20
Das Wahlrecht, so dachte ich, bedeutet einer Frau nichts. Aber wir sollten gerüstet sein.
Edna O’Brien
»Okay«, sagte Sophia. »Ich glaube nicht, dass wir hier räumen.«
Das Städtchen El Chorillo lag nicht an der Strandlinie. Der Jachthafen schon. Die Häuser hingegen standen ganz oben auf einer rund 60 Meter hohen Uferwand. Zumindest ein Großteil davon. Beim Rest handelte es sich um Wohnanlagen, die sich an den Klippen entlang bis zur Anhöhe erstreckten. Neben dem Ufer erstreckte sich hinter einem gewaltigen Wellenbrecher aus Stein ein ausgedehnter Park.
»Señorita«, trötete Chens Stimme über Funk. »Fahren Sie zum Jachthafen und sehen Sie dort nach dem Rechten. Ich sehe bisher nur Segelboote.«
»Roger.« Sophia hielt langsam darauf zu. »Paula. Geh rauf zum Bug und überprüf das Wasser.«
»Roger.«
»Das Wasser überprüfen?« Olga staunte. Sie war in einen Badeanzug geschlüpft. Ihr gesamter Körper war mit feinen Narben übersät, ähnlich der auf ihrer Brust, die nicht von einer Operation, sondern eher von der Verletzung mit einem Messer herzurühren schien. Sophia hatte entschieden, nicht nachzufragen.
»In La Playa war im Hafen ein Boot gesunken.« Sophia lenkte das Boot vorsichtig in den Jachthafen. »Bis zum letzten Boot war es keinem aufgefallen und glücklicherweise stieß auch niemand damit zusammen. Seitdem sind wir besonders vorsichtig. Hier gibt es keine echte Strömung und deshalb vermutlich auch keine entsprechenden Komplikationen. Zumindest hoffe ich das.«
»Bisher ist alles frei«, rief Paula.
Sophia gelangte von der Hafeneinfahrt aus zum gleichen Schluss. Einige Offshore-Motorjachten lagen vor Anker. Es gab die gewohnten Zombies. Die meisten dösten im Schatten. Sie zählte allerdings mindestens sechs von ihnen in direkter Sichtweite. Wenn sechs zu sehen waren, lauerten nach ihren bisherigen Erfahrungen mindestens zwei Dutzend in der Nähe. Die meisten Kajüten der Segelboote standen offen. Die Infizierten würden wie Fliegen herausströmen, wenn sie die Bordlautsprecher erschallen ließ.
»Keine hochseetauglichen Jachten«, gab sie über Funk durch. »Maximal zehn Meter, aber das war’s dann schon. Da sind ein paar Boote der Bayliner-Klasse. Suchen wir solche? Over.«
»Sehen sie aus, als fahren sie schnell wie der Teufel? Over.«
»Negativ. 30, vielleicht 35 Knoten.«
»Ich schätze, dann kommen wir nicht ins Geschäft.«
»Roger.« Sophia stieß zurück und bog in das Wendebecken ein. »Ich verschwinde wieder.«
»Division, hier Guppy.«
»Was gibt’s, Gup?«
»Knallen wir sie ab? Over.«
»Negativ. Wir stehen unter Zeitdruck und müssen Boote und Ausrüstung finden. Nur wenn sich eine Bergung lohnt.«
»Okay, aber Sie sehen die Überlebenden? Over.«
»Überlebende?« Olga setzte sich auf und schattete die Augen mit der Hand ab.
»Oben auf der Klippe. In den Wohnanlagen. Sie winken mit einem Bettlaken. Ein ganzer Haufen. Over.«
»Scheiße.« Sophia stellte fest, dass der andere recht hatte. »Verdammter Mist.«
Von einigen Balkonen des Hauses hingen Seile, und darauf wurden Pflanzen gezüchtet. Sie erkannte ein an der Außenwand angebrachtes Rohrsystem, mit dem offensichtlich Regenwasser aufgefangen wurde. Einige Gruppen versuchten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es gab ziemlich viele Überlebende. Mindestens 30.
