Die Zeit nach Pfingsten
Mai und Juni
I
Montag. Memorial Day. Jedermann in den Vereinigten Staaten machte sich einen schönen Tag – außer den Angehörigen der Polizei von Millers Kill. Vielleicht ist das der Grund, warum mein Privatleben so mies ist, dachte Kevin Flynn, als er seinen Platz bei der Morgenbesprechung einnahm. Wenigstens nicht nur seines. Heute waren alle hier, auch die Teilzeitkräfte und die freiwillige Feuerwehr. Memorial Day, der vierte Juli, Labor Day – da ging es immer ab.
Allerdings nicht mit drei Mordopfern als Zugabe.
»Die beiden gestern gefundenen Leichen wurden auf dieselbe Weise getötet wie unser Opfer Nummer eins, John Doe.« Der Chief, an seinem üblichen Platz auf dem Tisch, war mürrisch und ein wenig verknautscht. Er, MacAuley, Hadley Knox und Eric McCrea hatten bis spät in die Nacht gemeinsam mit den Technikern der staatlichen Spurensicherung die Fundorte gesichert. »Ein einzelner Schuss in die Schädelbasis mit einer kleinkalibrigen Waffe, vermutlich Vollmantelgeschosse. Klassischer Exekutionsstil.«
»Im Bericht von Dr. Scheeler steht, dass sich am ersten John Doe keine Anzeichen für gewaltsames Festhalten finden«, erläuterte MacAuley. »Man sollte doch annehmen, dass er vorher gefesselt worden wäre, wenn man ihn zu einer Hinrichtung in die Wälder bringen würde.« Er stand an der Tafel und fasste die Informationen zusammen.
Der Chief zögerte kurz. »Vielleicht wurde er überrascht.«
»Was haben wir denn nun hier?«, fragte Paul Urquhart aus dem Hintergrund. »Opfer eines Bandenkriegs? Organisiertes Verbrechen? Wenn sich so etwas in unserem Gebiet abspielen würde, hätte es uns doch auffallen müssen!«
Der Chief hob die Hände. »Lasst uns Schritt für Schritt durchgehen, was wir wissen.« Er rutschte vom Tisch und trat zum Nachrichtenbrett, das beinah vollständig von Fotos der John Does eins, zwei und drei, Umgebungsfotos der Fundorte und den Kurzberichten über die Latinos bedeckt war, die Kevin am Freitagabend studiert hatte. »John Doe Nummer eins.«
»Juan Doe«, warf Urquhart ein.
»Männlich, Latino, Alter zwischen einundzwanzig und achtundzwanzig. Getötet irgendwann Mitte April. John Doe Nummer zwei. Männlich, möglicherweise aus der Karibik oder Afro-Amerikaner, basierend auf Haarfragmenten …«
»DeWan Doe«, kicherte Urquhart.
Der Chief unterbrach sich. »Möchtest du uns etwas mitteilen, Paul?« Urquhart schüttelte den Kopf. Der Chief sah ihn durchdringend an, ehe er fortfuhr: »Alter zwischen einundzwanzig und achtundzwanzig. Getötet irgendwann im letzten Jahr, und zwar Ende des Herbstes oder im Frühwinter. John Doe Nummer drei, Alter zwischen einundzwanzig und achtundzwanzig. Getötet vor mehr als einem Jahr.«
»Kann der Rechtsmediziner das weiter einengen?«, fragte MacAuley.
»Er hatte einige Füllungen. Doc Scheeler wird einen Zahnarzt hinzuziehen, der versuchen soll, das Amalgam zu datieren. Wir können frühestens morgen mit Ergebnissen rechnen.«
Der Chief ging hinüber zu der laminierten Landkarte, die fast die Hälfte der Wand einnahm. »Fundorte der Leichen«, sagte er. »John Doe zwei und drei wurden ungefähr eine Meile nordnordwestlich vom alten Muster Field jenseits der Route siebzehn in Cossayuharie gefunden.« Mit abwischbarem Filzstift trug er eine Zwei und Drei ein. »Sie lagen nur eine knappe Dreiviertelmeile voneinander entfernt« – er zog eine gestrichelte Linie, die vom fahlen Grün, das Muster Field verkörperte, nach Nordwesten torkelte – »begraben in der Nähe einer natürlichen Felsformation, die an dieser Linie entlangführt und dann steil in das Tal dahinter abfällt.«
»Jemand hat sie geführt.«
Kevin war nicht bewusst, dass er laut gesprochen hatte, bis der Chief nickte. »Jemand hat sie geführt.«
»Und blieb so lange wie möglich auf ebenem Gelände«, fügte MacAuley hinzu.
»Wem gehört das Land?«, fragte Eric McCrea.
Der Chief blickte zu Noble Entwhistle. Noble war kein Sherlock Holmes, aber er produzierte bessere Ergebnisse als Google, wenn man einen Namen oder ein Datum von etwas brauchte, das mit Millers Kill zusammenhing. »Der Stadt«, erwiderte er. »Früher gehörte es Shep Ogilvie, aber als er 1987 mit seiner Milchviehfarm pleiteging, hat die Stadt es als Ausgleich für seine Steuerschulden übernommen.«
»Leichter Zugang von der Straße aus«, meinte McCrea. »Wenn kein Schnee liegt, kann man mit dem Auto fast bis zur Baumgrenze hinten am Field fahren.«
»Das ist der große Unterschied zwischen John Doe zwei und drei und dem ersten, den wir gefunden haben«, stellte der Chief fest. »Der nächstgelegene Zugang von einer öffentlichen Straße zu seinem Fundort ist ein paar Meilen weit entfernt.« Er schrieb eine Eins auf McGeochs Farm.
»Aber es ist dasselbe Gebiet, in dem ihr die Illegalen verfolgt habt«, bemerkte MacAuley.
»Ich glaube, wir können mit Sicherheit sagen, dass das eine Sackgasse ist.« Der Chief ging zurück zum Tisch und griff nach seinem Kaffeebecher. »Die Männer, die in den Wäldern herumgerannt sind, waren zum Zeitpunkt der Morde an Zwei und Drei vor einem Jahr in Mexiko.«
»Die Christies und ihre Verwandtschaft nicht.«
Der Chief machte eine abschließende Geste. »Setz sie auf die Tafel.«
»Chief?« Kevin war bemüht, nicht rosa anzulaufen, als sich alle zu ihm umdrehten. »Woher wissen wir, dass sie vor einem Jahr in Mexiko waren? Ich meine, wenn sie illegal hier waren, gibt es keine Spuren, denn darum geht es ja. Ich weiß, dass sie nicht für Ihre Schwester und deren Mann gearbeitet haben, aber vielleicht für jemand anders hier in der Gegend.« Er zögerte. Der Chief bedeutete ihm, fortzufahren. »Vielleicht sollten wir die hiesigen Farmen abklappern und prüfen, wer im letzten Jahr und den Winter über Wanderarbeiter beschäftigt hat.«
»Vielleicht.« Der Chief lehnte sich an den Tisch. »Mein Problem ist, dass ich keinen Zusammenhang zwischen Farmarbeitern und professionellen Hinrichtungen erkennen kann.«
Kevin ging davon aus, dass alle dasselbe dachten. Deshalb sprach er es aus. »Was, wenn sie nicht professionell waren?«
»Worauf willst du hinaus, Kevin? Mord als Sport? Jemand, der es zum Vergnügen tut? Nein.« Der Chief zwickte sich in den Nasenrücken. »Ich weigere mich, zu glauben, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben.«
»Wir müssen diesen Punkt aber berücksichtigen, Russ.« MacAuley notierte das Wort »Serienmörder« in einer Ecke der Tafel.
»Serienmörder suchen sich leichte Opfer. Kinder, Prostituierte.«
»Was ist mit Jeffrey Dahmer?«
»Bob Berdella?«
»Randy Steven Kraft?«
MacAuley bedachte sie mit einem Maul halten-Blick. Er wandte sich an den Chief. »Die Opfer fallen in eine Kategorie«, sagte er. »Junge Männer Anfang zwanzig.« Er zählte den Punkt an seinem Finger ab.
»Pass auf, Kevin«, sagte Urquhart.
»Nicht weiß.« Der Deputy nahm den zweiten Finger.
»Bei einem Fall wissen wir das nicht mit Bestimmtheit.« Der Chief verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ermordet während der Touristensaison.« Der dritte Finger.
»April? Niemand besucht Millers Kill im April.«
»Die Leichen wurden in entlegenen Gebieten in Cossayuharie zurückgelassen.« MacAuley hob den vierten Finger hoch. »Und zu guter Letzt wurden alle drei Männer auf dieselbe Weise mit einer Waffe des gleichen Kalibers erschossen.« Er hielt die Hand hoch und wackelte mit den Fingern. »Wir können einen Serientäter nicht ausschließen. Nicht bei drei Leichen, die fünf gemeinsame Merkmale aufweisen.«
»Warum …«, setzte Hadley an, schloss dann aber wieder den Mund.
»Fahren Sie fort, Knox«, kommandierte der Chief.
Sie schluckte. »Warum war der erste Typ – ich meine, John Doe eins –, warum wurde er einfach liegen gelassen? Die anderen wurden begraben. Nicht tief, aber begraben. Er lag einfach offen in der Gegend.«
Der Chief stemmte sich auf den Tisch und stützte die Stiefel auf einem Stuhl ab. »Was glauben Sie?«
Ihr Gesicht verwandelte sich in die kühle, ausdruckslose Maske, die Kevin so komplett entnervt hatte, als sie für ihn bestimmt gewesen war. Sie ist panisch, wurde ihm bewusst. Sie hat Angst, sich zum Narren zu machen. Der Chief sah sie geduldig an. MacAuley betrachtete sie mit der Miene eines Mannes, der zu spät zu seiner proktologischen Untersuchung kommt. Kevin rutschte auf seinem Stuhl herum, Urquhart feixte.
Die Suche. Er versuchte, den Gedanken in ihren Kopf zu projizieren. Anscheinend funktionierte es, denn ihr Blick glitt zu ihm hinüber. Er hob die Hand vor den Mund. »Huggins«, hustete er.
»Die Suche nach den Männern, die nach dem Unfall geflohen sind, hat den Mörder gestört«, sagte sie. »Er hatte keine Gelegenheit, das Opfer zu begraben, weil die Gegend von Suchtrupps wimmelte.«
»Was bedeutet«, fuhr der Chief fort, »dass jemand, der dort gewesen ist, etwas gesehen haben könnte. Wir brauchen eine Liste mit den Namen der Rettungsmannschaft und denen der Christies und all ihrer Verwandten, die dabei waren. Das ist deine Aufgabe, Eric.«
McCrea sackte in seinem Stuhl zusammen und stöhnte. Aus dem Hintergrund ertönte ein Buh.
»Die andere Möglichkeit lautet, dass die Leiche, die auf dem Land der McGeochs gefunden wurde, nichts mit den Opfern in der Nähe von Muster Field zu tun hat«, fuhr der Chief fort. Der Deputy schnaubte vernehmlich, sagte aber nichts. »Wir haben die Fotos und den vorläufigen Bericht des Rechtsmediziners in die Bronx geschickt, wo man versuchen wird, die beiden Männer ausfindig zu machen, die Knox und Flynn letzte Woche angehalten haben.« Er starrte an die Tafel, auf der viele Theorien und nur wenige Lösungen notiert waren. »Kevin, du machst weiter und kümmerst dich um die hiesigen Wanderarbeiter.«
Kevin ballte triumphierend die Faust.
»Knox, Sie arbeiten mit McCrea. Noble, du übernimmst die Rettungsmannschaft. Lyle, da dir die Serienmördertheorie so zusagt, wirst du dich in die VCAP-Datenbank einloggen und nach ähnlichen Fällen suchen.«
»Gibt es Hinweise, dass John Doe sexuell missbraucht wurde?«
Die Augenbrauen des Chiefs wanderten nach oben. »In Dr. Scheelers Bericht habe ich nichts davon gelesen. Doch da er geschrieben wurde, ehe wir die anderen entdeckt haben, hat er vielleicht nicht in dieser, äh, Richtung geforscht.« Urquhart kicherte. Der Chief ignorierte ihn. »Du glaubst also, jemand könnte es auf junge Schwule abgesehen haben?«
Der Deputy zuckte die Achseln. »Zwei Männer allein in den Wäldern ohne jedes Anzeichen von Zwang? Ist ja nicht so, als hätten wir das noch nicht erlebt.«
Der Chief zwickte sich wieder in den Nasenrücken. »Stimmt.«
Hadley beugte sich zu Kevin hinüber. »Worüber reden die beiden?«
»Das war vor drei Jahren«, flüsterte er. »Zwei Schwule wurden zusammengeschlagen und ein weiterer ermordet.«
Sie zuckte zurück. »Das ist ja furchtbar.« Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Wurde nachdenklich. »Warum glauben wir eigentlich, dass es ein Mann war?«
»Knox? Kevin?« Der Chief runzelte die Stirn.
»Wenn ihr zwei Bonbons dabeihabt, sollten sie besser für alle Kinder reichen«, spottete der Deputy.
»Warum glauben wir, dass der Täter ein Mann ist?«, sagte Hadley so laut, dass es jeder hören konnte. Sie sah den Chief an. »Vielleicht ist es eine Frau.« Hadley sah sich um und versuchte, die Reaktion der anderen einzuschätzen. »Sie hätte sie in den Wald locken können.« Sie wandte sich an MacAuley. »Man muss niemanden fesseln, der sich gerade die Hose auszieht.«
»Wenn es Gift gewesen wäre oder irgendwie um Geld ginge – das ist die Art von Fällen, in denen Frauen als Serienmörder aufgefallen sind.« Der Deputy klang, als versuchte er, diplomatisch zu sein. »Nackte Männer, die im Wald in die Falle gehen – es gibt nicht gerade viele dokumentierte Fälle von Frauen, die das getan haben.«
»Vielleicht, weil sie ihre Spuren besser verwischen können als Männer«, konterte Hadley.
