19
Dagger war nach Osten weitergezogen, dabei bemüht, ruhig zu bleiben und an nichts zu denken. Aber das war schwer, sogar sehr schwer. Irgendwo dort draußen war der Darhel, und das Blatt hatte sich jetzt gewendet, zum ersten Mal war der Darhel der Jäger und nicht mehr der Gejagte. Und das bedeutete natürlich, dass er ihm näher rückte. Wenn Dagger ihn sah, dann würde das zu nahe sein, um einem Schuss ausweichen zu können. Wenn Dagger ihn zuerst sah.
Und das legte seine Entscheidung auf das buckelige Gelände im Süden fest. Wenn es ihm gelang, an dem Darhel vorbeizukommen, der mit Sicherheit aus dem Osten kommen würde, wenn er es dann schaffte, das Bergland zu erreichen, ganz besonders im Südosten, würde er eine gute Chance haben, als Erster zu schießen. Wenn er sich quasi in Sprüngen bewegte, freies Gelände fand, Stellung bezog, wartete, dann wieder weiterzog, hatte er ohnehin eine gute Chance auf den ersten Schuss. Der Darhel verfügte allem Anschein nach nicht über die Fähigkeit, seine Position genau anzupeilen, er schaffte es lediglich, ein vages Gefühl für seinen ungefähren Standort zu entwickeln. Das sollte also funktionieren. Aber er musste ruhig bleiben.
Tirdal fühlte die Änderung in Daggers Verhalten. Er war irgendwo im Nordosten, und gerade als ein deutlich ausgeprägtes Gefühl der Selbstgefälligkeit durchkam, fing der Kontakt an zu verblassen, bis er überhaupt nicht mehr wahrzunehmen war. Offenbar hatte Dagger sich seine Bemerkungen hinsichtlich des Verbergens seiner Gefühle zu Herzen genommen.
Er gestattete sich eine leichte Anwandlung von Zorn und spürte das Rinnsal von Tal-Hormon, das ihn mit einem Gefühl der Leichtigkeit erfüllte. Aber selbst damit reichte die Orientierung nur für »nah/fern« aus, und der Scharfschütze war … irgendwo in der Mitte.
Offenbar tat Dagger jetzt eines von zwei Dingen. Entweder wartete er oder war dabei, einen Bogen zu schlagen, um hinter Tirdal zu kommen. Da er vorhatte, den Scharfschützen wieder in eine Falle zu locken, war es für ihn wichtig, Kontakt herzustellen und dann wieder zu brechen. Aber da jetzt sein Gefühl für den Standort des anderen am Verblassen war, würde das schwierig sein. Es konnte so weit kommen, dass er oder Dagger auf den anderen zuging und das erst im letzten Augenblick merkte!
Er drang ins Gebüsch ein, und das war genauso schlimm, wie er das gehofft hatte. Äste verkrallten sich in seinen Stiefeln, starre Grashalme zerrten an seinem Anzug, Felsbrocken jeder Größe erschwerten sein Vorankommen. Kleine Flieger huschten an ihm vorbei, und einmal sprang ein Insekt etwa von der Größe eines Stiefels vor ihm auf und versuchte sich in dem ineinander verfilzten Gras einzugraben, um Schutz zu finden. Und dann gab es da noch die Lianen mit ihrem Würgegriff, die steifen Pflanzen und die knorrigen, niedrigen Bäume. Eine unwirtliche, verlassene Landschaft und daher perfekt für seine Absichten.
Er arbeitete sich ein wenig näher an die Savanne heran, nahm Kurs nach Süden, suchte mit allen Sinnen nach jeder Andeutung einer Spur von Dagger.
Und aus diesem Grund bemerkte er die Tigerkäfer nicht.
Natürlich handelte es sich in Wirklichkeit weder um Tiger noch um Käfer. Es waren einfach zwei Meter lange Räuber, wenn auch mit kurzen Beinen, und ihre Kiefer waren so konstruiert, dass sie die zähen Panzer der lokalen Grasfresser wie Dosenöffner aufschneiden konnten; sie waren daher mehr als fähig, einen einzelnen Darhel in Stücke zu zerlegen. Im Zuge ihrer Entwicklung hatten sie gelernt, leise und unauffällig zu sein, damit ihre große Beute sie mit ihren messerscharfen Hufen nicht einfach zertrat oder sie zwischen die eigenen massiven Kiefer nahm. Ein derartiger Biss würde zwar vermutlich nicht gleich tödlich sein, aber den Räuber sicherlich kampfunfähig machen. Die unabwendbare Folge für ihn wäre der Tod durch Verhungern und zugleich die Gewähr dafür, dass diejenigen, die die von den Gesetzen des Dschungels dieses Planeten diktierte Auswahl lebend überstanden, noch bessere Reaktionen hatten und sich noch besser auf das Anpirschen an die Beute verstanden. Die Tigerkäfer bewegten sich lautlos auf diese seltsame, kleine Zwischenmahlzeit zu, huschten wieder etwas vor und erstarrten dann gleich wieder.
Tirdal fühlte den Angriff, ehe das Gebüsch zum ersten Mal raschelte und die Bestien über ihm waren. Der ersten wich er aus, aber sein Sinn sagte »sieben«, und er wusste, dass er würde schießen müssen.
Dagger hörte das hohle Klatschen der Punch-Gun im Osten und grinste. Der Elf war auf etwas gestoßen, vor dem er nicht Reißaus nehmen konnte, und würde dafür seinen Preis bezahlen müssen. Der Scharfschütze bog sofort nach Südosten ab, wo er wusste, dass er die Spur des Darhel finden würde. Er lauschte auf die Schüsse, schätzte Richtung und Distanz ab. Demnach musste der Elf sich in dem Gebüsch dort drüben auf der anderen Flussseite befinden. Der Darhel war so blöd gewesen, nicht gleich anzugreifen, als er die Chance dazu hatte, und das würde Dagger jetzt ausnützen. Die Waffe schussbereit in der Hand, hastete er den Abhang hinunter, lauschte auf weitere Schüsse der Punch-Gun, hielt die Augen offen, um den Darhel zu entdecken, die Ohren offen, um weitere Schüsse zu hören, und war des Weiteren sorgsam bedacht, nicht mit den Füßen im Gestrüpp hängen zu bleiben.
