18

Was machte dieser Elf denn da? Er war am Ostrand der Savanne entlanggegangen, die so aussah, als wäre sie ein ausgetrockneter See, war dann schnell nach Westen und dann schließlich weiter nach Norden abgeschwenkt. Jetzt ging er wieder nach Westen. Langsam. Trottete eher im Zickzack dahin, statt sich geradlinig zu bewegen. Und das die ganze Zeit auf der Savanne. Er müsste doch wirklich ein besseres Taktikverständnis haben.

Dagger hatte einen einzeln stehenden Baum gefunden und war an ihm hochgeklettert, um besser sehen zu können. Im Allgemeinen schoss er nicht gerne von Bäumen aus. Wenn man dort entdeckt wurde, gab man eine perfekte Zielscheibe ab, und selbst wenn man nicht entdeckt wurde, war ein Baum ein recht gefährlicher Standort. Da war es schon besser, man kauerte sich irgendwo auf dem Boden nieder. Aber man tat, was man eben tun musste, und auf der Savanne wuchsen hohes Pseudogras und Büsche durcheinander; wenn man sich da nicht einen Höhenvorteil verschaffte, konnte man kaum etwas erkennen. Er warf einen Blick auf sein Peilgerät und versuchte dann, die angepeilte Stelle mit bloßem Auge auf der Savanne auszumachen. Der Punkt war mehrere Kilometer entfernt, und das Terrain war nicht ganz eben … Hm, nichts zu entdecken, das wie der Darhel aussah. Da war wieder diese Herde dieser verdammten Käferbiester, die ihm schon vorher dazwischengekommen war. Vielleicht hielt sich der Darhel zwischen ihnen auf. Das war gar keine so schlechte Taktik. Dagger würde näher herangehen müssen, um auf ihn schießen zu können, und das würde gar nicht so einfach sein.

Er drehte die Vergrößerung seines Zielfernrohrs höher und stieß einen Fluch aus. Die Box war auf dem breiten, grauen Rücken eines dieser verdammten Pflanzenfresser befestigt.

Ohne nachzudenken war er bereits nach unten unterwegs. Der Darhel würde ohne Zweifel bereits zu ihm unterwegs sein. Aber er konnte nicht töten. Das war etwas, was alle Menschen über die Darhel wussten: Selbst wenn sie noch so üble Burschen waren, sie konnten nicht töten.

Trotzdem passte ihm das überhaupt nicht.

Warum hatte dieses Arschloch nicht den Anstand, endlich abzukratzen?

Tirdal hielt inne und atmete ein paarmal durch. Das war wirklich ein Spiel mit dem Feuer. Das Tal reagierte auf Hass, Furcht und Aggression, eben auf sämtliche Dämonen, die in der Darhel-Seele lauerten.

Und es verstärkte sie, erzeugte eine Rückkopplungsschleife. Jetzt, auf der Fährte seines ersten Tötungsobjekts, musste Tirdal das Glinak immer wieder in seine Höhle zurückdrängen. Wenn es schon so schlimm war, sich an den Scharfschützen anzuschleichen, würde es wirklich gemein werden, wenn die Zeit für … für … für die … Tötung kam.

Und darüber hinaus würde er einer ganzen Anzahl von Schüssen ausweichen müssen. Aber es war trotzdem besser als eine Patt-Situation, besser, als wenn er hier gestrandet zurückblieb und Dagger die Kontrolle über die Landeplätze der Kapsel hatte, oder wenn sie beide strandeten und sterben mussten. Als letzte Zuflucht freilich war Letzteres immer noch vorzuziehen, besser, als Dagger das Artefakt zu überlassen. In dem Fall war Tirdal bereit, dem Tod ins Auge zu sehen. Es würde ein leichter Tod sein. Er brauchte bloß zuzulassen, dass Tal ihn ins Lintatai drückte, dann würde ihm völlig gleichgültig sein, was als Nächstes geschah. Freilich, wenn die Raubtiere dieses Planeten sich dann über ihn hermachten, würden sie ihn aus seiner Trance reißen, aber das ließ sich vermeiden, indem er sich in einer Höhle oder einer Bodensenke versteckte.

Tal war dennoch eine beachtliche Verlockung. Er brauchte es, und die erforderliche Dosis wurde immer größer, je mehr er Geschmack daran und dem damit einhergehenden Gefühl entwickelte. Ob man wohl auf die Weise Immunität aufbauen konnte? Die Wissenschaftler behaupteten, dass das unmöglich sei, aber Tirdal bewegte sich auf einem bisher selten erforschten Niveau. Wenn die Kontrolle der Grund dafür war, dann stellte das ihm als Individuum ein gutes Zeugnis aus, aber der Rasse würde es nicht helfen. Diese Gedanken beschäftigten ihn immer noch, als er sich schließlich erhob und seinen Marsch fortsetzte, geduckt dahintrabte, um die Deckung auszunutzen, die die hohen Gräser boten. Dass er dabei eine Spur von niedergetretenen Grashalmen hinterließ, war ihm unangenehm bewusst. Aber das ließ sich nicht verhindern.

Er rief sein Jem auf und atmete tief durch, baute die Kontrolle neu auf. Das Atmen schmerzte in seiner Brustplatte, ein Schmerz, der immer noch nicht nachgelassen hatte. Wenn er sich öfter hätte ausruhen können, wäre die Verletzung wahrscheinlich inzwischen geheilt. So hatte sich sein Zustand zwar gebessert, aber er würde später ärztliche Behandlung brauchen, andernfalls würde der unregelmäßig verheilte Sprung eine ständige Schwachstelle bleiben. Der stechende Schmerz an den Schultern war auch immer noch da, aber für den Augenblick war er nur mehr lästig, schließlich hatte er seine Traglast wesentlich erleichtert, indem er das Artefakt losgeworden war. Hunger nagte an ihm, nährte das Tal. Der Durst hatte ihm bis jetzt noch nicht zugesetzt; er war nahe am Wasser gewesen und hatte neue Vorräte aufnehmen können. Aber allmählich setzte ein Maß an Ermüdung ein, das bald Folgen haben würde, trotz des kurzen Nickerchens, das er sich gestattet hatte. Tal schien die Belastung des ganzen Körpers zu steigern und ihn darüber hinaus dazu zu veranlassen, mehr Energie zu verbrauchen.

Immer das Tal. Jegliches Problem in der Psyche der Darhel und ihrer Physiologie war auf Tal zurückzuführen. Wie sie es nur geschafft hatten, mit dieser Last so viel zu erreichen, einer Last, die sie ständig in die Tiefe zog, sinnierte er. Aber das waren Fragen für später. Und darüber hinaus ein Grund mehr, die Aldenata zu verabscheuen.

Im Augenblick war am allerwichtigsten, dass er in Bewegung blieb, bis Dagger reagierte und er das spüren und entsprechend darauf reagieren konnte.

