26
»Ehe wir Sie aufs andere Boot bringen, müssen Sie unter die Dekontaminationsdusche.«
Thomas Walker schirmte die Sonne mit den Armen ab und blieb kurz stehen, um sich von den Strahlen wärmen zu lassen. Vereinzelte Wolken schwächten die Intensität etwas ab, aber das kam ihm durchaus gelegen. Nach seinem langen Aufenthalt im stinkenden Frachtraum empfand er diesen Moment als herrlich. Er hatte sich so sehr an den Gestank von verwesendem Fleisch gewöhnt, dass er ihn kaum noch wahrnahm. Seine Sinne klammerten sich vor allem an den starken, frischen Wind, der vom Meer her über seine Haut strich. Er duftete nach Wein, unglaublich sauber.
Thomas Walker war nicht sein echter Name, sondern ein Pseudonym, auf das er im Laufe der Jahre immer wieder zurückgegriffen hatte. Jahre vor der Seuche legte er es ab, weil zu viele Menschen damit vertraut waren. Doch als die Kacke zu dampfen begonnen hatte, benutzte er es instinktiv wieder. Er fühlte sich ins kalte Wasser geworfen. Solange er nicht genau wusste, womit er es zu tun hatte, blieb er lieber undercover. Derzeit hatte er es offenbar mit einer Art Miliz zu tun, nicht mit dem Militär, wie man es vor Ausbruch der Seuche gekannt hatte.
Der andere Grund für seine Tarnidentität war das Anbrechen eines neuen Zeitalters. Das hätte keiner der Idioten verstanden, mit denen er sechs endlose Monate in einem der Frachträume eingesperrt gewesen war. Frühere Verbrechen, alles vor der Seuche, egal ob Erfolge oder Misserfolge, spielte nun keine Rolle mehr. Das Einzige, was im Hier und Jetzt noch zählte, war die eigene Persönlichkeit.
Fürs Erste wollte er deshalb Thomas Walker bleiben, Lehrer für Englisch auf dem zweiten Bildungsweg, und flexibel auf die Entwicklung der Ereignisse reagieren.
Der Hafen von Santa Cruz de Tenerife wurde von Booten und Schiffen bevölkert. Am Kai lagen zwei Megajachten, ein Dutzend kleinere Jachten, zwei Versorgungsschiffe, ein kleines Passagierschiff und ein Tanker vor Anker. Dazwischen schwirrten mindestens ein Dutzend Schlauchboote hin und her.
Zuerst einmal fiel ihm auf, dass es sich bei einer der Megajachten um die Den’gi Ni Za Chto handelte. Das war Nazar Lavrentys Jacht. Der Oligarch hatte offenbar seine Finger im Spiel. Das kam der Gruppe nicht zugute: Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich der Oligarch freiwillig unterordnete. Auf seiner Jacht wehte eine amerikanische Flagge, aber Fahnen ließen sich austauschen. Manche der Leute trugen Uniformen, allesamt U. S. Navy, und er hatte ein Mitglied der Küstenwache ein Boot lenken sehen.
Auch Uniformen konnte man sich besorgen, indem man Boote kaperte. Allerdings würde es eine reichlich draufgängerische Miliz erfordern, ein Schiff der Navy zu plündern. Oder komplette Vollidioten, so wie die Somalier. Die Mitglieder des Teams, von dem sie aufgegabelt worden waren, hatten sich als Marines der United States ausgegeben und sie hatten auch so geklungen. Bis auf die Frau, die er trotz der tonnenschweren Ausrüstung, die sie mit sich herumschleppte, für einen Teenager hielt. Teenager-Mädchen durften bei den Marines nicht den Rang eines Lieutenant bekleiden. Andererseits, vielleicht hatte sich das seit der Apokalypse geändert. Eine neue Welt. Er fand das richtig aufregend, zumal ihn die alte Welt ziemlich gelangweilt hatte.