II
Clare hoffte, nicht auf Janet zu treffen, als sie mit Amado zur Farm der McGeochs fuhr, damit er seine restlichen Sachen holen konnte. Es war schließlich Memorial Day, und die meisten vernünftigen Menschen nahmen sich den Tag frei.
Kein Glück. Russ’ Schwester lief ihnen aus der Scheune entgegen, sobald sie auf den staubigen Hof fuhren. Clare und Amado waren kaum ausgestiegen, als die Entschuldigungen über sie hereinbrachen.
»Oh, mein Gott, Clare, es tut mir so leid! Als dieser Mann auftauchte, hatte ich doch keine Ahnung, dass er – nun, ich fand es seltsam, dass er Amado kannte, aber ich war so abgelenkt – als Russ es mir erzählt hat, bin ich fast gestorben, ich war so …« Offensichtlich gab es kein Wort dafür, deshalb warf Janet die Arme um Clare und drückte sie an sich. »Gott sei Dank sind Sie nicht verletzt worden. Ich habe gedacht, Russ wäre nur, na ja, wütend, als er meinte, sie wären so zäh wie ein Armeestiefel, aber er hatte recht!« Sie zog sie wieder an sich. »Oh, und da ist ja auch Amado!«
Clare hörte zu, als Janet ihre Litanei dem jungen Mann gegenüber wiederholte, der sie mit erschrockenem Unverständnis anstarrte und dabei seinen Gips mit der gesunden Hand schützte. Kluger Junge, dachte Clare. Wenn sie ihn noch fester umarmt, wird sie ihm den Arm noch mal brechen.
»Alles in allem betrachtet, bin ich der Meinung, dass Amado im Pfarrhaus bleiben sollte«, sagte Clare laut genug, um Janets Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Die Christies werden vermutlich auf Kaution rauskommen, sobald morgen das Gericht öffnet.« Sie bedeutete Amado, seine Sachen zu holen, der keine weitere Aufforderung zur Flucht brauchte. Er setzte sich umgehend in Richtung Scheune in Trab.
»Halten Sie das für sicher?« Janet, die ihre Entschuldigungen ausgespuckt hatte, die sich seit zwei Tagen in ihr aufgestaut haben mussten, wurde sichtlich ruhiger. »Ich meine, was ist, wenn sie wiederkommen?«
»Das ist mitten in der Stadt weniger wahrscheinlich als hier draußen in einem Wohnwagen.«
Janet fuhr sich mit der Hand durch ihre Medium-Goldblond-Nr.-5-Haare. »Stimmt es, dass Sie Donald Christie die Nase gebrochen haben?«
Clare rieb sich die eigene. »Nicht mit Absicht.«
Janet stieß einen Pfiff aus. »Eins zu null für Sie, Mädel.«
Clare hob die Hände. »Gewalt ist keine Antwort, um … eine ganze Reihe von Leuten zu paraphrasieren. Einschließlich Ihrer Mutter.«
»Hm. Haben Sie Russ seit dem Abend wiedergesehen?«
O Gott. Was hatte er ihr erzählt? Aber nein. Er hatte nicht über sie beide gesprochen. Oder über die Leichen, die sie in der Nähe von Muster Field gefunden hatten. Janet wusste nicht, dass ihr John Doe als das erste Opfer einer Reihe von Morden klassifiziert worden war.
Das Rauschen von Reifen auf der Lick Springs Road bewahrte sie davor, sich eine wahre, aber nichtssagende Antwort auszudenken. Janet reckte den Hals und beschattete ihre Augen. »Scheiße«, flüsterte sie.
Clare wirbelte herum und sah einen Streifenwagen, der die lange Strecke hügelabwärts auf McGeochs Hof zuraste.
»Ich muss die Männer rufen«, sagte Janet. Sie rannte zur Scheune und ließ Clare allein am Ende einer Reihe aufwirbelnder Staubwölkchen stehen.
Ihr Herz begann zu klopfen, beruhigte sich aber wieder, als sie hinter der Windschutzscheibe einen roten Schopf erspähte. Nicht fair. Sie konnte nicht der gesamten Polizei von Millers Kill vorwerfen, nicht Russ zu sein.
»Hey! Reverend Fergusson!« Kevin winkte ihr unbeschwert zu, während er aus dem Streifenwagen stieg. »Was machen Sie denn hier draußen?«
Sie wedelte in Richtung Scheune und Schlafbaracke irgendwo dahinter. »Ich habe Amado hergefahren, damit er seine restlichen Sachen holt. Ich nehme ihn mit ins Pfarrhaus.«
Kevin bedachte das. »Weiß der Chief Bescheid?«
Sie widerstand der ersten Bemerkung, die ihr durch den Kopf schoss. »Ich glaube, er hat ein wenig mehr zu tun, als sich über häuslichen Angelegenheiten meines Interimsküsters Gedanken zu machen, meinen Sie nicht?«
In einer perfekten Imitation von Russ hakte er die Daumen in sein Halfter. »Die Christies werden morgen Kaution stellen, wissen Sie.«
»Darum bin ich heute hier. Und Sie?«
Seine Miene hellte sich auf. »Ich habe vorgeschlagen, zu überprüfen, welche Wanderarbeiter letztes Jahr hier in der Gegend waren, als die anderen beiden ermordet wurden, und der Chief hat mir zugestimmt.« Seine erfreute Miene verdunkelte sich. »Tja, ehrlich? Zugestimmt trifft es nicht ganz. Aber er hat mir erlaubt, die Spur zu verfolgen.« Er sah sich um, musterte die weißgestrichene Scheune, die Egge und den Heuwagen und den Truck, die zwischen den Nebengebäuden eingepfercht waren, und die grasenden Kühe, die weit genug entfernt waren, um malerisch zu wirken, statt eine Geruchsbelästigung zu sein. »Das ist meine erste Station.«
Bei Russ’ Schwester. Die angeblich keine Wanderarbeiter beschäftigte.
»Hoffen Sie herauszufinden, wer die beiden Männer gestern waren?«
»Nein. Wir versuchen, ihren Mörder zu finden.« In der Art, wie Kevin »Mörder« sagte, lag ein gewisses Vergnügen.
»Ein Wanderarbeiter? Das soll wohl ein Witz sein. Diese Männer schuften sechs oder sieben Tage die Woche für Löhne, über die wir die Nase rümpfen würden. Warum, um alles in der Welt, sollte einer von ihnen so etwas tun?«
Obwohl sie auf dem Hof vollkommen allein waren, beugte Kevin sich vor. »Wir denken an einen … Serienmörder.«
»O bitte. In Millers Kill? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
Er zuckte die Achseln. »Drei Männer sind tot, alle auf dieselbe Weise ermordet, mit denselben Waffen und innerhalb eines Jahres. Alle wurden in einem Umkreis von sieben Meilen entdeckt. Wenn das irgendwo am Green River passiert wäre statt in Millers Kill, was würden Sie dann denken?«
Gütiger Himmel. Kevin Flynn wird erwachsen und ein richtiger Polizist. Ein ziviler Humvee fuhr am Hof vorbei, dessen Bass ihre Autoscheiben zittern ließ. Die Sache ist viel zu weit gegangen. Janet muss auspacken.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, sagte er: »Sind die McGeochs hier irgendwo?«
»In der Scheune«, antwortete sie.
»Danke.« Er lief zur Scheune, während sie sich einredete, dass es nichts mit ihr zu tun hatte, oder ihrer Gemeinde oder Kirche. Außer … Schwester Lucia hatte sie gebeten, sich um diese Männer zu kümmern. Und bisher hatte sie nichts anderes getan, als den Mund über den Aufenthaltsort der Männer zu halten, um die Aufgabe der Schwester weiterzuführen.
»Warten Sie auf mich«, rief sie. Kevin blieb in dem breiten Durchgang stehen und sah ihr entgegen, während sie über den staubigen Hof trabte. Im Inneren war es kühl und weiträumig. Sie erschreckten ein paar Schwalben, die in der staubigen Luft flatterten, ehe sie durch das Tor nach draußen schossen.
»Mr. McGeoch?«, rief Kevin. »Mrs. McGeoch?«
»Hier drüben!« Die schwache Antwort ertönte aus einem schmalen Durchgang gegenüber dem Scheunentor. Clare folgte Kevin, der sich hindurchduckte, und sie traten in einen langen, langen Kuhstall. Clare stolperte, und der junge Officer packte ihren Arm. Sie blickte den Mittelgang auf und ab. Zement. Abflüsse. Lampen in Drahtgeflecht vor jeder Box. Ihre Haut wurde klamm. Sie schluckte.
»Alles in Ordnung?« Kevin ließ ihren Arm los.
»Ja«, antwortete sie. »Hier sieht es nur … es sieht so ähnlich aus wie bei den McEntyres.« Sie holte Luft. Mist und Urin und Heu, erdig und beißend und grün. Kein Kupfergeruch von Blut.
»Keine Bange«, meinte Kevin. »Sie sind hier sicher.« Er wollte sie beruhigen, aber Clare hörte nur die vollkommene Sicherheit eines Menschen, dem niemals etwas Grauenhaftes zugestoßen war.
»Clare?« Aus einem der Ställe tauchte Janet auf, eine Mistforke in der Hand. »Officer Flynn?« Letzteres klang ehrlich überrascht. Sie rammte die Forke in den Mistkarren, der im Mittelgang stand. »Was ist denn?«
»Hi, Mrs. McGeoch. Entschuldigen Sie die Störung, aber als ich bei Ihnen zu Hause war, sagte Ihre Tochter, Sie wären hier, und ich möchte als Erstes mit Ihnen reden, weil der Chief gesagt hat, Sie hätten mit einigen der hiesigen Farmer über Wanderarbeiter gesprochen, ehe Sie diese Agentur eingeschaltet haben. Deshalb hatte ich gehofft, Sie oder Mr. McGeoch könnten mir einige Adressen nennen, damit ich ein bisschen mehr darüber herausfinden kann, wer Migranten beschäftigt und ob sie die Wanderarbeiter das ganze Jahr über behalten.«
»Was?«
Clare schüttelte den Schatten des Todesengels ab. »Officer Flynn benötigt eine Liste der hiesigen Farmer, die Wanderarbeiter beschäftigen.«
Kevin wirkte ein bisschen beleidigt. »Das habe ich doch gesagt.«
»Wenn Mike hier ist«, meinte Clare, »könnte er Officer Flynn dann vielleicht behilflich sein?«
»Er reinigt die Maschinen. Ich kann …«
»Ich möchte nämlich noch mit Ihnen reden – über Amado, äh, über Amados mögliche Rückkehr, um für Sie zu arbeiten.« Sie redete so deutlich und langsam, dass sie genauso gut hätte zwinkern und winken können.
»Okay.« Janet ging zur Mitte des Stalls. »Sehen Sie die Türen dort hinten?«
Kevin nickte.
»Das ist der Maschinenraum. Gehen Sie rein und sagen Sie Mike, was Sie brauchen. Er kann sich Namen und Nummern wesentlich besser merken als ich.«
»Danke«, antwortete Kevin. Er lief den Mittelgang hinunter. Blieb stehen. Drehte sich um. »Ganz schön groß hier. Wie, um alles in der Welt, schaffen Sie beide das ganz allein?«
»Oh, wir haben Hilfe.« Janets Stimme klang hauchdünn. »Aber heute ist Memorial Day, wissen Sie?«
»Und ob.« Er machte sich wieder auf den Weg.
