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Die als Weckruf ertönenden Gongschläge wurden von Shivas kräftiger Stimme übertönt. Er sang aus voller Kehle: »Oh! What a beautiful morning!«, worauf Dagger, Thor und Ferret noch lauter zu schimpfen begannen.
»Es ist Zeit«, erinnerte sie Shiva. »Holt euch euer letztes warmes, zu Hause gekochtes Essen, gebt dem Bildschirm mit eurer Mama einen Abschiedskuss und stellt euch darauf ein, von jetzt an Schlamm zu fressen.«
Die Mahlzeit verlief in ziemlicher Hast, weil sie zwischendurch ihr Gepäck sortierten. Rucksäcke, Panzer, Helmdisplays und Kleidung wurden überprüft, wobei Shiva und Bell Toll sich eines Hilfsprogramms bedienten, um festzustellen, ob die Soldaten irgendwelche Probleme übersehen hatten. Gorilla hatte sich inzwischen beruhigt und wirkte beinahe fröhlich. Er sehnte sich mehr als alle anderen danach, den Ball zu verlassen und endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, selbst wenn es Feindesland war. Im Gegensatz zu ihm waren Gun Doll und Ferret ein wenig hektischer als die anderen, aber auch nicht mehr als bei früheren Einsätzen. Tirdal wirkte immer noch physiologisch normal. Seine Alphadaten passten überhaupt nicht dazu, dass er keinen Schlaf gehabt hatte, aber die Darhel unterschieden sich in ihrem Wesen so grundlegend von Menschen, dass es schwer war, daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen.
»Trockene Füße«, verkündete Bell Toll, als sie eine Tiefe erreichten, die weitere Tauchfahrt unmöglich machte. »Luft abblasen und entstöpseln.« Alle nahmen eine letzte Gelegenheit wahr, sich zu erleichtern, und entfernten dann die Apparaturen, die das möglich machten. Die Anatomie des Darhel war seltsam, aber keiner hatte Lust, sich dazu zu äußern, und deshalb wurden auch keine Fragen gestellt. Sie säuberten sich mit Handtüchern, weil es keine Duschen gab, und schlüpften in Kampfanzüge, dann nahm jeder noch ein paar Bissen zu sich und kauerte sich mit seinem ganzen Gerät nieder. Damit war die Mitte der Kugel voll gepackt, ein einziges Bündel Ellbogen an Ellbogen hockender Soldaten.
»Tirdal, fühlen Sie etwas?«, fragte Bell Toll. Er kam sich albern dabei vor und fand, dass seine Worte übermäßig melodramatisch klangen, aber er hatte keine Ahnung, wie er es sonst hätte formulieren sollen.
»Irgendwelche Tiere«, erwiderte Tirdal und ersparte es sich, näher auf das offenkundige Unbehagen einzugehen, das diese Frage dem Captain bereitete. »Primitive Denkvorgänge, die sich auf Hunger und Schmerz beziehen. Sonst nichts. Nichts Vernunftbegabtes in der Umgebung, mit Ausnahme des Teams.«
»Danke. Gorilla, los.«
Auf ein Signal von Gorilla hin wurde der erste Robot aus einer Seitenluke abgesetzt. Er trieb von der Kapsel weg, schwamm fast lautlos über die unruhige Wasserfläche und zog dabei einen Draht, nicht viel dicker als ein Haar, hinter sich her. Die Strömung vom Ufer behinderte ihn etwas, doch seine wie Paddel ausgebildeten Beine trieben ihn an, und nach einer kurzen Periode der Ungeduld erreichte er den mit Kieselsteinen bedeckten Strand.
Dieser Bot war ganz speziell wegen seiner Unauffälligkeit ausgewählt worden. Er sah aus wie ein riesiger Mistkäfer. Dass er sich dicht am Boden bewegte und sich kaum von den meisten Vertretern der örtlichen Fauna unterschied, war günstig, aber davon ganz abgesehen handelte es sich auch um eine kompakte und äußerst sinnreiche Konstruktion. Sobald der Bot Bodenfühlung hatte, schnüffelten seine »Antennen« nach Chemikalien, Geräuschen und Bewegungen. Als er nichts aufnahm, veränderte er seine Beine, und aus Paddeln wurden gegliederte Füße, auf denen er über das felsige Terrain hochkletterte und gleich darauf zwischen dem Gebüsch am Ufer verschwunden war.
Der Bildschirm zeigte jetzt, was seine Kamera erfasste, und jeder konnte das Bild auf seinem Visor in einem selbst gewählten Spektralbereich betrachten. Gorilla sagte: »Infrarot Drei liefert anscheinend das beste Bild«, worauf ein paar zustimmende Grunzlaute zu hören waren, als auch die anderen auf diesen Bildbereich schalteten.
»Gemäßigter Wald?«, fragte Gun Doll nach einem Blick auf die dunklen Büsche und Bäume.
»Ja, so was Ähnliches«, pflichtete Bell Toll ihr bei. »Ich bin nicht sicher, ob das wirklich Laubbäume sind. Könnten auch Palmgewächse sein. Das Unterholz ist sehr dicht.« Das war es. Ihre Bildschirme zeigten ein dicht ineinander verwachsenes Gestrüpp aus Büschen, über die breite, weit ausladende Bäume aufragten, die entfernt an Palmettos oder Gummibäume erinnerten. Und wiederum darüber türmten sich hohe, schlanke Waldriesen mit stacheligen Blättern wie Kaktuspflanzen auf. Die Vegetation drängte sich am Ufer zusammen, wo es den besten Zugang zum Sonnenlicht gab. Der Boden war mit dickem Lehm bedeckt, und darüber wucherte verfaulte Vegetation mit Löchern dazwischen, die offenbar Tiere gegraben hatten. Eine geschmolzene Sonne versank an einem rosa-blauen Himmel hinter den Bäumen.
»Da ist ein Tier«, sagte Dagger, dem selten eine Bewegung entging.
»Ich sehe es«, sagte Gorilla und schaltete eine der Kameras auf ein näheres Bild. Die Steuervorrichtung vorne an seinem Harnisch war für Finger oder Stimme eingestellt, doch wurde die Sprachsteuerung nur selten benutzt. Wenn er zu sehr mit Schießen beschäftigt war und deshalb keine Hand frei hatte, würde er Anweisungen brüllen, aber das galt es zu vermeiden. »Das ist die verdammt größte Küchenschabe, die ich je gesehen habe«, sagte er und vergrößerte das Bild so, dass alle sie deutlich sehen konnten.