Die Strecke betrug einen guten Kilometer, und auf diesem Terrain mit all den Büschen war das eine weite Strecke. Wenn man den mangelnden Schlaf, das fehlende Wasser, Müdigkeit, einen schmerzenden Knöchel und ein paar neue Schrammen hinzuzählte, war es kein Wunder, dass Dagger ausgepumpt war und um Atem rang, als er schließlich den Fluss erreichte.
Tirdal war sich nicht sicher, wie er es geschafft hatte, dem ersten Angriff auszuweichen, aber jetzt wurde es unangenehm. Zwei der Räuber waren erledigt, einer von ihnen zuckte noch, der andere regte sich nicht mehr, aber bei beiden Schüssen hatte er Glück gehabt. Zwei weitere waren getroffen, aber das hielt sie nicht auf; um die Biester zu töten, musste man ein Nervenzentrum treffen. Hals oder Bauch waren die Ziele. Hals oder Bauch, erinnerte er sich, als er einem weiteren Sprung auswich. Sie waren gewohnt, im Rudel zu jagen, und stimmten sich aufeinander ab. Sie rannten im Kreis um ihn herum und stießen dann schnell hintereinander vor, einer um ihn abzulenken, einer von hinten, die anderen von den Seiten. Er fühlte ihre Sprünge nur Augenblicke vorher, aber bis jetzt hatte das ausgereicht. Inzwischen kannte er das Schema, nach dem sie vorgingen, aber würde er sein Tempo durchhalten können und würde sein Glück halten? Beim ersten Ausweichmanöver war ein stechender Schmerz durch seine untere Brustplatte geschossen. Der zweite Angriff hatte fast dazu geführt, dass er bewusstlos geworden wäre. Und dann gab es noch eine weitere Gefahr: die einer Reaktion, die etwa der Endorphinausschüttung beim Menschen entsprach. Ein Teil seines Gehirns fühlte seinen Feind, ein Teil kämpfte gegen seine Schmerzen, hielt sie im Zaum, ein Teil kontrollierte das Tal, verhinderte die verlockende Süße des Lintatai und ließ daher nur einen Bruchteil seiner mentalen Kräfte dafür übrig, die Punch-Gun zu bedienen, dem Schnappen der Angreifer zu entgehen und beweglich zu bleiben.
Die Punch-Gun brauchte eine Dreiviertelsekunde für ihren Ladezyklus, und die Pausen zwischen den Schüssen waren die unglaublich längsten Dreiviertelsekunden, die er sich vorstellen konnte. Er hatte akzeptiert, dass er jede der Bestien praktisch durchlöchern musste, bis er einen Nervenknoten traf, aber die Frage war, wer zuerst dabei in Stücke ging. Er duckte sich vor einem ihn anspringenden Käfer weg, rollte sich durch dichtes Gestrüpp nach links, befreite sich von den Ästen und dem verfilzten Gras darunter, sprang einen Schritt zurück und feuerte. Die PunchGun machte POOUNK!, sein auserwähltes Ziel taumelte, Lintatai wallte ins Zentrum seines Gehirns, und sein Training drängte es wieder zurück. Der Kampf, der draußen ablief, und all die Verrenkungen, die mit ihm einhergingen, waren ein bloßer Schatten des Krieges in seinem Inneren, eines Krieges der Hormone gegen seine Selbstkontrolle. Es war genauso schwierig wie der Versuch, einen Orgasmus, der bei der geringsten Chance zum Durchbruch kommen konnte, unter Kontrolle zu halten. Nur dass dieser Orgasmus ihn töten würde.
Die Insekten huschten zurück, bildeten erneut einen Kreis um ihn. Er zog sich durch eine Lücke im Gras zurück, verzögerte das Unvermeidliche und wäre fast zwischen den dicht aus dem Boden sprießenden Gewächsen gestolpert, bis seine Punch-Gun wieder schussbereit war. Er schoss blitzschnell, wie man es ihm auf dem Ausbildungsplatz beigebracht hatte, richtete die Waffe auf den Kopf der nächsten Bestie, hoffte, sie zumindest zu betäuben, wenn nicht gar einen Glückstreffer zu landen. Der Tigerkäfer war im Laufen ausgestreckt und der Schuss traf ihn an seinem kurzen, aber frei liegenden Hals. Sein Kopf rollte zwischen seine Vorderbeine, blieb aber an einem sehnigen Faden zwischen den beweglichen Platten hängen. Trotzdem taumelte das Insekt und fing zu zucken an. Ein Abschuss. Eine Aufwallung von Tal hüllte alles in Tirdals Sichtweite in grelles Licht und er atmete wieder tief durch, roch den kupferartigen Gestank von Blut, den erdigen Geruch von Insekteneingeweiden und das beißende Ozon der Schüsse. Durch sie fokussierte er auf die Empfindungen. Die Ruhe des Sees sehen. Die Strömungen darunter. Nur leichte Wogen überspülen das Ufer …
Wieder durchzuckte ihn ein Schmerz, diesmal durch den rechten Schenkel. Sein Sinn war abgelenkt gewesen und hatte den Angreifer nicht wahrgenommen. Er schmetterte den Kolben seiner Waffe nach unten, riss die Kiefer heraus, die sich in sein Fleisch gegraben hatten, riss dabei Stoff und Fleisch mit, denen ein Strahl von Blutstropfen folgte. Anscheinend hatte der Schlag die Kinnlade der Bestie beschädigt, denn sie schien schief zu hängen. Ein Ruck zur Seite, zielen, schießen. Ein Schuss in das offene Maul tötete, wie es schien, ebenfalls, und eine weitere Aufwallung durchzuckte ihn. Den brennenden Schmerz in seiner Brust und am Bein verdrängend, sprang er über den Kadaver, der so groß wie ein Pferd war und dessen Beine in den Todeszuckungen auf den Erdboden trommelten, und wandte sich den verbleibenden drei zu, während die gepeinigten Nerven in seiner Schulter, seiner Brustplatte und seinem Schenkel seine ganze rechte Seite von der Schulter bis hinunter zum Fußknöchel verkrampften. Den Tigerkäfern schien die rationale Vernunft zu fehlen, eine Schlacht aufzugeben, die sie zu verlieren im Begriff waren. Oder sie waren am Verhungern. Oder Darhel roch wie Hühnchen. Sie würden jetzt springen, und Tirdal ließ sich fallen. Es war nicht schwer, die Arbeit der Schwerkraft zu überlassen.
