12

Ferrets Beine schmerzten jetzt nicht mehr so sehr. In taktischer Hinsicht war das gut, fand er. Er bewegte sich mittlerweile wieder in einigermaßen normalem Tempo und hatte die Krücke weggeworfen. Zwar hinkte er immer noch, bewegte sich aber aus eigener Kraft. In medizinischer Hinsicht bedeutete seiner Vermutung nach der nachlassende Schmerz massive Gewebeschäden bis hin zur Wundfäule oder dergleichen. Wenn es ihm gelang, diese beiden Feinde zu schlagen und die Kapsel zu rufen, bestand tatsächlich sogar die Möglichkeit, dass er überlebte.

Die Kapsel war mit recht gutem ärztlichem Gerät auf KI-Basis ausgestattet. Der verlockende Gedanke, Dolls Sender, der jetzt weit hinter ihm lag, für einen Rettungsruf einzusetzen, beschäftigte ihn immer noch. Ihm persönlich war eigentlich recht gleichgültig, ob ein Krieg anfing, vielleicht wäre das sogar besser als dieses ständige Hin und Her. Aber seine Vorgesetzten würden von ihm nicht sehr erbaut sein, selbst wenn er überlebte. Nun, wie auch immer, es war ja nur eine Möglichkeit, und der hatte er für den Augenblick Ade gesagt. Und sich zu sorgen half ihm ganz bestimmt nicht.

Die Stimme in seinem Kopfhörer überraschte ihn. »Also, Ferret, wie geht's denn?«

Er presste die Lippen zusammen, sagte nichts. Je länger er warten konnte, ehe er mit Dagger sprach, umso gefährlicher würde er ihm erscheinen. Sollte Dagger ruhig Angst bekommen. Angst war ganz für sich alleine eine mächtige Waffe.

»Ferret? Ich weiß doch, dass du da bist, du blöder Schwachkopf.«

Nichts. Und Daggers Stimme klang auch ein wenig besorgt.

»Okay, Ferret ich will dein Spiel mitmachen. Warte nur, bis ich dich wieder vor den Lauf bekomme. Dann ist mit dir Schluss. Leb wohl.«

Dagger war ganz entschieden beunruhigt gewesen. Gut.

Die Anzeigen auf seinem Peilgerät ergaben keinen Sinn. Sie zeigten immer noch an, dass Tirdal ein paar Minuten, nein, fast eine halbe Stunde, vor Dagger war. Und Dagger befand sich fast eine halbe Stunde vor Ferret. Warum hatte also Tirdal nicht angehalten, um Dagger aufholen zu lassen? Ihr Vorsprung war schließlich immer noch groß genug.

Aber sie wussten natürlich nicht, wie weit sie vor Ferret waren. Dagger spielte vermutlich auf Zeit und hoffte, dass Ferret schließlich seinen Verletzungen erliegen würde.

Es sei denn, sie hatten vor, auszuschwärmen und Ferret vor die Wahl zu stellen, um ihn dann von zwei Seiten zu packen. Wenn das ihr Plan war, war es noch wichtiger, stumm zu bleiben. Von den dreien war er der beste Spürhund.

Trotzdem wünschte er sich, zu wissen, was die beiden vorhatten. Und dann wünschte er sich, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte. Und dass sein Bein endlich aufhörte, wehzutun.

Dagger sollte sich ruhig Sorgen machen, hatte Tirdal entschieden. Wie drückten die Menschen das aus? »Im eigenen Saft schmoren.« Genau. Und es passte auch in mehr als einer Hinsicht. Anstrengung solchen Ausmaßes verursachte eine erhebliche Kreislaufbelastung und war darüber hinaus schweißtreibend. Nach allem, was er über menschliche Physiologie und ärztliche Behandlung wusste, musste es für Dagger etwa ebenso unangenehm sein. Und das war gut so. Dagger würde vielleicht besser mit der Hitze zurande kommen, aber Tirdal verfügte über das größere Stehvermögen und auch die größere Widerstandskraft, davon war er überzeugt. Je schlimmer es hier wurde, umso vorteilhafter würde es für ihn sein.

Nicht, dass er nicht in Gefahr gewesen wäre. Dagger verstand sich besser darauf, Spuren zu lesen und besaß eine Waffe mit viel größerer Reichweite. Außerdem klang er inzwischen völlig irr. War er das bereits vorher gewesen und kam es jetzt einfach an die Oberfläche? Hatte er seinen Zustand geschickt hinter einer gesellschaftlichen Fassade versteckt? Oder war es etwas Latentes, etwas, das sein impulsives Handeln ausgelöst hatte? Verstärkte das Alleinsein menschliche Emotionen? In gewissem Maße traf das immer zu. Nur: War es in diesem Fall schlimmer?

Aber dafür war jetzt keine Zeit, dachte er. Vielmehr war es Zeit, möglichst viele Kilometer zwischen sich und den Verfolger zu legen und dabei den Wald nicht zu verlassen. Er stand vorsichtig wieder auf, sicherte das Artefakt und setzte dann seinen Marsch fort. Hinter ihm lag der Panzer seines Mittagessens; seine Beine zuckten immer noch, obwohl inzwischen weder ein Körper noch ein Bewusstsein daran hingen. Insekten waren kaum vernunftbegabt, und deshalb war es sehr schwer, sie richtig zu töten. Vernunftbegabte Lebewesen zu töten war hingegen theoretisch leicht, mit Ausnahme der damit verbundenen mentalen Aktivität.