»Eher eine Art Trilobit oder Silberfisch«, meinte Bell Toll.
»Was auch immer. Jedenfalls ein Insekt«, sagte Gorilla. »Wenn einer Angst vor Käfern hat, wird das unangenehm.«
»Hast du keine Angst vor Käfern, Gorilla?«, fragte Thor und kam damit Gorillas echten Phobien gefährlich nahe.
»Nur von innen«, sagte Gorilla, was einige zum Schmunzeln brachte. »Was hier möglich sein könnte. Da ist noch einer, eine andere Spezies. Anscheinend stellen Insektoiden hier die dominante Lebensform.«
»Wahrscheinlich, aber wir sollten uns da noch nicht festlegen«, wandte Bell Toll ein. »Es könnte doch riesige Vögel geben, die diese Dinger fressen.«
»Ja, durchaus möglich, Captain.«
»Du große Scheiße, schaut euch die Kiefer von diesem Mistkerl an!«, sagte Ferret und markierte die Kreatur mit einem Cursor.
»Kieferbacken, die man ernst nehmen sollte«, pflichtete Shiva ihm bei. Der »Käfer« durchschnitt damit etwa zehn Zentimeter dicke Pflanzenstängel. Die Stängel sahen nicht aus, als handle es sich um irgendwelches schwammiges Zeug, sie wirkten eher wie Holz oder Bambus. Als die abgeschnittenen Teile herunterfielen, packte sie der Käfer mit einer Art Krebsscheren und stopfte sie sich ins Maul, etwa so wie ein Kind Pommes frites essen mochte. Sie verschwanden auch ebenso schnell.
»Die Frage ist, gibt es etwas, was auf diese Dinger Jagd macht?«, fragte Ferret.
»Beruhigt es jemanden, wenn ich sage, dass der Bot Fäkalmaterie gefunden und festgestellt hat, dass sich darin Überreste von Fleisch befinden?«, wollte Gorilla wissen.
»Nein«, gab Ferret schaudernd zu.
»Im Augenblick fühle ich keine Fleischfresser«, sagte Tirdal. »Wenn es in der nahen Umgebung welche gibt, verfügen sie über kein Bewusstsein.«
»Säugetierähnlich!«, rief Bell Toll. »Dort!« Ein Lichtkreis glühte um die entsprechende Bildpartie herum, und Gorilla zoomte die Kamera darauf.
»Sieht ein wenig wie ein Capybara aus«, sagte er.
»Capybara?« Tirdal schaute fragend in die Runde.
»Eine große Nagetiergattung von der Erde.«
»Danke.«
»Dort fliegt etwas«, flüsterte Shiva, der etwas vorbeihuschen gesehen hatte.
»Hey, viel zu schnell! Anhalten«, protestierte Gorilla und markierte die Bildfolge, um sie später betrachten zu können. Dann leitete er ein Bild des Fliegers an die Bildschirme der anderen weiter.
Das fliegende Lebewesen war ebenfalls ein Säuger, es ähnelte ein wenig einer Fledermaus, hatte aber eine längere Schnauze. Ähnlich wie sein Capybara-Analogon war es von gelbbrauner Farbe. Seine Klauen waren lang, aber gebogen.
»Herde«, sagte Gorilla und zog das Bild so schnell nach Süden, dass alles auf den Bildschirmen verschwamm. Die grasenden Kreaturen waren Käfer, riesengroß, an den »Schultern« mindestens einen Meter hoch. Ihre Rückenschilde waren gestreift, was der Tarnung diente, und sie huschten durch die dunkler werdenden Schatten, wobei mehrmals der Eindruck entstand, sie würden verschwinden.
»Keine Anzeichen von Klecksen oder anderem intelligenten Leben? Keinerlei Technologie wahrzunehmen?«, fragte Bell Toll.
»Nichts, Sir. Ratten, Fledermäuse und Käfer«, kam die Antwort.
»Dann machen wir weiter«, sagte Bell Toll und ordnete damit den nächsten Schritt an.
»Yes, Sir«, erwiderte Gorilla und drückte mit dem Daumen einen weiteren Schalter. Der Draht, der ihn mit dem ersten Bot verband, wurde damit gekappt, sodass der Bot sich freier bewegen konnte. Vier weitere Bots stießen sich ab, schwammen an Land und torkelten ins Unterholz. Hinter ihnen fuhr die Kapsel dicht unter der Wasseroberfläche zwei Rohre aus, deren Öffnungen von Kraftfeldern abgedichtet waren.
Während die Bots an Land gingen und ihre elektronischen Sinnesorgane einsetzten, um etwaige Gefahren zu erkennen, bereitete das Team sich zum Verlassen der Kapsel vor.
Ferret war als Erster oben und schob seine Ausrüstung in das eine Rohr, ehe er selbst in das andere glitt. Er fragte sich häufig, ob dieses Gefühl etwa dem entsprach, das ein Baby bei der Geburt hatte. Es war ein langer, dunkler und enger Gang, wie ein Schlauch, in dem das Atmen Mühe bereitete. Das Zugfeld packte ihn und zog ihn nach oben, bis seine Hände die Mündung erreichten. Er holte tief Luft und glitt in das kalte Wasser. Dann griff er in die andere Luke und nahm zuerst seine Punch-Gun und anschließend seinen Rucksack an sich, der in einer Schwimmhülle steckte. Die beinahe hundert Kilogramm waren zu schwer, um damit zu schwimmen. Er schob bedächtig den Helm durch die Wasseroberfläche, achtete darauf, nur ein Mindestmaß an Wellen zu erzeugen, und stieß sich dann vorsichtig in die Höhe, bis seine Nasenlöcher über der unruhigen Wasserfläche waren.
Die Sensoren hatten ausgefiltert, dass es regnete, hatten einfach darauf verzichtet, das zu erwähnen. Der Regen beeinträchtigte zwar die Sicht, war aber nicht heftig genug, um eine ernsthafte Behinderung darzustellen, er würde sowohl ihnen Sichtschutz bieten wie auch irgendwelchen Bedrohungen. Es war einer jener kalten Dauerregenfälle, denen der Ausdruck »ein herrlicher Tag für FATs und Enten« zuzuschreiben war.