Clare zeigte auf den schmalen Gang, der in die große Scheune führte. »Können wir uns dort unterhalten?«
»Er wird uns nicht hören. Wenn die Dampfreinigungsgeräte laufen, kann er nicht mal Mike gut verstehen.«
»Darum geht es nicht. Hier sieht es für meinen Geschmack zu sehr wie bei den McEntyres aus. Ich warte die ganze Zeit, dass plötzlich jemand mit einer Waffe aus dem Schlachtraum auftaucht.«
Janet sah sie stirnrunzelnd an. »Klar.« Sie ging voran, wobei ihr Kopf fast die niedrige Decke des Durchgangs streifte. Clare holte tief Luft, als sie endlich in der von Sonnenstrahlen durchschnittenen, großen Scheune standen. »Also«, begann Janet, »ich muss Sie etwas fragen. Glauben Sie, dass mein Bruder ähnlich reagieren würde wie Sie? Wenn er im Stall wäre?«
Clare dachte daran, dass Russ, auch nach über dreißig Jahren, nicht in der Lage war, bei Hitze durch den Wald zu laufen, ohne ständig nach dem Schimmern eines Gewehrlaufs Ausschau zu halten. Daran, wie starr seine Miene wurde, wie wortkarg er war, wenn die Sprache auf einige ältere Fälle kam. »Ja«, erwiderte sie. »Mit ziemlicher Sicherheit.«
Janet steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute sich in dem drei Stockwerke hohen, von Balken durchkreuzten Bauwerk um. »Okay«, meinte sie. »Das erklärt einiges. Danke.« Sie konzentrierte sich auf Clare. »Worüber müssen Sie mit mir sprechen?«
»Sie müssen wegen Ihrer Arbeiter auspacken.«
»Was? Warum?«
»Ich habe Ihnen etwas verschwiegen.« Clare erwischte eine lose Strähne und schob sie zurück in ihren Knoten. »Gestern wurden zwei weitere Leichen entdeckt, die auf dieselbe Weise getötet wurden wir Ihr John Doe. In flachen Gräbern eine Meile hinter Muster Field. Die lokalen Medien werden vermutlich heute Abend oder morgen darüber berichten.« Sie blickte Janet in die Augen. »Kevin fragt nach den Namen von Wanderarbeitern, weil man annimmt, dass es sich um das Werk eines Serienmörders handeln könnte.«
»Was, jemand der aus Mexiko herreist und Leute umpustet, wenn er einen freien Tag hat? Das ist doch lächerlich.«
»Ich behaupte nicht, dass einer Ihrer Männer verantwortlich ist. Ich behaupte nicht einmal, dass die Migranten-als-Serienmörder-Theorie besonders viel Sinn ergibt. Russ hat die Aufgabe Kevin übertragen, daran können Sie erkennen, dass sie keine hohe Priorität hat.« Sie breitete die Hände aus. »Ich sage nur, dass etwas Furchtbares passiert ist. Und Ihr Bruder braucht jedes bisschen Information, das er kriegen kann, um denjenigen zu finden, der dafür verantwortlich ist.«
Janet schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich kann einfach nicht. Wir haben die Zulassung für neue Arbeiter noch nicht beantragt, und wir können diesen Leuten keine rückwirkende Arbeitserlaubnis besorgen. Sie müssen das Land verlassen und sechzig Tage jenseits der Grenze warten, ehe sie sich wieder bewerben dürfen. Was wird Ihrer Meinung nach denn passieren, wenn die Polizei hier auftaucht, um sie zu befragen? Sie werden sich in alle vier Winde zerstreuen. Er wird keine Informationen von ihnen bekommen, und wir werden den Bach runtergehen.«
»Janet, was werden Sie empfinden, wenn noch eine Leiche auftaucht und Sie nichts getan haben, um die Sache zu beenden? Und warum? Um ein paar Dollar Lohnkosten zu sparen?«
»Sie haben nicht die geringste Ahnung, wie dünn unsere Deckung ist. Nahezu all unsere Kosten sind fix: Gas, Futter, Tierarztrechnungen, Versicherungen. Höhere Milchpreise können wir definitiv nicht verlangen. Der einzige flexible Kostenfaktor ist die Arbeit. Und Ortsansässige einzustellen würde uns doppelt so viel kosten wie die Mexikaner. Dazu kämen noch Sozialleistungen und Arbeitslosenversicherung. Die ›paar Dollar‹ Lohnkosten würden sich zu Tausenden summieren. Tausenden.«
»Sie zahlen keine Sozialleistungen und Arbeitslosenversicherung?«
Janet besaß den Anstand, beschämt dreinzuschauen. »Würden wir, wenn der ursprüngliche Plan funktioniert hätte und unsere Arbeiter eine Arbeitserlaubnis hätten. Aber so … die sieben Männer, die wir haben, dürften gar nicht hier sein, wie also sollten wir eine Lohnabrechnung erklären?« Sie wischte sich die Hände an der Jeans ab. »Momentan läuft die ganze Sache schwarz.«
»Ach du lieber Gott.« Clares nervöse Energie zwang sie, im Kreis zu laufen. »Das ist schwachsinnig. Einfach nur schwachsinnig. Jetzt haben Sie Ärger mit der Einwanderungsbehörde und dem Finanzamt am Hals.«
Janet verschränkte die Arme. »Ich werde meinem Bruder nichts von ihnen sagen. Ich kann nicht.« Sie drehte sich im Kreis, folgte Clare. »Und Sie dürfen das auch nicht.«
Clare blieb stehen. »Wie könnte ich es lassen?« Sie wedelte mit den Armen in der Luft herum, hätte sich am liebsten die Haare gerauft. »Christus auf einem Fahrrad«, fluchte sie.
Janet starrte sie an. Lachte.
»Was?«, fragte Clare. »Was?«
Janet wurde wieder ernst. »Sie dürfen nichts sagen«, wiederholte sie. »Sie haben es mir versprochen.«
»Was versprochen?« Kevin richtete sich auf, als er den schmalen Gang verließ. Mike McGeoch folgte ihm, so ruhig und gelassen wie eine seiner Kühe, als lebte er in einer Welt, zu der Mord und illegale Ausländer und Steuerbetrug niemals Zugang fanden. Vielleicht stimmte das ja auch, soweit es ihn betraf.
»Etwas Persönliches«, antwortete Janet. Sie blickte von Clare zu Kevin. »Es betrifft meinen Bruder.«
Clare sah, wie in Kevins Oberstübchen die Lampen angingen. Er lief rosa an. »Oh. Klar. Persönlich.« Er gab Mike gerade die Hand, als er zum Scheunentor hinübersah. »Wer ist das?«
Clare drehte sich um. Die Umrisse von Amado und dem Vorarbeiter der McGeochs zeichneten sich gegen das Sonnenlicht ab; identische Größe, einer schlaksig mit gebrochenem Arm, der andere breit und muskulös. Der Vorarbeiter umarmte den jüngeren Mann, hielt seinen Kopf umfangen, murmelte ihm etwas ins Ohr, zu leise, als dass sie es hätten verstehen können. Er reichte dem Jungen einen Rucksack, zusätzlich zu der kleinen Reisetasche und der vollgestopften Einkaufstüte, die er bereits schleppte.
»Mein Interimsküster«, erklärte Clare. »Amado.« Der Junge und der Vorarbeiter blickten gleichzeitig auf. Der Vorarbeiter sah Kevins Uniform, versetzte dem jüngeren Mann einen Klaps auf den Rücken und trollte sich, nicht schnell, nicht langsam.
»Nein, der andere. Ich dachte, Sie würden keine Latinos mehr beschäftigen.«
»Oh, das ist einer der Männer unseres Nachbarn.« Janets Stimme war hoch und dünn. »Arbeitet an seinen freien Tagen für uns.« Sie lachte, ein spröder, wenig überzeugender Klang. »Wir haben Glück, dass er kommt.«
Kevin runzelte die Stirn. »Für jemanden, der nur hin und wieder mal vorbeischaut, scheint er ziemlich vertraut mit Amado.«
Janet sah Clare an, die den Mund hielt. Sie würde nicht länger für Russ’ Schwester lügen.
»Ich glaube, viele der Gastarbeiter hier stammen aus derselben Gegend in Mexiko.« Janet zuckte die Achseln. »Vielleicht sind sie sogar verwandt.« Sie hob die Stimme. »Kennst du Octavio von daheim, Amado?« Der junge Mann starrte sie an. »Octavio? ¿Un amigo?« Er umklammerte den Rucksack fester und fuhr fort, sie anzustarren wie ein kopfscheues Pferd.
»Alles in Ordnung, Amado. Steigen Sie doch schon in den Wagen.« Clare drehte sich um. »Ich muss jetzt mit ihm zur Kirche fahren, Janet. Bitte denken Sie über unser Gespräch nach.« Im Vertrauen darauf, dass es für Kevin wie eine freundliche Geste wirken würde, ergriff sie die andere Frau am Arm. »Officer Flynn, viel Glück bei Ihren äh, Ermittlungen. Sie tragen große Verantwortung.«
»Tatsächlich, nicht?« Er strahlte. »Bis später, Reverend. Genießen Sie den Rest der Feiertage.«
Freitagabend war sie in ihrer Kirche überfallen worden. Sonntag hatten sie beim jährlichen Picknick zwei Leichen gefunden. Sie öffnete den Mund, um auf diese beiden Tatsachen hinzuweisen, dann klappte sie ihn angesichts der fröhlichen Miene des jungen Officers wieder zu. »Danke, Kevin, ich werde es versuchen.«
III
An diesem Abend ging sie in die Kirche, um zu beten. Sie hatte nicht damit gerechnet, wie deplaziert sie sich mit einem Hausgast fühlen würde, eine Beeinträchtigung, die durch Amados schüchterne Förmlichkeit und das Fehlen einer gemeinsamen Sprache umso deutlicher wurde. Ihre innere Unruhe wurde auch nicht dadurch gelindert, dass sie jedes Mal, wenn sie am Sofa vorbeiging oder sich an den Küchentisch setzte, von erotischen Erinnerungsfetzen heimgesucht wurde, bei denen ihr so heiß wurde, dass sie sich fragte, ob sie am Beginn der Wechseljahre stand. Wann hatte sie das letzte Mal Sex gehabt? Das genaue Jahr konnte sie nicht bestimmen, aber es war mindestens zwei Präsidentschaftswahlen her. Sie hatte lange Zeit zölibatär gelebt. Lange Zeit.
Deshalb flüchtete sie nach St. Alban’s. Sie liebte es, hier abends allein zu sein, die Kerzen zu entzünden und am Hochaltar die Komplet zu lesen. Sie würde die Inschrift an der Marmorkante lesen – BETE FÜR DIE SEELE VON REVEREND DR. MATHIAS ARCHIBALD DUNN, PASTOR DIESER KIRCHE – und beten, obgleich sie vermutete, dass der verstorbene Dr. Dunn sich jedes Mal im Grab umdrehte, wenn eine ordinierte Frau an seinem Altar das Brot brach. An diesem Abend verharrte sie lange in der Stille und dem Schein der Kerzen, betete um Erleuchtung, darum, Gottes Willen zu erkennen, zu erkennen, was sie tun musste.
Besuche Lucia Pirone.
Unvermittelt tauchte dieser Gedanke ausformuliert in ihrem Verstand auf. Ihre Hände sanken herab, und sie hob den Kopf. Natürlich. Sie sollte Schwester Lucia besuchen. Persönlich.
Du hättest sie schon vor Wochen anrufen sollen.
Das war die Stimme von Großmutter Fergusson, nicht die des Allmächtigen. Morgen würde sie zum Reha-Zentrum fahren und der Missionarsnonne ihr Herz ausschütten. Wenn sie selbstgebackenen Kuchen mitbrachte, dachte sie, während sie geistesabwesend über Dr. Dunns Namen rieb, würde sie sowohl Gott als auch ihre Großmutter zufriedenstellen.
IV
»Clare! Wie schön, Sie zu sehen.« Schwester Lucias Blick war so lebhaft wie immer, aber ihre Hand zitterte, als sie Clares ergriff. »Und was ist das? Für mich?« Sie beugte sich hustend vor, um die Schachtel entgegenzunehmen, die Clare mitgebracht hatte.
»Ich helfe Ihnen«, sagte Clare. Sie löste die Schleife und nahm den Deckel ab.
»Gütiger Himmel. Sehen die lecker aus. Sind das Pekannussplätzchen? Und« – Schwester Lucia nahm einen runden Keks und steckte ihn in den Mund – »Bourbon Balls?« Sie kaute und schluckte mit geschlossenen Augen. »Die habe ich nicht mehr gegessen, seit ich das letzte Mal in Texas war. Wo haben Sie die hier oben gefunden?«
»Die habe ich heute Morgen selbst gebacken.« Sie grinste. »Eine Flasche Bourbon darf ich Ihnen ja nicht mitbringen.«
»Die reichen für den ganzen Flur! Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
»Betrachten Sie es als Bußübung. Ich hätte Sie schon lange besuchen müssen. Wie geht es Ihnen?«
»Tja, die Lungenentzündung ist abgeklungen, und man hat mir versichert, das sei gut. Aber dadurch bin ich mit der Therapie für die verflixte Hüfte in Verzug.« Sie schnitt eine Grimasse. »Eine gebrochene Hüfte. Wenn mir das nicht sagt, dass ich eine alte Frau bin, was dann? Ach, nun ja.« Sie musterte Clare eindringlich. »Ich schätze, Sie sind nicht den ganzen Weg von Millers Kill hierhergefahren, um mit mir über meine Reha-Maßnahmen zu reden.«
Clare schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das stimmt.« Sie berichtete der Nonne von Janet und Mike McGeoch, den Leichen, den Ermittlungen, ihrer eigenen Rolle bei der Vertuschung der Wahrheit vor der Polizei. Bis sie zum Ende kam, hatte Schwester Lucia noch ein paar Bourbon Balls verspeist und nickte.
»Oh, welch verwirrtes Netz wir weben«, bemerkte sie, als Clare die Luft ausging.
»Was sollte ich tun?«
»Wer leitet noch gleich die Ermittlung?«
»Unser Polizeichef, Russ Van Alstyne. Er war auch am Unfallabend dort – ich weiß nicht, ob Sie ihn gesehen haben.«
»Aber sicher nicht der Rotschopf. Der war doch viel zu jung.«
»Nein, nein. Das war Officer Flynn. Er ist ein Goldschatz. Nein, der Chief war der ältere Mann mit den« – sie beschrieb mit den Händen Russ’ breites Kreuz – »und groß. Sehr groß. Blaue Augen.«
»Der Attraktive?«
»Ja, genau.«
Die Mundwinkel der Nonne zuckten. »Den habe ich nicht gesehen.«
Clare spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
»Sie kennen ihn offensichtlich.« Schwester Lucias amüsiertes Funkeln schwand. »Vertrauen Sie ihm? Dass er das Richtige tun wird, wenn Sie ihm von den Männern bei den McGeochs erzählen?«
»Unsere Definition von richtig ist manchmal sehr unterschiedlich.« Sie dachte einen Moment nach. »Wenn er es für seine Pflicht hielte, sie zu verhaften, würde er es tun. Es würde ihm nicht gefallen, aber er würde es tun.«
»Selbst wenn er damit seiner Schwester schadet?« Die Nonne schnaubte. »Klingt für mich ein bisschen unflexibel.«
»Nicht unflexibel. Ehrverpflichtet.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Zugegebenermaßen nervt er damit manchmal ganz schön.«
Schwester Lucia lachte, was einen weiteren Hustenanfall auslöste. Gerade als Clare begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen, betrat eine Krankenschwester das Zimmer.
»Schwester?« Sie half der Nonne, sich vorzubeugen, bis der Anfall vorüber war.
»Entschuldigung«, keuchte Schwester Lucia.
