wandte sich an die McGeochs. »Würden Sie ihn weiter beschäftigen, wenn er wieder gesund ist?«
Janet und Mike führten erneut ein wortloses Gespräch.
»Okay«, erwiderte Janet.
»Clare, um Himmels willen, du denkst schon wieder nicht nach.« Russ hakte die Daumen in den Gürtel und umklammerte sein Halfter. »Er könnte sonst wer sein. Soweit du weißt, könnte er in drei Ländern steckbrieflich gesucht werden.«
Paula Hodgden schüttelte den Kopf. »Hm, nein. Um eine H-2-A-Arbeitserlaubnis zu erlangen, darf gegen den Antragsteller weder in seinem Ursprungs- noch in seinem Gastland etwas Polizeiliches vorliegen.«
Russ funkelte die Zollbeamtin wütend an, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder Clare. »Mit einem angeschlagenen Arm kann er keine Küsterarbeiten verrichten. Und was, wenn er das Silber klaut und abhaut?«
»Zu Mr. Hadleys Aufgaben zählen hauptsächlich Staubsaugen und das Polieren der Holzarbeiten. Das geht mit einem Arm genauso gut wie mit zwei. Und was das Silber betrifft, das schließe ich immer weg, außer wenn es gebraucht wird.« Ihr normalerweise nur leichter Virginia-Akzent verflüssigte sich zu dicker Melasse. »Immerhin bin ich Südstaatlerin. Wir wissen, wie man sein Silber vor Plünderungen schützt.«
»Wo soll er denn wohnen? Hm? Wirst du ein Zimmer für ihn mieten?«
Sie biss sich auf die Lippen. So sehr sie dieses Geständnis auch ärgerte, daran hatte sie nicht gedacht.
»Verstehst du?«, sagte Russ. »Du kannst nicht …«
»Das Pfarrhaus hat zwei Gästezimmer«, sagte sie. Sie dachte laut.
»Nein.« Das Wort war wie ein Pfosten, der in den Boden getrieben wurde. Unverrückbar. Sie blickte nach oben in sein grimmiges Gesicht.
»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Das ist nicht gerade die beste Idee, oder?«
»Warum kann er nicht in unserer Schlafbaracke wohnen?« Mikes Vorschlag überraschte sie. Sie hatte die anderen ausgeblendet. Sie sah den Farmer an. »Na ja, es ist keine – Sie wissen schon – so eine Schlafbaracke im Westernstil.« Er lächelte schüchtern. »Sie war ursprünglich das Wohnhaus. Weit entfernt von der Straße unten am Wasserlauf. In den letzten hundert Jahren haben da drin nur Eichhörnchen und Hühner gelebt, und ich kann Ihnen sagen, es war verdammt harte Arbeit, sie wieder bewohnbar zu machen.«
»Schatz.« Janet legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. Sie lächelte Clare entschuldigend an. »Wir haben das Haus für die neuen Arbeiter geputzt und instand gesetzt. Er kann gern dort wohnen, aber ich fürchte, er hätte keine Möglichkeit, von dort zur Arbeit zu kommen.«
»Nein, das macht es doch gerade perfekt.« Mike strahlte Clare an. »Die Dame, die das Haus der Petersons gekauft hat, das Haus auf der anderen Seite der Straße? Sie arbeitet bei Ihnen in der Kirche. Sie heißt Elizabeth de Groot.«
Clare klappte der Mund auf. Sie starrte Russ an. »Meine Diakonin lebt gegenüber der Farm deiner Schwester?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe dir doch gesagt, es ist eine Kleinstadt.«
Die Beamtin hielt das Klemmbrett hoch. »Das alles ist sehr interessant, aber vielleicht könnte ich Sie kurz sprechen, solange die anderen die Hausarrangements besprechen, Chief Van Alstyne?« Sie zog sich zum Empfangstresen zurück.