»Sie bekommen ein paar Klamotten, aber nicht viele. Sie liegen dort drüben«, informierte ihn der Mann. »Schnappen Sie sich Shorts, ein Shirt, ein Handtuch und einen Plastik-Müllbeutel. Legen Sie die Shorts, das Hemd und das Handtuch auf den Tisch neben der Dusche. Betreten Sie die Dusche. Stopfen Sie Ihre Kleidung und persönlichen Gegenstände in die Tüte. Dann drehen Sie das Wasser auf. Es gibt nur eine Temperatureinstellung. Sie fühlt sich anfangs siedend heiß an. Sie können so lange duschen, wie Sie möchten, wir füllen das Wasser nach, aber bitte nehmen Sie sich nicht zu viel Zeit. Es kommen noch weitere Überlebende. Sie dürfen das Wasser nicht trinken, denn es ist mit Chemikalien zur Entseuchung versetzt. Es würde Sie zwar nicht umbringen, aber Sie werden sich übergeben müssen. Wenn Sie akut großen Durst verspüren, geben wir Ihnen gern eine Flasche Wasser. Jetzt nehmen Sie sich ein paar Anziehsachen und dann los.«
»Darf ich eine Frage stellen, Sir?«, erkundigte sich Walker und hob dabei unwillkürlich die Hand.
»Es gibt nichts mehr«, antwortete der junge Mann. »Es ist alles verschwunden. Diese Frage habe ich auch gleich zu Anfang gestellt. Jeder will das wissen. Wenn Sie mir nicht glauben, bitten Sie einen der Zodiac-Jungs, Sie an der Küste abzusetzen. Fragen Sie die Zombies. Egal welchen Ort Sie mir nennen, wir haben keinerlei Kontakt dahin und auch keine Ahnung, was damit passiert sein mag. Es gibt einige Yankees, die sich in einem Hauptquartier irgendwo in den USA verschanzt haben. Omaha oder so. Sie haben gewissermaßen das Sagen, aber sie können da nicht raus. Jetzt bringen Sie aber erst mal die Dusche hinter sich, damit ich Sie aufs Boot bringen kann. Da bekommen Sie auch etwas zu essen und man weist Ihnen eine Koje zu. Und Sie finden sicher ein paar Leute, die Ihnen Ihre Fragen beantworten werden.«
Seine Ausführungen klangen heruntergerasselt. Der Kerl hatte diese Frage schon mehr als einmal beantwortet. Vermutlich sehr oft.
Dem Begriff ›Dekontaminationsdusche‹ haftete eine negative historische Bedeutung an. Doch er konnte die Chemikalien riechen und es gab hier genügend Spritzwasser, dass der Kerl, der sich um die Dusche kümmerte, auf der Stelle tot umgefallen wäre, wenn sie beispielweise Tabun in das Wasser gemischt hätten.
Thomas nahm sich Navy-Shorts und ein Marines-T-Shirt. Da war jemand auf ein Schiff der U. S. Navy mit gut gefüllten Materiallagern gestoßen. Vermutlich hatten sie vom Hole die Genehmigung erhalten, sie leer zu räumen.
Die Dusche war, wie man ihm versprochen hatte, heiß. Und das fühlte sich gut an, nachdem er Monate in einem Lagerraum verbracht hatte, wo ihm nur begrenzte und ausschließlich kalte Flüssigkeiten zur Verfügung gestanden hatten.
Er duschte sich zügig. Am liebsten hätte er sich eine ganze Stunde unter den warmen Strahl gesetzt. Stattdessen packte er sich das Handtuch, die Shorts und das Shirt, zog die Sachen an und verließ die Kabine.
»Legen Sie das Handtuch bitte in den Eimer.« Der junge Mann deutete auf einen blauen Kübel. »Es wird gewaschen und erneut verwendet. In welchem Raum sind Sie gewesen?«
»L-1438.« Thomas warf das Handtuch in den Eimer.
Der Kleine zog ein Stück Plastik und einen Permanentmarker aus der Hosentasche und beschriftete es sorgsam mit der Kennung L-1438.
»Waren Sie alle dort?« Er überreichte Thomas die Kennmarke.
»Ja.«
»Okay.« Der Kleine brachte weitere Marken zum Vorschein und notierte auf jeder davon die Bezeichnung des Lagerraums.