»Boise, haben Sie Ihr Periskop ausgefahren? Over.«
»Roger, LitClear One. Wir bestätigen zahlreiche Überlebende.«
»Können Sie mit der Squadron Kontakt aufnehmen und ihnen Videoaufnahmen schicken? Das ist ziemlich eindeutig kein Ziel des Sicherheitsteams.«
»Bleiben Sie dran.«
»Das könnten wir doch erledigen.« Olga klang enthusiastisch. »Wir können sie nicht einfach hierlassen!«
»Olga.« Sophia legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Du kannst schießen. Du musstest dich für diese Position qualifizieren. Das ist was anderes, als sich mit einer Kampfeinheit bis zu diesen Wohnungen vorzuarbeiten und sie anschließend zu räumen. Einen Augenblick. Division, ich dreh mal die Anlage auf, um meinem Sicherheitspersonal zu verdeutlichen, was hier abgeht.«
Sophia war bisher leise durch den Hafen getuckert. Die Abgasausführung der Señorita erfolgte unter der Wasseroberfläche, und es war kaum ein Geräusch zu hören. Jetzt schaltete sie die Boxen ein und drehte die Lautstärke bis zum Anschlag hoch.
Als das Klavier-Intro von Warren Zevons Roland the Headless Thompson Gunner durch den Jachthafen dröhnte, strömten die Zombies aus allen Ecken heran. Sie hatten eindeutig in den Segelbooten geschlafen. Jetzt heulten sie. Und ihr Heulen weckte alle Zombies der Stadt. Ganz offensichtlich gab es dort Hunderte, wenn nicht sogar Tausende.
»Oha.« Olga ließ ihren Blick über das Aufgebot schweifen.
»His comrades fought beside him«, sang Sophia, während sie das Boot in Richtung Stadtpark lenkte. Einige Bojen hingen im Wasser und markierten die Durchfahrtsgrenze. Sie tuckerte ganz dicht heran und ließ den Anker ins Wasser fallen. »But of all the Thompson gunners, Roland was the best ...«
»So the CIA decided, they wanted Roland dead ...« Olga trällerte im Takt mit. Sie war nach unten gegangen und hatte ihr M4 geholt, während das Boot zurücksetzte. »Erlaubnis für ein paar Schießübungen, Captain?«, fragte sie zwischen den Zeilen des Refrains.
»Division, wir führen einige Schussübungen durch, um die richtige Katenoide zu ermitteln«, funkte Sophia.
»Roger, Señorita.«
»Mensch Meier.« Der Skipper der Boise war ganz aus dem Häuschen. »COB, das nenne ich ein Video zur Stärkung der Moral. Übermitteln Sie das an die anderen Boote.«
»Bin dabei, Sir«, bestätigte der Chief of Boat. »Bellas Señoritas, gar keine Frage. Verdammt, das sind wirklich hübsche Beine.«
»Darauf kannst du einen lassen.«
»Von einem schaukelnden Boot aus trifft man sie nur schwer.« Olga befand sich in Bauchlage auf dem vorderen Teil des Sonnendecks. »Oder merken sie nicht, wenn sie von einer 5,56 getroffen werden? Sie zucken kaum.«
»Sowohl als auch.« Sophia beobachtete die andere beim Schießen. »Erfordert eine Menge Übung.« Sie hatten beide einen Gehörschutz aufgesetzt.
Einer der Zombies, die sich am Ufer zusammengedrängt hatten, geriet ins Stolpern und fiel zu Boden. Der Rest stürzte sich sofort auf ihn und fraß ihn bei lebendigem Leib.
»Ekelhaft.« Olga schoss weiter.
Seemöwen scharten sich zusammen und wollten sich durch die Reihen der Infizierten zwängen. Das lockte noch mehr von ihnen an. Einer wurde in die Tiefe gezogen und das Wasser färbte sich rot. Das stoppte ihren Vormarsch vorerst. Sie fuchtelten wütend mit den Armen, ließen die Hände auf die Wasseroberfläche klatschen und heulten, während sie bis zur Brust im Salzwasser standen. Ein weiterer verschwand nach unten. Dann ein dritter.