Die lokale Sonne begann sich im Untergehen dem Horizont zu nähern. Das würde eine gewaltige Veränderung der Lage bedeuten. Er konnte wesentlich besser sehen als Dagger, aber Dagger verstand sich sehr gut auf den Einsatz von Nachtsichtgeräten. Und Tirdals wärmeres Körpersystem würde im Nachtsichtgerät leuchten. Aber Dagger war jetzt seit neunzehn Stunden wach. Sicherlich konnte er noch länger durchhalten, aber abgesehen von Hunger und Durst schien Tirdal überhaupt nicht sonderlich überanstrengt. Dagger war das hingegen. Die Situation sollte sich bald zu Tirdals Vorteil verändern – es erforderte nur Ruhe und Geduld. Die Wellen verwandeln Felsen in Sand. Sand glättet alle Spuren. Sei wie die Wellen: beständig, ruhig und furchtlos …

Dagger war wütend, weil Ferret das Gespräch einfach abgebrochen hatte und ihn ignorierte. Wirklich schade, dass diese beiden Arschlöcher nicht zusammen mit den anderen abgekratzt waren, sie gingen ihm jetzt wirklich auf den Geist. Dieser blöde Alien und der Knirps zwangen ihn dazu – ihn! –, seinen Plan zu ändern und Zeit zu vergeuden. Diese aufgekratzten Idioten bildeten sich anscheinend nicht nur ein, dass sie etwas bedeuteten, sondern darüber hinaus auch noch, dass sie so etwas wie Märtyrer waren.

Die Wut begünstigte dazu noch ein paar andere Dinge. Sein Herz schlug heftig, als er jetzt wieder schneller ausschritt. In seiner Jugend war eine seiner geheimen Ängste die Dunkelheit gewesen. Er hatte geglaubt, das jetzt hinter sich zu haben, schließlich hatte er die Nachtausbildung absolviert, war auf der Überlebensschule gewesen, hatte Hunderte von Übungen und mindestens ein Dutzend echte Feldeinsätze hinter sich. Er zuckte zusammen, als ein Ast sich bewegte und ihm über die Wange strich; wütend stieß er ihn weg. Er hatte keine Angst, verdammt. Er hielt die Wut frisch in seinem Bewusstsein, aber sie verblasste, wenn auch nur langsam.

In menschlichen Siedlungen gab es nachts immer etwas Licht und Getriebe. Und auf den bevölkerten Planeten war die Lichtverschmutzung so ausgeprägt, dass man immer irgendwo am Horizont den warmen Schein einer Stadt ausmachen konnte. Militäranlagen hatten Generatoren, und auf ihnen herrschte Betrieb. Hier war absolut nichts. Nichts außer diesem so genannten Stützpunkt der Kleckse, und das waren alles Hologramme. Nichts außer lokalen Kreaturen, die ihn auffressen wollten. Nichts außer dem Darhel, der vor ihm floh, auch wenn er es geschafft hatte, seine Drohungen sehr echt klingen zu lassen. Niemand außer Ferret, der dort draußen war, aber nicht redete. Niemand außer den Geistern seiner ehemaligen Teamkollegen. Sein Bewusstsein fing jetzt an, ihm etwas vorzumachen. Da war der tranceähnliche Rhythmus von Gun Dolls Musik. Gorillas Schnarchen, die zynische Präsenz des Captains und Shivas Ruhe. Er drehte sich um, blickte nach hinten, wie er das jetzt alle paar Minuten tat. Doch hinter ihm war nichts, und das wusste er auch, aber hier draußen war's einfach verdammt unheimlich. Und bei all diesem lokalen Kroppzeug konnte es durchaus sein, dass sich eines von den Biestern von hinten an ihn heranschlich.

In Wahrheit hätte jeder Angst gehabt. Diese Umgebung weckte sämtliche Ängste, die die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung überwunden hatten. Es war dunkel, zu still, zu bedrohlich und einsam. Aber Daggers Ego hatte seine Umgebung nie in solchen Kategorien wahrgenommen. Er hatte seine Schwächen so lange hinter einer Maske unterdrückt, dass ihr plötzliches Auftauchen ihn jetzt mit Angst und Schrecken erfüllte. Um Ängste zu überwinden, muss man sich ihnen stellen, und Dagger hatte sein ganzes Leben damit verbracht, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Er musste in Bewegung bleiben. Dieser verdammte Darhel, der Teufel sollte ihn holen, war immer noch unterwegs. Wann würde diese kleine Ratte endlich müde werden? Dagger erinnerte sich vage daran, dass der Darhel angeblich den Qualifikationskurs mit einem Rekordergebnis bestanden hatte, und er fing an sich zu fragen, ob das wohl stimmte. Dann wurde ihm bewusst, dass eine solche Höchstleistung nicht einmal eine obere Grenze für die Fähigkeiten dieses Mistkerls darstellen musste, eher vielleicht eine untere. Und das war beängstigend.

Nee, so gut konnte der gar nicht sein. Dagger hatte schließlich schon einiges hinter sich. Und jetzt ließ er zu, dass er sich über nichts und wieder nichts ängstigte. Nichts. Was für ein Schlappschwanz hatte denn schon Angst vor der Dunkelheit? Er konnte die Käfer abschießen, so schnell sie ihn angreifen konnten, und Tirdal war weit, weit entfernt.

Er stieß einen erschreckten Schrei aus, als ihn etwas in die Rippen stupste, hatte sich dann aber gleich wieder im Griff. Er schluckte und hieb den Ast wütend weg.

Und dann wurde er zum Berserker.

Nicht, dass sich äußerlich erkennbar etwas an ihm verändert hätte, bloß seine Gangart wurde schneller, er bewegte sich jetzt fast im Laufschritt, schlug die Äste weg und war sich dabei gar nicht bewusst, dass er damit seine Tarnung der Schnelligkeit opferte. Er wusste nur, dass er diesen verdammten Darhel fangen würde und dass er keine Angst vor der Finsternis hatte. Er stolperte über eine Wurzel, und das steigerte seine Wut nur noch auf eine höhere Ebene. Er keuchte, hyperventilierte, achtete überhaupt nicht mehr auf seine eigene Sicherheit, denn jetzt trieb ihn nur noch sein Wunsch, diesen verdammten Darhel zu fangen.