»Darf ich fragen, warum Sie das machen?«
»Die Menschen aus den gleichen Räumen bleiben in der Regel erst einmal zusammen. Kann sein, dass Sie die Typen aus Ihrem Lagerraum hassen wie die Pest, aber anfangs kennen Sie hier niemanden sonst.«
»In Ordnung. Was jetzt?«
»Warten Sie, bis die anderen geduscht haben. Ihre Gruppe wird aufgerufen und zum Boot gebracht.«
»Wie viele sind schon fertig?«, fragte ein älterer Mann, der gerade auf sie zukam.
»Bisher nur dieser hier. Insgesamt sind sie zu fünft.«
»Macht es Ihnen etwas aus, mich allein zu begleiten?« Der ältere Herr sprach Thomas direkt an.
Er trug die Uniform der U. S. Navy mit dem Rangabzeichen eines Petty Officers Third Class, aber ohne Namensschild.
»Kein Problem.«
»Das Zodiac steht bereit. Da sitzen schon ein paar drin. Folgen Sie mir.«
Er führte ihn um die Ecke zum Promenadendeck des Kreuzfahrtschiffs und deutete nach achtern.
»Sehen Sie die Gruppe bei der Gangway? Das ist das Teil, das wie eine Treppe aussieht. Gehen Sie zu ihnen rüber, okay? Sie können auch hier warten.«
»Ich werde mich der Gruppe anschließen.«
Die Menschen, zu denen er sich gesellte, trugen mit Ausnahme eines älteren Mannes in Navy-Uniform ebenfalls T-Shirts und Shorts und hielten Plastikbeutel umklammert. Von dort aus ließ sich eine weitere Dekontaminationsdusche erkennen, allerdings deutlich größer. Unter dem Wasserstrahl stand einer der ›Zombiejäger‹ in Brandschutzanzug und MOLLE, noch immer das M4 in der Hand, und ließ sich abspritzen. Das Wasser, das ihm vom Körper tropfte, war blutrot.
Thomas ging kurz die Frage durch den Kopf, ob er gerade mit Wasser geduscht hatte, das mit Zombieblut versetzt war.
»Okay, hier ist das Zodiac«, verkündete der Mann in Uniform. »Gehen Sie die Stufen runter, vorsichtig, und klettern Sie auf das Boot.«
Genau genommen war das Boot kein Zodiac, sondern ein Brig, ausgelegt für vier Passagiere und einen Bootsführer. Thomas registrierte mit Interesse, dass es von einem Seemann als Zodiac und nicht als RHIB bezeichnet wurde. Die Sprache begann sich bereits zu verändern. Er verbannte ›RHIB‹ in den hinteren Bereich seines Gehirns, da dieser Begriff seine Tarnung möglicherweise auffliegen ließ.
Ihre Gruppe bestand aus sechs Personen. Die Leute benötigten Hilfe beim Einsteigen. Sie konnten kaum etwas erkennen.
Thomas wartete, bis sich die anderen Passagiere gesetzt hatten, ehe er an Bord ging. Er trat leichtfüßig auf das Deck und ließ sich auf einem leeren Platz nieder, eingeklemmt zwischen einem Mann älteren Semesters und einer Frau in den Vierzigern auf dem Vordersitz.
»Wickeln Sie sich in die Decken ein, wenn Sie frieren«, riet ihnen der Teenager, der das Boot steuerte. »Sie werden Sie später im Boot lassen müssen.«
Die Decken waren grüne USMC-Wolldecken, bereits ziemlich klamm. Thomas verzichtete lieber darauf.
»Jeder behauptet, dass alles weg ist«, platzte es aus der Frau heraus, die neben ihm saß. »Es kann doch nicht alles verschwunden sein. Irgendetwas muss es doch noch geben!«
»Ich weiß es nicht, Lady.« Der Kleine lenkte das Boot vom Schwimmdock weg. »Die Zombies haben alle Landmassen eingenommen und es gibt kaum noch Radiosender, nur ein paar Amateurfunker, sonst nichts. Einige behaupten, so was wie ein König über Gebiete zu sein, von denen ich vorher noch nie gehört habe, aber viel erfahren wir hier draußen nicht.«
»Was ist mit U-Booten?«, fragte Thomas.