»Strömender, kalter Regen, aber keine unmittelbaren Bedrohungen«, meldete er im Flüsterton, und seine Helmsensoren folgerten aus seiner Stimmlage, dass dies eine Sendung sein sollte.
»Verstanden, Ende«, sagte Shiva von unten. »Tirdal, jetzt Sie. Bereithalten.«
»Yes, Sir«, bestätigte der Darhel und wiederholte Ferrets Prozedur mit den Rohren.
»Los«, befahl Shiva wenige Augenblicke später. Tirdal spürte, wie das Feld ihn erfasste und er in dem Rohr nach oben gezogen wurde. Als er das Kraftfeld passierte, atmete er tief durch, dann war er im Wasser.
Er griff sich seine Punch-Gun und den Rucksack und kam nahe bei Ferret an die Oberfläche.
Ferret fragte sich, wie es Tirdal erging. Der Atem des Darhel klang angestrengt, und er trat heftig Wasser, um an der Oberfläche zu bleiben. Augenblicke später schien er sich gefangen zu haben, und seine Bewegungen verlangsamten sich. Irgendein Mechanismus seines Anzugs sorgte dafür, dass er an der Oberfläche blieb. War Schwimmen für Darhel so schwierig?, fragte sich Ferret weiter. Vielleicht hatten sie eine größere Dichte als Menschen. Oder die Winkel seiner Gliedmaßen stimmten nicht. Egal. Jetzt schien bei ihm ja alles in Ordnung zu sein. Aber verdammt noch eins, wie der im Infraroten leuchtete! Entweder war er überstrapaziert oder es hatte mit seinem Stoffwechsel zu tun.
Ferret nickte und schwamm auf das Ufer zu, zog seinen Rucksack dabei hinter sich her. Eigentlich konnte man es Tirdal nicht verübeln, dass ihn das anstrengte. Das Schwimmen fiel hier verdammt schwer, es herrschte Wellengang und sie waren schwer beladen, und außerdem stellte er fest, je näher er dem Ufer kam, dass sie sich in dichtem Schlamm und einer Art Binsen bewegten. Und kalt war das Wasser auch. Er kam schnell genug voran: fünf Minuten für hundert Meter, das war angesichts des Wellengangs nicht schlecht. In Monaten der Ausbildung hatte er gelernt, die Atmung sofort zu reduzieren, wenn ihm Wasser in die Nase stieg. Es juckte, und das Tröpfeln war widerwärtig, aber darum würde er sich kümmern, wenn er an Land ging.
Als die ersten Brecher einsetzten, fing er zu kriechen an. Das Material des Anzugs war zäh genug, um eine Art ballistischen Schild zu bilden, aber es war dünn, und der grobe Kies bohrte sich in seine Knie, bis sie wund waren. Und das brannte im Salzwasser! Theoretisch konnte man den Anzug zu einer undurchdringlichen Membran abdichten. Bei kaltem Klima war das eine feine Sache, aber in diesem Wetter brauchte man Lüftung und Abfluss. Als die Wellen ihm nur noch bis zur Hüfte reichten, zog er sich seinen Rucksack heran. Er ließ die Luft aus dem Kissen, für das noch weitere vier Gaszylinder zum Aufblasen vorhanden waren, falls es noch einmal notwendig werden sollte, eine Wasserfläche zu durchqueren. Nach ein paar anstrengenden Sekunden schaffte er es, sich den Rucksack auf die Schultern zu ziehen, und setzte sich hin. Er rollte sich zur Seite, stützte sich auf seine strapazierten Knie, stemmte sich zu geduckter Haltung hoch und kroch in die Binsen am Strand, kratzte sich den Schlamm von den Stiefelsohlen und schob sich dann ins höhere Gras, um dort Deckung zu finden. Ein schneller Blick nach hinten zeigte ihm, dass Tirdal die Hälfte der Strecke zum Ufer zurückgelegt hatte und Gun Doll fast unsichtbar hinter ihm schwamm. Als er sich davon überzeugt hatte, sah er sich vorne nach möglichen Gefahren um. Der Regen kam in Wellen zischend herunter und übertönte andere Geräusche, vor allem im Wasser.
Und Tirdal war gut, viel besser, als man das im Training hatte erkennen können. Wenn die Linse hinten nicht gewesen wäre, hätte er gar nicht gewusst, dass der Darhel da war. Tirdal glitt, vielleicht fünf Meter links von ihm, ans Ufer und kauerte sich nieder, seine Punch-Gun nach außen gerichtet, aber mit einem Gesichtsausdruck, der eher nach innen gewandt schien. Ferret nutzte die Chance, sich zu schnauzen, einen Finger über einem Nasenloch, um den Druck zu verstärken. Schleim, Salzwasser und Sand schoss heraus, zuerst aus der einen, dann aus der anderen Seite. Er achtete darauf, dass es leise vonstatten ging und dicht am Boden, wischte sich den Finger am Ärmel ab und stemmte sich dann hoch, um zwischen den Grasbüscheln weiterzukriechen.
Gun Doll erreichte kurz darauf rechts von ihm das Ufer. Für eine Frau war sie groß, kräftiger gebaut als Ferret oder Dagger, aber viel kleiner als Gorilla, und die Last, die sie zu schleppen hatte, war fast ebenso schwer wie die seine. Neben ihrer dreiläufigen Kanone trug sie Energiepacks, Munition und einen Teil ihres Komm-Geräts. Sie bewegte sich langsam, sank tief im schlammigen Sand ein, als sie sich den Strand hinaufmühte.
Die drei arbeiteten sich vorsichtig an den Waldrand vor, alle Sinne angespannt, ob irgendwo eine Bedrohung auftauchte, als Gorilla hinter ihnen erschien. Er trug einen überdimensionierten, mit technischem Gerät voll gestopften Rucksack, der ihn neben seiner hünenhaften Gestalt zwang, sich flach auf den Boden zu legen, um sein Profil zu minimieren. Als Nächster kam der Captain und dann Dagger. Wieder arbeiteten sie sich ein Stück nach vorne, und dann tauchten auch Shiva und Thor auf, die die Nachhut bildeten.