»Schwimmen ist unproduktiv«, rief Paula. Sie trug Ohrstöpsel.
»Die beiden da drüben, ficken die etwa?« Olga war fasziniert und angewidert zugleich.
Sophia griff zum Fernglas und begutachtete die Situation.
»Eindeutig. Das machen sie im Fressrausch. Sie gehen sich aus dem Weg, bis sie eine Nahrungsquelle wie diese hier finden. Dann rotten sie sich zusammen und kämpfen darum. Manchmal fangen sie mitten im Gewühl zu vögeln an. Dann zerrt ein männlicher Infizierter einen weiblichen Zombie zu Boden, manchmal auch einen schwächeren Mann, und will sie oder ihn gleichzeitig auffressen und besteigen. Obwohl, normalerweise wird erst gefickt und dann gefressen.«
»Widerlich.« Olga schoss noch einmal.
»Du solltest dieses Thema nicht vor Faith zur Sprache bringen«, warnte Sophia. »Manchmal bemerken die männlichen Infizierten, wenn sie in einem Gedränge steckt, dass sie eine Frau ist. Keine Chance, dass sie durch ihre Ausrüstung kommen, aber trotzdem kotzt es Faith an.«
»Was macht man dann?«, fragte Olga. »Na ja, mitten in einem ... Wie war das Wort?«
»Gedränge«, wiederholte Sophia. »Im Grunde genommen ist das so, als ob ein Rudel Hunde über dich herfällt. Es hat einen guten Grund, warum Faith so viele Messer mitnimmt. Sie verlieren offenbar jeden Sinn für Romantik, wenn man ihnen den Schniedel abschneidet.«
»Viele Messer.« Olga lachte. »Okay, hab’s.«
»Ja, Volltreffer.« Sophia grinste. »Ach so, du meintest das mit den Messern. Den Letzten da hast du jedenfalls auch getroffen.«
»Ich hatte allerdings auf den daneben gezielt. Gar nicht so leicht.«
»Señorita, hier Division.«
»Division, hier Señorita«, antwortete Sophia mit spanischem Akzent. »Aquí, over.«
»Wir schicken die Kanonenboote vorbei. Die Squadron stellt ein Team mit Marines zusammen. Wir tanzen den Zombie-Boogie, der größte Teil der Räumung erfolgt bei Tagesanbruch. DivTwo fährt zur nächsten Traube und sieht dort mal nach dem Rechten.«
»Roger, Division.«
»Welche Marines werden sie wohl schicken?« Paula blickte gedankenverloren ans Ufer.
»Dreimal darfst du raten.« Sophia stupste sie in die Magengrube. »Hope und Charity jedenfalls nicht.«
»Zombie-Boogie?« Olga stemmte die Hände in die Hüften.
»Wir lassen die Musik die ganze Nacht durchlaufen. Feiern eine Party. Viele Lichter.«
»Leuchtfackeln«, ergänzte Paula. »Feuerwerk, wenn wir welches haben.«
»Am Morgen ist die Party dann vorbei und wir bitten die Zombies, die sich versammelt haben, höflich darum, sich hinzulegen, brave Zombies zu sein und das Leben nach dem Tod zu genießen.«
»Jetzt würd ich gern auf einem der Kanonenboote sitzen.« Olga sah zu, wie die Boote Position bezogen. »Wenn ich mal rüberfahre und nett frage, glaubst du, sie lassen mich ein bisschen mit ihren großen Geschützen spielen?«
»Ich bin mir sicher, sie würden dich mit allem spielen lassen, was du dir wünschst. Du kannst ja mal rüberflitzen, wenn die Party im Gange ist.«
»Es gibt also eine echte Party, kein Witz?« Olga starrte sie ungläubig an.