Im gleichmäßigen Laufschritt eilte er nach Osten, ohne in irgendeiner Weise zu versuchen, seine Bewegung zu tarnen. Sein Kopf ragte über die hohen Grashalme hinaus und erzeugte in ihm das Gefühl, nackt und ungeschützt zu sein. Entweder würde Dagger ihn sehen und anfangen auf ihn zu schießen, oder er schaffte es, einen Bogen um ihn zu schlagen und ihn abzuschütteln, da Dagger ja keine Ahnung hatte, wo er sich befand. Zu weit durfte er sich freilich nicht entfernen, sonst würde sich Dagger einfach das Artefakt schnappen und damit verschwinden. Dann hatte er keinen Köder mehr und riskierte immer noch das Patt – und damit allein auf diesem Planeten zurückzubleiben. Aber ohne Risiko gab es keinen Gewinn.

Er hatte etwa dreihundert Meter zurückgelegt, als Dagger in seiner Wahrnehmung wieder verblasste. Vermutlich würde jetzt gleich ein Schuss kommen. Ein Teil seines Wesens drängte ihn, in Deckung zu gehen, aber er ließ sich nicht anmerken, dass er etwas bemerkt hatte, vielmehr atmete er tief durch und verlangsamte seine Schritte auf ein Tempo, das kein Denken erforderte, und griff mit seinem Sinn hinaus, während das Tal anstieg, bereit, zu reagieren.

Schuss abgefeuert!, rief sein Sinn ihm zu. Er warf sich seitlich auf den Boden, wälzte sich über sein Bündel und blieb reglos liegen, als von dem Projektil abgerissenes Gras und Blätterfetzen auf ihn herunterregneten. Der Knall der gequälten Luft ließ seine Ohren klingeln und hallte laut von den Bergen wider. Er atmete den Geruch des Grases und der nur Zentimeter von seiner Nase entfernten Erde ein. Sein Kinn schmerzte, wo es beim Aufprall auf den Boden gegen den Lauf der Punch-Gun gestoßen war. Tirdal holte tief Luft und blieb völlig reglos. Aber wenn er sich nicht bewegte, würde das Dagger nur die Möglichkeit geben, einen zweiten Schuss nachzusetzen und dem Ganzen ein Ende zu machen, wurde ihm sofort bewusst. Hastig kroch er weiter, richtete sich auf und fing wieder an zu laufen, jetzt schneller. Er würde das durchhalten, bis er Dagger in den richtigen Gemütszustand versetzt hatte.

Schuss abgefeuert! Wieder duckte er sich weg, ließ sich so bald wie möglich fallen. Eine kleine Erderuption vor ihm zeigte ihm an, dass Dagger versuchte, seine Füße zu treffen. Das würde ein schwieriger Schuss sein, aber Dagger hielt ihn offenbar für möglich. Nicht gut. Vielleicht wäre es am besten gewesen, den Menschen in diesem Gelände nicht zu provozieren. Trotzdem war es besser als einfach wegzurennen und darauf zu hoffen, dass sich eine Chance bot. Außerdem spürte er, wie das Tal ihn drängte.

Schuss abgefeuert! Dagger fing an, wütend zu werden. Tirdal konnte es fühlen. Dies Mal warf er sich mit einem langen Satz nach vorne, hoffte dabei, dass Dagger nicht zu weit vorgehalten hatte. Wenn er Recht hatte, würde er ein paar Augenblicke gewinnen, während Dagger für den nächsten Schuss in Stellung ging. Wenn er Unrecht hatte, würde seine Panzerung hoffentlich den Schuss so weit abbremsen, dass es nur zu einer belanglosen Verwundung kam. Er landete flach auf dem Bauch und bemühte sich, mit Händen und Zehen den Aufprall abzufedern. Das war leichter, als es in seiner Ausbildung gewesen war, was an der niedrigen Schwerkraft dieses Planeten lag, obwohl ihm erneut die eigene Waffe gegen den Kopf schlug. Er stemmte sich sofort wieder hoch und kroch schnell auf Zehen und Fingerspitzen davon, krabbelte unter den Büschen durch wie die lokalen Aasfresser. Das hohe Gras und die sonstigen Gewächse teilten sich widerstrebend vor ihm, bogen sich nur wenig unter seinen Fingern und Zehen. Die Spitzen der Pflanzen schwankten nur leicht und boten Dagger damit eine große Zielfläche, aus der er seine Wahl treffen musste. Staub und winzige Insekten flogen Tirdal ins Gesicht.

Er fühlte einen weiteren Schuss und rollte sich nach rechts ab, die Richtung, aus der die Schüsse kamen, in der Hoffnung, dass ein flacher Schuss über ihn hinweggehen würde. Das tat er auch, und das Gras dämpfte seine Masse einen Augenblick lang, ehe es wegfetzte. Aber Dagger wusste jetzt, was er getan hatte, und dieser Schuss war bereits sehr nahe gewesen. Es würde nicht mehr viele brauchen, ehe dies ein Ende nahm.

Wieder kam einer, diesmal ein Hornissenschuss, der über ihm knallte, als er ihn aufs Korn nahm. Sein Anzug jagte ein Signal hinaus, und der Schuss schlug gegen seine Hüfte, ließ ihn vor Schmerz zusammenzucken, erzeugte aber keine größere Verletzung. Das war gut. Es bedeutete, dass Dagger nicht nur anfing, wirklich wütend zu werden, sondern auch an seiner eigenen Schießkunst zu zweifeln begann. Aber er konnte noch eine ganze Anzahl Schüsse abgeben, und einer würde am Ende Tirdal treffen.

Dann geschah etwas.

Die dünne Verbindung zwischen ihnen verfestigte sich wieder, und er konnte spüren, wie Dagger schoss. Einen winzigen Augenblick lang konnte er sehen, was Dagger sah, ein gespensterhaftes Bild, das die Realität vor seinen Augen teilweise überlagerte. Er schloss kurz die Augen, um die Szene aufzufangen, und bewegte sich. Dagger zielte rechts von ihm und schoss jetzt, als Tirdal sich wegwälzte und wieder aufstand. Der Schuss riss den Boden auf, wo er gerade noch gewesen war, dann zog ein weiterer hinter ihm vorbei. Dagger feuerte, hielt vor, und Tirdal blieb wie erstarrt stehen, stand einen Augenblick reglos da, bewegte sich dann zur Seite, dann nach vorne. Eine weitere Hornisse knallte …

Dann riss die Verbindung wieder ab, ein Gefühl, als wären Störungen aufgetreten. Dagger war wütend, heulte zornig auf. Er keuchte und schwitzte und fing zu zittern an. Aber er schoss nicht.