Als sie sprangen, fiel er hinter den letzten Kadaver, dessen Beine immer noch zuckten und wie in einer makabren Liebkosung über ihn strichen. Als sie über ihm hinwegflogen, zielte er senkrecht nach oben, und sein Schuss traf einen von ihnen hinten an der Unterseite. Der Angreifer platzte auseinander, seine Hinterbeine und die zugehörigen Gelenke flogen davon; ein gelber Sprühregen und Eingeweide landeten auf einem zuckenden Haufen. Tirdal zog schmerzhaft die Füße unter sich und stieß dann so kräftig er konnte zu, arbeitete sich über den Kadaver und an dessen anderer Seite hinauf und drehte sich dabei zur Seite. Der Knöchel seines bereits verletzten Beins reagierte bei der Landung zu langsam, und er hörte ihn knirschen, spürte, wie das weiche Gewebe nachgab. Er drückte erneut ab, aber kein Schuss peitschte. Die Dreiviertelsekunde war noch nicht um gewesen. Das verbleibende Paar stob auseinander, und er feuerte, als die Waffe schließlich nachgeladen hatte, erwischte einen der Käfer schräg von unten, als der vom Boden abhob. Er ließ sich fallen und rollte sich dicht zu dem Kadaver hinter ihm, wartete, während die Waffe nachlud, auf den nächsten Angriff.
Der letzte Tigerkäfer rannte los, als er aus dem Sprung kam, und verschwand.
Tirdal tat, was jeder Mensch in seiner Lage auch getan hätte. Er atmete langsam und kontrolliert, zwang seine Brustplatte, ihm zu gehorchen. Das allein schon verringerte den Schmerz etwas, und er rollte sich in eine bequemere Haltung ein. Besser wäre es gewesen, abgeknickt zu sitzen, aber im Feld wurde jede Position bevorzugt, die bei einer Verletzung half. Er verdrängte seine Gedanken und ließ sich einen Augenblick lang treiben, zerrte sich vom Rand der Bewusstlosigkeit zurück. Die Klippe markiert den Rand. Auf dem Rand kann man gehen. Vom Rand kann man in die Ferne blicken. Dahinter ist Sicherheit. Sehe dich nicht um, blicke über den Rand zur Furcht … jetzt kehrte er zurück, genügend klar, um das Lintatai zu fühlen, und spaltete sein Bewusstsein, um sich damit auseinander zu setzen. Der Wind bewegt die Blätter, lässt sie rascheln. Die Blätter schwenken den Baum. Der Baum beugt sich, aber er gibt nicht nach. Der Baum ist gelenkig. Das Bewusstsein ist gelenkig. Emotionen sind bloß Blätter im Wind des Daseins …
Eine klaffende Wunde an seinem Schenkel und ein verstauchter Knöchel. Erstere erforderte einen selbst heilenden Verband. Er schnitt etwas von dem beschädigten Anzug weg und achtete dabei darauf, dass das Loch so klein wie möglich blieb, um den Schutz, den der Anzug bot, nicht zu sehr zu beeinträchtigen. Dann zwängte er den Verband hinein, drückte ihn vorsichtig an den Rändern fest und strich dann außen darüber, um ihn zu aktivieren. Der Verband würde die Wunde desinfizieren, die Blutung zum Stillstand bringen und Nanniten absetzen, die die Reparatur durchführen konnten. Sie würde in einem Tag geheilt sein, falls er ausruhen und essen konnte. Aber das kam natürlich nicht infrage.
Er stemmte sich mühsam auf die Knie hoch, dann auf die Füße, setzte dabei die Arme und die Punch-Gun als Stützen ein, drückte sich ein Pflaster auf den Hals und injizierte damit ein schwaches, den Schmerz stillendes Mittel und zusätzliche Nanniten in seinen Blutstrom. Eigentlich hätte er das Darhel-Äquivalent eines Narkotikums gebraucht und etwas, um seine Muskeln zu entspannen, aber auch das kam natürlich nicht infrage.
Die Kratzer und Risse würde er ignorieren müssen. Es war Zeit, sich in Bewegung zu setzen. Er taumelte davon, arbeitete sich tiefer ins Gebüsch.
Dagger kauerte am Boden. Als er unten am Hügel angelangt war, hatten die Schüsse aufgehört. Das konnte bedeuten, dass der Elf tot war, vielleicht aber auch nur verletzt, oder dass er in dieser Auseinandersetzung den Sieg davongetragen hatte. Jedenfalls musste er wieder vorsichtig sein. Der Darhel steckte mit Sicherheit in diesem dichten Gebüsch, und da gab es keine andere Wahl, als sich langsam mit schussbereiter Waffe hineinzuarbeiten und sofort das Feuer zu eröffnen, wenn sich etwas bewegte. Dies musste bald ein Ende finden, und der Zeitpunkt war jetzt ausgesprochen günstig. Vermutlich war der Darhel noch ein wenig desorientiert und möglicherweise auch verletzt. Sogar höchst wahrscheinlich verletzt. Er hatte eine Menge Schüsse gehört, was auf ein Raubtier hindeutete.
Also galt es, nach Raubtieren und einem verwundeten Darhel Ausschau zu halten. Schieß auf beide und stell nachher Fragen, dachte er, während er mit dem Gewehrlauf Äste und Zweige wegschob. Das Unterholz war dicht und ineinander verwachsen, und er würde sehr vorsichtig sein müssen. Aber zunächst brauchte er einen Hinweis, wo Tirdals Spur begann. Und von dieser Stelle ausgehend, konnte er sich dann an ihn anschleichen. In diesem Unterholz würde der kleine Scheißer praktisch nicht ausweichen können.