»So in etwa, ja. Alk, Häppchen, der Versuch einer Unterhaltung, während die Musik selbst atomare Teilchen zum Schwingen bringt. In der Regel laufen wir da nicht nackt rum, und es gibt auch keine anderen Sauereien. Und da wir fast so was wie Bullen sind, musst du auch keine Angst haben, dass einer damit anfängt. Jetzt muss ich das Boot aber wenden, weil die Kanonenboote in Position sind. Die Lautsprecher müssen zum Strand zeigen, verstehst du?«
Olga sah zu, wie die Crews die 50er aufstellten und luden. Dann eröffneten sie das Feuer.
Die großkalibrigen Kugeln zermatschten die Horde Infizierter im Nu zu Zombiebrei. Die Seemöwen zeigten sich aufrichtig dankbar.
Genau wie die Menschen auf der Klippe. Sie winkten bis zur Erschöpfung. Olga sah einige von ihnen weinen. Einer von ihnen hatte offenbar Sprühfarbe aufgetrieben und schwenkte eine schlecht gemalte amerikanische Flagge. Die Sterne waren zwar schwarze Punkte, aber letztlich zählte der Gedanke.
Olga winkte der Gruppe zu und bemerkte, dass sie sich besser mit Sonnenmilch hätte eincremen sollen.
»Hier Division One, der Captain will mit Ihnen sprechen, Señorita, auf 1900.«
»Paula, wir müssen einige besondere Vorräte ausgeben.«
»Ich erledige das, Captain.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, kommentierte Sophia, als Faith auf das Wash Deck trat.
»Shewolf ... Angekommen ...«, erklang Olgas Stimme über die Bordsprechanlage.
»Ach du lieber Gott, Schwesterherz.« Faith lachte. »Du übertreibst es echt mal wieder, hm?«
»Ein offizieller Befehl des Captains«, rechtfertigte sich Sophia. »Weniger als förmlich ist nicht drin, stimmt’s? Ich hatte keine Bootsmannspfeife. Ich hab auf meinem Rechner nach einer Wave-Datei gesucht, aber das Einzige, was so ähnlich klang, war irgendwas aus Star Trek. Und die haben eindeutig keine Bootsmannspfeife. Jetzt schieb deinen fetten Hintern zur Seite, Lieutenant, mein Boss rückt an.«
»LitDivOne, Angekommen ...«
»Hallo, Matrose Zelenova.« Chen winkte dem Mädchen auf der Flybridge zu. Zumindest hatte die sich für den Captain’s Call Shorts und ein T-Shirt übergestreift. »Will sie ...«
»Haben Sie Starcraft gespielt, Sir?« Sophia lachte laut auf. »Hey, Olga, mach mal die Nummer mit der Walküre ...«
»›Walküre ... Bereit ...‹«, gab Olga zum Besten.
»Oh.« Chen beugte sich vornüber, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt. »Dieser Akzent. Das ist kein Russisch. Das ist Deutsch oder Schwedisch oder so was in der Art.«
»Sie hat sich früher nur verstellt. Wie wir inzwischen wissen, stammt sie aus der Ukraine. Gewissermaßen. Also, nachdem Sie jetzt hier sind, Sir ...«
»Fangen wir an. Nach Ihnen, Lieutenant.«
»Einer der Gründe, warum wir hier feiern: Ensign Smith hat den großen Plasmabildschirm.« Chen musste die Stimme heben, um die Musik zu übertönen, die zu den Kanonenbooten übertragen wurde. Diese waren nachträglich mit riesigen Lautsprechern ausgestattet worden. Die auf der Señorita hatte man heruntergeregelt, damit sie halbwegs in Ruhe diskutieren konnten. »Diesmal haben wir hervorragendes Material.«
Er hatte bereits einen Laptop an den Fernseher angeschlossen und rief eine Videodatei auf. Sie zeigte den Komplex aus einer Vogelperspektive von schräg oben. Er stoppte das Bild, als eine Menschengruppe auf dem Dach zu sehen war, und zoomte einige Male, bis man die Gesichter deutlich erkennen konnte.