Gorilla sandte ein Signal aus, das seine Bots nach vorne befahl. Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch das dichte Gestrüpp. Ihre Gehirne reichten für die meisten Terrainprobleme aus. Gelegentlich hielt einer inne, wenn er keinen freien oder lautlos zu bewältigenden Weg fand, und wartete auf einen Schubser von Gorilla, der in seinem Headup-Display mehrere Miniaturfenster beobachtete. Das Team glitt am Waldrand entlang, alle Sinne angespannt und für alles bereit, was die breit angelegten Sinnesorgane und die beschränkten geistigen Fähigkeiten der Bots vielleicht übersahen.
Hundert Meter weiter vorne wurde einer der Bots von einem Insekt angegriffen, als er weiterrückte. Das in Segmente gegliederte, mit Klauen bewehrte fleischfressende Insekt packte den Bot in einer Umarmung, vergleichbar der einer Gottesanbeterin, und versuchte seinen Panzer dicht hinter dem Kopf zu durchbeißen, aber seine Kiefer glitten von der zähen Molekularoberfläche des Bots ab. Der Bot reagierte so, wie man ihn programmiert hatte, fuhr monomolekulare Stacheln aus, die den Unterleib des Angreifers zerfetzten. Alle blieben stehen und sahen zu, wie das Insekt in seinen Todeszuckungen verendete. Dann zerrte der Bot den Kadaver unter einen breiten Busch mit federartigen Blättern, um ihn dort zu verbergen, und nahm dann seinen Marsch wieder auf.
»Ich möchte nicht gern mit einer Wasser bewohnenden Version von diesem Biest zu tun bekommen«, meinte Ferret im Flüsterton. »Der Hummer von Loch Ness.« Shiva und Bell Toll schmunzelten. Die anderen waren noch nie auf der Erde gewesen und konnten mit der Anspielung nichts anfangen. Das galt mit Sicherheit auch für Tirdal. Dagger hatte vielleicht kapiert, liebte aber seine eisige Fassade über alles. Trotzdem waren zwei Lacher auf eine obskure Andeutung hin gar nicht schlecht.
Hinter ihnen, und für den Augenblick vergessen, sank das Schiff langsam unter die Wellen und zog sich in tiefere Bereiche zurück, um sich dort zu tarnen. Später würde es sich zu einem Bereitschaftspunkt in der Nähe der Bergungszone begeben und auf ihre Rückkehr warten. Wenn es nach zwei Wochen keine Nachricht erreichte, würde es eine andere Position weiter im Süden einnehmen und dort sechsundneunzig Stunden warten. Und dann gab es noch eine Tertiärposition im Norden für Notfälle, die ebenfalls für sechsundneunzig weitere Stunden zur Verfügung stehen würde. Alle hofften, dass es nicht dazu kommen würde, denn das würde ein Scheitern ihres Einsatzes bedeuten, und vermutlich würde dann auch in der Nähe ein Militärposten der Kleckse auf sie lauern. Wenn keiner von diesen Plänen zu einem Ergebnis führte, würde die Kapsel davon ausgehen, dass das Team tot war, und den Planeten auf der vorausgeplanten Fluchtroute verlassen, damit wenigstens die bisher gesammelten Informationen in die Republik gelangten.
Bell Toll sah sich die Karten in ihren Helmsystemen an. Sie würden etwa zehn Tage unterwegs sein, über eine kleine Hügelkette oder niedrige Berge, bis sie einen Aussichtspunkt erreichten. Von dort aus würden sie, unabhängig davon, was sie fanden, eine andere Route zurück zum neuen Sammelpunkt einschlagen.
»Ist was?«, fragte er Tirdal. Ihre Helme waren mit einem Komm-System ausgestattet, das ursprünglich die halb in den Sagenbereich gehörenden Aldenata entwickelt hatten und von dem man allgemein annahm, dass es absolut sicher und nicht abhörbar war. Trotzdem war es gefährlich, zu viel zu reden, das war etwas, was man sich gar nicht angewöhnen sollte, weil man diese Angewohnheit dann auch nicht ablegte, wenn man nicht über Komm sprach. Und da keiner wusste, wie das verdammte Ding tatsächlich funktionierte, vertrauten ihm die meisten Soldaten nicht ganz.
»Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche Tslek spüre, aber der Hintergrund des ganzen … Lebensgewebes … macht es äußerst schwer, das mit Sicherheit zu sagen«, gab der Sensat zu. »Ich kann nur auf bestimmte Distanz spüren.«
»Wie weit?«
»Nicht sehr. Im besten Fall einige Kilometer. Die Ausstrahlung wird von der Distanz nicht ›abgeschwächt‹, aber nähere Gedanken und Gefühle sind klarer, deutlicher fokussiert. Je nach dem Ausmaß des Lebens ist jenseits eines bestimmten Punktes alles eine Art graues Hintergrundsummen, so wie Licht an einem Tag, an dem es schneit. Ich weiß, dass ich das nicht besonders gut erklärt habe, aber dieser Wald wimmelt von tierischem Leben. Es gibt keine Tslek in der Nähe. Darüber hinaus kann ich nichts sagen.«
»Reicht ja«, erwiderte Bell Toll und befahl dann, indem er an alle sendete: »Vorwärts. Navigationspunkte sind auf Ihren Karten markiert.«
Zehn Tage der Infiltration sind nicht wie zehn Tage Camping. Nachts arbeiteten sie sich durch strömenden Regen, der ihnen in kleinen Bächen den Hals hinunter und in ihre Anzüge rann und dabei Pflanzenfetzen und Schlamm mit sich führte. Er brannte an den Aufschürfungen, die sie sich zu Anfang beim Kriechen zugezogen hatten, und reizte jeden später hinzugekommenen Kratzer. Die Bots zogen voraus, die Soldaten hinterher, die vorne vorsichtig, die hinten wachsam auf jede Bedrohung von hinten achtend. Wurzeln streckten sich aus und versuchten, sie zu Fall zu bringen, Steinbrocken stürzten herunter und drohten sie zu zerquetschen, scharfkantiges Gras und Blätter wollten nacktes Fleisch aufreißen und zersägen. Die Schwerkraft war ein wenig höher als erdnormal, aber sie waren stark. Was sie mehr ermüdete als das zusätzliche Gewicht, war die Veränderung im Trägheitsverhalten und im Gleichgewicht, die das ihnen nicht vertraute Schwerkraftfeld erzeugte. Häufig zwang ihr Routenverlauf sie dazu, unter würgenden Lianen oder über Felsbrocken zu kriechen, oder die Schwerkraft zog und zerrte an ihnen. Die Luft war fremdartig und feucht, roch nach Fäulnis und Wachstum und trug einen leichten Biss vom Salz des Ozeans mit sich.