»Es gibt U-Boote«, bestätigte der Kleine. »Hab ich jedenfalls gehört. Ich hab selbst noch keins gesehen, aber andere Leute. Ich bringe Sie zu einem Schiff, das mal einem reichen Russen gehört hat. Er wollte sogar das Boot kapern, das ihn aufgegriffen hat. Es ist eins der echten ›Navy‹-Boote. Manche fahren unter ziviler Flagge, manche gehören der Navy. Wie dem auch sei, der Kerl will also diesen Kahn der Navy hochnehmen. Da taucht ein U-Boot auf und droht ihm damit, das Feuer zu eröffnen, wenn er sich nicht sofort ergibt. Ich schätze mal, danach haben wir seins beschlagnahmt.«
»Es gibt also Navy-Boote?«, wollte die Frau wissen.
»Wenn man sie so nennen will. Sie haben ein Schiff der Marines aufgespürt, von dem auch die Marines und eine Menge der Vorräte stammen. Es treibt allerdings weiterhin irgendwo da draußen auf dem Wasser herum. Die Boote sind allesamt Bergungsgut. Ein paar davon gehören zur Navy, einige sind zivil. Geht vermutlich drum, wer welche Waffen kriegt. Ich bin zum Beispiel Zivilist, ich will gar nicht bis an die Zähne bewaffnet sein. Mein Boss gehört aber zur Navy. Früher war er bei der Armee, bei der Navy war er vorher noch nie. Geht irgendwie jedem so. Alles ein ziemliches Durcheinander, aber im Großen und Ganzen funktioniert es.«
»Jetzt bin ich ein wenig durcheinander«, gab die Frau zu.
»Okay«, meinte der Kleine. »Sie kommen auf ein Boot mit dem Namen Money for Nothing. Einer der Navy-Jungs hält den Laden am Laufen, aber der Kapitän, der sich um das Boot kümmert, ist ein Zivilist. Der von der Navy, so ein Stratege von der Squadron, war vor dieser Sache hier noch nie Mitglied der Navy. Wenn Sie das verwirrt, sind Sie damit nicht allein. Ich hab’s doch schon erwähnt, es geht darum, wer die Knarren kriegt.«
»Darum, wer rechtlich gesehen das Sagen hat?«, fragte Thomas.
»So in etwa«, rief der Kleine. »Sie räumen ein paar Kleinstädte hier auf den Inseln, und dazu braucht man ... was Sie gerade meinten. Jemand hat mir mal erzählt, dass es im Grunde Kriegshandlungen sind, aber wir haben die Erlaubnis von irgendjemandem.«
»Haben Sie vorher hier gelebt?«, fragte die Frau.
»Zum Teufel, nein. Ich bin auch auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen. Wir sind geflohen, weil die Zombies die Macht übernommen haben. Ich saß in einem Rettungsboot, das dann von einem Schiff der Wolf Squadron aufgegabelt wurde. Lassen Sie sich eins gesagt sein: Das war ein übler Scheiß. Auf dem Rettungsboot, meine ich. Hören Sie, es gibt eine Broschüre, die wird Ihnen in die Hand gedrückt, wenn Sie beim Boot ankommen. Gedulden Sie sich einfach noch ein bisschen, lesen Sie alles durch und hinterher stellen Sie Ihre Fragen, okay?«
Das Schlauchboot fuhr an das auf Höhe des Wasserspiegels befindliche Deck am Heck der Jacht heran, und man zog sie aus dem Boot. Thomas ergriff die ihm angebotene Hand eines Mannes, den er als Indonesier und potenziell als Steward einstufte. In dem Frachtraum, in dem er zusammen mit sechs anderen Passagieren gesessen hatte, hatte es vier Stewards und zwei indonesische Servicekräfte gegeben, jedenfalls zu Beginn. Zwei der Passagiere und einer der Stewards hatten sich nämlich ›verwandelt‹. In den vergangenen sechs Monaten hatte er den Dialekt der übrigen zehn Überlebenden gelernt.