Clare stand auf. »Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Ich habe Sie überanstrengt.«
Die Krankenschwester nickte. »Sie sollte jetzt ihre Medikamente nehmen.«
Schwester Lucia ergriff Clares Arm. »Sagen Sie es ihm«, bat sie mit einem Rasseln in der Kehle. »Gerechtigkeit ist wichtig. Rechte und Jobs und Arbeitsbedingungen sind wichtig. Aber ohne Leben ist nichts davon von Bedeutung.« Sie sah zu Clare auf, ihr Gesicht von Schwäche gezeichnet wie das eines Märtyrers. »Wenn es einen Zusammenhang gibt, irgendeinen … Sagen Sie es ihm.«
V
Clare befand sich auf dem Heimweg vom Reha-Zentrum, als ihr Handy klingelte. Sie drehte die Jason-Mraz-CD leiser und warf einen Blick auf die Nummer: Russ. Eine Sekunde lang dachte sie daran, die Voicemail anspringen zu lassen. Sie musste mit ihm reden, das war ihr klar, aber um der Fairness willen wollte sie erst Janet Bescheid geben, was sie zu tun beabsichtigte.
Sie klappte es auf. »Hey«, meldete sie sich.
»Hey. Ich bin’s. Wo steckst du?«
Huch. Das war direkt. »Auf dem Rückweg vom Reha-Zentrum im Krankenhaus von Glens Falls. Ich habe Lucia Pirone besucht. Du kennst sie.«
»Die Nonne von dem Unfall, klar. Hör mal, kannst du mich im Gerichtsgebäude des County treffen? Weißt du, wo das ist?«
»Sicher. Warum? Was ist los?«
Er gab ein missbilligendes Geräusch von sich. »Amy Nguyen von der Staatsanwaltschaft möchte mit uns reden.«
»Mit uns? Gemeinsam?«
»Die Kautionsverhandlung für die Christie-Brüder steht an, und offensichtlich will ihre Anwältin sofort mit dem Pferdehandel beginnen. Kannst du herkommen?«
»Klar. Wohin?«
»Frag einfach am Eingang nach Amy. Danke. Bis dann.«
Er legte auf, ehe sie noch etwas sagen konnte. Vielleicht hatte er es schrecklich eilig. Vielleicht redeten sie auch wieder nicht mehr miteinander. Das vermisste sie am meisten: das Reden. Ernsthaft, albern, tiefsinnig, spöttisch, alle Worte und Gedanken wie gegenseitige Geschenke, die einzigen Geschenke, die sie einander mit ihren stolpernden Herzen machen konnten. Sie drehte die CD wieder lauter. Another day to sing about the magic that was you and me. Ach, sicher. Dafür war immer Zeit.
Das Gericht des Washington County war ein niedriger moderner Ziegelbau, der auch als Bank oder Hauptsitz einer Firma hätte durchgehen können. Seine Kanten wurden von blühenden Zieräpfeln und Reihen um Reihen unterschiedlicher Narzissen gemildert. Auf dem Fußweg vom Parkplatz blieb sie einen Moment stehen und atmete den Duft nach Apfel und üppigem Maigras ein, der über dem blechernen Geruch der in der Sonne brütenden Autos schwebte. Sie fragte sich, ob die kleinen Abschnitte des Frühlings die Gefangenen, die hier ein und aus gingen, trösteten oder quälten.
Beim Sicherheitsdienst fragte sie nach Amy Nguyen und wurde zu einem Konferenzraum verwiesen, den Clare, als sie nach dem »Herein« die Tür öffnete, nur unwesentlich größer als eine Besenkammer fand. Eine kleine Asiatin in Clares Alter stand hinter einem von Aktenordnern und Dokumentenkassetten übersäten Schreibtisch.
»Amy Nguyen?«
Die Frau hob den Blick von einer aufgeschlagenen Akte, in der sie gelesen hatte. Bei jemand weniger Gehetztem wäre ihr Ausdruck ein Lächeln gewesen. »Sie müssen Reverend Fergusson sein.« Sie streckte die Hand aus. Nur ein kaum hörbarer Akzent verriet, dass Englisch nicht ihre Muttersprache war.
»Kein anderer schien den Job zu wollen«, bestätigte Clare und drückte Nguyens Hand. Das trug ihr ein echtes Lächeln ein.
»Genau wie bei mir. Nehmen Sie doch Platz.«
Clare zog einen der weißen Kunststoffstühle heraus. »Um was geht es? Chief Van Alstyne sagte, Sie wollen mit mir über die Christies sprechen.«
»Warten wir doch, bis Russ kommt, dann können wir alle …« Amy verstummte, als die Tür aufsprang, beinah gegen Clare knallte und Russ in den Raum schlüpfte, wobei er sämtlichen verbleibenden Platz ausfüllte.
»Entschuldigt die Verspätung«, sagte er. Sein Blick streifte Clare. »Reverend Fergusson.« Dann Nguyen. »Amy. Ist eine Weile her.«
Sie gab ihm über den Tisch hinweg die Hand. »Stimmt. Es hat mir so leidgetan, als ich das von deiner Frau gehört habe. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Verlust es für dich sein muss.«
»Danke«, erwiderte er steif. »Es war – ja. Danke.« Auf Nguyens Geste hin versuchte er, sich auf einen der Stühle zu quetschen. Er sah Clare nicht an.
»Okay, es geht um Folgendes.« Nguyen legte ihre Hand auf die Akte, in der sie gelesen hatte. »Die Anwältin der Christies wehrt sich weiterhin gegen eine Festlegung der Kaution, weil sie will, dass wir alle Anklagepunkte gegen ihre Mandanten fallenlassen.«
»Was?« Russ klang aufgebracht. »Zur Hölle damit! Wenn ich nicht rechtzeitig dort gewesen wäre …«
Nguyen hob die Hand. »Im Gegenzug«, betonte sie, »wollen sie die Klage gegen dich und das Police Department von Millers Kill wegen Körperverletzung und tätlichem Angriff zurückziehen.«
Russ schaukelte nach hinten, wobei der wacklige Stuhl umzukippen drohte.
»Gut«, sagte Clare. »Ich bin bereit, die Klage fallenzulassen. Fahren Sie fort.«
»Nein!« Russ drehte sich zu ihr um. »Der Mistkerl hätte dich umbringen können.« Er funkelte die stellvertretende Staatsanwältin an. »Neil und Donald Christie sind in die Kirche eingedrungen und haben versucht, sie zusammenzuschlagen. Sieh sie dir an! Jeder der beiden ist doppelt so groß wie sie.«
Nguyen hielt eine Seite hoch. »Den Christies zufolge haben sie eine offene, nicht verschlossene Kirche betreten, um einen Bekannten zu suchen. Als sie versuchten, ihn ausfindig zu machen, hat Reverend Fergusson« – sie blickte über den Rand der Seite zu Clare – »sie mit einer langen, hölzernen Stange angegriffen.«
»Dem Prozessionskreuz«, erklärte Clare, der im selben Moment bewusst wurde, dass nur die allerschlimmsten Pedanten jemanden korrigieren würden, der sie des Angriffs bezichtigte.
»Sie behaupten, dass Ms. Fergusson Donald bewusstlos schlug, Donalds Nase brach und beide mit dem – äh, Kreuz verprügelte.« Sie hob fünf oder sechs zusammengeheftete Blätter an. »Die Anwältin hat hilfsbereiterweise die Aufnahmepapiere des Washington County Hospital beigefügt, die diese Verletzungen bestätigen.« Sie lächelte Clare beinah an. »Falls ich jemals in dunklen Gassen unterwegs bin, hoffe ich, dass Sie mich begleiten, Reverend.« Sie wandte sich an Russ. »Donald Christie gibt außerdem zu Protokoll, dass du ihn mehrere Male ins Gesicht geschlagen hast, ehe er auch nur eine Chance hatte, deiner Aufforderung nachzukommen, eine für die Verhaftung angemessene Position einzunehmen.« Sie raschelte mit den Krankenhausunterlagen. »Was ebenfalls von medizinischen Indizien erhärtet wird.«
»Hör mal«, begann Russ.
Nguyen schüttelte den Kopf. »Ich will nichts hören. Falls ihre Anwältin darauf besteht, müssen wir in dieser Angelegenheit ermitteln. Sprich nicht mit mir.« Sie ließ die Papiere fallen und verschränkte die Arme auf dem Tisch. »Ich habe deinen Bericht gelesen. Und Reverend Fergussons Aussage. Glaub mir, ich weiß, was sich in Wahrheit abgespielt hat. Aber die Anklage wird verdammt schwierig, Russ. Das Eindringen können wir vergessen, sie haben gute Chancen mit Notwehr, und falls wir uns auf Widerstand gegen die Verhaftung versteifen, wird ihre Anwältin todsicher dafür sorgen, dass die Geschworenen über die drohende Klage gegen dich Bescheid wissen. Die, wie ich betonen möchte, die Stadt eine verdammte Menge Geld kosten wird, selbst wenn du dich erfolgreich verteidigen kannst. Vielleicht – vielleicht – könnte ich mit Bedrohung durchkommen, aber sogar dann erhalten sie bestenfalls eine Geldstrafe in Höhe von fünfhundert Dollar.«
Er starrte auf seine Knie und wiegte den Kopf wie ein Stier, der einmal zu oft angegriffen wurde.
»Ich ziehe die Anzeige zurück«, sagte Clare erneut. »Mir geht es gut und Amado auch, und nur darauf kommt es an.«
»Das ist nicht das Einzige, worauf es ankommt«, widersprach Russ mit gesenkter Stimme.
Clare riskierte es und legte ihm die Hand auf den Arm. »Vielleicht nicht«, gab sie zu. »Aber ich bin nicht bereit …«
Mein Glück mit deiner Ehe zu erkaufen. Sie konnte es in seinen Augen lesen, das Echo der Worte, die sie vor so vielen Monaten zu ihm gesagt hatte. Ehe seine Frau starb. Ehe sie beide gebrochen worden waren.
Sie atmete tief ein. »Zuzusehen, wie du deinen Job und den Ruf der Polizei riskierst.« Sie sah die Staatsanwältin an. »Ich brauche keine vom Staat sanktionierte Bestrafung. Solange sie sich von Amado und mir fernhalten, bin ich bereit, die Angelegenheit fallenzulassen.«
Nguyen nickte. »Das können wir selbstverständlich zur Bedingung machen.«
Russ schnaubte. »Als ob ein Kontaktverbot die beiden aufhalten könnte. Also ehrlich.«
Nguyen verschränkte die Hände. »Die Durchsetzung überlasse ich dir.«
Er wirkte noch immer zutiefst unzufrieden.
»Falls du dich dann besser fühlst«, fuhr sie fort. »Es scheint, dass sie nicht hinter Ms. Fergusson her waren. Bei ihrer Aussage machten sie Andeutungen, dass Ihr Mädchen für alles« – sie nickte Clare zu – »sich mit ihrer Schwester getroffen hatte und sie mit ihm reden wollten. Sie kannten nicht einmal Ihren Namen.«
Die Klage zurückzuziehen war wesentlich einfacher, als Clare befürchtet hatte. Die stellvertretende Staatsanwältin hatte das Kontaktverbot bereits vorbereitet, und Clare musste es nur noch in Gegenwart eines erschöpften Gerichtsdieners unterschreiben, der dann das notarielle Siegel daruntersetzte und sie zum Warten nach draußen schickte. Nach einer halben Stunde wurden sie in das Büro von Richter Ryswick geführt – die Staatsanwältin hatte Russ eindringlich aufgefordert, sich ein Sandwich holen zu gehen, was dieser ebenso eindringlich ignoriert hatte –, und Clare musste ihre Darstellung der Ereignisse des Freitagabends wiederholen. Ryswick schnalzte ein paarmal missbilligend, kritzelte ein paar Zeilen auf die Papiere, die Nguyen ihm vorgelegt hatte, und unterschrieb nach einem langen Blick auf Clare, bei dem diese sich vorkam, als hätte sie etwas verbrochen, die Verfügung.
Eine Stunde nach ihrem Eintreffen stand sie wieder draußen auf dem Parkplatz, ein Blatt Papier in der Hand, das angeblich den Abstand zwischen ihr und den Christies wahren sollte. »Das ging flott«, sagte sie zu Russ, der schlecht gelaunt in die Sonne blinzelte, als wäre sie ein persönlicher Affront. »Wer hat gesagt, die Mühlen der Justiz mahlen langsam?«
»Das war keine Justiz«, sagte er. »Das war Bequemlichkeit.«
»Ich habe es dir doch gesagt: Solange sie mich und Amado in Ruhe lassen, bin ich zufrieden« Sie sah zu ihm auf, eine Hand über den Augen. »Glaubst du, dass sie die Wahrheit gesagt haben? Über Amado und ihre Schwester?«
Er rieb sich den Nacken. »Vielleicht. Das würde zumindest erklären, warum sie ihn kannten. Eine andere Erklärung habe ich nicht finden können. Es ist nicht gerade so, als hätte der Junge ständig im Dew Drop Inn gefeiert.«
»Woher kannte er dann ihre Schwester?«
»Keine Ahnung. Du hast mehr Zeit mit ihm verbracht als alle anderen. Ist er ein mexikanischer Schürzenjäger?«
»Wohl kaum. Mich erinnert er eher an Kevin Flynn, wenn Kevin in einem armen Dorf in Nordmexiko geboren worden wäre. Süß, hilfsbereit, Angst vor Frauen.«
»Hm. Das hat sich geändert. Letzten Freitag hab ich Kevin dabei erwischt, wie er unseren neuen Officer angebaggert hat. Ich musste beiden die Leviten lesen.«
»Kevin Flynn? Hat Hadley Knox angebaggert? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Tja.« Russ zerrte an seinem Holster. »Es war auch eher die Art ›Darf ich dir deine Bücher nach Hause tragen?‹. Was für Kevin allerdings das Äquivalent zu einer Einladung auf einen Quickie im Stehen in einer dunklen Gasse darstellt. Ich hab ein Fraternisierungsverbot verhängt.« Er schaute zurück, als die Türen des Gerichtsgebäudes aufschwangen und eine Gruppe von Männern und Frauen entließen, die in jeder Nuance von Schwarz bis Kohlrabenschwarz gekleidet waren. »Ich schätze, ich werde zum Notar müssen, damit er etwas aufsetzt, das das Verbot legalisiert.« Sie wandte sich dem Parkplatz zu, während er sprach, weshalb sie den Ärger als Erste kommen sah. »Oje«, sagte sie.