Ihre Rationen waren kalt und wurden beim Marschieren gekaut, anschließend stopften sie den Abfall sorgfältig in ihre Rucksäcke und nahmen ihn mit. Unrat im Lager zieht Ungeziefer an, Unrat im Feld den Feind. Hier konnte er beides bewirken. Alle zwei Stunden hielten sie inne und ruhten aus, schüttelten Schlamm und scharfe Holzstücke von ihren Stiefeln, Dornen aus ihrer Kleidung und wischten sich den Schmutz aus Nacken und Gesicht. Dann ein schneller, prüfender Blick in die Runde, ein paar Schluck Wasser, und der Marsch wurde fortgesetzt. Sie urinierten in einen Behälter, den sie eigens dafür mitgenommen hatten, um damit die Gefahr zu verringern, eine chemische Spur zu hinterlassen. Wenn sie lagerten, wurde der Behälter ausgeleert und sein Inhalt sorgsam vergraben. Der einzige Vorteil, den Ferret davon hatte, dass er an der Spitze ging, war, dass er den Behälter nicht zu schleppen brauchte. Der Nachteil bestand dafür darin, dass er beim Kriechen mit hoher Wahrscheinlichkeit gelegentlich mit der Hand in einen kalten, schmierigen Haufen Tierkot griff, was auch häufig der Fall war. Die Insektoiden hinterließen Kot, der an eine Mischung zwischen dem Gewölle von Würmern und dem Auswurf von Echsen erinnerte, und das in Fladen, etwa so groß wie die, welche Kühe hinterließen.
Bell Toll war von Tirdal beeindruckt. Ihm war klar gewesen, dass Darhel sehr urban waren und auf in hohem Maße verstädterten und kommerziell orientiertenen Planeten lebten. Wenn das der Fall war, hatte Tirdal eine Menge gelernt, denn er bewegte sich leise und mit Bedacht. Er wirkte ganz sicherlich so stark, wie das die Gerüchte behaupteten, und kam leicht voran, ob aufrechten Schritts oder Deckung suchend. Dass er Ferrets Führung folgte, war offenkundig, und anscheinend achtete er überhaupt nicht auf das, was um sie herum ablief. War das etwa seinem städtischen Hintergrund zuzuschreiben? Oder verließ er sich einfach auf seinen Sinn? Oder war es eine Kombination von beidem? Wie auch immer, für ihn stand fest, dass er Tirdal nie als Ersten würde gehen lassen.
Jeder Planet, jedes Biom, trägt seine eigenen, ganz spezifischen Züge. Der am wenigsten auffällige, aber wichtigste hier war, dass es keinerlei tierische Geräusche gab. Die Insektoiden kommunizierten offenbar mit chemischen oder anderen Signalen, und die Säuger benutzten keine Geräusche, um nicht von Räubern entdeckt zu werden. Diese Stille diente insofern als positive Funktion, als es nicht plötzliche Phasen völliger Stille gab, die die Anwesenheit des Teams verraten hätte. Zugleich war sie aber auch ein Hindernis, weil es keinerlei Hintergrundgeräusche gab, die ihre Bewegungen übertönten.
Und es war unheimlich, höllisch unheimlich. Die Büsche raschelten und zischten, die farnähnlichen Blätter zischelten. Leichte Brisen umschmeichelten sie und verwandelten das Geräusch des unablässigen Regens in etwas, das wie Entspannungsmusik klang. Schlamm spritzte und klatschte. Und dazu hörte das Team das erregte Hin- und Herrennen von Käfern, ihre Kämpfe, ihre Flucht vor Räubern, ihre Jagd, ihre Kämpfe, ihre Paarung. Gelegentlich ein Knacken von Ästen. Und dahinter … nichts.
Dann, als das Team durch einen seichten Strom watete, plötzlich … etwas.
Aus dem Nichts kam es, summte, zog klatschend an Ferrets Gesicht vorbei, dann an dem von Gun Doll.
»Scheiße!«, murmelte er. Gun Doll beschränkte ihre Reaktion auf ein kurzes Aufstöhnen.
Waffen schwangen herum, Augen suchten Ziele, bis Ferret sagte: »Keine Bedrohung. Bloß diese verdammten Fledermäuse.«
»Hier alles klar«, meldete Gun Doll. »Und doch möchte ich schwören, dass eines gegen meinen Visor geklatscht ist und mich angeblitzt hat.«
»Hat's dir gut getan?«, murmelte Thor vergnügt.
»Das Ding war behängt wie ein Gaul, so was habe ich auf dem ganzen Trip noch nicht gesehen«, erwiderte sie.
»Ruhe!«, befahl Shiva. Alle waren angespannt, mussten sich irgendwie abreagieren, aber das war jetzt genug, und sie mussten wieder an die Arbeit. In seinem Visor konnte er sehen, dass sich alle leicht erwärmt hatten, Ferret und Gun Doll um einige Grad. Als das Adrenalin sich legte, verblassten sie wieder auf »normal«. »Normal« hier draußen war hoch, ihr Metabolismus arbeitete wie wild. Diese Art von Einsatz hätte man als ideales Mittel zum Abnehmen verkaufen können. Falls es Zivilisten gab, die diese neue Welle von Pseudo-Ausbildungslagern für »Gesundheitszwecke« für aufregend hielten, sollten sie einmal das ausprobieren.
»Jetzt dämmert es bald, Shiva«, sagte Bell Toll kurz nach dem Überfall der Fledermäuse. »Bereiten Sie alles zum Lagern vor, bitte.«
»Yes, Sir«, bestätigte der den Befehl und sprach dann zu allen: »Campingzeit, Leute. Irgendwelche Ideen?«
»Links von uns gibt es eine kleine Lichtung«, erwiderte Thor. »Eine kleine Anhöhe und dichtes Gebüsch.«
»Das könnte gehen. Ich seh's mir mal selbst an. Stehen bleiben, Leute.« Shiva arbeitete sich hinter Thor, warf einen Blick auf das vorgeschlagene Areal und entschied, dass es sich für sie eignen würde.