Er hatte niemals durchblicken lassen, dass er zwei weitere indonesische Dialekte beherrschte und ihre Gespräche bereits verstand, nachdem das Abteil kaum zwei Stunden lang hermetisch abgeriegelt gewesen war.
»Hallo, ich heiße Nadia ...«
Die junge Frau war hübsch, wenn nicht sogar wunderschön, und sprach mit starkem slawischem Akzent. Darüber hinaus ließ sich schwerlich übersehen, dass sie schwanger war. Genau wie die beiden indonesischen Servicekräfte. Selbst wenn die Menschheit größtenteils vom Globus gefegt worden war, konnte sich Thomas zusammenreimen, dass man sich um Nachwuchs vermutlich keine Sorgen machen musste.
»Ich werde Sie anfänglich betreuen, bis Sie mit der Wolf Squadron vertraut sind. Zuerst einmal erhalten Sie etwas zu essen und wir beantworten hinterher Ihre Fragen. Folgen Sie mir bitte.«
Die Frau führte sie in den großen Aufenthaltsbereich der Jacht. Man sah deutliche Abnutzungserscheinungen, doch sie war trotzdem luxuriöser als jede einzelne Kabine auf dem Kreuzfahrtschiff, das sie verlassen hatten.
»So lebt also die andere Hälfte«, kommentierte die Frau in den Vierzigern. Thomas sah, dass sie auf die Anweisungen des osteuropäischen Mädchens ein wenig gereizt reagierte. Sie war nicht schwanger, hatte sich also entweder sterilisieren lassen oder war für die Kerle in ihrem Frachtraum nicht interessant gewesen. Angesichts der Tatsache, dass sie mit vier Männern eingesperrt gewesen war, traf vermutlich eher die Sterilisations-Theorie zu.
»Hier ist die Suppe.« Nadia füllte einen Becher und reichte ihn der Frau. »Es gibt gleich mehr, aber einige Menschen hatten nicht gerade viel zu essen, und damit gewöhnt sich der Magen an die Nahrung. Es gibt drei Sorten: Tomate, Hühnchen und Lamm. Die Amerikaner bevorzugen meist Tomate oder Hühnchen. Bedienen Sie sich.«
»Könnten Sie ... Was geht hier vor?«, erkundigte sich einer der Männer.
»Diese Frage stellt fast jeder.« Das Mädchen lächelte. »Sättigt man zuerst den Wissensdurst oder den Magen? Hier ist eine Broschüre.« Sie nahm eins der Hefte, die auf dem Tisch lagen, und gab es dem Mann. »Lesen Sie das erst durch. Das dürfte schon das eine oder andere klären.«
Thomas las die Broschüre, während er seine Tomatensuppe schlürfte. Im Frachtraum hatte es Tomatensuppe gegeben, die heiße Suppe war allerdings eine Offenbarung. Die meisten Informationen, nach denen er gierte, fanden sich direkt im ersten Abschnitt. Angesichts der Erlebnisse in seinem Frachtraum verstand er den Verzicht auf belangbare UCMJ-Delikte. Sie wurden wahrscheinlich auf Grundlage einer Einzelfallbetrachtung entschieden, aber dazu würde er das Reg lesen müssen.
Das warf allerdings die Frage auf, ob er überhaupt den Kontakt zur Kommandoebene suchen sollte. Mehr als einen diensthabenden Zwei-Sterne-Offizier hatte das Hole vermutlich nicht zu bieten. Sollte er sich zu erkennen geben, würden Sie ihm diese ganze gequirlte Scheiße aufs Auge drücken, und sie würden sich einen Dreck darum scheren, ob er im Ruhestand war oder nicht. Er wusste nicht genau, ob er besonders scharf darauf war. Es gab einen Grund, warum er in Rente gegangen war. Wenn er schon etwas tun musste, wollte er lieber diese verfluchten Zombies ins Jenseits befördern oder auf einem Kahn übers Meer schippern. Nicht in einem Büro herumsitzen und sich um logistische Peanuts kümmern. Andererseits war er schon ziemlich in die Jahre gekommen. Es sah jedoch danach aus, dass es sich hierbei um eine vernünftig aufgestellte Operation handelte, obwohl man gern mal fünf gerade sein ließ, und nicht um Amateurmanöver von Hobbysoldaten.