Ferret beschleunigte seinen Marsch, während seine Beine allmählich taub wurden. Dieses Gefühl von tausend Nadeln, die ihn stachen, reichte jetzt fast bis zu den Schenkeln herauf, und er spürte das Buschwerk kaum mehr, das ihn streifte. Es war gut, dass er der Verfolger war, und er musste darauf achten, dass es so blieb, weil er ganz sicherlich Spuren hinterließ. Immerhin war der Schmerz jetzt weg. Es war seltsam, seine Füße nicht zu spüren, aber sie funktionierten, auch wenn der linke bloß der Holzfuß einer Marionette war und nicht etwa ein richtiger Fuß.

Die herannahende Dunkelheit würde ihm zustatten kommen. Wenn diese beiden, ganz besonders Dagger, da Tirdal ja nicht sehr gut war, nicht ganz sorgfältig nach hinten Ausschau hielten, brauchte er nicht zu befürchten, dass er plötzlich auf sie stieß. Aber sobald er eine Anzeige auf seinem IR bekam, sollte es ihm keine Mühe bereiten, den beiden in einiger Distanz zu folgen. Außerdem war es viel schwieriger, sich lautlos in der Dunkelheit zu bewegen. Dagger würde vielleicht nicht so viel Lärm machen, aber Tirdal ganz bestimmt, und die beiden zusammen sollten eigentlich eine Kleinigkeit sein.

Ein Schwindelanfall überkam ihn, und er kauerte sich nieder, um ein wenig zu verschnaufen, versuchte das zumindest. Er legte sich flach in die Büsche, spürte, wie sie an ihm entlangscharrten, und roch an einigen Bäumen das Harz. Der Boden roch ein wenig faulig, und er glitt wahrscheinlich ein Stück aus, als das schmierige Blattwerk über seine Stiefelsohlen glitt. Mein Gleichgewichtssinn ist beim Teufel dachte er, das ist wegen meiner Füße. Er nahm sich vor, besonders vorsichtig zu sein. Von dort unten konnte er mit keinerlei Feedback rechnen.

Ferret fragte sich, ob das Schwindelgefühl und die damit einhergehende Übelkeit auf seine verletzten Füße zurückzuführen war, aber so schnell sollte das eigentlich nicht gehen. Viel eher war es das Zusammenwirken von Schock, Schmerz, Medikamenten und dem Mangel an Nahrung und Schlaf. Er war jetzt seit beinahe achtundzwanzig Stunden wach und hatte auch vorher nur wenig Schlaf bekommen, und sein Allgemeinzustand war auch nicht gerade der beste. Einfach innezuhalten konnte er sich jetzt allerdings nicht leisten. Das Beste war, einfach weitermachen und hoffen, dass die beiden irgendwann, bald, ausruhen mussten. Tatsächlich mussten sie das sogar mit Sicherheit, es sei denn, er stellte für sie eine unmittelbare Bedrohung dar. Und das war ein weiterer Grund, sich ganz still zu verhalten und keine Geräusche zu verursachen.

Trotzdem waren sie im Vorteil. Wenn sie Rast machten, konnten sie sich mit Wachen abwechseln. Ferret hatte nur sich selbst. Aber wenn sie Rast machten, bewegten sie sich nicht.

Er sah wieder auf sein Peilgerät. Tirdals Vorsprung war geschrumpft. Trotzdem hatten sie beide den Abstand zu ihm vergrößert. Er würde also alles in seiner Macht Stehende tun müssen, um schneller zu werden. Seufzend griff er in seinen Beutel, suchte dort weitere schmerzstillende Mittel und ein stärkeres Stimulans. Er tat das höchst ungern; schmerzstillende Mittel reduzierten notwendigerweise sein Wahrnehmungsvermögen, und von dem Stimulans wurde ihm übel. Aber wenn er die Chance haben wollte, aufzuholen, war beides notwendig.

Jetzt öffnete er die letzte Ration, um während des Marsches daran zu kauen, stopfte sich das Päckchen in den Gürtel und setzte sich wieder in Bewegung. Mit dem rechten Fuß ausschreiten, bis das Gewicht das Knie traf, dann den linken Fuß vorschieben. Sobald das Gewicht darauf lagerte, mit dem rechten ausschreiten und mit dem linken schieben. Er nahm seinen schwankenden, hinkenden Marsch wieder auf und entschied für sich, dass das Tempo ausreichend war. Der Schmerz hatte sich etwas gelegt, und sobald die letzte Pille zu wirken begann, würde er noch ein wenig schneller werden.

Den Spuren zu folgen war nicht schwierig, selbst in der Dunkelheit. Ferret war auf einer Randwelt aufgewachsen und hatte seit seinem fünften Lebensjahr gejagt. Für ihn war das Terrain ein offenes Buch, in dem man lesen konnte. Abgeknickte Blätter und Zweige verrieten ihm, dass jemand hier durchgekommen war. Dieser Kratzer an einem Baum und diese Schneise durch den Busch deuteten auf eine lange Waffe: Dagger. Und diese platt gedrückten Stellen waren auf Füße zurückzuführen, deren Geometrie anders als die eines Menschen waren: Tirdal.

Und dann war da eine Spur durch die Gräser, die eine größere lokale Lebensform verursacht hatte. Er studierte sie halb im Laufschritt, als er sie überquerte. Ja, hier war etwas schnell durchgekommen, hatte etwas Kleineres verfolgt. Ein Räuber also. Ein Räuber war für ihn mit seiner Behinderung sogar noch schlimmer, schließlich wollte er ja nicht schießen und damit seinen Standort verraten. Er war nicht sicher, ob ein Messer gegen den Räuber ausreichen würde, aber wenn er sich den Verfolgten nicht verraten wollte, war das für ihn die beste Lösung. Wenn er schoss, war das für sein Überleben wahrscheinlich förderlicher. Aber beides hing davon ab, dass die jeweilige Waffe diese entsetzlichen Exoskelette durchdringen konnte, die die örtlichen Lebensformen hatten.