Er drehte sich um. »Was?«
Sie wies mit dem Kinn auf den Mann, der über den Asphalt auf sie zuschlenderte. Aufgekrempelte Hemdsärmel, kein Jackett, locker gebundene Krawatte – als er näher kam, konnte sie ein Bild von Snoopy darauf erkennen. Inmitten dieser Bastion von Anwälten, Angeklagten und Zeugen war es unmöglich, ihn für etwas anderes als einen Reporter zu halten.
»Ach, Bockmist auf Toast«, fluchte Russ. »Ben Beagle.«
VI
»Benimm dich.« Clare klang wie seine Mutter.
»Benehmen? Er hat eine Story im Post Star veröffentlicht, in der er andeutet, wir hätten die Nacht miteinander verbracht, ehe ich meine Frau umgebracht habe. Kennst du die Auflagenhöhe vom Post Star? Fünfundzwanzigtausend! Ich hab nachgeschlagen.«
»Schscht.« Sie hatte denselben Ausdruck im Gesicht, den er bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Kirche bemerkt hatte: leuchtend, offen, herzlich. Es war keine Lüge, aber mit Sicherheit aufgesetzt.
»Hey! Chief Van Alstyne. Genau der Mann, den ich zu treffen hoffte. Sie haben mir eine Fahrt zum MKPD erspart.« Beagle zog einen Notizblock aus der Tasche und klickte seinen Kuli auf, während er Russ anlächelte wie einen alten Armeekumpel, der ihm einen Drink schuldete. »Was können Sie mir über die beiden Leichen sagen, die letzten Sonntag in Cossayuharie gefunden wurden?«
»Woher wissen Sie davon?«
Clare räusperte sich. »Äh, Russ …«
»Es waren ungefähr zweihundert Menschen dort«, erklärte Beagle munter. »Wie heißt es doch so schön? Zweihundert können ein Geheimnis nur dann bewahren, wenn einhundert tot sind. Oder so ähnlich.« Er fuchtelte mit dem Finger vor Clares Gesicht herum. »Reverend Fergusson. Schön, Sie mal wieder zu sehen. Soweit ich verstanden habe, war es ein kleiner Junge aus Ihrer Gemeinde, der das ganze Tohuwabohu ausgelöst hat.«
»Äh, ja«, antwortete sie.
»Um Himmels willen, Clare, du musst nicht mit ihm reden.« Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. Ihn! »Ich versuche nur, dir Ärger zu ersparen«, flüsterte er. »Jedes Mal, wenn du in der Zeitung landest, kriegt dein Bischof einen Anfall.«
»Ehrlich?« Beagles Augen leuchteten auf. »Warum das denn?«
Ihr Stirnrunzeln verwandelte sich in einen bösen Blick, ehe sie sich wieder zu Beagle umdrehte. »Ach, Sie kennen doch Chief Van Alstyne«, antwortete sie, plötzlich ganz Südstaatencharme. »Er muss immer seine kleinen Scherze machen.« Russ war angenehm berührt von dem Zweifel in Beagles Blick. Er hatte keineswegs den Ruf, ein Witzbold zu sein, und das wollte er auch nicht.
»Ein zweieinhalb Jahre alter Junge ist bei dem Gemeindepicknick davongelaufen«, fuhr Clare fort. Ihre Stimme nahm den präzisen Tonfall eines Menschen an, der eine Sachlage richtig darstellt. »Er hat sich im nahe gelegenen Wald verirrt, und es vergingen ungefähr – oh, bestimmt drei Stunden, ehe die Rettungsmannschaft aus Millers Kill ihn ausfindig gemacht hat, mit Hilfe einer wunderbaren Hundeführerin aus Saratoga. Ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern, aber John Huggins kennt ihn bestimmt. Wir sind alle sehr dankbar, dass wir ihn heil und gesund wiederhaben. Sie hörten St. Alban’s, Church Street fünf, Millers Kill. Heilige Messe während des Sommers sonntags um sieben Uhr dreißig und neun Uhr, Kinderbetreuung wird angeboten.« Sie verschränkte die Arme und lächelte süß, während Beagle in seinen Block kritzelte. Russ wusste nicht, ob er sie küssen oder ihr einen Klaps verpassen sollte.
»Danke«, sagte Beagle. »Jetzt zu Ihnen, Chief. Wegen dieser Leichen …«
»Kein Kommentar«, sagte Russ.
»Können Sie bestätigen, dass es sich um aktuelle Leichen handelt, nicht um historische?« Alle paar Jahre pflügte jemand über eine vergessene Begräbnisstätte aus dem achtzehnten Jahrhundert.
»Kein Kommentar«, sagte Russ.
»Können Sie bestätigen, dass sie sich in der Obhut der Rechtsmedizin befinden, weil eine Mordermittlung läuft?«
»Kein Kommentar.«
Die nicht enden wollende Reihe von Abfuhren erzeugte einen Krampf in Russ’ Kiefer, doch Beagle steckte sie ein, ohne seine Heiterkeit einzubüßen.
»Können Sie etwas zu einer Verbindung zwischen den beiden nicht identifizierten Leichen, die am Sonntag entdeckt wurden, und der Leiche, die am Freitag davor gefunden wurde, sagen?«
Er schaffte es, sich zusammenzureißen und Beagle nicht anzuherrschen, woher, zum Teufel, er diese Information hatte. Doch in seinem Gesicht zeigte sich offensichtlich etwas davon, denn der Blick des Reporters wurde wachsamer. »Meines Wissens war der – ah, ja, Joe Friday ein Latino. Ziemlich ungewöhnlich in diesem Teil des Staates. Halten Sie es für möglich, dass es sich um ein rassistisch motiviertes Verbrechen handelt?«
Clares Augenbrauen zogen sich sorgenvoll zusammen. »Sie meinen, jemand hat es auf Latinos abgesehen?«
»Oder Wanderarbeiter.« Beagle biss auf seinen Kuli, als wollte er die Möglichkeit betonen. »Es wäre nicht das erste Mal. In den zehner und zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war diese Gegend eine Brutstätte des KKK. Gewalt gegen Iren, Katholiken und Wanderarbeiter war an der Tagesordnung.«
»Sie machen Witze!« Sie wirkte erschüttert. »Russ?«
»Kein. Kommentar.«
Sie holte Luft, hätte ihn am liebsten geschlagen, riss sich aber zusammen. Sie sah erst Beagle an, dann Russ. Ihre Augen wurden schmal. Wir sprechen uns später. Er war nicht sicher, ob es sich um ein Versprechen oder eine Drohung handelte. »Ich muss los«, verkündete sie. »Es war schön, Sie wieder mal zu treffen, Mr. Beagle.«
»Bitte.« Der Reporter ergriff ihre Hand: »Nennen Sie mich Ben. Wir sollten mal mittags essen gehen und über eine Homestory reden. Ein Tag im Leben einer Pastorin.«
Clare lächelte argwöhnisch. »Ich glaube, in St. Alban’s gibt es nicht vieles, was einen investigativen Reporter interessieren könnte.«
Beagle hielt noch immer ihre Hand. »Wir machen eine menschelnde Geschichte. Herzerwärmend. Herzerwärmendes verkauft sich gut.« Er grinste sie an. »Nicht so gut wie Verbrechen und Autounfälle, aber – da wir in Washington County sind – daran haben wir immer einen Mangel.«
Clare wirkte amüsiert. Russ fiel auf, dass der Reporter ihr vom Alter her wesentlich näher war als er selbst, und dass Beagle vermutlich sogar Anziehungskraft besaß – für manche Frauen. Vielleicht wie ein schmuddeliger Plüschteddy, den man auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte.
»Wolltest du nicht los?«, fragte er. Es kam barscher heraus, als er beabsichtigt hatte.
Sie erstarrte. Dann lächelte sie Beagle strahlend an. »Das würde mir gefallen, Ben. Rufen Sie mich an.« Sie zog ihre Hand zurück und marschierte, ohne einen Blick zu Russ, zu ihrem Auto.
»Auf Wiedersehen«, rief er. Sie winkte kurz, ohne sich umzudrehen.
»Was für eine Frau«, seufzte Beagle.
Russ grunzte.
Ben klickte erneut mit seinem Kuli und drehte sich zu Russ. »So, Chief. Können Sie mir irgendwelche Informationen über den Serienmörder geben, der die Gegend von Millers Kill heimsucht?«
VII
POLIZEI GLAUBT NICHT AN SERIENMÖRDER lautete die Schlagzeile. Hadley nahm die Zeitung vom Küchentisch, wo Hudson sie hingeworfen hatte – es war seine allmorgendliche Pflicht, den Post Star für seinen Großvater hereinzuholen –, ehe er wieder nach oben gerannt war, um seinen Rucksack zu holen.
Der Polizeichef von Millers Kill, Russel Van Alstyne, verweigerte jeden Kommentar zu der Möglichkeit, dass ein Serienmörder für die drei Mordopfer verantwortlich sein könnte, die im Lauf der vergangenen Woche in Cossayuharie entdeckt wurden, obwohl die Fälle starke Ähnlichkeiten aufweisen.
Hadley schüttelte den Kopf. Der Chief würde einen Herzanfall bekommen, wenn er das sah.
Apropos … sie holte Großvaters Tabletten aus dem Schrank, schraubte den komplizierten Verschluss auf und schüttete seine tägliche Ration in einen Becher neben der Kaffeemaschine. Er hatte sie trotz ihres Drängens nicht regelmäßig genommen, deshalb versuchte sie nun, sie unvermeidlich zu machen.
»Hudson! Geneva! Beeilt euch, oder ihr bekommt kein Frühstück!« Sie nahm die drei Packungen mit Frühstücksflocken aus dem Regal und wuchtete den Gallonenkrug Milch aus dem Kühlschrank. Halb leer. Sie kritzelte MILCH auf die Rückseite eines Briefumschlags der Elektrizitätswerke, den sie als Einkaufszettel benutzte, und stopfte ihn in ihre Tasche.
Ein Poltern auf der Treppe, und Genny trottete in die Küche, ein Paar Stiefel in der Hand, ein Sonderangebot von Wal-Mart, das Hadley eine Woche nach ihrer Ankunft im North Country erstanden hatte. »Mom, hilfst du mir beim Stiefelanziehen?«
Hadley zog einen Küchenstuhl heran und plazierte ihre Tochter darauf. »Liebes, wir haben Juni. Im Juni trägt man keine Stiefel.«
»Aber das sind Hello-Kitty-Stiefel. Und ich hab ein Hello-Kitty-T-Shirt an.«
Dem konnte sie schlecht widersprechen. »Was ist mit den Sandalen, die Grampy dir gekauft hat?«
Geneva sah sie an wie Joan Rivers eine schlechtgekleidete Schauspielerin bei der Oscar-Verleihung. »Das sind Strawberry-Shortcake-Sandalen. Strawberry Shortcake ist was für Kleinkinder. Ich bin in der ersten Klasse.« Sie schwenkte die Stiefel und streckte die Beine aus.
Hadley wog die Reaktion der Lehrerin auf die der Jahreszeit unangemessene Fußbekleidung im Geist gegen die Zeit ab, die es kosten würde, Geneva zu einem Gesinnungswechsel zu überreden, und beschloss, dass sie damit leben konnte, von Mrs. Flaherty für eine Rabenmutter gehalten zu werden.
Sie zog Geneva die Stiefel an. »Du nimmst dir Flocken, und ich helf dir mit der Milch«, sagte sie. Sie marschierte durch das Wohnzimmer zum Treppenabsatz und brüllte: »Hudson!«
Er tauchte aus seinem Zimmer auf, einen vollgestopften Rucksack über der Schulter, in der Hand einen Stapel Zettel. »Ich brauche Unterschriften«, verkündete er und drückte sie ihr in die Hand. »Und zwei Schecks.« Hinter ihm konnte sie Granddad den Flur hinunterhumpeln hören.
Hadley überflog die Blätter, während sie ihrem Sohn in die Küche folgte. Eine Erlaubnis, an einem Ausflug nach Saratoga ins Kunstmuseum teilzunehmen. Kosten: zehn Dollar. Erlaubnis für einen Ausflug ins Mohawk Canal Museum. Kosten: fünf Dollar. So viel zu ihrem Friseurbesuch diese Woche. Eine Ankündigung bevorstehender Wandertage – bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind angemessen gegen Sonne geschützt ist. Sie ließ die Zettel auf den Tisch fallen und goss Milch in Gennys Schüssel, wobei sie darauf achtete, nicht auf ihre Uniform zu kleckern. »Ich weiß gar nicht, warum im Juni Schule ist«, sagte sie zu Hudson. »Du bist doch sowieso nie dort.«
Sie kramte ihr Scheckheft aus der Tasche und begann die Schecks auszufüllen. »Du hättest mir das gestern Abend geben müssen«, mahnte sie ihren Sohn, der mit Hochdruck seine Flocken löffelte. Er nickte.