Dagger lächelte verkniffen, während er sich seinen Weg bahnte. Er schob vorsichtig Äste weg, zwängte sich unter ihnen durch und ließ sie dann wieder sinken, um möglichst Geräusche zu vermeiden. Jeder Schritt wurde gründlich überlegt, ehe er den Fuß aufsetzte. Er drehte und wand sich beim Gehen, um, wo immer das ging, eine Berührung mit den Büschen zu vermeiden und so möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Die Sonne brannte heiß, fliegende Insekten huschten an ihm vorbei, von seinen Schritten aufgescheucht, und Schoten und Samen blieben ihm an Haut und Kleidung hängen. Im Gegensatz zu den meist stacheligen Samen, die es auf der Erde gab, war hier alles klebrig. Das lag vermutlich daran, dass die meisten Lebensformen Panzerschalen hatten und nicht etwa Pelz oder Federn.
Dann stieß er auf einen abgeknickten Stock. Und daneben eine platt gedrückte Stelle im Gras. Dort ein ungedrehter, abgefaulter Baumstamm. Ohne Zweifel eine Spur. Das war Dagger sofort klar. Auf einem hohen Grashalm glitzerte ein Tropfen violetten Bluts.
Er lächelte; ein betrunkener Blinder konnte dieser Spur folgen. Da waren abgeknickte Halme von ungeschickten Schritten, abgerissene Blätter, weil sich da jemand durchgezwängt hatte. Jetzt galt es nur noch eine gute Position zu finden, um den Darhel zu erledigen. Nach der Blutspur zu schließen, würde der Alien allerdings wohl keine große Herausforderung mehr darstellen. Weitere violette Tropfen und klebrige Schmierer zeigten, dass er verwundet war.
Wenn Dagger die während des Kampfes verwüstete Fläche gesehen hätte, die so aussah, als ob dort ein Tornado gewütet hätte, wenn er die sechs in Stücke gerissenen toten Tigerkäfer gesehen hätte, wäre er sich wohl seiner Sache nicht so sicher gewesen.
Tirdal würde mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo Unterschlupf suchen, um sich zusammenzuflicken und auszuruhen. Möglicherweise hatte er bei dem Kampf größere Verletzungen davongetragen. Vielleicht hatte er sich ein Bein verstaucht oder sonstige Schäden davongetragen. Sogar eine Gehirnerschütterung war möglich, falls es bei Darhel so etwas gab. Schock. Alles Dinge, die ihn langsamer machen würden. Dagger würde sie sich alle zunutze machen, den Alien finden und ihn erledigen. Er würde ruhig und methodisch vorgehen, eben professionell, und sich anschließend diebisch freuen.
Er konnte sich seine Gefühle bereits ausmalen. Schließlich war das eine verdammt anstrengende Jagd gewesen und ein widerwärtiger Kampf. Das machte den bevorstehenden Sieg nur umso erfreulicher.
Die lokalen Aasfresser hatten hinter beiden Kombattanten die Spuren des Kampfes entdeckt. Schnüffelnd und mit zuckenden Antennen rückten sie vor, um das Gelände zu erforschen. Es gab hier reichlich Protein, sechs große, wohl genährte Räuber tot, und ihre Panzer waren bereits offen. Das Fleisch würde in immer kleiner werdenden Portionen wirksam weggeschafft werden, und die ameisenähnlichen Legionen würden die Skelette sauber scheuern. Dann würden die Bohrinsekten die Skelette in kleine Stücke zerlegen, und zu guter Letzt würde die Sonne die Strukturen weiter aufbrechen, bis daraus Erde wurde. Aber für den Augenblick galt es, das Festmahl schnell zu genießen, bevor andere Räuber ihnen das Recht dazu streitig machten. Die meisten von ihnen zerrten und rissen an den toten Tieren, aber die ganze Fläche wimmelte geradezu von Hungrigen, und das Blut war weithin verspritzt worden. Einiges von diesem Blut war interessant, war anders, fremdartig. Wie mochte wohl eine so fremdartige Kreatur schmecken, wenn sie tot war?
Die Anführerin eines Rudels zirpte und strich mit ihren Antennen über ihr Gefolge. Dann trotteten sie hinter ihr her durch das Unterholz, folgten dem Geruch jenes fremden Bluts. Einer hielt kurz inne, um sich einen letzten Bissen Tigerkäfer zu schnappen.
Tirdal konnte den Scharfschützen auf seiner Spur fühlen; der Nervenkitzel der Jagd ließ Daggers Kontrolle schwinden. Nicht, dass es etwas zu bedeuten gehabt hätte; er konnte nicht viel dagegen unternehmen. Er hatte ja zugegebenermaßen damit gerechnet, dass Dagger ihm folgte, aber Tirdal hatte nicht damit gerechnet, dass etwas ihm den halben Schenkel wegbeißen würde.
Er durchquerte erneut den seichten Fluss und kletterte am anderen Ufer hinauf, diesmal auf einen trockenen Felsvorsprung, der vielleicht helfen würde, seine Spuren zu verwischen. Er griff an sich hinunter, um sich seinen Verband zurechtzuschieben. Im Augenblick hatte er mit einer ganzen Menge Probleme zu tun; mehrere Verletzungen, erschöpfender Schlafmangel, das Tal-Hormon, das ebenfalls auf Verletzungen reagierte, die allgemeine Anspannung – und zu allem Überfluss hatte er den ganzen Tag nichts gegessen. Aber im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als sich niederzukauern und zu versuchen, den geplanten Hinterhalt vorzubereiten.
Als er das Wasser überquert hatte, eilte er auf dem Weg, auf dem er gekommen war, ein Stück retour und kehrte dann in einem weiten Bogen zum Fluss zurück. Er konnte fühlen, wie Dagger näher rückte; seine mentale »Witterung« war nicht zu übersehen. Aber die Zeit sollte ausreichen, um in Stellung zu gehen. Was auch immer geschah – auf diese Distanz sollte der Vorteil bei ihm liegen.