Und Tirdal wusste, wo er war. Er befand sich auf einem kleinen Erdhügel nordöstlich von ihm. Jetzt strebte er auf höher liegendes Gelände und die Bäume im Norden zu. Sehr gut. Tirdal würde dort auf ihn treffen. Sollte er jetzt Dagger folgen oder einen Bogen um ihn herum schlagen, nach Osten?

Folgen. Das würde Dagger noch mehr beunruhigen. Wieder grinste der Darhel trotz des stechenden Schmerzes in seiner allmählich taub werdenden Hüfte, grinste trotz der Schmerzen in der Brust und an den Schultern, des Juckens der aufgeschürften, vom Schweiß gereizten Haut, des nagenden Hungers und der süßlichen Verlockung von Tal.

Es war Zeit, dass Dagger etwas davon zu spüren bekam.

Tirdal ließ das Tal anwachsen, ganz langsam, bis er eine benommen machende und zugleich erfrischende Aufwallung verspürte. Er konnte es immer noch kontrollieren, aber das erforderte jetzt hohe Konzentration, und er würde schnell damit Schluss machen müssen, ehe es zu etwas kam, was auch nur entfernt einer Tötung glich. Er musste einfach darauf bauen, dass ihn nichts auf dieser Savanne angriff. Unterdessen konnte er Dagger ganz deutlich dort drüben fühlen. Als er das bestätigt wusste, eilte er geduckt weiter, schob das Gras mit seinem Helm dabei beiseite. Dann tastete er nach anderem Leben, fand die Herde, stumpf und mit ihrem Gras zufrieden, dahinter das Summen niedrigerer Kreaturen, nicht vernunftbegabt, bloß Hintergrund. Hier konnten ihn keine Raubtiere erreichen, obwohl es zweifellos in der »Ferne« welche gab, aber undefinierbar. Sie würden nicht nahe genug herankommen, als dass er sich um sie zu sorgen brauchte, also richtete er seine ganze Wahrnehmungskraft auf Dagger und alles, was sich in jenem Bereich befand.

Dagger bewegte sich auf einen kleinen Baumbestand zu, ja, das tat er. Wahrscheinlich sorgte irgendein Trick der Geologie dafür, dass den Bäumen Wasser und Nährstoffe zugeführt wurden, sie standen nämlich auf felsigem Boden, ganz alleine. Und Dagger hatte höchstwahrscheinlich vor, auf einen der Bäume zu klettern, um von dort aus bessere Schussposition zu haben. Tirdal konnte also näher herankommen, während der andere mit Klettern beschäftigt war.

Sollte er die Tötung riskieren? Sollte er versuchen, Dagger zu fangen, was ebenso riskant war? Beides war gefährlich. Er würde sich bald entscheiden müssen, doch war es immer wünschenswert, über Alternativen zu verfügen.

Und da war Dagger, weit vor ihm, aber sichtbar. Die Distanz betrug etwa einen Kilometer, und Tirdal konnte seinen Kopf und sein Gewehr erkennen. Der Mann war so wütend oder so überspannt, dass er auf jegliche Deckung verzichtete. Nun gut. Ein paar Schüsse würden ihn noch wütender machen … und ihn vielleicht sogar treffen. Tirdal blieb stehen, hob seine Punch-Gun und zielte bedächtig.

Der erste Schuss ließ das Erdreich vor Dagger aufspritzen, der einen mentalen Angstschrei ausstieß, sich dann aber, antrainierten Reflexen folgend, sofort zu Boden warf. Tirdal feuerte noch einmal, dann ein drittes Mal, ließ erneut Erde und Grasfetzen auffliegen. Daggers Furcht war körperlich greifbar, steigerte seine Wut. Und da … Müdigkeit, Verzweiflung. Emotionen drängten sich zusammen, kämpften gegeneinander an, mühten sich ab, die wichtigste Empfindung zu werden. Tirdal war bewusst, dass er Dagger nicht auffordern durfte, sich zu ergeben. Das würde der ihm als Schwäche auslegen. Er musste ihn unter Druck setzen, immer weiter unter Druck setzen, bis etwas zerbrach. Es war immer noch möglich, wenn auch höchst unwahrscheinlich, dass Dagger selbst anbot, sich zu ergeben. Das wäre die beste Lösung, aber der andere musste darum betteln, er durfte es ihm nicht anbieten.

Dagger bewegte sich jetzt wieder, geduckt und langsam. Tirdal versuchte abzuschätzen, in welche Richtung, und feuerte dann erneut. Solange ein paar seiner Schüsse nahe lagen, würde Dagger nicht bewusst werden, dass das reines Glück war, und seine Panik würde anhalten. Dass gelegentlich von verbranntem Gras Rauch aufstieg, konnte auch nichts schaden. Am besten verteilte er seine Schüsse etwas, damit die siebzig Schuss, die ihm noch übrig geblieben waren, eine Weile vorhielten. Tirdal erinnerte sich an einen menschlichen Witz über Murphys Gesetz der Thermodynamik: »Die Dinge wurden unter Druck immer schlechter.« Also würde er dafür sorgen, dass der Druck nicht nachließ.

Tatsächlich wäre ein Feuer vielleicht gar nicht so schlecht. Buschfeuer konnten hier nichts Ungewöhnliches sein, obwohl der Sauerstoffgehalt der Luft nicht sehr hoch war. Das wäre ein völlig natürliches Ereignis, das die Tslek eigentlich nicht bemerken sollten, und vielleicht half es, Dagger über den Rand zu treiben.

Eine winzige Schalterdrehung an der Punch-Gun zwischen zwei Schüssen, und der Strahl würde sich etwas ausweiten. Aber das bedeutete geringeren Plasmadruck, eine Schwächung der Strahlhülle, und konnte leicht dazu führen, dass die trockenen, mit Staub bedeckten Halme sich entzündeten.

Wirklich schade, dass man mit der Waffe nicht schneller schießen konnte. Immerhin sollte mit vier oder fünf Schüssen auf dieselbe Stelle etwas auszurichten sein, und die nachfolgenden Strahlen mochten dann ja Brände entstehen lassen. Und mit ein bisschen Glück fachte dann ein Windhauch die Flammen an. Tirdal wählte eine Stelle aus, von der er sicher war, dass sie vor Dagger lag, schätzte die Entfernung noch einmal ab und fing an zu schießen.