»Was ist mit Großbritannien?«, wollte einer der Männer wissen.
»Derzeit haben wir zur britischen Regierung keinen Kontakt, auch mit keiner anderen Regierungsorganisation, außer mit denen, die in der Broschüre aufgeführt werden. Kürzlich haben wir ein paar Menschen von den Kanarischen Inseln befreit, darunter befand sich auch ein Polizist. Er kommt einem Vertreter der spanischen Regierung am nächsten. Es gibt eine Vereinigung, die sich ›Söhne und Töchter der Briten im Exil‹ nennt. Sie treffen sich regelmäßig am Mittwochabend. Ihr Vorsitzender ist ein früheres Mitglied des Parlaments. Betrachten Sie ihn als Premierminister im Exil, wenn Sie so wollen. Er weist einen allerdings schnell darauf hin, dass er nur der Vorsitzende dieser Gruppe ist. Es gibt ähnliche Zusammenkünfte anderer Nationen. Am Schwarzen Brett hängt eine Liste.«
»Wir sitzen also weiterhin auf Booten fest?«, hakte die Frau nach.
»Ja«, antwortete Nadia. »Vorläufig. Hier auf den Kanarischen Inseln wurden einige Städte teilweise geräumt. Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist die Räumung der amerikanischen Guantanamo Bay Naval Base auf Kuba. Dort nehmen wir Vorräte, Ausrüstung und hoffentlich ausgebildetes Personal an Bord. Was danach kommt, hängt laut dem Commodore ›von den Umständen ab‹. Letzten Endes will er sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa von den Infizierten befreien, damit wir von vorn anfangen können ... ja?«
»Wie um alles in der Welt will er die gesamten Vereinigten Staaten befreien?«, wollte einer der Männer wissen.
»Das hängt ebenfalls von den Umständen ab. Derzeit sind im südlichen Hafenabschnitt sogenannte mechanische Räumungsgeräte postiert. Die meisten Menschen nennen sie Zombiefallen. Das sind Container, die im Grunde genommen ... entschuldigen Sie die derbe Ausdrucksweise ... Hackfleisch aus ihnen machen.«
»Oh, mein Gott.« Die Frau schob die Hand vor den Mund.
»Lampen und Sirenen, um Zombies anzulocken?«, fragte Thomas.
»Stimmt. Und Einwegtore, klar? Hinzu kommen motorbetriebene Klingen. Alles ausgesprochen effizient. Der Commodore sagt, es gebe noch andere Pläne für die Gebiete auf dem Land. Dafür haben wir aber noch nicht genug Leute. Er hüllt sich bezüglich der weiteren Pläne in Schweigen, da sie sich ständig ändern, okay? Hängt alles davon ab, was wir finden. Wen wir finden und wer uns unterstützt.«
»Und womit können wir uns beschäftigen?«, wollte Thomas wissen.
»Es gibt Bücher. In den Kajüten stehen Fernseher und es gibt Kanäle, auf denen Filme laufen. Essen Sie, ruhen Sie sich aus. Kommen Sie wieder zu Kräften. Am dritten Tag erfolgt eine Einweisung und Sie können entscheiden, ob Sie uns helfen oder darauf verzichten. Daran schließt sich ein Gespräch mit einem Berater an. Ich kann Sie jetzt schon vorwarnen, dass Sie in den meisten Fällen zuerst einmal die Reinigungsmannschaften unterstützen. Es gibt Teams, die Boote und Kajüten putzen. Es ist ... am Anfang ist es richtig widerlich. Ich mache das nach wie vor. Aber es ist eine wichtige Aufgabe. Wir brauchen einen Platz zum Leben, der nicht von Dreck überquillt, den die Zombies hinterlassen. Nach einer Weile werden Sie sich daran gewöhnen. Wir tragen dabei Plastikmäntel und Atemmasken.«
»Wenn man einen der besseren Jobs will, muss man vorher den Dreck aus den Kajüten schaufeln?« Einer der Männer wurde wütend.