Dies hier war eine gute Stelle, entschied er. Massiver Fels würde ihm gewissen Schutz vor dem Gauss-Karabiner liefern. Auf der anderen Seite gab es kaum etwas, hinter dem Dagger sich verstecken konnte und in das eine Punch-Gun nicht riesige Löcher zu schlagen imstande war. Und wenn Dagger versuchte, den Strom zu überqueren, würde er ihm ungeschützt ausgesetzt sein. Besser konnte es gar nicht werden.
Wenn auch Tirdal nicht über spezielles Peilgerät verfügte, gab es doch Bewegungssensoren, die in seinen Anzug eingebaut waren. Er schaltete langsam die Empfindlichkeit hoch, sodass die Sensoren alles, was schwerer als zwanzig Kilogramm war, registrieren konnten. Das war ein wenig übertrieben, aber er war sich nicht sicher, wie gut Dagger sich auf das Anschleichen verstand. Möglicherweise würde seine Audio- oder Bewegungssignatur ziemlich klein sein. Zwanzig schien ihm eine gute Zahl.
Dann dichtete er seinen Anzug ab. Handschuhe und Stiefel schlossen sich hermetisch an den Aufschlägen an. Eine Membran fiel aus seinem Helm und schloss sich am Hals an. Das Gewebe des Anzugs versteifte sich auf molekularer Ebene und wurde undurchdringlich. Tirdal trug jetzt eine fast massive Barriere, die es jedem genetischen oder chemischen Scan unmöglich machen sollte, ihn zu lokalisieren. Nur das Loch an seinem Schenkel stellte ein Leck dar, aber dagegen ließ sich nichts machen. Er lehnte sich gegen den Felsen und schaltete den Chamäleoneffekt langsam hoch. Auf niedrigem Niveau war das eine nicht leicht wahrnehmbare Energiequelle und würde ihn, solange er sich nicht bewegte, fast unsichtbar machen.
Natürlich steckte er jetzt in einer Art Dampfkochtopf. Die Luft war dick und feucht und würde noch schlimmer werden, weil nur Kohlendioxid nach draußen abgegeben wurde. Die ankommende Strahlung und Hitze, die nicht abgestrahlte Körperwärme, der Schweiß und die Feuchtigkeit, die er ausatmete, würden ihn kochen. Schon jetzt war es unangenehm in dieser Umgebung, die heißer war als die, die er gewöhnt war, aber er schätzte, dass er mindestens eine Stunde überleben konnte, wenn er seine Aktivitäten auf ein Minimum herabschraubte. Ein wenig Jem-Meditation zur Abwechslung einmal ohne den Einsatz von Tal ließ ihn die Unbequemlichkeit weniger zur Kenntnis nehmen.
Langsam schraubte er sein Wahrnehmungsvermögen wieder hoch. Er würde sehr gut aufpassen müssen, bis er Dagger lokalisiert hatte, und anschließend seinen Sinn zurückziehen und Augen und Ohren gebrauchen müssen. Wenn es zu einem direkten Schuss kam, würde er alles andere sperren und auf das Beste hoffen müssen. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er töten konnte, aber es würde schon ausreichen, Dagger eine ernsthafte Verstümmelung zuzufügen, und selbst wenn es nur eine bescheidene Verletzung war, würde sie doch dafür sorgen, dass Dagger und das Artefakt hier blieben. Das war zwar nicht gerade die optimale Lösung, aber immerhin akzeptabel und besser, als wenn die Box den Planeten verließ.
Seine Wahrnehmung steigerte sich langsam, und da war jetzt Dagger, schlich sich »aus der Nähe« an. Also befand er sich vermutlich auf der anderen Seite des Flusses. Tirdal fokussierte sich darauf. Er würde eine sofortige Warnung vor irgendwelchen Raubtieren bekommen, und das würde ausreichen, da er sich einfach nicht weiter ablenken lassen durfte. Jetzt war in seinem Sinn nur für Dagger Platz. Nichts, was ihn ablenkte, nichts, was noch mehr Tal erforderte. Das Rinnsal, das er benutzte, war schon gefährlich genug, wenn man bedachte, was schon alles geschehen war.
Jetzt hieß es warten.
Das Rudel erkannte, dass die Beute zu der Kreuzung gegangen war, und kannte eine Abkürzung. Ihm war bewusst, dass vor ihm zwei Gerüche waren, aber es konnte damit rechnen, wenigstens einen davon zu überholen, ehe es den Strom erreichte. Dann würden sie fressen. Sie fraßen, wo sie Nahrung finden konnten, und griffen nur die Schwachen an. Das war ihre Rolle. Das weibliche Alpha-Tier sorgte mit chemischen Ausdünstungen dafür, dass die anderen bei der Sache blieben. Verwundete Beute konnte gefährlich sein, und möglicherweise würden alle gebraucht werden, um die Beute zu überwältigen. Es war sogar möglich, dass ein oder zwei von ihnen starben. Dann würden auch sie Nahrung werden. In den Geschöpfen war nur wenig Gedanke, nur Hunger und Konzentration.
Dagger sah auf sein Headup-Display und runzelte die Stirn. Der Strom lag vor ihm; die Spur überquerte ihn vermutlich. Er würde dort sehr vorsichtig sein müssen; das war eine gute Stelle für einen Hinterhalt. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass Tirdal nicht auf ihn schießen konnte, auch wenn bis jetzt vieles diese Annahme gestützt hatte. Hier waren keine Felsvorsprünge, die man dazu bringen konnte, auf ihn zu fallen, auch keine Bäume, die auf ihn stürzen konnten. Die Erinnerung beeinträchtigte einen Augenblick lang seine Konzentration, aber er unterdrückte seinen Zorn. Ruhig. Ruhig bleiben. Ziel ausfindig machen, Ziel erschießen, Punkte für das Team sammeln. Nur eine Übung, eine Übung wie so viele andere.
Ja, die Spur führte zu den schlammigen Ufern des Stroms. Das Ziel war dort hinübergesprungen, hatte keine Fußabdrücke hinterlassen, wohl aber niedergetretenes Gras und einen Wirbel von aufgewühltem Schlamm im Wasser. Das konnte nur ein paar Minuten zurückliegen. Das Ziel war irgendwo dort drüben.