Und genau in diesem Augenblick trottete der in Rede stehende Räuber wieder vorbei. Er war etwa so groß wie ein Hase, und drei weitere Exemplare ähnlicher Größe folgten ihm. Vermutlich hatte sein Hinken unregelmäßige Vibrationen durch das Erdreich geschickt und sie angelockt. Was auch immer es war, Ferret sah, wie sich etwas bewegte, sich plötzlich ihm zuwandte und angriff. Er riss das Messer aus der Scheide und versuchte, sie aufzuhalten.

Der Erste war ein Kinderspiel. Er hatte die Klinge rechtzeitig unten, und das blöde Ding versuchte danach zu beißen. Die Klinge bestand aus einem hochverdichteten Polymer, auf das eine Keramikschneide aufgeschweißt war. Der Käfer schnitt sich an der fast molekülfeinen Schneide den eigenen Unterkiefer ab. Einen Augenblick lang konnte Ferret ihn ganz deutlich mit seiner IR-Brille sehen, ein zappelnder Käfer von fast dreißig Zentimeter Länge. Dann fiel er herunter.

Die anderen drei versuchten sofort anzugreifen. Der Erste sprang, und Ferret wich aus, indem er stürzte. Das war nicht seine Absicht gewesen und führte dazu, dass sofort neuer Schmerz durch seine Beine schoss, aber immerhin wich er damit dem Biss aus. Ein Schlag auf den kurzzeitig verwirrten Käfer konnte seinen Chitinpanzer nicht aufreißen, zerdrückte aber seine Beine, da der Angreifer keine Zeit hatte, sie einzuziehen. Er wand sich hilflos im Unterholz, würde allerdings kein Problem mehr darstellen.

Aber die beiden anderen waren jetzt über ihm. Einer nagte an seinem rechten Stiefel. Zumindest hoffte er, dass es bloß sein rechter Stiefel war. Sein Fuß war zwar ohne jedes Gefühl, aber für seinen Marsch brauchte er ihn trotzdem in funktionsfähigem Zustand. Jetzt fing der zweite Käfer an, seinen Rucksack zu attackieren, schnatterte dicht an seinem Ohr und jagte ihm eine Heidenangst ein.

Zuerst der am Fuß. Der war leichter zu erreichen. Methodisch und ruhig schob ei die Messerklinge mit dem stumpfen Rand nach unten zwischen seinen Fuß und den Käfer und hoffte, dass der nicht an der Klinge entlang klettern und nach seinem Arm schnappen würde. Einen Augenblick lang klammerte der Käfer sich an seinen Fuß und löste sich dann. Die Messerspitze drückte ihn gegen einen Baum, fand einen Augenblick Widerstand und spießte ihn dann auf. Der Käfer schlug wütend um sich.

Mit einer schnellen Bewegung löste Ferret den Verschluss seines Rucksackgeschiirs, ließ ihn herunterfallen und drehte sich um, um den anderen Plagegeist aufzuspießen. Bei dem weichen Boden, auf dem er stand, konnte er ihn nicht durchbohren, aber trotzdem taumelte er schnell davon.

Ferret holte keuchend Luft, war plötzlich hellwach – etwas, was die Präparate bei weitem nicht so gut bewirkt hatten – und eine warme Flut von Adrenalin durchpulste ihn. Sein Kopf fuhr herum, um zu sehen, ob noch andere in der Nähe waren.

Doch da war nichts. Bedächtig schob er das Messer in die Scheide zurück, warf einen schnellen Blick auf seinen Stiefel und registrierte befriedigt, dass er unversehrt war, wenn auch die zähe Oberfläche Spuren des Angriffs zeigte. Dann schulterte er erneut seinen Rucksack, schob ihn sich mit einem Schulterzucken zurecht und schnallte die Riemen fest. Allerdings schaffte er es nicht, die ursprüngliche Position wieder herzustellen. Der Rucksack saß jetzt anders auf seinen Schultern, und er würde eine Weile brauchen, bis er sich daran gewöhnt hatte. Aber er war am Leben, im Großen und Ganzen unverletzt, wenn man von Knöchelaufschürfungen an seiner bereits von einem Käfer gebissenen Hand und einer schmerzenden Hüfte absah. Und er war erneut in Bewegung.

Was Dagger dazu trieb, Ferret zu rufen, war Angst, obwohl er das nie zugegeben hätte. Der bloße Klang einer menschlichen Stimme oder, selbst wenn Ferret nicht antwortete, das Wissen, dass er da war, verminderte seine Angst vor dieser schwarzen Hölle, in der er sich bewegte. Der schwarzen Hölle, die im Sichtfeld seines Nachtsichtgeräts hell und körnig wurde, Äste und Zweige, die wie Flügel oder wie Arme nach ihm tasteten, über seine Beine streiften oder, was noch schlimmer war, seinen Kopf. Seine Zähne klapperten, und die Knie zitterten ihm, aber er schritt weiter aus. Verdammt sollte dieser Darhel sein, er musste diesen kleinen Mistkerl fangen, sonst würde er mächtig Mühe haben, diese ganze verpatzte Situation zu erklären. Wenn die ihn schuldig sprachen, würden sie ihn an die Wand stellen, und ohne die Box hatte er keine Chance, die Republik zu verlassen.

»Bist du jetzt so weit, dass du aufgibst, Ferret?«, fragte er. Der bloße Akt des Redens drängte die Angst ein wenig zurück.

Keine Antwort, deshalb fuhr er fort: »Du weißt ja, dass wir dich in die Zange nehmen und umbringen werden, du verdammter kleiner Krüppel.«

Immer noch nichts.