»Stammen die Aufnahmen von einer Drohne, Sir?«, fragte Sophia.
»Satellit«, antwortete Chen kurz angebunden. »Eine ziemlich detaillierte Aufnahme, die wir abgegriffen haben. Für so etwas wird seine Position nicht verändert, aber er war gerade zufällig über diesem Gebiet. Haben Sie eine Ahnung, wie groß diese Videodatei ist? Fast ein Terabyte.«
Er verkleinerte die Ansicht, bis das Dach kaum noch zu sehen war, dann steuerte er mit dem Mauszeiger eine bestimmte Stelle an und vergrößerte die Darstellung erneut.
»Da gibt es Hausdächer wie dieses hier, darauf sind Pflanzungen, hier, hier, hier, hier, hier und hier. Auch in dieser kleinen unbenannten Stadt am Bildrand, da. Es gibt zwei davon und die haben ...«, er zoomte hinein, »... Laufplanken zwischen den Häusern. Das sollte ein leichtes Unterfangen werden. Wir holen die Leute mit den DivTwo-Sicherheitsteams raus. Die Hauptstadt ...« – er wechselte auf die Gesamtansicht – »ist eine ganz andere Sache. Die Avenue de Colón verläuft einen guten Kilometer entlang der Küste, windet sich dann den Hügel hinauf und vereint sich mit der Calle Juan Sebastian Alcano. Nach einem weiteren Kilometer kommt das erste Grundstück. Die Eingänge zum Hauptgebäude scheinen oben zu sein. Sie wurden verrammelt, damit die Infizierten nicht eindringen können. In drei Gebäuden befinden sich Überlebende. Auch diese Häuser sind über die Dächer miteinander verbunden. Gleich daneben gibt es noch zwei weitere und, nun ja, darin halten sich Infizierte auf. Der Führungsstab hat entschieden, dass wir sie derzeit nicht räumen können, obwohl das eine leichtere Räumung darstellt, als es den Anschein hat. Lieutenant Smith ... Shewolf, irgendeine Idee?«
»Ich habe mir das U-Boot-Video kurz nach unserer Ankunft angesehen, Sir. Die Stadt ist größer, aber nur unwesentlich. Ich denke, es gibt nur eine mögliche Vorgehensweise. An Land gehen, sich ein Fahrzeug krallen, zum Eingang durchkämpfen, die Überlebenden rausholen und zurückfahren, Sir. Eins möchte ich jedoch anmerken ... Okay, eigentlich mehrere Dinge. Diese serpentinenartigen, kurvenreichen Straßen ... Infizierte sind nicht besonders schlau, Sir. Die meisten werden oben an den Klippen in eine Sackgasse laufen, wenn sie direkt auf die Lampen zusteuern. Deshalb werden wir die meisten vermutlich gar nicht bis zum Strand locken können, Sir.«
»Ja, das glaube ich auch. Das ist einer der Gründe, weshalb ich die Squadron kontaktiert und zusätzliche Unterstützung angefordert habe.«
»Wenn wir auf der Straße unterwegs sind und gegen die Infizierten kämpfen, werden weitere angelockt.« Faith schnaufte nachdenklich durch. »Wir müssen Rückzugsposten einplanen, ein Team vorschicken, sie anlocken, zu den Verteidigungsstellungen laufen lassen und dort abknallen. Dann das gleiche Spiel von vorn. Das wird eine Weile dauern, Sir.«
»Darf ich etwas dazu sagen, Sir?«, meldete sich Sophia.
»Seawolf.«
»Geh schnurstracks drauf zu, Schwesterchen.« Sophia nahm die Maus und bewegte den Mauszeiger vom Strand direkt zur ersten Gruppe der Überlebenden.
»Die Klippen sind gut 60 Meter hoch, Ensign.« Chen bedachte sie mit einem skeptischen Blick.