Normalerweise wäre eine Bodensenke vorzuziehen gewesen, weil sie besseren Schutz bot, aber bei der hier herrschenden Feuchtigkeit wollte keiner ertrinken. Und da die Gefahr, entdeckt zu werden, im Augenblick nur minimal war, gaben sie einem höher gelegenen Areal den Vorzug. Sichtschutz musste aber trotzdem sein. Dies hier war eine schwammige Bodenerhebung, umgeben von einem Dickicht mit langen Ästen, Lianen und Zweigen. Der Zugang, den Thor entdeckt hatte, war nach oben geschützt.
»Biwakplatz, nach Nummern zurückfallen«, befahl Shiva, bezog in der Nähe des Zugangs Position und winkte Thor hinein. Bell Toll folgte ihm, dann der Reihe nach die anderen und Shiva und Ferret als Letzte.
Das Lager zu errichten dauerte nicht lange. Jeder von ihnen hatte eine dünne Membran, um damit ihre Anzüge einzuhüllen. An der Unterseite war sie etwas dicker, um gegen den Boden zu isolieren und eine Art Polster zu bilden. Erfahrene Soldaten machten sich ihre Betten, indem sie ein paar Hand voll Erde aus dem Boden kratzten, um Vertiefungen für Hüften und Schultern herzustellen. Dann zogen sie frisch gepflückte – nicht geschnittene – Gräser über sich. Das würde länger frisch bleiben und es würde kein kahles weißes – oder hier hellgrünes – frisch geschnittenes Holz geben, das dem Feind ihre Anwesenheit verriet. Gorillas Bots schwärmten aus, um einen schützenden Kreis um das Lager zu bilden, und ihre Sensoren, Mikrofone und ein Lasernetz lieferten hinreichende Sicherheit gegen etwaige Überraschungen. Dagger grub einen nicht besonders tiefen Latrinengraben nach draußen und goss die Enzyme hinein, die den Inhalt schnell in rohe Moleküle verwandeln würde. Dann schüttete er den Inhalt des Behälters nach.
Sie hatten zwar unterwegs Nahrung zu sich genommen, aber das Abendessen war eine feste Tradition, die mithalf, den Vierundzwanzigstundenrhythmus des Körpers in Gang zu halten. Und so mampften, schlürften und sogen sie jeder für sich in aller Stille eine Feldration. Das Beste, was man dafür sagen konnte, war, dass die Rationen nahrhaft waren, und im Übrigen verringerte man damit immerhin die Masse, die man mitschleppen musste, um ein halbes Kilogramm. Wieder meldete sich Shivas Stimme im Web: »Wachrhythmus umgekehrt. Tut mir Leid, Thor.«
»Macht nichts«, erwiderte der. »Das nächste Mal suche ich uns einen Sumpf als Lagerstätte.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass es ihm nicht viel ausmachte. Er kauerte sich ungefähr in der Mitte der kleinen Bodenerhebung nieder, das Gewehr in beiden Armen, und stellte sich darauf ein, die nächste Zeit geduldig dazusitzen. Die Übrigen wälzten sich zur Seite, das Gesicht nach außen, die Waffen griffbereit in den Schlafsäcken, die Helme gegen störendes Licht dunkel geschaltet. Bloß gegen die ständige Feuchtigkeit konnten sie nichts ausrichten.
Thor saß unbewegt von seinem Poncho geschützt im Regen da. In regelmäßigen Abständen drehte er sich um, um prüfend die Umgebung zu mustern, und nahm dann jedes Mal eine etwas andere Position ein, eine, die es ihm erlaubte, in eine willkürlich gewählte andere Richtung zu sehen. Die Bilder der Bots behielt er vor sich auf dem Schirm, seine Sensoren waren so geschaltet, dass sie ihn sofort warnen würden, wenn sich etwas Großes bewegte. Einmal, als ein paar fette Käfer vorbeiwatschelten, spannten sich seine Muskeln, aber sonst wurde er nicht gestört.
Zwei Stunden später wachte Bell Toll auf und kroch zu ihm hinaus, um ihn abzulösen.
»Wie war der Sonnenaufgang?«, fragte er im Flüsterton.
»Viel konnte ich nicht sehen, Sir«, erwiderte Thor. »Grau und dann nebelig und dann so«, sagte er mit einer Geste, die wie ein Winken wirkte, aber nur etwa die Breite einer Hand einschloss. »Der Regen hat vor etwa einer Stunde aufgehört.«
»Gut. Hoffe ich wenigstens«, sagte Bell Toll. »Es wird heiß und schwül werden.« Er sah sich um, musterte die weichen Nebelschwaden, die sich gespenstisch an den Bäumen hochschlängelten. »Aber wenn wir von diesen Küstensümpfen ein Stück landeinwärts kommen, sollten wir wenigstens trocknen. Gute Nacht, Thor. Ich löse Sie ab.«
»Gute Nacht, Sir.« Thor kroch zu der Schlafstelle hinüber, die er sich schon vorher vorbereitet hatte, und legte sich lang.
Der Tag verstrich einigermaßen launisch; ihr Training und die Erschöpfung halfen ihnen, Schlaf zu finden, aber der ständige Juckreiz, die Schwüle, die Käfer, die stehende, feuchte Luft und das grelle, nur von Blattwerk und der Atmosphäre ein wenig gedämpfte Licht, sowie schließlich eine Schwerkraft, die anders war als die, woran sie gewöhnt waren, setzten ihnen zu. Trotzdem, es war Ruhe, und wenn diese Ruhepause unbefriedigend war, würde die nächste vielleicht besser sein, weil sie bis dahin akklimatisiert und von anstrengenderen Arbeiten ausgepumpt sein würden. Vielleicht würden sie auch tot sein. Die Philosophie des Soldaten basiert auf der Anpassung an das Unangenehme. Tirdals Schicht war genauso langweilig wie die der anderen, aber Dagger beobachtete ihn verstohlen. Dagger traute dem Elf immer noch nicht, auch wenn die anderen ihn inzwischen akzeptiert hatten. Er hielt sich still, und Tirdal ließ durch nichts erkennen, ob er wusste, dass er wach war, aber wenn er so fühlen konnte, wie alle das sagten, tat er das wahrscheinlich.
Als der Abend dämmerte, erwachten sie alle; Ferret, der die letzte Wache gehabt hatte, war bereits auf und bereit.