»Aber ich möchte fair sein, Ferret. Sag mir, wem ich Grüße schicken soll, dann werde ich denen sagen, dass du mutig gestorben bist.«

Diesmal bekam er Antwort. »Wie mutig, Dagger?« Ferrets Stimme klang zornig. Gut. Dagger konnte fast seine Zähne knirschen hören. »Tapfer gegen dich? Oder wirst du das dem Darhel in die Schuhe schieben und ihn ebenfalls umbringen? Denn den Klecksen kannst du das ganz sicherlich nicht anhängen, das würde dir keiner glauben.«

Darauf wusste Dagger nicht gleich eine Antwort, und er zögerte einen Augenblick. Ferret fuhr fort: »So ist's doch, oder? Er ist gar nicht dein Verbündeter, er kommt dir bloß gelegen.«

Dagger schnaubte. So hatte er das nicht geplant.

Aber Ferret redete immer noch. »Ich frage mich nur, ob ich ihn davon überzeugen kann? Hey, Dagger? Wäre doch ziemlich schlimm für dich, wenn wir jetzt zusammen anfangen würden, auf dich Jagd zu machen, oder?«

Darauf konnte er antworten. »Überhaupt nicht, Ferret. Mir macht es überhaupt nichts aus, das Fadenkreuz über dein Gesicht zu legen und zuzusehen, wie es auseinander platzt. Das wäre was zum Lachen. Und du glaubst doch nicht etwa, dass ein beschissener Darhel mir Ärger machen kann, oder? Bildest du dir etwa ein, dass er dir glauben wird? ›Oh, ich habe bis jetzt nicht mit dir gesprochen, aber in Wirklichkeit bin ich auf deiner Seite.‹ Er wird dir das aufs Wort glauben.«

»Er? Schwierigkeiten? Nein«, erwiderte Ferret. »Aber ich kann mich besser an dich ranpirschen als du dich an mich. Und irgendwann wirst du schlafen müssen. Ich muss im Übrigen gar nicht wirklich mit Tirdal reden. Ich weiß, wo ihr beide seid. Bis später, du Scheißkerl. Das nächste Geräusch, das du hörst, wird sein, wenn deine Brust explodiert.«

Dagger knurrte erneut und entschied, dass er am besten gleich mit Tirdal sprach. Wenn er es schaffte, dass die beiden weiterhin voreinander Angst hatten, konnte er sie gegeneinander ausspielen.

»Hey, Tirdal«, rief er.

»Ja, Dagger? Keine Beleidigungen mehr?«

»Für den Augenblick, Tirdal, für den Augenblick«, sagte Dagger und grinste, obwohl niemand ihn sehen konnte. »Ich habe eine Überraschung für dich.«

»Oh? Etwa ein Geschenk? Zu welchem Anlass?« Tirdal gab sich alle Mühe, locker und vergnügt zu klingen, fast menschlich. Bei seiner tiefen Stimme und seiner langsamen Sprechweise gelang ihm das nicht ganz. Es klang eher unheimlich.

»Irgendwie schon, Tirdal«, sagte Dagger und nickte sich dabei selbst zu. »Ferret ist noch am Leben und hier bei mir. Erinnerst du dich, wie gut er im Spurenlesen ist?«

»Interessant, Dagger. Dir ist sicherlich klar, dass es mir einigermaßen schwer fällt, das zu glauben. Wenn du wirklich einen Verbündeten hättest, hättet ihr mich sofort in die Zange genommen oder einer von euch beiden hätte die Box an sich gebracht, ehe du das ganze Team ›alle gemacht‹ hast.« Tirdal klang nicht sehr beunruhigt. Seine besonnen, ruhig klingende Stimme war ein weiterer Grund, weshalb Dagger ihn so schnell wie möglich tot wissen wollte.

Tirdal hatte offensichtlich Ferret nicht gespürt, schloss er! Er hielt dies für einen Bluff, aber er sollte es wissen. Wenn nicht, dann definierte das eine Grenze seiner telepathischen Fähigkeit. Ausgezeichnet, das zu wissen.

»Nun ja, es hat sich glücklicherweise so ergeben«, sagte Dagger und mühte sich, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er musste sich wirklich genau überlegen, was er sagte, wenn er mit diesem verdammten Elf sprach. »Aber als uns klar geworden war, wie sehr wir beide Darhel hassen und wie wertvoll die Box ist, wurde es ganz leicht. Wenn wir beide dich erledigen, bekommen wir beide Geld. Da kommt jeder von uns beiden gut weg. Bloß du natürlich nicht, weil du dann ja tot sein wirst. Die Tatsache, dass du ihn nicht spüren kannst, verschafft uns noch einen zusätzlichen Vorteil, obwohl wir den eigentlich gar nicht brauchen. Du bist tot.«

»Also schön, Dagger«, erwiderte Tirdal. »Du hast einen Verbündeten. Wirklich erstaunlich, dass du in der Auseinandersetzung mit einem armseligen Darhel so viele Vorteile brauchst. Allmählich glaube ich, dass du gar nicht so beängstigend bist, wie du alle glauben machen willst.«

Das schmerzte etwas, sobald er die Bemerkung auseinander sortiert hatte. Tirdal konnte besser mit der Sprache umgehen als Dagger. Er musste Jahre mit ihrem Studium verbracht haben, um so sarkastisch formulieren zu können. Aber eine Milliarde Credits standen auf dem Spiel, und daran würden auch Worte nichts ändern.

»Tirdal, mit einer Milliarde macht es mir nichts aus, großzügig zu sein. Deshalb habe ich dir ja angeboten, dich zu beteiligen. Aber du willst es nicht, und auf die Weise bleibt einfach mehr für mich und Ferret übrig.