»Nein, Sir. Das sind 15 Meter Wohnanlage, eine 15 Meter hohe Klippe und dann weitere Wohnanlagen, Sir. Die Kanonenboote mit den Sicherheitsteams kümmern sich um die Eindringlinge, die die Avenue de Colón herunterkommen. Die Marines räumen dieses Anwesen.« Sie zeigte auf einen Bau direkt am Strand. »Dann stellen sie auf dem Dach eine Sturmleiter auf, klettern rauf und räumen dieses Anwesen, falls sich darin Infizierte aufhalten. Anschließend evakuieren sie die Überlebenden ins Tal. Hier sind wahrscheinlich Infizierte. Sonst würden sie nicht mit Seilen über die Außenbalkone klettern, Sir. Auf dem direkten Weg laufen die Nachschub- und Evakuierungsteams weniger Gefahr, auf Infizierte zu stoßen, Sir.«
»Dir gefällt diese Variante nur besser, weil du gern kletterst«, warf ihr Faith vor. »Das ist genau dein Ding.«
»Aber halten Sie es für vernünftig, Shewolf?«, fragte Chen.
»Leider ja, Sir.« Faith seufzte. »Allerdings werden wir Hilfe brauchen, sie über die Leitern nach unten zu schaffen. Dann müssen wir noch die anderen Leute rausbekommen. Aber ... warten Sie bitte einen Augenblick.«
Sie vergrößerte und verkleinerte das Bild, dabei schoss ihr Blick aufmerksam nach links und rechts.
»Okay. Das dauert den ganzen Tag, mindestens. Vielleicht noch länger. Wir klettern die Klippe hoch. Uff. Dann richten wir hier und hier Maschinengewehrstellungen ein.« Sie markierte zwei Punkte auf einem der Dächer. »Das deckt diese Straße hier ab. Dann überqueren wir sie, rauf zu diesem Haus. Darin sind keine Überlebenden, aber es ist der kürzeste Weg, dann schnell zu dem hier mit den Überlebenden, und raus mit ihnen. So ziemlich das Gleiche hier links. Sir, um diese Stellungen einzunehmen und die Überlebenden rauszuholen, brauchen wir das gesamte Sicherheitspersonal, das wir an Land schaffen können, Sir. Ich würde empfehlen, dass wir die Evakuierung des zweiten Dorfes so lange aufschieben, bis diese abgeschlossen ist.«
»Ich stimme Ihnen zu, Sir«, sagte Lieutenant Junior Grade Elizabeth Paris. Sie war die einzige Überlebende ihrer Familie auf einem Segelboot gewesen. Sie befand sich schon von Kindesbeinen an auf dem Wasser und war trotz der traumatischen Erlebnisse noch voll auf der Höhe. Derzeit befehligte sie drei Boote.
»Ich ebenfalls.« Chen nickte. »Ich koordiniere die Durchführung. Lieutenant Smith, Shewolf, wird die Marines befehligen und die Haupträumung durchführen. Ensign Smith, Seawolf, leitet die vorstoßenden Sicherheitsteams und die Evakuierung. Lieutenant JG Paris ist für die Evakuierung über das Wasser und die dafür eingeteilten Teams verantwortlich. Die Übergabe erfolgt am Strand. Seawolf wird die Avenue de Colón abdecken. Rufzeichen sind Team Shewolf, Team Seawolf, Team Paris. Alles klar?«
»Klar, Sir.« Sophia grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Stellen wir die Teams und möglichst viele Informationen zusammen. Uns bleibt schließlich nur der Rest der Nacht für die Vorbereitungen.«
»Ähm.« Olga räusperte sich, als die Captains sich anschickten, das Boot zu verlassen. »Lieutenant Chen, Sir?«
»Ja, Matrosin Zelenova?« Chen wahrte die Form.
»Da es eine Weile nichts zu tun gibt, wäre es okay, wenn ich Sie auf die Wet Debt begleite? Ich habe mich gefragt, ob ich mich wohl ein wenig mit Ihren schweren Waffen befassen dürfte. Die Marines haben mir nur kleine Waffen zugeteilt, und ich sehne mich nach ein paar großen Kalibern.«
»Normalerweise feuern wir am Morgen ... Matrosin.« Chen stieß die Zunge in die Wange. Er wusste, dass sie Spielchen mit ihm trieb, aber manchmal war das gar nicht so verkehrt ...