»Hey, Honey«, rief ihr Großvater aus dem Wohnzimmer. »Komm mal her und sieh dir das an.«
»Ich kann nicht.«
»Dein Revier ist in den Nachrichten auf Channel Six.«
Hudson und Genny blickten mit weit aufgerissenen Augen hoch. »Ihr frühstückt fertig«, kommandierte Hadley, doch sie rutschten bereits von ihren Stühlen und rannten ins Wohnzimmer. »Ich fahre euch nicht zur Schule«, warnte Hadley, während sie ihnen folgte. »Ihr seid um fünf vor acht aus dem Haus, ob ihr gefrühstückt habt oder …«
Sie verstummte. Eine Strähnchen-Blondine im rosa Blazer stand vor dem MKPD und plapperte atemlos in ein Mikrofon. Ehe Hadley hören konnte, was sie zu sagen hatte, wechselte das Bild zur Morgendämmerung über Muster Field. »Hier hat man die zweite und dritte Leiche entdeckt.« Die Blondine, die nun einen Trenchcoat trug, wandte sich zu »einem Anwohner, der die Bergung der Opfer mitansah«. Sie stieß das Mikrofon in das Gesicht eines großen Mannes, der trotz der frühen Stunde ganz aufgeregt wegen seines Augenblicks des Ruhms schien. Er stürzte sich in eine Schilderung der Ereignisse des Sonntagnachmittags.
»Mom, wir haben überhaupt keine Leichen gesehen«, beschwerte sich Hudson.
»Weil wir wie alle vernünftigen Leute nach Hause gefahren sind, nachdem der Junge der Burns gefunden worden war«, antwortete sein Großvater.
Auf dem Bildschirm war wieder das MKPD zu sehen. »Mom, schau mal!«, rief Hudson. »Vielleicht kommst du auch ins Fernsehen!«
Gott bewahre.
»Könnte es das Werk eines Serienmörders sein?«, fragte die Reporterin in die Kamera. »Bis jetzt weigert sich die Polizei von Millers Kill, diese Möglichkeit zu bestätigen oder zu dementieren. Doch in der Zwischenzeit sind die Bewohner dieser entlegenen ländlichen Gemeinde auf der Hut. Und warten. Und stellen sich Fragen. Ich bin Sheena Bevins, WREB News.« Das Bild wechselte zum Moderator.
»Mom, was ist ein Serienmörder?«, erkundigte sich Genny.
»Jemand, der Gift in Frühstücksflocken kippt.« Hudson schnitt eine bedrohliche Grimasse. »Vielleicht hast du schon was davon gegessen. Ist dir schlecht?«
Genny kreischte auf.
»Lass das«, schimpfte Hadley. »Ab in die Küche, ihr zwei, frühstücken.«
Granddad schüttelte den Kopf. »Was ist nur aus der Welt geworden?« Er stemmte sich aus seinem Lehnstuhl. »Seid ihr der Lösung schon näher gekommen?«
»Wir haben nichts.« Hadley klappte ihr Scheckbuch auf dem Fernseher auf und begann die Schecks für die Wandertage auszustellen. »Wir kennen nicht mal die Identität des ersten Mannes.« Sie riss die Schecks heraus und faltete sie in die Erlaubniszettel, während sie zur Küche ging. »Ab nach oben und Zähne putzen, ihr beiden«, kommandierte sie und steckte die Zettel in Hudsons Rucksack. Sie sammelte die Schalen ein – in Gennys Fall noch halb voller Flocken und Milch – und stellte sie in die Spüle.
»Das mach ich schon«, sagte Granddad. »Fahr lieber los. Du wirst bestimmt im Revier gebraucht.«
Granddad war fest überzeugt, dass sie im Department nur eine Stufe unter dem Deputy Chief stand. Er schien zu glauben, dass sie wegen einer Art hochqualifizierter Ermittlerausbildung zweimal die Woche nach Albany fuhr und nicht wegen der polizeilichen Grundausbildung. Albany. Heute Abend. Scheiße. Sie musste tanken.
Sie rannte die Stufen hoch zu ihrem Zimmer und stoppte nur kurz an der Badezimmertür, um »Bürsten« hineinzurufen, ohne auch nur nachzusehen, was die Kinder eigentlich trieben. In einem Becher auf ihrer Kommode waren noch fünf Dollar und ein paar Cent. Sie stopfte das Geld in ihre Tasche und holte dann ihren Waffensafe vom Regal im Schrank. Sie legte die Waffe nur ungern an, ehe die Kinder zur Schule aufbrachen, aber das konnte sie jetzt auch nicht ändern. Sie schloss den Safe auf, kontrollierte die Waffe, wie ihr Ausbilder es ihr beigebracht hatte, und schob sie in den Gürtel.
Sie fragte sich, ob sie sich mit dem Ding wohl jemals anfreunden würde. Sie vergewisserte sich, dass alles an Ort und Stelle war – Knüppel, Handschellen, Funkgerät, Reservemunition –, dann schloss sie den Gurt. Sie zerrte noch ein wenig daran herum, damit er bequemer saß, dann klopfte sie an die Wand zum angrenzenden Bad. »Beeilt euch«, rief sie. »Der Bus kommt.«
Als sie aus dem Schlafzimmer trat, schoss Geneva an ihr vorbei, Hudson auf den Fersen. Er musterte den Gurt. »Boah, Mom«, sagte er. »Darf ich …«
Sie hielt einen Finger hoch. »Nein. Nicht mal fragen. Wenn du noch mal fragst, passiert was.«
Er bedachte sie mit dem Blick und stapfte die Treppe hinunter, während er leise genug vor sich hinmaulte, dass sie es ignorieren konnte. In der Küche schulterten die Kinder ihre Rucksäcke und küssten ihren Opa, der die Frühnachrichten einen Moment vernachlässigte, um sich einen Kaffee zu kochen. Die Tabletten lagen unberührt in der Tasse. »Nimm deine Medikamente«, mahnte Hadley. »Und nicht rauchen!«
»Ich rauche nicht mehr«, erwiderte er, doch seine Miene sah genau aus wie die Hudsons, wenn er schwindelte.
»Ich versuche, mittags nach Hause zu kommen, um die Dosen und Flaschen wegzubringen.« Sie küsste Granddad. Das Pfand und das Geld in ihrer Tasche sollten nach Albany und zurück reichen. Hoffte sie. Sie scheuchte die Kinder vor sich her aus dem Haus und warf ihre Tasche auf den Rücksitz. Der Bus kam rumpelnd zum Stehen, und Hudson und Genny kletterten an Bord, ohne sich auch nur umzusehen – ein gutes Zeichen, nahm sie an.
Sie verbrachte die fünf Minuten Fahrt zum Revier damit, sich den Kopf zu zerbrechen, was sie in den Sommerferien mit den Kindern machen sollte. Granddad würde eher früher als später wieder anfangen zu arbeiten, und selbst in einer Kleinstadt wollte sie Genny und Hudson nicht mehrere Stunden am Tag allein lassen. Die Stadtverwaltung von Millers Kill bot eine Ferienbetreuung an sieben Tagen die Woche an, die absolut perfekt klang, außer dass sie vierhundert Dollar pro Kind kostete. Der Anblick der Fernsehübertragungswagen vor dem Revier setzte ihrem Selbstmitleid ein Ende. Allein auf der Eingangstreppe konnte sie drei Fernsehteams erkennen, die den Verkehr nahezu zum Erliegen brachten, da Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit abbremsten und lange Hälse machten.
Sie fuhr auf den Parkstreifen, der neben und hinter dem Revier verlief, und stellte den Motor ab. Dort saß sie, die Hände noch immer ums Lenkrad geklammert, und fragte sich, wie, zum Teufel, sie an diesen Leuten vorbeikommen sollte, ohne gefilmt zu werden.
VIII
Ein kupfernes Blitzen in Asphaltnähe erregte Hadleys Aufmerksamkeit. Kevin Flynns körperloser Kopf erhob sich am Rand des Parkplatzes. Was, zum Teufel? Er winkte ihr zu. Sie glitt aus dem Auto, schnappte sich ihre Tasche und marschierte zu ihm hinüber. Als sie näher kam, erkannte sie, dass er auf einer Art Treppe stand. Modernde Blätter trieben über die Zementstufen. Am Treppenende befand sich eine offene Tür.
»Hier entlang«, sagte er.
Das musste man ihr nicht zweimal sagen. Sie stieg vorsichtig hinunter, um nicht auf den Blättern auszurutschen, und duckte sich, Kevin dicht auf ihren Fersen. Und stellte fest, dass sie neben der Asservatenkammer stand.
»Früher waren hier unten Zellen«, erklärte Flynn, während er die schwere Tür wieder zudrückte. »Auf diesem Weg hat man die Häftlinge herausgebracht.«
In dem engen Raum ragte Flynn über ihr auf. Sie trat einen Schritt zurück, bewegte sich ein gutes Stück aus seiner Reichweite. Sie hatte beschlossen, ihm mit einer Art Großer-Schwester-Höflichkeit zu begegnen, es sei denn, er versuchte es wieder. Kühle Distanz machte manche Typen an, und obwohl sie nicht glaubte, dass Flynn dazugehörte, wollte sie nichts riskieren. Sie ging davon aus, dass er über seine Verliebtheit rasch hinwegkommen würde, wenn sie ihn wie alle anderen der Mannschaft behandelte – als wäre er sechzehn Jahre alt.
»Danke für’s Reinschmuggeln«, sagte sie. Sie schlängelte sich zwischen den Reihen gestapelter Aktenkartons zur Treppe hindurch. »Wann sind die Reporter aufgetaucht?«
»Als ich kam, waren sie schon da«, erwiderte er. Seine Stimme hallte in dem unterirdischen Gang. »Momentan ist der Chief nicht gerade glücklich.«
Sie blieb am Fuß der Treppe stehen. Hätte ihn beinah vorgehen lassen. Dann stellte sie sich vor, wie sie sich aneinander vorbeidrängten. Zur Hölle damit. Sie stieg die Stufen hoch. Wenn er einen Blick auf ihren Polyesterverhüllten Hintern riskieren wollte, sollte er doch.
Als sie oben ankam, hörte sie Stimmen aus Harlenes Zentrale. »… muss mit ihnen sprechen«, sagte MacAuley gerade.
»Das weiß ich.« Der Chief.
Sie trat ein und registrierte überrascht, dass der Deputy Chief die braune Wolluniformjacke trug, die keiner von ihnen jemals anzog, die Mütze unter den Arm geklemmt.
»Morgen«, grüßte sie.
Harlene rollte von der Schalttafel zurück und stand auf. »Ist wohl besser, wenn ich erst mal Kaffee koche.«
»Mach dir wegen mir keine Mühe«, rief Hadley ihr hinterher, aber es war zu spät.
Der Chief musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Haben Sie beim Reinkommen mit den Reportern gesprochen?«
Sie wechselte die Tasche in die andere Hand. »Nein, Sir.« Im Türrahmen hinter sich konnte sie eine massive Präsenz spüren und wusste, ohne sich umzudrehen, dass es Kevin Flynn war. »Flynn hat mich durch einen Kellereingang reingeholt. Neben der Asservatenkammer.«
MacAuley zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Woher hast du gewusst, dass sie da ist?« Er stellte die Frage über ihren Kopf hinweg.
»Äh.« Flynns Stiefel scharrten über den Boden. »Ich habe nach ihr Ausschau gehalten. Aus dem Vernehmungszimmer.«
MacAuley und der Chief sahen sich an. Der Chief öffnete den Mund.
»Ich fand das wirklich prima.« Hadley stürzte sich dazwischen, ehe der Chief etwas sagen konnte. Sie sprach in diesem sachlichen Erwachsenen-Tonfall, als würde sie mit Hudsons Lehrer reden. »Der Junge denkt mit.«
»Hm.« Der Chief musterte Flynn noch einmal nachdenklich, ehe er sich wieder an MacAuley wandte. »Bist du sicher, dass du genau weißt, was du ihnen sagen sollst?«
MacAuley schnippte ein unsichtbares Staubkörnchen von seiner Dienstmütze. »Willst du es selber machen? Bitte, nur zu.«
»Teufel, nein«, wehrte der Chief ab. »Ich hab mich schon im Fernsehen gesehen. Ich wirke immer so, als wollte ich mir das Mikrofon schnappen und damit auf die Menge eindreschen.«
»Dann vertrau mir einfach. Ich bin gut in so was.« MacAuley polierte den bereits makellosen Schirm seiner Mütze mit dem Ärmel und setzte sie auf. Er richtete sich auf, zog seine Jacke zurecht und verwandelte sich von einem normalen schlitzohrigen, lässigen Deputy in einen grauhaarigen Diplomaten des Gesetzes. Und ruinierte die Wirkung umgehend, indem er ihnen zuzwinkerte. »Noch einmal in die Bresche, liebe Freunde.«
»Dann wollen wir mal«, meinte der Chief, als MacAuley den Flur hinunter zum Eingang des Reviers schlenderte. »Wir gehen ins Dienstzimmer und bringen alle auf den neuesten Stand.«
Alle, das war Eric McCrea, der im Telefonbuch von Glens Falls blätterte und sich Adressen und Nummern notierte. »Lyle und ich haben das heute früh alles durchgesprochen«, sagte der Chief und ließ die Akten auf den Tisch fallen. »Wir haben den Bericht von Doc Scheeler über die Füllungen von John Doe drei. Das Amalgam ist modern, nicht älter als fünf Jahre. Was zu Scheelers Einschätzung seines Alters passt, zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig. Wir haben die DNA-Proben der beiden Leichen vom Muster Field, und das Labor der Staatspolizei wird uns sicher mit Vergnügen innerhalb von zwei oder drei Jahren eine Vergleichsanalyse liefern.«
Flynn stöhnte.
»Was ist mit zahnärztlichen Unterlagen?«, fragte Hadley. Dumm zu klingen fiel wesentlich leichter, wenn der größte Teil der Mannschaft woanders war.