»Ihr wisst ja, wie es läuft, Leute«, sagte Shiva. »Lager abbrechen. Hygiene und Marschvorbereitungen.« Alle benutzten den Graben und füllten ihn dann ein, und Thor, der Letzte, legte die ausgestochenen Graswasen darüber und stampfte sie mit dem Absatz fest. Da Baden nicht infrage kam, wischten sie sich mit schwammartigen Lappen ab, die mit aktivierten Nanos beladen waren, um damit die Bakterien zu töten. Tirdal hastete geschäftig herum und zupfte an Gras und Büschen, bis nicht einmal die Leute, die hier geschlafen hatten, eine zerdrückte Stelle erkennen konnten. Er fand auch drei winzige Plastikfetzen von einem Rationspäckchen. Seine Arbeit erntete widerstrebende Bewunderung. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Thor. Sie hatten den Darhel inzwischen so weit in ihre Gemeinschaft aufgenommen, dass sie sich mit ihm duzten.
»Das ist ein Sinn«, erwiderte Tirdal. »Die Pflanzen haben keine Emotion, aber sie haben eine … ›Normalheit‹. Ich schiebe sie herum, bis sie so normal wie möglich erscheinen. Besser kann ich das in eurer Sprache nicht beschreiben. Es funktioniert nur, wenn man ganz nahe ist.«
»Wie auch immer man es beschreibt, es funktioniert«, meinte Shiva. Selbst Dagger nickte anerkennend. Die Lichtung wirkte völlig unberührt.
Nachdem alle Abfälle verstaut und das Gelände ein letztes Mal überprüft worden war, zogen sie ab; Gorillas Bots bildeten wieder die Vorhut. Ihre Energievorräte würden mindestens zwei Wochen ausreichen, und bei Tageslicht luden sie sich mithilfe von Nano-Energiezellen unter ihrer Außenschale irgendwie auf.
Diese Nacht war der letzten ganz ähnlich, nur dass es nicht regnete und allmählich trockener wurde. Die Anzüge klebten am Körper und erzeugten Juckreiz, bis die Flüssigkeit durch Kapillaren nach draußen getragen wurde und verdunstete. Man konnte die Durchlässigkeit einstellen, aber wie man es auch anstellte, die Feuchtigkeit brauchte eine Weile, um sich zu verflüchtigen. Ihre Köpfe juckten unter den Netzen innen an den Helmen. Das Gelände stieg jetzt langsam von den Küstensümpfen an und wurde trockener. Aus dem schlammigen Morast war zuerst klebriger Schlamm und jetzt hart gepackte Erde geworden.
Sie waren erst knapp eine Stunde unterwegs, als Tirdal eindringlich durch sein Mikrofon rief: »Ferret, hinlegen, sofort!«
Ferrets Reflexe waren gut. Er warf sich flach zwischen den hohen Gräsern hin, als dort, wo er gerade noch gewesen war, ein großes Tier durch die Luft sprang. Er rollte sich zur Seite und feuerte, verfehlte sein Ziel, und die starren Halme zerbrachen knisternd unter ihm. Die Kreatur grub ihre Pfoten in den Boden, als sie aufsetzte, fuhr herum und griff an. Tirdals Schuss ging daneben, und das hohl klingende POOUNNK! der Punch-Gun hallte wider, als der Strahl Pflanzenstiele zerschmetterte. Dann meldete sich Gun Dolls Autokanone mit einem BRAAAPPP!, das trotz der Schalldämpfung ihre Ohren nachtönen ließ. Die schweren, hyperschnellen Nadeln fetzten an dem Insekt, und anschließend zerrissen ihre Antimateriekerne, bloß ein paar spärliche Mikrogramm, die Bestie in schleimige Fetzen.
Die Soldaten waren Profis. Die Übrigen hatten bereits einen Halbkreis gebildet, gaben einander Feuerschutz und waren schussbereit.
»Meldung!«, fauchte Bell Toll.
»Ich habe einen einzelnen Räuber gespürt«, sagte Tirdal. »Ich habe Ferret gewarnt, der ihm auswich und anscheinend nicht verletzt ist. Gun Dolls Feuer hat den Angreifer getötet. Keine anderen Sinne, keine unmittelbaren Bedrohungen, die ich feststellen könnte.«
»Verstanden. Bereitschaft, bis wir sicher sind, dass keine Gefahr mehr herrscht«, befahl der Kommandeur. Ihre Waffen waren nicht so laut wie chemisch betriebene Schusswaffen, aber immerhin laut und fremdartig genug für diese Umgebung. Sie konnten nur hoffen, dass entweder nichts und niemand in der Gegend gewesen war, der sie hören konnte, oder dass das Gestrüpp die Schüsse genügend gedämpft hatte, dass man sie für fernen Donner oder ein anderes natürliches Geräusch gehalten haben konnte.
Lange Minuten standen sie praktisch reglos da, Augen und Sensoren wachsam auf irgendeine Andeutung einer Gefahr lauschend.
»Ich sage sicher«, erklärte Bell Toll schließlich. »Halbkreis auflösen. Der Schuss kam mir seltsam vor, wir wollen uns das Video ansehen.«
Er scrollte durch die Aufzeichnung von Tirdals und Gun Dolls Helmen, bis er die Bilder fand, die er suchte.
»Da«, sagte er. »Die Bolzen haben die Panzerung nicht durchdrungen. All den Schaden hat einzig und allein die Antimaterie angerichtet. Die Aufzeichnung zeigte Furchen, die die Projektile hinterlassen hatten, aber erst als eines der Explosivgeschosse den Panzer der Kreatur getroffen hatte, hatten sie ihm wirklich Schaden zugefügt.«
»Das ist unmöglich«, sagte Dagger. »Ich will auf so ein Ding schießen.«
»Eine gute Idee, Dagger«, stimmte Shiva zu. »Wir sollten wirklich sehen, wie unsere Waffen damit klarkommen. Halbkreis beibehalten, Leute.«
Ein tellergroßes Stück des Insektenpanzers, an dem noch klebrige, gelbe Masse hing, wurde an einen Baumstamm gelehnt.
»Zuerst eine Punch-Gun«, entschied Shiva. »Tirdal, versuch es.«
Tirdal nickte, zielte und schoss. Dem POOUNK! seiner Waffe folgte ein Klappern, und ein Stück des Exoskeletts wurde in die Höhe geworfen, fiel wieder herunter, landete flach und ließ die Erde aufspritzen. Gun Doll ging hinüber und hob es auf.