»Darf ich einfach ... ein kleines bisschen den Abzug Ihrer Waffen liebkosen, Sir?«, fragte Olga kokett. »Ich würde die großen Geschütze wirklich gern im Dunkeln zum Abschuss bringen. Vielleicht bei ganz schwacher Beleuchtung ...«
»Sir, wenn ich vorschlagen dürfte, dass Sie sich dafür erweichen?«, eilte Sophia Olga zu Hilfe. »Sie liebt die großen Teile ... Sie ist ein Waffennarr, Sir. Es ist doch nichts dabei, nachts ein paar BMGs abzufeuern. Die Zombies haben sicher nichts dagegen, Sir.«
»Einsteigen bitte, Matrosin.«
»Ich bin wirklich gern Rekrutin.« Olga klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen. »Ich liebe es, wenn man mich zur Ausbildung rannimmt. Vielleicht könnten Sie mir unterwegs zeigen, was ein richtiger Seemann zu bieten hat, Sir ...«
»Ooooh.« Olga streichelte den Verschluss des Browning-Maschinengewehrs. Sie hielt die Augen geschlossen und erbebte bei jeder Berührung. »Ooooh, ooooh ...«
»Haben Sie Lust ...«, stotterte McGarity und versuchte gleichzeitig, professionelle Haltung zu bewahren. »Wollen Sie ...« Dann fing er zu lachen an.
»Ich glaube, ich möchte für eine Weile allein sein ...«, erklärte Olga verzückt.
»Sie möchten eine Weile allein sein?«, fragte Rusty. »Und was ist mit uns?«
»Weiß nicht, du großer Junge«, antwortete Olga mit einer perfekten Mae-West-Imitation. »Steckt da eine Rolle Silberdollars in deiner Tasche oder freust du dich einfach, mich zu sehen?«
»Nun ...« McGarity wurde rot wie ein Puter. »Wollen Sie ein paar Salven aus der großen Kanone blasen?«
»Ich weiß nicht, ob ich meinen Mund um ... Oh, Sie meinen, ob ich damit schießen will? Das wäre ja fast wie ein Orgasmus!«
»Wo habt ihr die denn her?«, fragte Skipper Poole von der Noby Dick.
»Sie ist eins der Hühner von der Russenjacht.« Chen trank einen Schluck von seinem Bier. Sie standen auf der Flybridge des Fischerboots und sahen dem Team bei den Vorbereitungen für das Abfeuern der Maschinengewehre zu. Okay, sie sahen Olga bei den Vorbereitungen für das Abfeuern der Maschinengewehre zu.
»Sie ist eine Waffe ...«
Anarchy ging das Protokoll durch, um ein M2A1 BMG Mod1 auszurüsten und abzufeuern, während Rusty die Gefechtskiste öffnete und die Waffe lud. Bei der Gefechtskiste handelte es sich um einen modifizierten, wasserdichten Munitionsbehälter, der auf der Grace Tan hergestellt worden war und in den 10.000 Kugeln an einem Patronengurt passten. Fischerboote kamen auch deshalb als Kanonenboote zum Einsatz, weil sie mit ihrer robusten Bauweise das Gewicht der gesamten Munition tragen konnten.
Nachdem sie allesamt Gehörschutz aufgesetzt hatten und die Waffe bereit war, feuerte Olga eine Salve aus fünf Schuss auf die kaum zu erkennenden Infizierten an der Küste ab. Die meisten der Kugeln flogen über die Köpfe der Ziele hinweg, aber das schien sie nicht weiter zu stören.
»Oooh!«, staunte sie. Sie schoss erneut, länger, ließ die Waffe vibrieren. Diesmal traf sie ein Ziel. »Mmmm ...«, stöhnte sie. Sie hielt den Abzug durchgedrückt ...