Dagger war jetzt voll auf der Hut, projizierte eine menschliche Version von dem, was bei Tirdal Sinn hieß. Etwas, das weder ausgebildet noch besonders kompliziert war – nur dass für ihn alles, was hier nicht so war, wie es sein sollte, eine Warnung bedeutete. Er ließ sich langsam bis zu den Knien einsinken, ließ sich dazu mehr als eine Minute Zeit. Für seinen Knöchel war das recht schmerzhaft, auch für seine überstrapazierten und erschöpften Muskeln, aber es war notwendig.
Kniend beugte er sich ganz langsam vor und stützte eine Hand auf den Boden. Jetzt war alles nur noch eine Frage der Geduld. Es dauerte mehr als fünf Minuten, bis er schließlich mit seiner Position zufrieden war. Eine weitere Minute verstrich, ehe der chamäleonisierte Lauf seines Gewehrs zwei Grashalme auseinander schob und jetzt über den Strom gerichtet war.
Okay, Ziel. Wo bist du? Ich brauche die Punkte, um zu gewinnen.
Tirdal ließ sich seufzend auf seinem Felsen nieder. Da war nichts, was ihn zu fressen versuchte, für den Augenblick niemand, der ihn zu töten versuchte. Bloß eine große Kalksteinplatte und Erde. Und kurz darauf ein Scharfschütze, der versuchen würde, ihn zu töten. Er atmete langsam und gleichmäßig, und sein Überbewusstsein kontrollierte den Schmerz und die steigende Kerntemperatur, während er gleichzeitig mit seinen normalen Sinnen seine Umgebung beobachtete und nach irgendwelchen Gefahren absuchte. Sein Unterbewusstsein mit seinem Sinn war wachsam und arbeitete daran, ihn zu heilen. Zu diesem Zeitpunkt konnte man das möglicherweise sogar als Schadenskontrolle ansehen. Jedenfalls war damit auch ärztliche Versorgung und Wiederherstellung verbunden.
Kleine Käfer und ameisenähnliche Tiere krabbelten über seine Stiefel und seinen Anzug. Er hielt sich völlig ruhig, sodass sie ihn für einen Teil des Geländes halten konnten. Einen seltsamen, unsichtbaren Teil zwar, aber nicht ungewöhnlich genug, um so empfindliche, aber nicht vernunftbegabte Kreaturen zu stören. Für ihn gab es jetzt nichts zu tun als warten, bis Dagger von »nahe« nach »sehr nahe« vorrückte, es sei denn, es stellte sich schon früher ein Bild bei ihm ein.
Dagger war fast nahe genug, um sehen zu können, ob Tirdal sich aufrichtete, aber immer noch vom Buschwerk verdeckt. Die Punch-Gun wurde vom Gebüsch nicht beeinträchtigt, aber Tirdal wollte ganz sicher sein, dass er einen guten Schuss absetzen konnte. Also zwang er sich zur Ruhe und wartete darauf, dass seine Nemesis deutlich sichtbar wurde oder sich durch einen Schuss verriet.
Dagger war in perfekte Schießtrance versunken. Er war sich dessen natürlich nicht einmal bewusst. Bewusst war er sich lediglich der Tatsache, dass das Ziel sich dort drüben versteckt hielt, wahrscheinlich hinter diesem Felsen. Ob er ein paar Hornissengeschosse abschießen sollte und sehen, was dann geschah? Aber vielleicht gab es zusätzliche Deckung, die er nicht sehen konnte. Hornissen waren keine Zauberei; häufig lenkten sie bloß ab. In letzter Zeit zu häufig. Einen Augenblick lang störte die Erinnerung daran seine Ruhe, doch dann verdrängte er sie und befand sich wieder in Trance. Am besten war es, auf einen guten, sauberen Schuss zu warten. Er schob sich ein paar Zoll weiter vor, um sein Sichtfeld zu verbessern.
Das Rudel konnte die Beute riechen, aber sie waren argwöhnisch. Dies war vermutlich die »Beute«, die das Rudel Tigerkäfer getötet hatte. Und die Gerüche stimmten nicht. Aber es war der Geruch von Protein, der Geruch von Fleisch. Also war es die Gefahr wert, die Beute anzugreifen; Fleisch war schwer zu finden. Es mochte gefährlich sein, aber Hunger trieb sie. Sie verstanden sich auch darauf, sich behutsam und vorsichtig anzuschleichen. Das Alpha-Tier zog die Beine ein und tastete vorsichtig mit den Antennen nach vorne. Nichts bewegte sich, obwohl verwundete Tiere häufig so lange fast unbewegt blieben, bis sie angegriffen wurden. Da war etwas, nicht sehr groß offenbar, aber jedenfalls irgendein Lebewesen. Das Alpha sprühte ein Hormonsignal zu den anderen und zwängte sich zwischen zwei weiteren Grashalmen nach vorn.
Die chemische Peilfunktion des Teleskops war ausgefallen. Das Ziel hatte offenbar dicht gemacht, aber der Dunst sollte immer noch in der Luft liegen, besonders nach größerer Anstrengung. Schweiß, in den sich Ketone und Pheromone mischten, verteilte sich nur langsam. Also lauerte das Ziel in der Nähe, vermutlich hinter jenem Felsen auf der rechten Seite, und wartete darauf, dass Dagger sich zeigte oder schoss. Wo genau?
Daggers Helm markierte eine kleine IR-Spur als mögliche Bedrohung, aber er unterdrückte jede Aufwallung von Gefühl. Das Ziel wartete darauf, dass er ganz sichtbar wurde, ehe er schoss. Und das würde sein Untergang sein. Dagger würde von hier aus schießen. Und dann würde er sich ein Stück nach rechts bewegen und erneut schießen und sich um jene Deckung herumschleichen. Das war es. Was dort drüben als Flackern sichtbar war, konnte ein Kopf oder eine Hand sein, aber ein Antimateriegeschoss würde es unweigerlich in Stücke reißen. Er schob den Wählhebel mit dem Daumen hoch, atmete, entspannte sich und drückte ab.