Russ sah seine Schwester an, dann Clare, dann wieder seine Schwester. »Lass dich auf nichts ein«, sagte er zu Janet. »Du hast keine Ahnung, was auf dich zukommt.« Er stolzierte davon wie eine schlechtgelaunte Cheshire-Katze, während sein Stirnrunzeln in der Luft zwischen ihnen hängenblieb.
»Wenn Sie Amado gestatten, in der Baracke zu wohnen, kann ich Elizabeth bestimmt dazu bringen, ihn mit hin und zurück zu nehmen«, sagte Clare, eifrig bemüht, den Handel abzuschließen, ehe Janet beschloss, den Rat ihres Bruders anzunehmen.
»Was meinst du, Schatz?«, wandte Janet sich an ihren Mann.
Mike zuckte die Achseln. »Sie ist im Moment ja nicht gerade überfüllt, oder?«
»Also gut.« Janet streckte Clare die Hand entgegen.
»Toll.« Sie tauschten einen Händedruck. Janet legte ihre andere Hand auf Clares und hielt sie in einem herzlichen Griff gefangen. »Schatz?« Ihr Blick verharrte auf Clare. »Könntest du mir etwas aus der Cafeteria holen? Ich sterbe vor Hunger.«
»Äh … okay.« Mike stapfte den Flur hinunter. Ließ Clare allein mit Janet McGeoch, geborene Van Alstyne. Clare schluckte.
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Janets Augen hatten dasselbe Blau wie die von Russ.
O Gott. Lieber den Stier bei den Hörner packen. »Darauf möchte ich wetten«, sagte Clare. »Und einiges davon stimmt vermutlich sogar.«
Janet nickte. Gab Clares Hand frei. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
Nun, das war eine Überraschung. »Bei mir? Wofür?«
»Als meine Mom mir von Ihnen und Russ erzählt hat, habe ich Sie geistig als so eine Art Flittchen, das Ehen zerstört, abgestempelt. Sie wissen schon, die wesentlich jüngere Verführerin, die Tangas von Victoria’s Secret trägt und Idioten mittleren Alters einfängt, indem sie deren Ego massiert. Und andere Körperteile.«
Clare hatte das Gefühl, spontan in Flammen aufgehen zu müssen, weil ihr Kopf so heiß war.
»Aber ziemlich offensichtlich sind Sie nichts dergleichen.«
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Nein. Keine Tangas.«
Janet lächelte verschlagen. »Und ich kann auch nicht erkennen, dass Sie viel Zeit damit verbringen, das Ego meines Bruders zu massieren.«
Clare lachte. Und dann überraschte Janet sie noch einmal, mit einer herzlichen Umarmung. »Meine Mutter mag Sie«, flüsterte sie Clare ins Ohr, »und ich glaube, ich mag Sie auch.« Sie trat einen kleinen Schritt zurück, schuf ein wenig Raum zwischen ihnen. »Und wenn Sie meinen Bruder aus dieser Grube retten, die er sich selbst gegraben hat, dann werde ich Sie auf ewig lieben, ich schwöre.«
VII
Es war kurz vor Mitternacht, und er befand sich auf halbem Weg zum Haus seiner Mutter, als Russ bewusst wurde, dass er seit Stunden nicht an Linda gedacht hatte. Seit … seit wann? Seit heute Morgen? Nachmittag? Panik würgte seine Kehle wie eine fleischige Hand. Seit er vor dem Schnapsladen geparkt hatte. Seit dem Zeitpunkt hatte er nicht ein Mal an sie gedacht. Er hatte vergessen, sich zu erinnern. Er lenkte den Pick-up an den Straßenrand und schaltete den Vierradantrieb ein, ehe die Tränen ihn blendeten und er sich zusammenkrümmte, keuchend, während das Lenkrad eine Kerbe in seine Stirn schnitt. Er weinte um seine Frau und um das Vergessen und um all die Dinge, die er geliebt und zerstört hatte.