»Wenn Sie keine besonderen Fähigkeiten aufweisen können, ja. Wir haben viel zu wenig ausgebildetes Personal in den Bereichen Technik, Elektroinstallation, Schweißen und Schifffahrt. Das müssen Sie entweder nachweisen können, etwa mit einem Diplom, oder Sie müssen eine Prüfung bestehen, in der Sie Ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Sind Sie Elektriker oder Techniker, Sir?«
»Nein.« Der Mann ließ den Kopf hängen. »Ich bin Rechtsanwalt.«
»Davon haben wir leider viel zu viele, Sir«, sagte Nadia trocken.
»Und wenn wir Ihnen sagen, dass Sie uns am Arsch lecken können?«, hakte der Rechtsanwalt nach. »Was dann?«
»Auf der Boadicea gibt es Innenkabinen.« Nadia lächelte. »Sechs in einer Kabine, manchmal acht. Nahrung und Wasser streng rationiert. Ungefähr wie vor Ihrer Rettung, was? Manche Menschen entscheiden sich dafür. Zumindest für einige Zeit. Wenn Sie helfen wollen, werden Sie höchstens eine Woche lang putzen. Damit helfen Sie uns, das möchte ich noch einmal betonen, und es muss erledigt werden. Jemand muss es schließlich tun.«
»Müssen wir die drei Tage freinehmen, oder können wir direkt mit dem Berater sprechen?«, erkundigte sich Thomas.
»Sie können jederzeit mit dem Berater sprechen, Sir.« Nadia zog die Augenbrauen zusammen. »Aber normalerweise nehmen sich die Leute lieber einige Tage Auszeit, bevor es wieder an die Arbeit geht.«
»Wo ist das Büro der Personalabteilung?« Thomas ließ nicht locker. »Sie sagten doch ›jederzeit‹.«
»Nun.« Nadia blickte ihn schief an. »Als Nächstes werden Sie erst mal registriert. Ich denke, das müssen Sie noch erledigen, ehe Sie in das Büro des Beraters können.«
»Wo kann ich mich registrieren?«
»Hier drüben.« Nadia führte ihn zu einem Datensichtgerät und deutete auf einen Stuhl.
»Waren Sie schon einmal beim Militär der Vereinigten Staaten?«, wurde er gefragt.
»Vor langer Zeit. Meine Personalakte ist allerdings bei einem Brand in St. Louis vernichtet worden. Sie liegt Ihnen wahrscheinlich nicht vor.« Sie sollte Ihnen lieber nicht vorliegen.
»Nun, dann geben Sie Ihre Sozialversicherungsnummer ein. Es gibt viele Aufzeichnungen, die man darüber abrufen kann.«
Thomas tippte eine Ziffernfolge ein. Er wusste, dass sie nicht existierte, da er sie sich irgendwann einmal ausgedacht hatte. Alles andere verriet ihnen zu viel.
Es wurde ein Bildschirm eingeblendet, der persönliche Daten abfragte.
»Okay, ich schätze, sie ist uns nicht bekannt. Als was haben Sie früher gearbeitet? Wir suchen nach Leuten für die Sicherheit und die Räumung.«
»In der Armee bin ich Lastwagenfahrer gewesen«, schwindelte Thomas. Nur eine kleine Notlüge. Er hatte wirklich oft Trucks gefahren.
»Geben Sie die Daten ein. Dann gehen Sie in den Aufenthaltsraum und folgen den Schildern.« Nadia deutete in die entsprechende Richtung. »Wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten, sind wir noch etwa eine Stunde hier im Aufenthaltsraum. Wir essen zu Mittag. Es gibt Thunfisch.«
»Ich bin sicher, dass ich etwas zu essen auftreiben werde. Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Nadia.«
»Es hat mich ebenfalls gefreut, Sir.« Nadia schüttelte ihm die Hand. Das passierte eindeutig zum ersten Mal. »Wenn Sie Fragen haben, stehe ich jederzeit zu Ihrer Verfügung.«
»Verstanden.« Thomas begann mit den Eingaben. Rechner waren nicht gerade seine Spezialität, aber er kam zurecht.
Nachdem er den Dialog abgeschlossen hatte, erschienen weitere Fragen auf dem Bildschirm.