Dagger blieb geduckt stehen und atmete ein paarmal durch. Er zuckte zusammen, als erneut vor ihm Erde aufspritzte und gleich danach das POOUNK! eines Punch-Gun-Schusses zu hören war. Dieser verdammte Darhel hatte es irgendwie geschafft, sich an seine Spur zu heften. Zuerst dachte er, Tirdal hätte sich im Lager irgendwelches Gerät beschafft und schließlich herausgefunden, wie es zu benutzen war, aber seine Handlungen deuteten darauf hin, dass er ihn nur sporadisch »anpeilen« konnte, und zwar dann, wenn Dagger besonders frustriert war. Also wieder einmal dieser verdammte Sensat-Scheiß. Er schien es zu bemerken, wenn Dagger im Begriff war, einen Schuss abzugeben, aber erst nachher; er konnte immer noch nur Emotionen, aber keine Gedanken spüren. Er musste also einfach … abschalten. Sich in diesen Meditationsmodus versetzen, so wie wenn er schoss. Einfach … ein Fels werden, eine leere Stelle … wie hatte der Darhel doch gesagt? »Denke an eine schwebende Luftblase …«, das würde er tun, er hatte ja keine andere Wahl. Den anderen früher gebrauchten Vergleich von einem Tümpel und dessen Oberfläche verdrängte er. Hatte dieses Ekel vielleicht Überreste eines Gedankens an jene Zeit entdeckt, als er acht gewesen war und ihn ein paar von den anderen Jungs, richtige Schulhofraufbolde, unter Wasser gedrückt hatten? War das ein Zufall oder versuchte der Darhel bewusst, ihn mit unangenehmen Erinnerungen in Wut zu versetzen? Wenn ja, dann funktionierte das auch, und an Zufälle glaubte Dagger nicht. Denk also nicht daran, ermahnte er sich. Denk an diese Seifenblase. Ignoriere die implizierte Beleidigung. Wie simpel und kindisch das doch war. Dafür war immer noch Zeit, nachdem er geschossen hatte.

Er zuckte erneut zusammen, als ein weiterer Schuss auftraf, so nahe, dass er den verbrannten Kalkstein am Boden riechen konnte. Dieser Bastard von einem Darhel lernte verdammt schnell, und Dagger fragte sich, ob er es irgendwie geschafft hatte, mit Ferret zusammenzukommen oder wenigstens mit ihm zu reden. Es wurde immer schwieriger, den Kerl zu töten, nicht einfacher.

Wie konnte jemand nur so vielen Schüssen ausweichen? Er war sicher, dass einige davon ihn zumindest angekratzt hatten. Und damit diesen Alien-Knirps langsamer gemacht! Nur dass sie das nicht hatten. War sein Anzug denn so gut? Wenn ja, dann steckte er, Dagger, möglicherweise ganz tief in der Scheiße. Aber das war eigentlich nicht logisch, sonst würde Tirdal ja nicht vor ihm fliehen.

Nur – er floh ja gar nicht. Er griff an. Der plötzliche Taktikwechsel deutete auf Verzweiflung. Tirdal hatte also Probleme. Ein schwaches Grinsen huschte über sein Gesicht, als er diesen Gedanken weiter verfolgte. Der Mistkerl versuchte ihm Angst zu machen, während er näher rückte, aber besonders gut gelang ihm das bis jetzt nicht. Das Beste, was ihm bisher gelungen war, war der Versuch einen Felsrutsch auszulösen.

Ganz gleich was auch geschah, richtig töten konnte Tirdal immer noch nicht.

Ein vertrauter Geruch schlich sich in seine Nase, meldete sich in seinem Gehirn. Es roch angenehm, irgendwie entspannend. Schön war das. Es war nichts, was er bisher hier gerochen hatte, es war … Grasrauch.

Dann sah er durch die vom Wind bewegten Grashalme etwas Orangefarbenes, ein Flackern, das ihm ebenfalls vertraut war. »Du Arschloch!«, flüsterte er heiser und zog sich verängstigt zurück. Offenbar hatte ein verirrter Strahl auf diesem trockenen Gelände etwas Brennbares erwischt.

Dann wurde Dagger bewusst, dass die Flammen sich ausweiteten, jenes knisternde Geräusch erzeugten, das darauf hindeutete, dass das Feuer sich ausbreitete. Öliger, grauer Rauch hing ganz tief um ihn herum und kitzelte ihn in der Nase, brannte in seinen Augen. Scheiße. Ein ganzer Streifen Gelände links von ihm, zwischen Tirdal und ihm, stand jetzt in Flammen.

Aber er konnte die Flammen auch als Deckung benutzen, und außerdem tat er gut daran, sich zu beeilen, wurde ihm bewusst, der Wind kam nämlich aus jener Richtung. Wenn die Brise, die er verspürte, mit fünf Stundenkilometer wehte, war das so schnell wie ein schneller Spaziergänger. Er musste also schneller sein.

Mit wieder geweiteten Augen, von Panik, Angst, Erschöpfung und Stress hin und her gerissen, erhob Dagger sich halb und rannte so schnell er konnte nach Nordosten. Das hatte er ohnehin vorgehabt, aber er konnte es nicht leiden, konnte es wirklich nicht leiden, wenn man ihn zu etwas zwang. Aber ein Grasfeuer konnte er nicht einfach ignorieren, und mit seinen Waffen konnte er dagegen nichts ausrichten.

Er verdrängte seine Angst und überlegte, wie er am besten die Wut und, und … die Angst … verdrängen konnte, auf die er sich konzentrierte. Wie wäre es mit einer mentalen Attacke auf diesen Bastard von Sensat? Ihn mit seiner eigenen Kost füttern und sehen, was dann passierte? Liest du meine Gedanken, Tirdal, Darhel, feiger, kleiner Mistkerl? Dann solltest du das jetzt lesen, du Arsch.

Tirdal fühlte Daggers mentalen Ausbruch. Wieder war da diese blitzartige Kommunikation mit dem Gehirn seines Feindes, und Daggers Gedanken und Gefühle und sein sensorischer Input schlugen über ihm zusammen. Brutaler, kochender Hass! Kraft und Kontrolle. Das kam so stark herein, dass sein Tal-Niveau anstieg und er dagegen ankämpfen musste. Das war sein entscheidendes Problem; er musste das Niveau genügend hoch halten, ohne davon gleich in den Abgrund gerissen zu werden.

Aber er hatte auch einen kurzen Blick auf Daggers Umgebung aufgefangen. Er war jetzt weiter im Nordosten, fast bei diesen Bäumen am Rand der Prärie. Das Feuer hinter ihm, rechts von Tirdal, erstarb langsam zu einer zornigen, schwarzroten Narbe, und das Rot verblasste zu Aschgrau, als dichter, grauer Rauch hochstieg, dünner wurde und schließlich verflog.

Während Tirdal gegen das Tal ankämpfte, war Dagger mal besser und mal schlechter wahrzunehmen. Außerdem schien er »schwächer« zu werden, als bereitete er sich darauf vor, einen Schuss abzugeben. Oder, was wahrscheinlicher war, er versuchte seine Gefühle zu verdecken. Da war eine Menge Zorn und Wut zu verspüren. Der richtige Augenblick, das noch etwas zu schüren. Und er musste jetzt auch aufhören zu schießen, um dem anderen kein Ziel zu bieten. Er legte sich hin und fing, an mit ausgestreckten Armen zu kriechen, um das Gras möglichst wenig zu bewegen.