»Oh Gott! Oh Gott! Ja, ja, ja! Gott JA, JA, JA, OH GOTT, OH GOTT, OH JAAAAA...«
Sie stellte den Beschuss erst ein, als sich keiner der Infizierten mehr regte.
»Oh«, stöhnte sie erneut. »Ich brauche eine Zigarette.«
»Matrosin Zelenova?«, rief Chen von der Brücke. »Kann ich Sie kurz sprechen?«
Als Olga oben ankam, bedeutete Chen mit einer kurzen Bewegung seines Kinns, Poole solle sich anderweitig beschäftigen, und klopfte mit der Hand auf die frei gewordene Sitzgelegenheit.
»Setzen Sie sich, Matrosin. Sie haben erwähnt, dass Sie gern ausgebildet werden möchten. Es wird Zeit, damit zu beginnen.«
»Klar, Sir«, erwiderte Olga mit kehliger Stimme.
»Das wäre dann wohl ›Aye, aye, Sir‹«, korrigierte Chen. »Ich habe, wie bei jedem heterosexuellen Mann zu erwarten, Ihre kleine Vorführung genossen. Das ist jedoch kein Kinderspielplatz, sondern ein professionelles Arbeitsumfeld. Erkennen Sie den Unterschied?«
»Ja, Sir.« Olga hatte den Akzent abgelegt.
»Ich habe mehr oder weniger damit gerechnet, dass Sie eine solche Show abliefern. Ich hatte nichts dagegen, weil es zur Stärkung der Moral beiträgt. Alles im grünen Bereich. Morgen werden Sie sich jedoch da drüben aufhalten.« Chen deutete mit seiner Bierflasche in Richtung Küste. »Mit einigen anderen. Bewaffnet. Von Infizierten umzingelt. Und Sie erledigen eine sehr anspruchsvolle und nervenaufreibende Aufgabe. Leute werden Befehle brüllen. Einige werden sich widersprechen. Manches wird nicht den gewünschten Verlauf nehmen. Es wird Probleme geben, die umgehend gelöst werden müssen. Selbst wenn etwas schiefgeht, müssen sich die Leute weiterhin auf ihr Ziel konzentrieren.
Niemand, absolut niemand, darf sich von Matrosin Olga Zelenova und ihrem knackigen Hintern und ihren wohlgeformten Beinen ablenken lassen. Das bedeutet, dass Matrosin Olga Zelenova zu einer unbedeutenden Figur im Hintergrund verkommt. Sie werden nichts anderes tun, als Befehle entgegenzunehmen, und sie entsprechend Ihren Fähigkeiten bestmöglich ausführen, ohne zu Olga, der großen Sexgöttin zu werden. Es stellt sich die Frage, Rekrutin Zelenova, ob Sie dazu in der Lage sind. Denn wenn Sie das nicht schaffen, gehen Sie nicht mit an Land, sondern bleiben auf einem der Boote.«
»Ich kann das runterfahren, Sir«, versicherte Olga. »Ich kann es sogar abschalten, ohne ... die Stimmung der Truppe zu verderben, Sir. Ja, Sir.«
»Hervorragend. Hoffentlich behalten Sie recht. Denn morgen wird Petty Officer McGarity Ihr Chef sein. Es ist wichtig, dass er den Auftrag nicht vergisst. Er darf keine Sekunde von Überlegungen darüber abgelenkt werden, wie er Sie in einem verlassenen Haus zu einem Quickie überreden kann. Denn so sicher wie das Amen in der Kirche wird morgen alles den Bach runtergehen, wenn er seine Entscheidungen mit dem Schwanz trifft. Noch etwas, Matrosin, wenn Sie beide sich kurz mal in eins der Betten verkriechen, sich hinter einer Mauer verkrümeln oder auf dem Boden wälzen, werd ich Sie beide so schnell zurück auf die Boote packen, dass man die Tscherenkow-Strahlung bläulich aufblitzen sieht.«