»Zahnärztliche Unterlagen sind großartig, wenn man ein unbekanntes Opfer mit einem bekannten Vermissten vergleichen will. Aber zur Feststellung der Identität sind sie nutzlos. Wir würden sämtliche Zahnarztpraxen des Staates New York prüfen müssen – wenn wir davon ausgehen, dass der Mann aus New York war. Aber nach allem, was wir wissen, könnte er genauso gut aus Kanada oder dem nördlichen New England stammen.«
»Was ist mit dem ersten John Doe?« Flynn klang nicht sonderlich hoffnungsvoll.
»Nichts.« Der Chief setzte sich auf den Tisch und plazierte die Füße auf einem Stuhl. »Das macht mich wahnsinnig. Wir haben Abdrücke. Wir haben die verdammten Tätowierungen. Selbst wenn es keine …« Er verstummte. Hadley war ziemlich sicher, wie der Rest des Satzes gelautet hätte: Selbst wenn es keine Verbindung zu den Typen gibt, die Knox gesehen hat. Niemand glaubte ihr, dass sie dieselbe Tätowierung bei dem Stechertypen gesehen hatte: Santiago. Sie wusste nicht, warum sie das störte. Es sollte ihr gleichgültig sein. Sie wurde bezahlt, ob sie den Täter nun erwischten oder nicht.
»John Doe eins hat ganz sicher gesessen«, fuhr der Chief fort. »Weshalb haben wir dann bis jetzt noch keine Identifikation?«
Es war eine rhetorische Frage. Hadley und Flynn sahen sich an. »Eric.« Der Chief hob die Stimme, um McCrea einzubeziehen. »Hast du was Neues?«
»Hadley und ich haben gestern die Mitglieder der Rettungsmannschaft befragt. Niemandem ist irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen.«
Hadley war nicht bewusst, dass sie eine Grimasse schnitt, bis der Chief sie fragte: »Was ist los?«
Sie blickte zu McCrea. Der grinste. »John Huggins wollte wissen, was so ein süßer kleiner Käfer wie Knox bei der Polizei will.«
Der Chief massierte seine Nasenwurzel. »John Huggins hat … Schwierigkeiten mit Frauen, die nicht seinen, ähem … traditionellen Vorstellungen entsprechen.« Er sah Hadley an. »Aber er ist harmlos. Und unsere Abteilungen arbeiten häufig zusammen, deshalb wollen wir versuchen, die Dinge zivilisiert zu handhaben.«
Hadley runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, dass es falsch von mir war, als ich ihn aufgefordert habe, Scheiße zu fressen und tot umzufallen?« Der Gesichtsausdruck des Chiefs war unbezahlbar. Sie hob die Hände. »Nur ein Scherz. Ich hab mich benommen.«
Der Chief bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Kevin?«
»Von den McGeochs und Agent Hodgden habe ich eine Liste der Farmen bekommen, die das ganze Jahr über Wanderarbeiter beschäftigen, und zusätzlich die Namen der Arbeiter, die legal hier sind.«
Der Chief sah ihn erstaunt an. »Die Info hat Paula Hodgden einfach so rausgerückt?«
Flynn wirkte, als wüsste er nicht, ob er verlegen oder stolz sein sollte. »Ich, äh, tja, möglicherweise habe ich den Eindruck erweckt, ich würde jeden verhaften, den ich finde und der nicht auf ihrer Liste steht.«
»Ich verstehe.«
»Ich habe aber nichts versprochen.«
»Aha.«
»Tja, wie auch immer, ich bin jetzt jedenfalls so weit, dass ich losfahren und die Leute befragen kann, aber ich habe ein Problem. Ich spreche kein Spanisch.« Flynn runzelte die Stirn, als befürchtete er, seine mangelnden Sprachkenntnisse könnten das Revier schlecht aussehen lassen. »Ich spreche ein bisschen Deutsch, das hab ich drei Jahre in der Schule gehabt.«
»Das ist toll, Kevin«, lobte der Chief. »Sollten wir einen John Doe in Lederhosen finden, gehört er dir. Aber in der Zwischenzeit …«
»Hadley könnte doch mit Kevin fahren«, schlug McCrea vor. »Ich nehme mir heute die Verwandten der Christies vor, und da ist es vermutlich besser, wenn kein Anfänger dabei ist.«
Tja. Das saß. Aber immerhin sagte McCrea es ihr ins Gesicht.
Der Chief verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ziellos in die Ferne. Mittlerweile kannte sie diese Haltung. Er dachte intensiv nach. Endlich sagte er: »In Ordnung. Aber wenn ich beide zusammen rausschicke, will ich ein Höchstmaß an Informationen. Ihr fahrt in Zivil.«
»Was?«, frage Hadley.
»Wie wir bereits festgestellt haben, erweckt der Anblick eines Streifenwagens und einer Uniform in diesen Männern nicht gerade Zutrauen. Zieht euch was an, unter dem ihr ein Schulter- oder Gürtelholster tragen könnt, und nehmt eure eigenen Wagen.«
»Ich hab gar kein Gürtel- oder Schulterholster«, wollte Hadley sagen, doch ihr Widerspruch wurde von Kevins aufgeregtem »Gehen wir undercover?« erstickt.
»Nein, Kevin, ich möchte euch in Zivilkleidung. Das ist ein Unterschied.« Er sah zu Hadley. »Sie können sich ein Holster aus dem Waffenschrank holen.«
»Zivilkleidung«, flüsterte Flynn im selben Ton, in dem man vielleicht »Der heilige Gral« wispern würde.
»Ich habe aber keine Erfahrung mit Gürtel- oder Schulterholstern!«
Ein missbilligendes Knurren rumpelte in des Chiefs Kehle. Er stand auf. »Hört mal. Vielleicht geht das doch zu schnell für euch zwei …«
Lärm am Eingang des Reviers unterbrach ihn. Man hörte das flap-flap von Schritten und ein erfreut gequietschtes »Hallo« von Harlene, und dann geleitete MacAuley Reverend Clare herein, deren adrette schwarze Geistlichentracht in krassem Gegensatz zu ihrem rot angelaufenen Gesicht und dem sich auflösenden Knoten stand.
»Der Reverend traf gegen Ende der Pressekonferenz ein«, erklärte MacAuley. »Ein paar Reporter fanden das ein bisschen zu spannend.«
»Vielen, vielen Dank, Lyle.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich hatte nicht damit gerechnet, von der vierten Gewalt kielgeholt zu werden.«
MacAuley hatte die Augen halb geschlossen und lächelte ein breites, boshaftes Lächeln. »Da nich für, Ma’am. Gern geschehen.«
»Solltest du nicht an einem Fall arbeiten?«, schnauzte der Chief. »Was willst du hier?«, fuhr er Reverend Clare an. »Geht es um die Christies?«
»Die Christies? Nein, äh, ich« – sie sah sich um, bemerkte Hadley, Flynn und McCrea – »muss mit dir reden.«
Der Chief machte eine ungeduldige Geste.
»Unter vier Augen.«
Er atmete tief durch. »In mein Büro.« Er bedeutete ihr, ihm voran durch die Tür zu gehen, wobei er Reverend Clares schmale Augen und die zusammengebissenen Zähne nicht zu bemerken schien. Sie marschierten durch die Zentrale. Dieses Mal sagte Harlene nichts.
MacAuley schürzte die Lippen. Nachdem die Tür des Chiefs zugeknallt war, fragte er: »Hatte er die Saulaune schon, ehe Reverend Clare aufgetaucht ist?«
Hadley blickte zu Flynn hinüber, ob er antworten würde. Sie würde es auf keinen Fall tun.
»Nein«, sagte McCrea.
»Interessant.«
Flynn schüttelte den Kopf, als wollte er jeden Gedanken an den Chief, dessen Launen und die Pastorin daraus vertreiben. »Ich habe Sachen zum Wechseln im Auto. Hast du was hier, oder müssen wir erst zu dir nach Hause, ehe wir anfangen?«
»Warte mal«, sagte Hadley. »Ich glaube, er wollte uns gerade sagen, dass wir nicht fahren sollen.«
Er starrte sie an, als hätte sie sich einen zweiten Kopf wachsen lassen. »Deshalb müssen wir doch sofort los. Willst du dein Auto nehmen? Oder fahren wir mit dem Aztek?«
Sie dachte an ihren fast leeren Tank. »Mit dem Aztek«, antwortete sie, dann wurde ihr klar, dass sie zugestimmt hatte. »Warte!«
»Ich hol dir ein Gürtelholster. Vertrau mir, das fühlt sich genauso natürlich an wie das, das du jetzt trägst.«
Super, eine tolle Empfehlung.
»Soll ich dich nach Hause fahren, oder treffen wir uns bei dir?«
»Bei mir«, erwiderte sie spontan. Flynn nickte und verschwand durch die Tür. »Warte!«, rief sie.
Gebrüll aus dem Büro des Chiefs ließ sie erstarren, doch Flynn lief einfach weiter. Auf den Bariton folgte ein lauter und erregter Alt, der von einer weiteren tiefen, zornigen Tirade erstickt wurde, auf die wiederum eine sogar noch schrillere weibliche Antwort folgte. Hadley konnte nicht verstehen, worüber sie stritten, aber es ging heftig zur Sache.
»Interessant«, wiederholte MacAuley.
McCrea erhob sich von seinem Schreibtisch und suchte Notizblock und Telefonbuch zusammen. »Ich rette mich lieber aus der Todeszone«, verkündete er.
MacAuley nickte. »Sie sollten das auch in Erwägung ziehen«, empfahl er Hadley.
Sie stöhnte und schulterte ihre Tasche. Ob sie nun wollte oder nicht, wie es aussah, würde sie als Kevin Flynns Dolmetscherin durch das North Country fahren. Als sie die Treppe hinunterlief, begleitet vom Gebrüll der Pastorin und ihres Chefs, die mittlerweile stritten, dass die Fetzen flogen, dachte sie bereits darüber nach, welche möglichst hässlichen und unschmeichelhaften Sachen sie anziehen konnte, damit Flynn nicht auf dumme Gedanken kam.
IX
Kevin Flynn genoss die Zeit. Er hatte die Scheibe heruntergekurbelt, den Arm nach draußen gehängt, die späte Maisonne wärmte seine Haut, und warme trockene Luft wehte durch den Aztek. Keine Heizung wie im März, kein Gestank nach Mist wie im April, keine Fliegen wie im – tja, sie waren den ganzen Sommer über eine Plage, aber bei siebzig Sachen pro Stunde hatten sie keine Chance, reinzukommen. Er trug Zivil, sein Polohemd hing locker über dem 44er Colt, und er leitete – leitete! – die Ermittlung, entschied, wohin sie fuhren und wen sie als Nächstes befragten.
Die attraktivste Frau von Millers Kill saß neben ihm, lauschte seiner Promise-Ring-CD, und obwohl sie nicht viel redete, riss sie ihm auch nicht den Kopf ab. In der Mittagspause hatte sie ihm sogar erlaubt, ihr Sandwich zu bezahlen, nachdem er ihr versichert hatte, sie wäre beim nächsten Mal dran.
Sie hatte ein T-Shirt und eine von diesen ausgebeulten Dreiviertelhosen an, die nur Mädchen trugen, und eine Weste, um ihre Glock zu verdecken. Sie sah so verdammt süß aus, dass er sie am liebsten die ganze Zeit angegrinst hätte. Der Anschiss des Chiefs war letzten Endes eine gute Sache gewesen, dachte er. In dem Moment zwar höllisch peinlich, aber nachdem er sich abgeregt hatte, schien das Fraternisierungsverbot doch wie ein robuster Zaun um einen Aussichtspunkt, wie zum Beispiel an den Niagarafällen. Etwas, das es ihm erlaubte, die Schönheiten der Natur zu genießen, ohne mitgerissen zu werden und zu Tode zu kommen.
Echt, besser konnte es doch gar nicht sein.
»Flynn«, sagte sie. Sie beugte sich vor und stellte die Musik ab. »Ich glaube, das führt zu nichts.«
Einen Augenblick erfüllte ihn Panik. Meinte sie … Konnte es sein, dass … dann begriff er, dass sie die Befragungen meinte.
»Wir kriegen doch nur negative Antworten. ›Nein, ich habe nichts gesehen. Nein, ich weiß nichts. Nein, den Mann auf dem Foto kenne ich nicht‹.« Sie hatten das beste Foto vom Gesicht des ersten John Doe herumgezeigt – aber trotz der gründlichen Reinigung und der Nahaufnahme sah er einfach nur tot aus.
»Das ist bei den meisten Befragungen so. Außer bei Prügeleien oder so, wo die Zuschauer alles gesehen haben. Nein bedeutet einfach nur, dass man eine weitere Sackgasse abhaken kann.«
»Das hab ich begriffen, aber was erfahren wir? Ich meine, was, wenn einer der Typen, die wir suchen, bei einer dieser Milchfarmen arbeitet? Was tut der dann? Alles zugeben?«
»Manchmal schon.« Kevin warf ihr einen Blick zu. Sie nestelte an ihrem Ring. »Der Chief oder MacAuley bringen den Mann ins Vernehmungszimmer, stellen ihm ein paar Fragen und, peng, im nächsten Augenblick rufen wir den Staatsanwalt, weil der Kerl auspackt. Man darf das Bedürfnis eines Kriminellen, sein Herz auszuschütten, nie unterschätzen.« Diese letzte Weisheit stammte vom Deputy Chief, aber er fand es überflüssig, das Zitat zu belegen.