Dann rief er Dagger an und begann wieder damit, seine Spielchen mit der Psyche des Scharfschützen zu treiben. »Na, Dagger, wie geht's denn?«, fragte er, während er sich zwischen den Halmen durchzwängte und diese nur bog, nicht brach. »Aber ich brauche natürlich gar nicht zu fragen. Ich kann ja deine Gedanken lesen.«

Er hielt inne, als das Gras dünner wurde, nur um gleich darauf festzustellen, dass es sich um einen Pfad handelte, den eine weitere Herde dieser kolossalen Insektoiden getrampelt hatte. Gut. Er hatte in den letzten drei Tagen eine ganze Menge gelernt. Das war etwas Neues für die Darhel, sowohl auf kultivierten »wilden« Arealen oder fernen Planeten. Das menschliche Gewaltmonopol nahm als potenzielle Bedrohung ab, während anderes taktisches Wissen zunahm.

Dagger erwiderte, ein wenig außer Atem, aber mit verblüffender Kontrolle über sich: »Ich vermute, du hast noch nie ein richtiges Buschfeuer gesehen, du kleiner Mistkerl? Du weißt, dass die sich gegen den Wind ausbreiten können, dass sie Feuerstürme erzeugen, die die Luft einsaugen, um sie weiter zu speisen, und ganz allgemein, dass sie meistens nicht das tun, was man sich von ihnen wünscht?«

Einiges davon hatte Tirdal gewusst. Der Rest klang recht vernünftig, und er erkannte, dass er – dass sie beide – Glück gehabt hatten, da das Gras nur mäßig trocken gewesen war und nicht etwa von einer echten Dürre zur Konsistenz von Zunder ausgedörrt. Einen solchen Fehler hätte er auch in seinem Übereifer nicht machen dürfen. Andererseits war Risiko ein wesentlicher Bestandteil des Krieges. Er sollte den Mann noch stärker unter Druck setzen, da er ja sichtlich beunruhigt war.

»Dagger, ein wenig Feuer und Kohlenmonoxid mit Schwefel macht uns Darhel nichts aus. Vielleicht tue ich das wieder. Jedenfalls bin ich jetzt der Jagende.«

»Ach, hör doch auf mit dem Blödsinn. Ich habe Darhel gesehen, die bei Unfällen verbrannt sind. Man kann euch genauso leicht rösten wie uns. Das war entweder eine Panne, oder du kennst dich wirklich hier draußen nicht aus.«

»Wenn das der Fall ist, Dagger, dann ist das nicht gerade ein Kompliment für die Menschen, von denen ich gelernt habe«, antwortete er.

Offenbar hatte Dagger sich dafür entschieden, die Bemerkung zu ignorieren. Anscheinend wurde er mit der Zeit schlauer. Stattdessen wechselte er das Thema. »Die Box auf dem Käfer zu verstecken war gar nicht dumm. Wirklich schlau gewesen wäre, sie an seinem Bauch zu befestigen und nicht oben, wo ich sie wie einen Sattel auf einer Wildsau sehen konnte.« Seine Stimme klang jetzt selbstgefällig, obwohl er sich sichtlich bemühte, sie zu kontrollieren. Das entging Tirdal nicht. Dagger gab sich große Mühe, seine Emotionen zu zügeln. Aber das sollte er nicht. Seine Emotionen sollten fließen, nicht eingeengt werden. Und Dagger schien genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm wollte …

»Ich hatte das Gefühl, du brauchst einen kleinen Hinweis«, sagte er, um Dagger zu ärgern. »Bis jetzt hast du ja kaum erkennen lassen, dass du klüger oder schlauer bist als diese Käfer.« Dabei waren diese Käfer eigentlich recht beeindruckend, dachte er, als er hinter einen hüpfte und wieder zwischen den hohen Grashalmen Deckung suchte. Sie waren etwa so groß wie die auf der Erde ausgestorbenen Rhinozerosse.

»Ich habe Ferrets Spur verfolgt, und der galt als ungekrönter Meister dieser Kunst. Erinnerst du dich an Ferret? Ich glaube, er hat sich in die Hosen gepinkelt, als ihm klar wurde, dass ich ihn sehen konnte. Allerdings hatte er auch gute Deckung. Besser, als du sie je gehabt hast. Aber der flüchtige Finger des Schicksals liegt am Abzug. Und wenn du wirklich so gut bist, dass ich einen Hinweis brauche, warum hast du dann die Box weggeben und versteckst dich zwischen den Gräsern?«

»Ganz einfach, Dagger, ich habe vor einer Weile deine Peilmarke gefunden. Ich bin nicht mehr daran interessiert, dass du der Marke folgst. Das war eine List, um dich an einem Ort festzuhalten, wo Ferret sich an dich anschleichen konnte«, sagte er. Er konnte schließlich Ferret als mythischen Alliierten benutzen. Und da der Mann jetzt tot war, konnte Dagger das nicht nachprüfen. »Jetzt, wo Ferret nicht mehr ist, ist es nicht mehr nötig, dass ich es dir einfach mache. Jetzt musst du dich wirklich anstrengen. Zeit, dass du ein paar Dinge lernst.«

Damit stemmte er sich hoch und fing wieder an, weiterzukrabbeln, was bei ihm freilich etwa so schnell war wie bei einem Menschen ein ordentlicher Dauerlauf. Er streckte dabei Finger und Zehen aus wie eine Echse, griff aber weit nach vorne und nach hinten, um im Gras kein zu auffälliges Profil zu hinterlassen.

»Ich werde dich töten, du Missgeburt von einem Alien«, erklärte Dagger.

Tirdal antwortete darauf, damit Dagger weiterredete statt zu schießen. »Wirklich, Dagger, du solltest ruhiger werden, nicht bloß so tun. Man sollte sich nicht auf das Leere innen konzentrieren, sondern das Leere draußen, sollte zulassen, dass es den Sturm an sich zieht.«

Dagger fiel ihm ins Wort. »Ich habe eine philosophische Frage für dich, Tirdal.«

»Ja, Dagger?«

»Wenn man einem Darhel mitten im Wald den Kopf wegpustet, hören die Bäume da etwas?«

»Sieh mal an, Dagger, du hast Fortschritte gemacht. Du bekennst dich zu deinem Zorn. Jetzt musst du nur noch lernen, auch deine Angst zu bewältigen, inkompetent zu erscheinen, musst lernen zu fühlen. Erst dann wirst du dich auf ebenem Gelände ohne Peilgerät an einen Darhel anschleichen können.«

Der Knall eines Projektils hallte über die Savanne. Einer der großen Pflanzenfresser zuckte und geriet ins Taumeln, trottete im Gras herum, und seine scharfkantigen Füße warfen Gras und Erdreichbrocken in die Höhe. Das riesige Käferwesen suchte seinen Feind und war verwirrt, weil es keinen fand. Augenblicke später baute es sich vor einem Bullen in der Nähe auf und griff an. Seine Bewegungen waren ganz normal. Das panzerbrechende Projektil hatte nicht viel mehr ausgerichtet als einen Splitter aus seinem Panzer zu fetzen und es zu ärgern. Das sollte eine weitere Lektion für Dagger sein, dachte Tirdal. Die Gedankenimpulse des Tieres waren kurz in die Höhe gegangen, als der Schuss es getroffen hatte, und waren jetzt wieder auf normales Niveau zurückgesunken. Dagger musste das Gleiche tun und hinter den Geräuschen der lokalen Fauna verschwinden.