Über ihm splitterten Felsstücke ab, stachen durch seinen Anzug, wenn sie ihn auch nicht durchdrangen. Tirdal verfluchte die Aldenata, die ihn in diese scheußliche Lage gebracht hatten, presste sich flach gegen den Felsen und duckte sich dann noch weiter. Dagger hatte ihn hier festgenagelt, aber das galt auch umgekehrt. Wenn er einen Schuss abfeuern konnte, würde er den Scharfschützen wahrscheinlich erledigen. Zur Zielscheibe würde er nur werden, wenn er versuchte, sich zu bewegen. Aber … man konnte die Punch-Gun so einstellen, dass sie ihr Signal an die Helmsysteme weitergab. Sofort koppelte er das Visier der Punch-Gun an sein Headup-Display und löschte die Direktsicht. Er konnte es blitzschnell zurückschalten und brauchte im Augenblick nicht zu sehen, was um ihn herum vorging, aber er musste sehen, was die Waffe sah. Wenn er sie jetzt vorsichtig um den Felsen herumschob …
Dagger gab einen weiteren Schuss auf die Position des Darhel ab und grinste. Klar, wenn der Darhel auch nur einen brauchbaren Schuss absetzen konnte, war er tot; gegen eine Punch-Gun gab es so etwas wie »Deckung« nicht. Aber für die Stelle, die der Darhel sich ausgewählt hatte, gab es keine Möglichkeit, nach hinten wegzukriechen, und nach vorn konnte er auch nicht, also lief alles darauf hinaus, wer das Warten länger ertrug. Und ein Scharfschütze ist so etwas wie der Inbegriff von Geduld, gleichsam ein Synonym dafür. Eine weitere schwache Störung, und er schoss wieder auf den Rand des Felsbrockens. Erneut flogen die Splitter auf.
Er unterdrückte das Gefühl überschäumender Freude, als der Wärmesensor seitlich eine Bewegung wahrnahm. Er sah, wie sich die Waffe des Darhel um den Felsen herumschob, und sein Finger krümmte sich, suchte den Druckpunkt am Abzug …
Das Rudel hielt inne, als es den Knall hörte und gleich darauf das Rascheln. Wieder waren es fremdartige Geräusche. Doch Fleisch war Fleisch. Ihre Antennen zuckten, nahmen die Gerüche im Osten wahr. Nahe, sehr nahe war dieses Fleisch. Verlockend. Und das nicht sehr große Lebewesen bewegte sich kaum.
Tirdal verfluchte seinen dummen Übereifer, als ihm die Waffe aus der Hand flog und in zwei großen Stücken mit heraushängenden Eingeweiden auf den Boden fiel. Die Außenwände der Waffe waren zäh, aber darauf nimmt Antimaterie keine Rücksicht. Er kauerte sich nieder und zog vorsichtig seine Rail-Pistole aus dem Halfter, das er über der Wunde an seinem Schenkel trug. Eine letzte Chance. Und die Waffe einzusetzen war wirklich schlecht, weil das EM-Feld, das sie beim Schießen abstrahlte, für jeden Sensor deutlich auszumachen war. Doch sie war alles, was er hatte. Ruhig. Er musste ruhig bleiben. Die sich kräuselnden Wellen spiegeln die Klarheit des Himmels wider. Die sich kräuselnden Wellen sind stetig und gleichmäßig. Die sich kräuselnden Wellen warten auf das Ufer, sie stürmen nicht ihrem Schicksal entgegen.
Das Rudel verhielt. Sie waren Aasfresser, keine Räuber. Aber diese weiche Beute würde keine Bedrohung darstellen. Einen Augenblick lang bewegten sich ihre Antennen unschlüssig hin und her, dann sprangen sie.
Die erste Warnung, die Dagger erreichte, war das raschelnde Geräusch hinter ihm, als die Mistkäfer angriffen, die etwa so groß wie ein Hund waren. Ihre Kiefer waren noch überdimensionierter als die Räuber selbst, dazu bestimmt, schnell Fleischbrocken von kürzlich getöteten Opfern zu reißen. Der erste Käfer packte sein linkes Bein und biss den Fuß am Knöchel ab, durchbiss das zähe Gewebe des Anzugs. Ein anderer riss ein Loch in seinen Schenkel. Er nahm keine der beiden Wunden sofort wahr, sie waren zu schnell, zu sauber herausgeschnitten, als dass sich ein bewusster Gedanke hätte anschließen können.
Und dann rissen und zerrten sie überall an ihm. Große Fetzen, kleine Fetzen, Kiefer, die sich durch das Gewebe sägten, fetzten, seine Haut, seine Muskeln wegrissen, am Knochen entlangscharrten. Er schlug in instinktiver Reaktion um sich, versuchte sein Gewehr herumzureißen, und erkannte, dass dafür kein Platz war. Also griff er nach seiner Pistole.
Als Tirdal den schrillen Schrei hörte, erstarrte er. Dann spähte er um den Rand seiner Deckung herum, hörte die schnell hintereinander peitschenden Pistolenschüsse. Er registrierte, was geschah, und lehnte sich zurück, um zu warten. Dagger war beschäftigt. Es würde interessant sein, seine Fähigkeiten in dieser Art von Kampf mit denen Tirdals zu vergleichen. Aber am besten wartete er, bis der Kampf zu Ende war, ehe er erneut hinüberspähte. Tirdal lauschte den knirschenden Geräuschen der Büsche, hörte die Flüche, die Schreie und die Schüsse. Und dahinter, kaum hörbar, das Zirpen und Scharren von Super-Chitin. Er erinnerte sich, dass Pistolen eigentlich bei diesen Kreaturen überhaupt keine Wirkung zeigten, und es klang nicht so, als ob Dagger versuchte, Deckung zu suchen oder auszuweichen. Nach all seinem Argwohn war dies jetzt der Beweis, dass der Mann wirklich zu feige war, das wahrhaft Tapfere zu tun. Sein mentaler und physischer Mut wurde durch emotioneile Feigheit aufgewogen, die zu diesem Ergebnis führte … in nur wenigen Sekunden wurden die Schüsse seltener, die Schreie leiser. Und kurz darauf erstarben sie zu einem rasselnden Stöhnen.