Und was die Fairness angeht, weshalb sollte ich mir das antun? Wir alle wissen, dass Ferret der beste Spurensucher ist und ich der beste Schütze bin, und du bist nichts. Wir versuchen nicht etwa, Macho zu sein oder etwas zu beweisen, wir werden dich einfach umlegen.«

»Das sagst du, Dagger. Um eine abgedroschene Wendung zu benutzen: ›Da müsst ihr mich schon zuerst fangen.‹ Adieu.«

Dagger wusste, dass es keinen Sinn hatte, darauf zu antworten. Das wäre nur Zeitverschwendung. Tirdal würde nicht zuhören. Aber immerhin hatte er die Saat des Zweifels in ihm gelegt. Wenn er fortfuhr, die beiden gegeneinander auszuspielen, würden sie beide seine Verbündeten sein und dabei glauben, gegen ihn zu sein. Es war sogar möglich, dass Ferret den Darhel für ihn erledigen würde, falls Dagger es schaffte, nahe genug heranzukommen, um ihn in die Zange zu nehmen, worauf Ferret ihn dann von hinten erledigen konnte. Und Dagger konnte die Entladung einer Waffe mit Leichtigkeit auf ihren Verursacher zurückverfolgen.

Ja, dies sollte immer noch gut ausgehen.

Je schneller die Morgendämmerung einsetzte oder sie den Wald hinter sich brachten, umso glücklicher würde Dagger sein. Dies hier war alles andere als angenehm. Er verzog das Gesicht. »Ich bin kein Feigling. Es ist einfach bloß dunkel.« Aber das nahm ihm seine Ängste nicht. Verdammt noch mal, schließlich gab es hier doch bloß ein paar Käfer, und die konnte er mit Leichtigkeit wegputzen.

Und Ferret. Warum war Ferret immer noch am Leben? Er blieb erneut stehen, den Rücken einem Baum zugewandt, und drehte sich im Kreis, immer noch mit dem Rücken zum Baum, suchte mit seinem Sichtgerät nach irgendwelchen im Infrarot sichtbaren Aktivitäten.

Kleine Käfer, aber noch keine größeren Räuber. Und keine Spur von Ferret.

Ferret entschied, dass er von Tirdal hören musste. Er würde doppelt vorsichtig sein müssen, sich genau überlegen, was er sagte und fühlte, weil dieser kleine Dreckskerl ja in seinem Bewusstsein herumstochern konnte, aber er brauchte auch Informationen. Was auch immer er von dem Darhel kriegen konnte, würde ihm helfen. Viel würde es wahrscheinlich nicht sein; diese tiefe, bedächtige Stimme ließ nicht viele Untertöne durchkommen, und als Alien musste Tirdal die Wörter sogar bewusst betonen. Wenn er sich dafür entschied, das nicht zu tun, klang seine Rede einfach monoton. Ferret würde also nur wenige Andeutungen bekommen, aus denen er auf irgendwelche Absichten schließen konnte. Das war eine ganz neue Art des Spurenlesens.

Er atmete noch einmal tief durch, um sicherzugehen, dass seine Stimme ganz ruhig klang, wählte dann den Kanal und sagte: »Tirdal.«

»Ferret«, kam die Antwort. »Du lebst also.« Ferret reduzierte die Lautstärke. Er hatte die Stimme des anderen ganz laut haben wollen, um auch feinste Details erkennen zu können oder irgendwelche Hintergrundgeräusche, die nicht herausgefiltert waren, aber das beeinträchtigte sein Hörvermögen für die eigene Umgebung. Zwischen all den Bäumen und im Dunklen war sein Gehörsinn äußerst wichtig.

»Überrascht, Tirdal?«, fragte er. »Du weißt doch, dass Dagger in Wirklichkeit nicht dein Verbündeter ist. Er nutzt dich bloß aus, um sich das ganze Geld alleine unter den Nagel zu reißen.«

Tirdal antwortete: »Als Darhel, also mutmaßlich jemand, den du ›Kapitalist‹ nennen würdest, erstaunt mich die Habgier der Menschen. Geld ist ein Werkzeug, das man einsetzt, um Dinge zu bewirken. Und doch scheint ihr es häufig nur als Statussymbol zu sehen. Was willst du denn mit einer halben Milliarde Credits anfangen, Ferret? Wären denn nicht dreizehn Millionen als Anteil genug? Besonders da das Artefakt ja ein Glücksfund war und nicht etwa etwas, was du dir verdient hast?«

Was war das wieder für ein Spiel? »Ich bin nicht des Geldes wegen hier, Tirdal. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass ihr beiden Mistkerle sterbt und die Box an das Wissenschaftsbüro der Republik gelangt.« Wieder ein abgeknickter Zweig. Er war immer noch auf der richtigen Spur.

»Also, Ferret, das ist jetzt zugleich amüsant und beleidigend für meine Intelligenz.«

»Wieso das?«, fragte Ferret. Der Alien beunruhigte ihn. Er strahlte solches … Selbstvertrauen … aus.

»Ferret, wenn du vorgehabt hättest, dich mit mir zu verbünden, hättest du dich gemeldet, als Dagger und ich aufeinander schossen, und hättest angeboten zu helfen.«

»Waaas?«, erwiderte Ferret. »Ich habe gehört, wie ihr beiden die Verwundeten erschossen habt. Ich habe euch gehört. Und dann bist du mit dem Artefakt an mir vorbeigerannt, während Dagger die Leichen ausgeplündert hat. Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich?« Er konnte einfach nicht glauben, dass Tirdal das auch nur versuchte. Hatte Dagger ihn so gründlich eingeseift? Hatte er wirklich eine so geringe Meinung von Ferret? Die Beleidigung machte ihn wütend. Ferret war kein politisches Genie, auch nicht sehr gebildet, aber er war intelligent und in dem Spezialfach, für das er sich entschieden hatte, sehr gut. Eine weitere Spur, die er in dem Augenblick entdeckte, bestätigte ihn darin. Dagger war hier durchgekommen.

Was zum Teufel trieb dieser Tirdal für ein Spiel? Bildete er sich ernsthaft ein, Ferret einfach abtun zu können? Wenn er wirklich glaubte, dass die beiden Menschen ein Team waren, warum zeigte er dann nicht mehr Angst? Oder hatte er noch ein Ass im Ärmel stecken, das ihm gegen den Scharfschützen helfen würde? Vermutlich war das der Grund, weshalb ihn Ferrets Existenz beunruhigte. Ferret war eine weitere Bedrohung, die er nicht eingeplant hatte.