Dagger war nicht dumm. Er wusste, dass das Gespräch keinen anderen Zweck gehabt hatte, als ihn abzulenken. Ein guter Scharfschütze arbeitete ohnehin in der Stille besser. Nichts zu sagen konnte mehr Angst einjagen als jedes Geräusch. Und dieser verdammte Elf würde ihn nicht austricksen können, ihn nicht dazu bringen, auf den Einsatz des Peilmoduls zu verzichten. Der Darhel hatte einfach versucht, ihn von seinem Ziel abzubringen. Was er gesagt hatte, wies auf »Fairness« hin, und Dagger war keiner, der »fair« dem Vorzug vor »wirksam« gab. Er würde das Peilgerät einsetzen, die überlegene Reichweite seiner Waffe, seine Raffinesse und seine Präzision. Und er würde ganz sicherlich seine ach so menschliche Fähigkeit nutzen, zu töten. Darauf zu verzichten wäre albern. Sollte der Darhel doch seine Philosophie verbreiten. Dagger würde stattdessen schießen.

Er atmete in tiefen Zügen ein, nicht nur um wieder zu Kräften zu kommen, sondern auch um seine Nerven zu beruhigen. Er musste sich jetzt unbedingt in einen Zustand versetzen, den Tirdal nicht anpeilen konnte. Nur dann würden ihm die zur Verfügung stehenden Mittel auch einen Vorteil verschaffen. Mittel, die nicht auf Emotionen bauten.

Tirdal musste wirklich der Verzweiflung nahe sein, rief er sich ins Gedächtnis. Er redete, floh, versteckte die Box, legte Brände. Das alles war sehr lästig, einiges davon in hohem Maße gefährlich, aber das alles bedeutete auch, dass ihm die praktisch verwertbaren Ideen ausgegangen waren. Dies war ein Kampf. Ein Kampf auf niedrigem Niveau zwischen nur zwei Kombattanten, aber dennoch ein Kampf. Dass dabei Schaden entstand, war unvermeidbar. Tirdal hatte Probleme, diesen Schaden direkt zuzufügen – wahrscheinlich konnte er nicht töten und hoffte deshalb, Dagger irgendwie so unter Druck zu setzen, dass er sich verletzte, damit er ihn dann auf feige Art hier zurücklassen konnte.

Einen Augenblick lang erinnerte er sich an seine eigene, an Ferret gerichtete Drohung, aber die war von Rachegefühlen gelenkt gewesen, nicht von auf Furcht basierender Notwendigkeit. Und im Übrigen war Ferret tot, sauber und fair im Kampf Mann gegen Mann getötet.

Ansonsten hoffte Tirdal nur auf einen glücklichen Schuss, den er auf Dagger abgeben konnte, und Dagger brauchte, bildlich gesprochen, diesem Beschuss nur standzuhalten und Tirdal eine Kostprobe von dem zu geben, wozu der nicht imstande war. Gegen Ferret hatte er es Mann gegen Mann ausgetragen, dieser feige Troll sollte weniger Mühe bereiten. Und genau das war er. Nicht ein Elf, sondern ein Troll. Eine dreckige, kleine Missgeburt aus einer ganzen Rasse von Missgeburten, die die Menschen brauchten, um für sie zu kämpfen. Und dem würde er es jetzt besorgen.

Dagger würde Kurs auf jene Bäume nehmen, dort eine günstige Position suchen, und auf diese Distanz konnte er zusehen, wie das Gehirn des Darhels auseinander spritzte, wenn sein Schuss ihn traf. Das würde Spaß machen.

Verdammt! Ganz ruhig! Es ist doch bloß eine Übung. Das Ziel ausfindig machen, es markieren, schießen. So wie bei dieser Wette mit Thor. Wie auf dem Schießplatz. Und anschließend ein Bier und ein wenig muntere Prahlerei. Und dieses Artefakt würde zum Prahlen weiß Gott ausreichen. Er würde damit Teil jener Kriegsgeschichten werden, die die Menschen erzählten. Besser noch: Die Geschichte würde sogar wahr sein.

Er vollführte ein Manöver, das seine Ausbilder mit Stolz erfüllt hätte. Dicht vor dem Feind verließ er seine Position und sicherte sich eine neue. Chamäleon auf volle Leistung, weil das etwas war, was der Darhel nicht anpeilen konnte. Wie viel Saft das kostete, war ihm im Augenblick egal, weil er ja morgen keinen mehr brauchen würde. Wie eine Schlange schlich er sich durch das hohe Gras. Gerade Linien verraten intelligente Aktivitäten, und ein langer, gewundener Pfad würde nicht nur schwerer auszumachen sein, sondern der Darhel würde ihn sicherlich für die Spur eines Tieres halten. Er richtete dabei so wenig Schaden wie nur möglich an. Sein Gewehr hing über seiner Schulter, wobei er den Riemen in der Hand hielt. Einige der Käfer und der fliegenden Lebensformen wurden von ihm aufgescheucht, aber nichts Größeres, und auch die zuckten nur wegen der Bewegung, nicht weil sie diese seltsame Erscheinung bemerkten.

Eine Bewegung vor ihm ließ ihn anhalten. Er hielt sich völlig still, hielt den Atem an und musterte das Lebewesen. Ein kleiner Aasfresser, etwa einen halben Meter lang, der schräg an ihm vorbeizog. Gut. Er kroch weiter, sah jetzt die Umrisse des Wäldchens dunkel vor sich. Er würde sich einen der inneren Bäume wählen, der sollte ihm gutes Schussfeld und zugleich Deckung verschaffen.

Das Gras wurde dünner, als er sich dem Rand der Savanne näherte, das Gelände stieg leicht an, Ansammlungen von Fäulnis und Verfall im Laufe der Jahrhunderte. Das Peilgerät zeigte, dass Tirdal immer noch etwa fünfzehnhundert Meter entfernt war, der kleine Mistkerl kam recht zügig voran. Nun, das würde es leichter machen. Und da Tirdal geradewegs auf ihn zuging, noch leichter. Ein aufrechtes, sich näherndes Ziel. Der Darhel war ganz schön blöd, wenn er glaubte, dass das eine gute Taktik gegen einen Präzisionsschützen sei. Trotzdem würde Dagger zusehen müssen, dass er schnell über das freie Gelände wegkam, da er nicht die Zeit hatte, einen Bogen zu schlagen. Und dann würde er schleunigst eine Schussposition suchen müssen. Er hatte vielleicht zwei Minuten.