Als Tirdal schließlich herauskam, herrschte im Wald wieder gespenstische Stille. Ein Blick verriet ihm, dass das Rudel und Dagger miteinander in etwa fertig waren. Einige waren geflohen. Und die zurückgebliebenen Kreaturen kauten noch an irgendwelchen Teilen Daggers.
Er überquerte vorsichtig den Fluss und näherte sich ihnen von stromaufwärts, entdeckte das aufgewühlte Gebüsch, wo der Kampf stattgefunden hatte. Er kroch hinein, lauschte nach Daggers Gedanken, fand dort aber nur noch den Grundkern einer Persönlichkeit. Der Mann war schwer verletzt. Trotzdem kroch er auf ihn zu, nur von ausgetrockneten, knisternden Bäumen geschützt. Er hielt die Pistole schussbereit, für den Fall, dass ihn irgendetwas angreifen sollte. Sein Sinn war auf ein Minimum gedrosselt, das Tal zu einem Rinnsal kontrolliert, um zu verhindern, dass die Rückkopplung eines Todes ihn über den Rand schleuderte.
Da lag Dagger, und er war am Ende, blutüberströmt. Ein paar Steine und zwei sorgfältig gezielte Schüsse vertrieben die wütend zirpenden Aasfresser, die einem, wie es ihnen schien, überlegenen Räuber das Feld räumten. Sie waren sich ihrer Kaste bewusst, ihrer Einordnung auf der natürlichen Hackordnung dieses Planeten und zogen ab, zerrten Teile Daggers mit.
Tirdal nahm der zuckenden Gestalt Daggers den Gauss-Karabiner weg. Die Pistole lag bereits neben ihm, fest umklammert von der abgeschnittenen Hand des Killers.
Killer, Verräter, Quisling, Renegat. Menschen hatten für diese Art des Verrats eine reiche Sammlung von Worten. Sie verachteten Darhel, die um der Ehre willen stets einen einmal geschlossenen Kontrakt erfüllten, aber nichts Unrechtes daran sehen konnten, »einander gegenseitig zu betrügen« oder »einen reinzulegen« oder »einen runterzujuden«. Der letzte Begriff hatte einiger Recherchen bedurft, und anschließend hatte Tirdal sich mit dem Konzept des Rassismus auseinander setzen müssen, ehe er ihn begriff. Ganz verstand er ihn immer noch nicht. Das war auch etwas, was weiterer Meditation bedurfte.
Doch zurück zum Naheliegenden. Tirdal starrte Dagger einen Augenblick lang an und lächelte dann; ein Lächeln, das nur aus Zähnen bestand. Seine Ohren zuckten, ließen erkennen, dass er die Ironie der Situation genoss. Dann begann er damit, der reglosen Gestalt, die da vor ihm lag, Druckverbände anzulegen. Schließlich war er auch als Sanitäter ausgebildet worden.
Wie durch einen Nebel erwachte Dagger allmählich zu neuem Bewusstsein. Schmerz pulste durch jede Faser seines Wesens. Sein Schädel dröhnte von den Prellungen, die er abbekommen hatte, und den Hormonen, die miteinander im Widerstreit lagen. Widerlicher Gestank lag in der Luft, Blut, Urin und verbranntes, verwesendes Fleisch. Er erkannte, dass der Gestank von ihm ausging. Als er versuchte, die rechte Hand zu heben, um sie über die Augen zu legen, entdeckte er aufs Neue, dass sie an seinem Handgelenk fehlte. Der Stummel stieß gegen seine Wange, hinterließ dort einen Schmierer aus geliertem Blut. Es tat nicht sehr weh; die Kompresse an seinem Arm hatte den Schmerz und das Fleisch darunter getötet. Andere Empfindungen deuteten auf kleine Insektoiden unter den Verbänden, die ihn mit jedem winzigen Biss quälten. Sein linkes Bein war unter dem Knie weg, stellte er fest, als er versuchte, sich zur Seite zu wälzen. Es war ebenfalls abgebunden. Schmerz definierte sein ganzes Wesen, scharfe Stiche und Bisse, die alle nach seiner Aufmerksamkeit verlangten. An seinem gesamten Körper fehlten Fleischbrocken, und die ausgefransten Wunden waren verbunden, aber nicht taub. Er wälzte sich unsicher zur Seite, unterdrückte mit eiserner Kontrolle seine Schreie, nur ein gequältes Wimmern entrang sich seinen Lippen. Jede Berührung mit den steifen Gräsern und spitzen Blättern um ihn herum tat aufs Neue weh, und er sah seine Umgebung durch einen roten Schleier, der die Folge der Schmerzen, vielleicht auch von Blut in seinen Augen, sein konnte.
Andere Tiere würden kommen, größere, und das bald, angelockt von dem fremdartigen, süßlichen Geruch seines Fleisches. Er würde sein Gewehr brauchen. In ihm baute sich ein Lächeln auf, auch wenn es nicht bis zu seinem Gesicht gelangte. Der verdammte Elf hatte es nicht fertig gebracht, ihn zu töten. Das Lächeln verzerrte sich zu einer Grimasse. Er griff nach dem Gewehr. Auch wenn er bloß noch seine linke Hand hatte, konnte er doch noch schießen.
Es war weg. Die Vertiefung im Gras und die aufgewühlte Erde, wo es sich eingegraben hatte, waren neben ihm sichtbar. Das Gewehr nicht.
Seine Pistole war da, immer noch umklammert von den zerfetzten, glitzernden Brocken aus Knochen und zerfetztem Fleisch, die einmal seine rechte Hand gewesen waren. Und darunter lag ein Zettel.
Die Schrift darauf war in makellosen Blockbuchstaben, wie von einem Ingenieur geschrieben. Oder von jemandem, der Englisch als zweite Sprache gelernt hatte. Auf dem Zettel stand: »Ich habe dir eine Kugel dagelassen. Tirdal San Rintai.«
Aus den Büschen rechts von ihm kam ein Rascheln und gleich darauf ein Zirpen.
Diesmal unterdrückte Dagger seine Schreie nicht.