»Haben Sie schon einmal dem Militär einer beliebigen Nation angehört oder haben Sie in der Strafverfolgung gearbeitet?«
Er dachte einen Augenblick darüber nach und klickte auf ›Nein‹. Diese Frage richtete sich vermutlich an angehende Zombiejäger. Unter anderem suchten sie auch Kapitäne für die Boote. Er hatte den Entschluss gefasst, dass er das machen wollte. Er hatte ausreichend Erfahrung auf diesem Gebiet vorzuweisen, daher konnte er sich wahrscheinlich einschmuggeln. Er würde auch Zombies töten, wenn es sein musste. Es gab viele Zombies, die man ausschalten musste, und jede Menge Zeit totzuschlagen.
Neuer Bildschirm: »Kreuzen Sie alle Fähigkeiten an, für die Sie eine formelle Ausbildung und Erfahrung vorweisen können.«
Da gab es einen Haufen. Er wählte zivile Offshore-Sportschifffahrt, Knotenkunst; und da er wusste, dass er es nicht lange würde geheim halten können, klickte er auch auf Sportschießen; Bergsteigen, was soll’s – es entsprach der Wahrheit und er hatte schon Menschen dazu ausgebildet; Lkw-Führerschein; Sprachwissenschaften. Was er nicht abhakte, waren Punkte wie Elektronik, Computerprogrammierung, Sprengstoff oder Abrissarbeiten, Berufstauchen, Betriebsführung, Helikopterpilot, strategische Analyse, Informationsgewinnung, Informationsauswertung, strategischer Nachrichtendienst, Management auf Geschäftsführungsebene und Unternehmensführung. Er fand es allerdings interessant, dass sie gezielt aufgeführt wurden.
Thomas folgte den Schildern zum Büro der Personalabteilung. Im Gang stand ein Schreibtisch. Dahinter saß eine junge Frau vor einem Monitor und einem Telefon. Die Leute hier hatten praktisch alle dasselbe an, was auch er am Körper trug, allerdings war ihnen anzusehen, dass sie nicht frisch von einem der Boote kamen.
Er wartete, bis er von der Frau aufgerufen wurde.
Er trat an den Schreibtisch. »Ich würde gern mit einem Berater der Personalabteilung sprechen.«
»Stammen Sie aus Abteil R-765?« Ein weiteres russisches Küken.
»Nein. Ich komme direkt von einem der Boote. L-1438. Hab mich eben angemeldet.«
»Oh. Name?«
»Thomas Walker.«
»Sie kommen gerade von einem der Boote. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht erst eine Auszeit nehmen wollen?«
»Bombensicher. Es macht mir auch nichts aus, Kajüten zu schrubben, bis ich eine andere Aufgabe erhalte. Ich saß sechs Monate lang rum und hatte nichts zu tun.«
»Gehen Sie durch die offene Tür in die Kabine und nehmen Sie Platz. Dort stehen Terminals. Für die Bereiche, die Sie als Ihre Fachgebiete ausgewiesen haben, werden kurze Tests durchgeführt. Beantworten Sie die Fragen, im Anschluss wird sich ein Berater mit Ihnen unterhalten.«
»Okay.«
Er ging in die Kabine. Da alle Computer besetzt waren, setzte er sich erst mal auf eine Bank.
»Ich hab Sie noch nie gesehen.« Der Kerl neben ihm musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Nicht mein Abteil.«
»Nein. Ich komme frisch vom Boot. Hab die drei Tage Auszeit sausen lassen.«
»Sie hätten sie genießen sollen. Es war toll. Fast wie die Kreuzfahrt, für die ich mein letztes Hemd versetzt habe. Amerikaner?«
»Stimmt.«
»Nun, dann werden Sie schnell integriert sein. Die Amis haben hier das Sagen. Ich bin sicher, Sie werden im Nu einen kuscheligen Bürojob bekommen.«
»Ich würde lieber Kajüten putzen.« An einem der Computer stand jemand auf und winkte seinem Gesprächspartner zu. »Sie sind dran.«
»Schon erledigt«, wiegelte der Mann ab. »Pour vous.«
»Merci, mon ami«, antwortete Thomas galant.