Er atmete tief durch und huschte dann auf allen vieren wie eine Echse über das freie Gelände. Seine Augen waren auf einen Baum vor ihm gerichtet, auf den er zunächst geradewegs zueilte, und dann bog er seitlich ab und ließ sich dahinter fallen. Vom Angreifer nicht entdeckt. Die Augen schließen, nicht denken, bloß atmen. Wir haben ein Ziel, und dieses Ziel ist bloß eine Zielscheibe. Eine computergesteuerte, aufklappende Pappfigur wie tausend andere. Ein Schuss, der über das Bestehen der Prüfung entscheidet. Zeigt dem General, wie gut seine Soldaten sind, anschließend gibt's ein Bier. Ein Ziel war ein Ziel, war ein Ziel.

In seiner besten Schießtrance kroch Dagger geduckt und schnell weiter, suchte einen guten Baum, den er erklettern konnte.

Der da. Leicht zu ersteigen, leicht wieder zu verlassen und anscheinend mit guter Aussicht aus fünf Metern Höhe. Perfekt. Und das Ziel war jetzt …

Weniger als siebenhundert Meter? Wie konnte der kleine Mistkerl bloß so schnell vorankommen?

Dagger kletterte schnell den Baum hinauf, zog das Gewehr am Trageriemen hinter sich her. Er fand einen massiven Ast, etwa drei Meter über der Erde, und hielt kurz inne, um das Gewehr nachzuziehen. Er kletterte noch zwei Äste höher, bis auf etwa fünf Meter. Die Aussicht hier war wirklich großartig, besser als er das erwartet hatte. Der Stamm und die Äste vorne bildeten einen perfekten Rahmen. In dieser Astgabel stehend konnte er sich über diesen schräg gewachsenen Ast beugen, und der würde ihm sogar Deckung bieten. Er koppelte seine sämtlichen Sensoren und sein Zielfernrohr zusammen und blickte schnell hinaus. Er würde sich beeilen müssen.

Das Ziel war etwa dort … und dort bewegte sich nichts. Dort war nur Gras. Er sah genauer hin. Genau da … nichts, nicht einmal der Dunst eines Chamäleonanzugs. Da war eine IR-Quelle, aber das war nicht sicher, weil das vom Dunst gefilterte Sonnenlicht die Wärmesignatur wie ein Gespenst erscheinen ließ.

Das Ziel kroch, nur dass Dagger noch nie jemanden so schnell hatte kriechen sehen. Verdammte Scheiße, das war schnell! Und kein klares Ziel. Team Blau machte Schwierigkeiten. Also galt es für diese Übung, zwischen Hornissen und panzerbrechender Munition abzuwechseln und so schnell wie möglich zu schießen. Besser denken, besser kämpfen. Fertig … und …

Tirdal spürte Daggers Anwesenheit. Dagger schien dazugelernt zu haben, sein Bewusstsein war einigermaßen ruhig und geordnet. Normalerweise hätte das ausgereicht, um ihn zu tarnen, aber Tirdal jagte das Tal bis an die Grenzen seiner Kontrolle. Er hatte einen Sinn, eine Ahnung, wo Dagger war, und die würde er jetzt nutzen.

Dagger war immer noch darauf festgelegt, dass es einen Darhel schwer fallen, wenn nicht unmöglich sein würde, einen Menschen zu erschießen. Dieser Gedanke hielt ihn davon ab, darüber nachzudenken, worauf Tirdal sonst vielleicht schießen könnte und würde. Wie beispielsweise diesen Baum. Diesen da, gleich dort vorne.

Mit einem Grinsen, das jeder Mensch als triumphierend erkennen würde, schob Tirdal seine Punch-Gun vor und feuerte.

Ein Blitz verriet ihm, dass Dagger ebenfalls feuerte, aber ihm blieb jetzt nichts anderes übrig als weiterzumachen. Sein sorgfältig gezielter Schuss blies nasse, faserige Holzfetzen hinaus, gegen den Baum dahinter. Den Baum, auf dem Dagger sich versteckte, wenn er richtig geschätzt hatte.

Er versuchte das gegnerische Feuer zu ignorieren, als drei Hornissengeschosse knallten. Das erste fegte ihm Erde ins Gesicht. Das zweite krachte gegen seinen Stiefel, sodass sein Fuß taub wurde. Das dritte konnte er nicht identifizieren, er wusste nur, dass es ihn nicht getroffen hatte. Dann feuerte er erneut, feuerte auf den Baum hinter dem ersten, schaltete seinen Sinn ab für den Fall, dass er Glück hatte und Dagger traf. Zweige wurden von dem Ast gefetzt, den der Schuss getroffen hatte, andere nach hinten weggeblasen. Sie richteten nicht viel aus, da sie ja keine Masse hatten, aber sie würden Dagger ablenken. Und die Zeit nutzte Tirdal, um sein Ziel weiter nach unten am Stamm wandern zu lassen. Und jetzt fing er an, ganz bewusst und gezielt zu feuern. Drei Schüsse dauerten gerade eineinhalb Sekunden, und jetzt hatte dieser Baum keine Basis mehr. Die Überreste kippten seitwärts weg, seine Äste peitschten raschelnd durch die anderen Bäume. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Baum zu, in dem Dagger versteckt war. Ein weiterer Schuss auf einen Hauptast ließ nach allen Seiten Splitter davonfliegen. Daggers nächsten Schuss, der ihm beinahe die Hand abgerissen hätte, hatte er nicht bemerkt, aber der darauf knallte über ihm, verfehlte ihn, weil Dagger zu beschäftigt war, um klar denken zu können. Der umstürzende Baum krachte durch den, der ihm als Plattform diente.

Drei weitere Schüsse fällten Daggers Baum. Das sollte eine positive Wirkung haben. Tirdal grinste erneut und ließ sein Ziel zum nächsten Baum wandern.

Dagger feuerte sein drittes Hornissengeschoss auf den warmen Punkt im Gras, als der Baum vor ihm explodierte. Splitter, feuchter Saft und Holzbrocken zischten an ihm vorbei und regneten auf ihn herab. »Gah!«, brüllte er laut, plötzlich erschreckt. Wie zum Teufel hatte der Darhel das angestellt? Und war er tatsächlich fähig, Schüsse abzugeben, die den Gegner töteten? Und Tirdals Punch-Gun feuerte unablässig weiter.