Hatte Dagger es ihm nicht gesagt? War es möglich, dass die beiden ihr eigenes Spiel mit dieser Box trieben? Das war eine Möglichkeit. Dagger hatte das Team ermordet, Tirdal hatte den Augenblick genutzt, die Box an sich zu bringen. Und jetzt kämpften sie beide gegeneinander. Ferret würde also jeweils nur gegen einen kämpfen müssen, weil keiner dem anderen helfen würde. Das war eine gute Theorie und würde auch erklären, weshalb die beiden nicht zusammen unterwegs waren. Tirdal riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich halte dich nicht für dumm, Ferret. Deshalb werde ich mir jetzt nicht anhören, wie du versuchst, dich bei mir einzuschmeicheln. Ich habe diese Technik in den Videoshows der Menschen gesehen. Dagger spielt den Bösen, du den Anständigen. Aber ich lasse mich nicht reinlegen. Also, wie steht's, hast du etwas Brauchbares beizutragen? Oder sollen wir die Jagd wieder aufnehmen?« Die spöttische Frage versetzte Ferret erneut in Wut. Er konnte einfach nicht glauben, dass Tirdal, der schließlich die Eine-Milliarde-Credits-Box hatte, versuchte, das unschuldige Opfer zu spielen. »Oh ja, es ist schon eine Jagd«, erwiderte Ferret. »Und du wirst sie nicht überleben, Darhel.«

»Das war die ganze Zeit der Plan, Ferret. Nur bedauerlich, dass es zwei Menschen braucht, um einen Darhel aufzuwiegen. Adieu.«

»Arschloch!«, brüllte Ferret fast ins Mikrofon, ohne dabei auf seine eigene Lärmdisziplin zu achten.

Es kam keine Antwort.

Tirdal schickte seine normalen Sinne und seinen Spürsinn in die Dunkelheit hinaus. In Abwesenheit undisziplinierter Gedanken von Menschen, die ihn aus einer Entfernung nur weniger Meter anbrüllten, konnte er die Umgebung fühlen. Sie war urtümlich und primitiv, aber nicht unfreundlich. Nur wenige Insektoiden nahmen seine Anwesenheit wahr, allenfalls als das Vorüberziehen einer Kreatur. Er war für die meisten zu groß, um ihnen Sorge zu bereiten, und zeigte auch nicht die chemischen Anzeichen einer Bedrohung. Anderen erschien er nicht als Beute und wurde deshalb ignoriert. Wieder andere fühlten seine Bewegung und wurden wachsam, suchten eine Mahlzeit, aber das war in allen Fällen schlicht Hunger, nicht Hass oder Wut. Nur eine einzige glühende Flamme des Zorns gab es dort draußen, und die war weit entfernt. Fern war sie, aber in ihrer Intensität wie weiß glühender Stahl. Ferret war noch nicht wahrzunehmen. Tirdal fokussierte seinen Sinn und suchte. Dort. Hinter Dagger und ganz schwach. Ferret beschlich also den anderen. Er war auch nicht so besessen wie Dagger. Es würde schwierig sein, ihn weiter zu verfolgen, aber er war weiter entfernt und stellte daher die geringere Bedrohung dar. Wahrscheinlich würden die beiden in Kürze zusammentreffen. Das würde die Bedrohung steigern. Worauf Tirdal achten musste, war, ob die beiden dann ausschwärmten, um ihn in die Zange zu nehmen.

Es war durchaus möglich, dass die beiden keine Verbündeten waren, aber aus Tirdals Sicht stellten beide Bedrohungen dar. Er würde darauf achten müssen, nicht in Terrain zu gelangen, wo er für einen der beiden eine Zielscheibe darstellte. Seinen Tod wollten beide.

Andere Menschen gab es nicht. Er vergewisserte sich. Es war beunruhigend, dass Ferret es geschafft hatte, seiner Wahrnehmung zu entgehen, wo er doch die meiste Zeit so nahe gewesen war. Vielleicht hatte der Schmerz des Neuraleffekts ihn betäubt, aber auch ein Schmerzen empfindendes Bewusstsein hätte erkennbar sein müssen. Möglicherweise hatte ihn der kollektive Aufschrei von vier anderen menschlichen Bewusstseinen überdeckt. Trotzdem durfte er sich nicht auf seinen Sinn allein verlassen, da dieser eindeutig seine Grenzen hatte.

Andere Menschen waren nicht auszumachen, dafür aber Hunger. Er wurde verfolgt, von mehreren größeren Räubern beschlichen und dazu wenigstens von einem fliegenden Säuger. Er konnte ihr Nahen spüren, auch wie die meisten von ihnen abbogen, wenn er ein besonders definiertes Territorium verließ oder einfach außerhalb des Bereichs anlangte, der für sie interessant war. Aber einige gab es, die immer näher rückten. Gelegentlich gab einer davon die Verfolgung auf, aber dann traten gleich andere an seine Stelle.

Und dann war da dieser eine. Er rückte näher, und der Hunger, den er spürte, war kräftig und trieb ihn an. Dieser Verfolger würde angreifen, dessen war er sicher. Das war eine Krise, aber eine, der er sich gewachsen fühlte. Er rief die Jem-Disziplin auf und drängte das Tal auf ein niedrigeres Niveau zurück, rechnete mit einer Aufwallung, wenn er tötete. Er umfasste seine Punch-Gun fester und bereitete sich darauf vor, zu reagieren. Es würde bald sein, das fühlte er. Die Kreatur befand sich zu seiner Linken und rannte, war jetzt erregt, und er spürte animalische Gier.

Jetzt. Der Angriff kam, als er einen dicken Baumstamm passierte. Das Tier befand sich mitten im Sprung, gab leise, schnatternde Laute von sich und flog auf einer Bahn, die es ihm erlauben würde, Tirdal am Kopf zu packen. Das war freilich auch eine Bahn, die es in eine ideale Position für einen Punch-Gun-Schuss brachte, wenn auch eine so primitive Lebensform natürlich nicht vorhersehen konnte, was gleich geschehen würde.