»Nichts«, sagte sie. Sie lehnte es wieder an den Stamm. Das war beeindruckend. Der Energietorus einer Punch-Gun war imstande, die meisten Materialien einfach zu durchschlagen, und zwar auf eine Tiefe von mehreren Metern. Deshalb waren Punch-Guns ideale Waffen für den Flächeneinsatz. Offenbar war ihre Wirkung für diese Biester zu diffus.
Der Schuss aus Thors Karabiner, ein Standardgeschoss ohne Antimaterie, prallte ab. Ebenso Daggers energiereicherer Schuss. Erst ein panzerbrechendes Projektil durchschlug die Insektenschale. Gun Doll feuerte eine kurze Salve gewöhnlicher Munition ab. Dann noch eine. Nach zwanzig Schuss wurde der Insektenpanzer schließlich durchschlagen. Shiva feuerte einen Antimaterieschuss ab, auf Null-Durchdringung geschaltet, und die Explosion riss das tellergroße Panzerstück in Fetzen wie einen gekochten Krebspanzer.
»Interessant«, sinnierte er und untersuchte ein versengtes, noch dampfendes Fragment. »Sieht so aus, als müssten wir auf Oberflächendetonation schalten.«
»Und was ist mit den Punch-Guns?«, fragte Bell Toll. »Hat da jemand eine Idee?«
»Ich schätze, wir hoffen auf einen Trauma-Effekt oder auf Betäubung«, sagte Ferret.
»Aber bedenkt bitte, dass ein Oberflächentreffer an einem größeren Tier möglicherweise keine lebenswichtigen Organe beschädigen könnte«, sagte Shiva. »Verdammt, wir wissen nicht einmal, wo die ihre Organe haben, immer vorausgesetzt, dass sie überhaupt welche haben. Seid also sehr vorsichtig.«
Nicken und zustimmendes Brummen, als alle ihre Waffen anpassten, dann trotteten sie weiter.
Weitere zwei Stunden verstrichen ohne Zwischenfall, bis Gorilla plötzlich sagte: »Halt.«
Ferret hielt mitten in seiner Kriechbewegung inne. Das war ein Reflex, den er sich antrainiert hatte, und er regte sich erst von der Stelle, als Gorilla »sicher« sagte und damit andeutete, dass sie es sich zwar bequem machen, aber ihre Positionen nicht verlassen durften.
Er speiste ein Video in ihre Helme ein, das ihm zwei seiner Bots lieferten.
»Captain, sehen Sie sich das an«, sagte er über den offenen Kanal, sodass alle mithören konnten.
Die Szene auf ihren Bildschirmen hätte aus einer Horrorshow stammen können. Ein Rudel kleiner Räuber griff einen großen Pflanzenfresser an, so wie fleischfressende Küchenschaben, die einen riesigen Junikäfer attackieren. Der halbkugelförmige, bräunliche Pflanzenfresser war groß genug, um ein kleines Schlafzimmer zu füllen. Die grauen, an riesige Küchenschaben erinnernden Räuber mit ihren bösartig zuckenden Antennen hatten die Größe eines Schäferhunds. Woraus auch immer ihre Kiefer bestehen mochten, das Material war jedenfalls hart genug, um ganze Brocken aus der kugelsicheren Schale ihres Opfers zu reißen.
Das Team sah zu, völlig reglos wie schlafende Reptilien, die Finger schussbereit am Abzug für den Fall, dass sie als Nächste angegriffen wurden. Das große Geschöpf galoppierte im Gras herum, trampelte dabei Schösslinge von bis zu fünfzehn Zentimetern Dicke nieder und ließ den Boden erzittern. Einer der Angreifer geriet darunter und rollte sich wie eine Kugel zusammen. Äste wurden von den Bäumen gerissen, und die wild um sich schlagenden Füße durchpflügten den Boden. Das Lebewesen hatte insektenähnliche Beine, die in eine Art Huf aus demselben Super-Chitin wie sein Panzer ausliefen, scharf wie die Hauer eines Wildschweins und unter dem Schlamm, der sie bedeckte, glänzend.
Selbst aus mehr als hundert Metern Distanz konnte man sehen, wie die Bäume von dem Getümmel hin und her gepeitscht wurden, als der jetzt verwundete Megakäfer sich aufbäumte und um sich schlug. Diese Hufe waren äußerst gefährlich, halfen ihm aber in dieser Situation kaum.
Jetzt humpelte das Opfer, weil ihm einer der Angreifer ein Bein abgesäbelt hatte. Dann musste ein weiteres Bein auf derselben Seite dran glauben und knickte ein. Die Bewegungen des Opfers wurden jetzt langsamer, und die schlanken Killer konzentrierten sich auf die verletzte Seite, säbelten eine Antenne ab, dann wieder ein Bein, ein vorstehendes Stück seiner Flanke und schließlich das letzte Bein auf dieser Seite.
»Gorilla, das wollen wir sehen«, befahl Bell Toll. Die Angreifer befanden sich auf der ihnen abgewandten Seite.
»Geht klar«, bestätigte Gorilla, und das Bild veränderte sich, als die Bots sich in einem Kreis aufbauten und ihre Scanner auf die grausige Szene richteten.
Als das Bild an dem immer noch lebenden, aber jetzt zuckenden Monstrum entlang wanderte, sagte Ferret: »Oh Fuck.«
»Yeah«, machte Gun Doll. Die anderen blieben stumm, waren aber sichtlich ihrer Meinung.
Die sechs überlebenden Fleischfresser hatten Löcher zwischen die oberen und unteren Panzerpartien gerissen und fraßen sich jetzt schnell hinein. Vor den Augen des Teams verschwand jetzt eines wie eine Ratte in ihrem Bau in dem tödlich verletzten Opfer. Nur dass dieser Bau sich in dem zarten Fleisch des immer noch zuckenden Käfers befand. Die anderen folgten ihm.
»Ich nehme zurück, was ich gesagt habe, dass ich keine Angst vor Käfern habe«, sagte Gorilla. »Wenn eines von diesen Biestern mich erwischt, dann erschießt mich bitte.«
»Oder sprengt mich in die Luft«, sagte Dagger. Selbst Dagger.
»Richtig.« Bell Toll nickte. »Gorilla, Ferret, wir wollen einen kleinen Umweg machen. Und wenn diese … Dinger … uns nahe kommen, dann schießt zuerst und sagt es mir danach. Dass mir keiner erst um Erlaubnis fragt.«
»Yes, Sir«, hallte es vergnügt aus sämtlichen Helmen.