Ihm blieb keine andere Wahl, als seine Stellung wieder einzunehmen und erneut zu schießen. Das musste jetzt ein Ende haben. Er umfasste seinen Karabiner fester, nahm Haltung an und fing wieder an zu schießen, diesmal die dummen Geschosse. Er würde sie an dieser Linie entlang marschieren lassen und etwas treffen, das stand für ihn fest.

Dann explodierte ein Ast, kaum einen Meter über seinem Kopf. Ein Stück davon krachte gegen seinen Helm, machte ihn benommen, ein weiteres prallte gegen sein Gewehr. Ehe er sich von dem Schrecken erholt hatte, peitschten ihn Zweige, und der Baum zitterte, als der rechts davon dagegen stürzte. Er verlagerte sein Gewicht, versuchte wieder in Schießstellung zu gehen, als der Baum wie von Krämpfen geschüttelt zu zittern begann. Und gleich wieder. Er reimte sich zusammen, was da passierte, und sprang auf der vorher zurechtgelegten Fluchtroute ab, wollte schleunigst von diesem Baum wegkommen.

Er plumpste durch die Äste des gefällten Baumes, hielt sein Gewehr hoch über sich, damit es sich nicht irgendwo verhängte. Äste tasteten nach seinen Füßen und Schenkeln, während er sich zu befreien versuchte. Schon konnte er hören, wie sein Baum zornig zu knacken begann; gut möglich, dass er nach hinten umkippte und ihn zerdrückte, wenn er da nicht schleunigst rauskam.

Rechts von ihm flogen von einem weiteren Baum Splitter auf.

Dagger rannte. Er würde ein Stück entfernt Deckung finden und warten, bis Tirdal ihm folgte. Aber dieses Areal hier war nicht sicher. Er versuchte seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber er hatte Angst. Und sich einzugestehen, dass er Angst hatte, ängstigte ihn noch mehr. Er konnte hinter sich Bäume stürzen hören und fragte sich, wo zum Teufel er einen guten Schuss auf seinen Verfolger absetzen konnte, ohne ihm seinerseits ungeschützt ausgesetzt zu sein? Je weiter entfernt er war, umso leichter würde es dem Darhel fallen, seinem Feuer auszuweichen. Und in der Nähe war er in Reichweite der Punch-Gun, und dieser kleine Scheißer hatte ihm jetzt bereits zweimal bewiesen, dass die Unfähigkeit zu töten nicht unbedingt ein Hindernis für ihn darstellte. Er musste also in Deckung gehen, musste warten, bis der Darhel sich eine Route ausgewählt hatte, und ihn dann abfangen. Er schlug nach Büschen und Gräsern, gab um der Geschwindigkeit willen die Tarnung auf.

Musste dieser kleine Dreckskerl denn nie schlafen? Dieses Nickerchen von fünf Stunden schien eine Ewigkeit zurückzuliegen und hatte seine Müdigkeit kaum vertrieben. Aber wenn der Darhel nicht ausruhte, konnte er das auch nicht. Was würde passieren, wenn der ihn im Schlaf erschoss? Oder ihn einfach begrub? Schließlich war Dagger bewusst, dass er nicht weitere drei Tage wach bleiben konnte, bis die Kapsel zu dem zweiten Treffpunkt flog, sodass er dann zwischen der Kapsel und dem Darhel sein würde.

Sogleich wurde ihm bewusst, dass das alles müßige Überlegungen waren. Der Darhel hetzte jetzt ihn. Er würde sich beeilen und dafür sorgen müssen, dass die Rollen wieder vertauscht wurden.

Vor ihm lag eine freie Grasfläche, und das Terrain stieg wieder leicht an. Wenn er diesen Hügel hinaufeilte, konnte er das Wäldchen im Auge behalten und den verdammten Darhel abknallen, wenn er durchkam. Oder er würde sich in guter Position für einen Schuss aus Distanz befinden, und dieses Mal würden keine Bäume um ihn herum stehen, die zusammenbrechen und ihn unter sich begraben konnten. Der Atem rasselte durch seine ausgedörrte Kehle, obwohl er sich alle Mühe gab, langsamer zu atmen, und er ließ sich zu Boden sinken und kroch rückwärts, das Gewehr vor sich und bereit, auf jede Bedrohung zu schießen.

Tirdal hatte nicht die Absicht, Dagger in dieses Wäldchen oder um es herum zu folgen. Die Wahrscheinlichkeit, dort aufs Korn genommen zu werden, war viel zu groß. Der Scharfschütze war ganz eindeutig noch am Leben, obwohl Tirdals Sinn ihm Schmerzen und Verletzungen verriet. Alles ganz gut so, aber es reichte nicht aus.

Doch Tirdal war jetzt sicher, dass er Dagger auf Gelände seiner Wahl angreifen, ihn festnageln und ihm entweder direkt oder durch Einsatz anderer Mittel Verletzungen zufügen konnte. Ob er imstande sein würde, ihn direkt zu töten, war eine andere Frage, aber wenn Dagger verwundet und damit in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigt war, würde das für Tirdal eine wesentlich bessere Verhandlungsposition schaffen.

Solange Dagger noch verwirrt war, zog Tirdal sich eilig zum Fluss zurück, ohne sich um die Spuren zu kümmern, die er dabei hinterließ. Er hatte vor, ein mit Büschen bestandenes Stück des Flussufers zu erreichen, durch das er vor kurzem gekommen war, ein Dickicht, das man nicht ganz als »Wald« bezeichnen konnte, lediglich dichtes Gebüsch. Eine Menge Felsbrocken lagen darin herum und würden ihm Gelegenheit bieten, dahinter Deckung zu nehmen und auf Dagger zu schießen. Als Daggers Gedanken allmählich wieder zusammenhängender wurden, bewegte er sich im Zickzack, um weniger aufzufallen.

Mit langen Sprüngen eilte er den leichten Abhang zu den Felsvorsprüngen am Flussufer hinunter und ließ sich dann in die Tiefe fallen. Dagger war jetzt wieder wachsam geworden und fing an, sich zu bewegen. In Tirdals Bewusstsein war er »weit« und näherte sich »dem mittleren Bereich«. Gut. Damit war Tirdals Vorsprung groß genug, um sein Ziel zu erreichen.

Er hastete mit langen Schritten quer über den Fluss, folgte einem Wildpfad südwärts, der mehr oder weniger parallel zum Fluss verlief. Er wusste, dass er deutliche Spuren hinterließ, hätte aber nicht gewusst, wie das zu vermeiden gewesen sein sollte. Das Gelände war verkarstet, und auf dieser Seite gab es einen großen Kalkfelsen, eigentlich eine Art niedrige Klippe. Er musterte sie, sah die Bäume der Umgebung an, sah auf seine deutlichen Spuren im Schlamm. Tirdal lächelte.