Sie sah ihn zweifelnd an. »Wir sind weder der Chief noch MacAuley.«
»He, jeder fängt mal klein an.« Er wies mit dem Ellbogen auf ihren Ordner. »Wer steht als Nächstes auf der Liste?«
Die nächsten drei Farmen waren Wiederholungen der ersten. Die Arbeit war mühsam; sie mussten die Arbeiter suchen, die irgendwo zwischen Stallungen, Feldern und Geräteschuppen verstreut waren, sie und ihre Arbeitgeber überzeugen, dass sie nicht von der Einwanderungsbehörde waren und keinerlei Interesse an Visa, Arbeitserlaubnis oder Sozialversicherungskarte hatten. Nachdem Hadley ihm nach der ersten Befragung befohlen hatte, die Arbeiter nicht so einzuschüchtern, indem er sie überragte wie die verdammte Freiheitsstatue, stellte Kevin fest, dass alle wesentlich entspannter waren, wenn er sich so unauffällig wie möglich verhielt. Er kauerte sich auf die Fersen wie bei einem Kriegsrat im Pfadfinderlager. Hadley, die sich die ersten Male benommen hatte, als hielte sie eine mündliche Prüfung ab, hatte ihr Verhaltensmuster ebenfalls geändert, indem sie – nach dem gelegentlichen Gelächter zu schließen – hin und wieder einen Witz einstreute.
Kevin fand, dass sie mittlerweile einen recht guten Kontakt zu den Wanderarbeitern herstellten, aber dennoch erreichten sie nichts, bis sie Jack Montgomerys Farm aufsuchten.
Es war schon nach sechzehn Uhr, als sie in den Hof abbogen und dabei ein Rudel kleiner Jungs aufscheuchten, die sich als die Söhne Montgomerys und deren Freunde herausstellten. Zunächst herrschte ein wenig Verwirrung wegen der Frage, warum Hadley dabei war, deren älteres Kind dieselbe Klasse wie der mittlere Montgomery-Junge besuchte. Dann erkannte die Babysitterin Christy MacAlister Kevin, der im letzten Winter den Unfall ihres Freundes aufgenommen hatte, und musste ihm das Neueste von ihrem Freund – in Übersee stationiert – und dem Auto – Totalschaden, bereits ersetzt – berichten.
Zum Glück war Melkzeit. Montgomerys festangestellte Vollzeitkräfte befanden sich im Melkkarussell, das trotz des altmodischen Namens über den gleichen rostfreien Stahl und die gleichen sterilisierten Schläuche verfügte wie bei den anderen Farmen. Zuvor, bei den Hoffmans, hatte Hadley bemerkt: »Hier gibt’s nur Gummi und Fesseln. Ich wette, nach Feierabend ist das ein beliebter Fetischistentreff.« Er war so rot angelaufen wie die Äpfel auf den Obstwiesen, aber jetzt musste er andauernd daran denken.
Sie hatten die Männer in der Sattelkammer versammelt. Da der Betonboden mit nicht identifizierbaren braunen Flecken übersät war, hatte Kevin einem Zwanzig-Liter-Eimer mit antibiotischem Futterzusatz als Sitzplatz den Vorzug vor seiner kauernden Haltung gegeben. Hadley hockte auf einem anderen Eimer, zeigte ihnen das Foto und fragte – nahm er an –, ob einer von ihnen diesen John Doe schon einmal gesehen hatte.
Die drei Männer – kleine Mayas mit breiten Gesichtern, Armen, die lang genug waren, um ein Kalb aus dem Mutterleib zu ziehen, und dünnen, krummen Beinen – schüttelten die Köpfe. Nebeneinander auf den grünen Gartenstühlen wirkten sie wie Statuen aus Teak, die man für den Winter in die Scheune gestellt hatte.
Hadley stellte lächelnd und in vertrauenerweckendem Tonfall eine weitere Frage.
Die Männer wechselten Blicke. Kevin, der gerade das Stroh und den Mist inspizierte, die an seinen Turnschuhen klebten, setzte sich aufrecht hin. Zum ersten Mal erfolgte keine spontane Verneinung. »Hadley«, sagte er in ruhigem, harmlosem Ton. »Erinnere sie daran, dass wir nur wegen Informationen hier sind.«
Sie sagte etwas auf Spanisch und versuchte weiterhin, gelassen zu klingen. Einer der Männer sagte etwas zu einem der anderen. Der Dritte nickte und äußerte etwas, das sowohl eine Aufforderung als ein Befehl sein konnte. Der Mann in der Mitte schwieg, als würde er darüber nachdenken, was die anderen beiden zu ihm gesagt hatten. Schließlich sagte er etwas zu Hadley. Einen kurzen Satz.
»¿Qué?« Sie war offensichtlich überrascht.
»Was ist los?«, fragte Kevin.
Sie drehte sich nicht zu ihm um. »Er sagt, auf ihn wurde geschossen.«
Er hielt den Mund, während sie dem Mann eine weitere Frage stellte. Eine Antwort erhielt. Noch etwas fragte. Woraufhin eine noch längere, detailliertere Antwort folgte, während die anderen beiden die ganze Zeit nickten. Kevin zwang sich zu Geduld, um den Fluss der Befragung nicht zu unterbrechen. Nach zehnminütigem Hin und Her sagte Hadley »Gracias«, und alle außer Kevin standen auf.
Die drei Männer gingen. Kevin sprang auf, sobald der letzte im Melkkarussell verschwunden war. »Was?«, fragte er. »Was?«
Hadley rieb sich über den Mund, den Blick noch immer auf die Gartenstühle geheftet. »Wir müssen uns den Lieferwagen von Mr. Montgomery ansehen. Der Mann in der Mitte, Feliz, sagte, er wäre gerade zur Genossenschaft gefahren, um Futter zu holen, als jemand auf ihn geschossen hätte. Hinten in der Ladeklappe ist ein Einschussloch.«
»Wann?«
»Im April.«
Ja! Mit zwei langen Sätzen war er aus der Tür. »Mr. Montgomery!«, rief er. »Mr. Montgomery?«
Jock Montgomery trat aus der Kühlkammer und trocknete dabei die Hände mit einem Lappen ab. Er sah aus wie eine hellhäutige Ausgabe seiner Arbeiter, mit krummen Beinen, kräftigen Schultern und einem ländlichen Akzent, mit dem man Farbe umrühren konnte. »Haben sie Ihnen gesagt, was Sie wissen wollten?«
»Wurde im vergangenen April auf Ihren Lieferwagen geschossen?«
»Jo.«
»Warum haben Sie das nicht gemeldet?«
»Tscha.« Montgomery stopfte den Lappen in die Tasche seines Blaumanns. »Kein Grund für Stunk. Irgend so’n Jäger. Ich denk mir, wenn der das Fleisch so nötig hat, will ich ihm keinen Ärger nich machen.«
»Wissen Sie, wer es war?«
Montgomery rieb sich den Nacken.
»Wir fragen nicht, weil wir nach Wilderern suchen. Wir ermitteln in mehreren Mordfällen.«
Zum ersten Mal mischte Hadley sich ein. »Jemand könnte es auf mexikanische Wanderarbeiter abgesehen haben.«
Kevin zuckte zusammen. Er glaubte nicht, dass der Chief diese Theorie in Millers Kill bekannt werden lassen wollte.
»Hm. Sie glauben, der war gar nich auf der Jagd?«
»Zumindest nicht auf Hirsche«, antwortete Hadley.
»Ich weiß nich, wer’s war.« Montgomery seufzte. »Passiert is es auf der Cossayuharie Road, die durch Christies Wald führt. Ich dachte – tscha, die sind hart genug drauf, um so was zu machen. Außerhalb der Saison jagen, mein ich.«
Hadley packte Kevins Ärmel und zog ihn ein Stück von dem Farmer weg. »Die Zweiundzwanziger?«, fragte sie leise.
»Die hätte vermutlich keine Klappe durchschlagen können. Aber vielleicht doch.« Kevin wandte sich wieder an Montgomery. »Können wir uns den Lieferwagen bitte mal ansehen?«
»Direkt da drüben vor der Futterkammer.« Sie folgten Montgomery mit ein paar Schritten Abstand, um reden zu können.
»Die Christies«, flüsterte Hadley.
»Das würde ein ganz anderes Licht auf ihre Verfolgung von diesem Mexikaner werfen, der für St. Alban’s arbeitet.«
Sie traten über eine morsche Holzschwelle in die Nachmittagssonne. »Da drüben«, sagte Montgomery. »Da können Sie sehen, warum ich dachte, es wär ein Jäger.«
Kevin konnte. Das schartige Loch war das Werk einer großkalibrigen Waffe. Doch es war nicht das Kaliber, für das er sich interessierte. Es war der Lieferwagen selbst. Der große, weiße Chevy Astro, genau dasselbe Modell, das Schwester Lucia Pirone gefahren hatte.
X
Er hatte nicht angerufen, ehe er zur Farm seiner Schwester aufgebrochen war, deshalb war es seine eigene verdammte Schuld, dass seine Mutter dort war und den Aufruhr mitbekam. Er schleuderte in ihre Einfahrt – die alte, nicht die neue – und donnerte die Stufen hoch, ehe der Motor erstarb. Er hämmerte gegen die Haustür. »Janet! Gottverdammt, mach auf!«
Die Tür öffnete sich. Er sah Leere, wo er Janets Gesicht erwartet hatte, und blickte nach unten. Seine Mutter sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Warum, in aller Welt, machst du so einen Aufstand, Russell? Fluchst hier vor Gott und der Welt lauthals herum. Was, wenn die Mädchen zu Hause wären?«
Er drückte mit einer Hand die Tür auf und zwängte sich an ihrer rundlichen Gestalt vorbei. »Das ist eine offizielle Angelegenheit, Mom.« Er lief in McGeochs Wohnzimmer, wobei er fast den Notenständer seiner Nichte Kathleen umrannte. Leere Wäschekörbe aus Kunststoff und Stapel gefalteter Wäsche bedeckten das Sofa. Turnschuhe verschiedener Größen und Schattierungen von Rosa häuften sich wie eine Leinenlawine vor der Fernsehkonsole. »Janet!«
Janet tauchte aus der Küche auf, einen vollen Wäschekorb auf den Armen. Ihre Lippen wurden schmal. »Clare hat es dir verraten.«
»Clare hat es mir gesagt«, bestätigte er. »Und ich weiß nicht, auf wen ich wütender bin, auf sie, weil sie das Geheimnis für sich behalten hat, oder auf dich, weil du es ihr aufgebürdet hast. Das ist eine gottverdammte Mordermittlung, Janet. Kapierst du das nicht? Wir haben drei Tote. Das ist ein bisschen wichtiger, als dir ein paar Dollar Steuern zu sparen.«
»Ich habe dir alles gesagt, was du über die Leiche wissen musstest. Es ist doch egal, wer sie gefunden hat.«
»Das kannst du nicht entscheiden.«
»Würde mir mal irgendjemand verraten, was hier eigentlich gespielt wird?«, fragte ihre Mutter.
»Janet und Mike beschäftigen auf der neuen Farm eine ganze Mannschaft illegaler Arbeiter. Einer von ihnen hat die Leiche auf dem Gelände gefunden, nicht Janet. Sie hat gelogen und Clare dazu gebracht, die Lüge zu decken, und sie hat weiter gelogen, obwohl wir mittlerweile drei Tote haben und es gut sein kann, dass zwischen den Morden und den Wanderarbeitern eine Verbindung besteht.« Er schob die Hände in die Taschen und versuchte, tief durchzuatmen. Die Fahrt hierher hatte ihn kein bisschen abgekühlt.
Ihre Mutter starrte Janet aus halb zusammengekniffenen Augen an. »Stimmt das?«
»Wir haben die Arbeiter guten Glaubens eingestellt. Es war nicht unsere Schuld, dass uns die Vermittlungsagentur reingelegt hat!«
»Stimmt es?« Margys Ton war erbarmungslos.
Janet betrachtete wütend die Wand. »Ja.«
Ihre Mutter schloss einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie einen Ausdruck, den Russ und Janet nur allzu gut kannten. Kannten und fürchteten. »Janet Agnes«, sagte sie. »Ich schäme mich für dich.«
Russ konnte sehen, wie Janet sich zwang, nicht den Kopf zu senken. »Es tut mir leid, dass du das so siehst, Mutter.« Ihre Stimme war brüchig. »Aber wenn es um die Zukunft der Farm, die Zukunft meiner Familie geht, muss ich tun, was ich für das Beste halte.«
»Ich versuche, mir vorzustellen, unter welchen Umständen das Verschweigen von Fakten bei einer Mordermittlung das Beste sein könnte«, erwiderte Margy.
»Wir brauchen diese Arbeiter zum Überleben. Ich hatte Angst, dass Russ sie der Einwanderungsbehörde übergibt, wenn er von ihnen erfährt, und Mike und ich versuchen müssten, zweihundert Kühe allein zu versorgen. Amerikanische Arbeiter kosten das Doppelte, wenn man überhaupt jemanden findet, der die Arbeit macht.«
Russ schüttelte den Kopf. »Du hättest mich einfach fragen sollen. Ich habe mit dem Staatsanwalt geredet, als damals im April deine Männer verschwunden sind. Ich habe keine Verpflichtung, nach ihrem Status, legal, illegal, was auch immer, zu fragen, solange niemand wegen eines Verbrechens verhaftet wird.« Er spürte, wie sein Zorn verebbte. »Warum hast du mich nicht einfach gefragt?«
Seine Schwester starrte ihn ungläubig an. »Weil du die Einwanderungsbehörde gerufen hättest, wenn die Antwort anders ausgefallen wäre. Es hätte dir leidgetan, aber geändert hätte das gar nichts.«
»Dann hättest du mit mir sprechen müssen.« Margys Ton war schneidend. »Die Farm gehört auch mir, weißt du. Ich habe nicht damit gerechnet, wie eine alte Närrin mit offenem Portemonnaie und ohne Verstand behandelt zu werden.«
»Es tut mir leid, Mom. Wirklich.« Janet wandte sich an Russ. »Und … bei dir entschuldige ich mich auch. Weil … weil ich nicht gefragt habe. Und weil ich zwischen dir und Clare Unfrieden gestiftet habe.«
Darüber wollte er nicht reden. »Schon gut. Lass mich mit deinen Männern sprechen. Feststellen, ob sie etwas gesehen haben. Dann sind wir quitt.«