Tirdal drehte sich um, um dem Sprung zu begegnen, hob die Waffe und schoss. Für einen menschlichen Beobachter wäre sein Schuss höchst instruktiv gewesen. Er war glatt und mühelos und erfasste das Tier an der Unterseite des Kopfes, während Tirdal sich unter seiner Flugbahn wegduckte. Das war nicht der Schuss einer ungeschickten, zum Töten unfähigen Kreatur.

Dann traf Tirdal ein Schlag seines Sinns.

Das Insekt war evolutionär gesehen das lokale Äquivalent eines Leoparden. Ein großer, geschickter Solojäger mit guten Instinkten und hoher Intelligenz. Es verfügte über Bewusstsein und Selbstbewusstheit und reagierte auf den Schuss. Da Tirdals Schuss perfekt platziert war, schrie sein Bewusstsein gequält auf, als ihm die halbe Schnauze weggebrannt wurde. Dann landete es auf ebendieser Schnauze, taumelte dabei zur Seite und brach sich das Genick.

TOD! Tirdal spürte ihn, taumelte, fiel zu Boden. Das Feedback durch seinen Sinn ließ ihn das schnelle, aber qualvolle Ende der Kreatur fühlen, der massive emotionale Ausbruch trieb etwas wie elektrische Eiszapfen in sein Gehirn, und Tal ergoss sich in seinen Blutstrom.

Es traf den Schmerz und spülte ihn beiseite, so wie eine Flut Unrat wegspült, brauste auf sein Gehirn und sein Ich zu. Er fühlte nicht einmal, wie die beschädigten Kanten seiner Brustplatte gegen Nerven mahlten.

Zitternd, bebend und stöhnend lag er auf dem Boden, als ihn köstliches Zittern durchlief und von seiner Schädelbasis Hitze in sein Nervensystem schoss. Er hatte sich frei und ungeschützt den Emotionen der Kreatur preisgegeben und empfing jetzt den Preis dafür. Ein süßes Gefühl, dick und sirupartig, aber es durchflutete ihn mit solcher Geschwindigkeit, dass es ihn überwältigte und er nicht reagieren konnte.

Lintatai. Er konnte es fühlen. Er hatte gedacht, es zu fühlen, als er Fleisch von den krebsähnlichen Klauen sog, aber das war nur ein Schatten dessen gewesen, was jetzt sein ganzes Wesen überwältigte, seine Wirbelsäule hinunterströmte bis hinaus zu den Zehen und Fingerspitzen. Es durchpulste sein Gehirn in Wellen, bis er es sehen und hören konnte, so mächtig wie ein Tropensturm über dem Meer.

Dann hörte es auf. Es zog sich nicht zurück, sondern verstärkte sich nicht mehr, als ein verborgener Teil seiner Entschlusskraft die Türen gegen seinen Sinn zuschlug und den Zustrom zum Halten brachte. Seine eiserne Disziplin und seine Ausbildung zerrten ihn zu einem Wirbel in der Strömung, wo er sein Selbst lange genug aufrechterhalten konnte, um klar denken zu können. Er ritt den Wellenkamm, glitt darunter und trieb nur einen winzigen Augenblick lang in der Strömung. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er schwamm immer noch in einem Meer mächtiger Empfindungen, aber er war jetzt wieder wachsam und seiner Umgebung bewusst.

Er hatte geglaubt, er würde die Zähne zusammenbeißen, hatte sich aber in Wirklichkeit in die Unterlippe gebissen. Feuchte Erde klebte an seiner Wange und war ihm in die Nase gedrungen. Gräser tasteten nach ihm, zuckten in der Brise seines gequälten Atems. All das war real, war präsent, und er klammerte sich daran, um Kraft und Stärke daraus zu schöpfen. Die kühle Luft. Die Dunkelheit. Er hatte sich entleert, als er die Kontrolle verlor, aber so unangenehm ihm das auch vorkam, es war eine reale Empfindung. Er wollte hinaustasten, aber seine Selbstkontrolle hinderte ihn daran. Nein, er durfte den Sinn jetzt nicht einsetzen. Unter keinen Umständen. Das Risiko eines Angriffs war bei weitem nicht so gefährlich wie das einer weiteren Talausschüttung.

Es brauchte lange Minuten langsamen, gemessenen Atems, um ein akzeptables Niveau zu erreichen. Er öffnete die Vorderseite seines Anzugs, damit die Wärme nach draußen entweichen konnte. Die Kühle des verdunstenden Schweißes half, da auch das etwas Reales, Externes war. Seine Kräfte und sein Gefühl der Balance stellten sich wieder ein, aber er blieb liegen, den Kopf auf einem ausgestreckten Arm, der sich von dem Kreislauf behindernden Griff um den Schaft der Punch-Gun verkrampft hatte. Er würde noch eine Weile warten, ehe er aufstand.

Was er hier lernte war, dass er seinen Spürsinn zügeln musste, wenn er kämpfte. Bis die Feindseligkeiten begannen, war er ein nützliches Mittel, um Kenntnisse über den Feind zu beschaffen, aber dann musste er weggesperrt werden. Manche Dinge sollten nicht gefühlt werden, und Kampf gehörte dazu. Kampf musste eine zerebrale Angelegenheit sein, um das Bewusstsein nicht zu korrumpieren. Also würde er kämpfen wie Menschen das taten. So kämpfte man eben.

Ein Lächeln, das nur aus Zähnen bestand, breitete sich auf seinem Gesicht aus. Eine weitere wertvolle Lektion, die er hier gelernt hatte. Eine, die er sofort nutzen konnte. Dagger bildete sich ein, Spaß am Töten zu haben? Er glaubte, gefährlich zu sein? Dagger hatte keine Ahnung!