22
Mit Hawkwoods
Ermächtigung gelang es ihnen, die Stadt durch das Zolltor, das vom
Militär bewacht wurde, zu verlassen; dann ritten sie südlich die
Straße nach Walmer entlang.
Die Pferde waren
müde, und obwohl sie sich etwas ausgeruht hatten, wusste Hawkwood,
dass man ihnen nicht mehr viel zumuten durfte. Deshalb war er
erleichtert, als Lasseur nach etwa zwei Meilen nach Osten abbog und
den Weg zum Meer einschlug. Auf einem Wegweiser, der windschief aus
der Hecke ragte, stand Kingsdown.
Sie ritten im
Schritt durch das schlafende Dorf bis zum Strand am Fuße eines
hohen grauen Felsens. Dahinter sah Hawkwood den unregelmäßigen
Umriss eines noch höheren Felsens und dahinter einen weiteren, und
er wusste, das war der Anfang der Kette weißer Klippen, die sich an
der Küste entlang bis nach Dover hinzog.
Ungefähr dreihundert
Yards vom Ufer konnte man mit etwas Mühe den Umriss eines dunklen
Dreimasters ausmachen, der hier vor Anker lag. Weder auf Deck noch
im Schiffsrumpf waren Lichter zu sehen. Wenn sie nicht gewusst
hätten, dass das Schiff hier liegen musste, dann hätten sie lange
gebraucht, bis sie es bemerkt hätten.
»Ich brauche eine
Pistole«, sagte Lasseur.
Jago griff in seine
Satteltasche. »Sie ist geladen«, warnte er.
Lasseur holte tief
Luft, hielt die Pistole hoch und drückte ab. Das Pulver blitzte auf
und der Knall hallte von den Klippen wider. Micah beruhigte die
Pferde. Lasseur gab Jago die Pistole zurück, der sie in seinen
Gürtel steckte.
Das Wasser sah
dunkel und kalt und tief aus. Hawkwood dachte an die Nacht, in der
sie Warden im Boot verlassen hatten. Weit draußen im Kanal, hinter
dem dunklen Schiff, sah er die Lichter zweier weiterer Schiffe, und
er fragte sich, ob eines davon wohl Morgans Sea Witch war.
Tom Gadd hatte für
den Privateer Botendienste geleistet. Gleich am ersten Tag, als sie
wieder auf der Farm waren und Jess Flynn sich um den fiebernden
Hawkwood gekümmert hatte, war Gadd für ihn zu dem Agenten in
Ramsgate gefahren. Es war derselbe Mann, den Lasseur zu erreichen
versuchte, als er seinen ersten Fluchtversuch machte, noch ehe er
ins Gefängnis von Maidstone gekommen war.
Der Agent hatte die
Nachricht per Brieftaube an Lasseurs Besatzung in Dünkirchen
weitergeschickt, und darin stand, dass ihr Kapitän frei war und auf
sie wartete. Sie sollten mit der Scorpion an die Küste von Kent kommen und dort vor
Kingsdown jeweils zwei Stunden vor bis zwei Stunden nach
Mitternacht vor Anker gehen. Dies sollten sie nach Erhalt der
Nachricht fünf Nächte lang machen und auf Lasseurs Signal
warten.
»Es kommt darauf
an«, hatte Lasseur gesagt, »ob meine Leute die Nachricht
rechtzeitig bekommen haben.«
Es sah ganz danach
aus.
Hawkwood sah zum
Schiff hinüber. Ein kleines Boot löste sich vom Schiffsrumpf und
hielt auf sie zu. Langsam kam es näher. Hawkwood sah die gekrümmten
Rücken der Ruderer und hörte das Plätschern der
Riemen.
Lasseur wurde
plötzlich sehr lebhaft. Er trat dicht ans Wasser.
Durch die Dunkelheit
kam ein leiser Ruf. »Scorpion!«
Lasseur watete ins
Wasser. »C’est moi!«
»Noch mehr verdammte
Froschfresser!«, hörte Hawkwood Jago leise murmeln.
Das Ruderboot kam
immer näher und lief schließlich am Strand auf. Der dunkelhaarige
Mann, der heraussprang, war etwa so alt wie Micah und von ganz
ähnlicher Statur. Er trug keine Uniform, sondern war von Kopf bis
Fuß schwarz gekleidet, genau wie der Ruderer, der im Heck des
Bootes gesessen hatte. Mit strahlenden Augen und einem breiten
Lächeln ergriff der dunkelhaarige Mann Lasseurs Arme und hielt ihn
fest.
Lasseur grinste.
»Das ist mein Erster Offizier, Leutnant Marc Delon.«
Der junge Leutnant
nickte zum Gruß, doch er konnte seine Neugier über die drei Fremden
nicht verhehlen. Hawkwood nahm an, dass er sie wahrscheinlich alle
für geflohene Gefangene hielt.
Lasseur nickte dem
Mann im Heck zu. »Henri, comment va
cela?«
Der Ruderer brummte
eine kaum hörbare Antwort.
Lasseur schlug
seinem Leutnant auf die Schulter. »D’accord,
allons!«
Delon kletterte
wieder ins Boot.
»Kommt, meine
Freunde!«, feuerte Lasseur sie an. »Beeilt euch!«
»Hast du noch was in
deinen Satteltaschen?«, fragte Hawkwood Jago.
»Nichts, war ich
vermissen würde.«
Lasseur kletterte
ins Boot. Hawkwood und Jago folgten ihm. Micah blieb zurück. Der
vor Freude strahlende Leutnant nahm die Riemen, und das Boot stieß
langsam vom Ufer ab.
Micah blieb reglos
am Rande des Wassers stehen. Jago hob die Hand. Micah nickte, dann
drehte er sich um und ging den steinigen Strand hinauf zu den
Pferden. Er sah sich nicht um.
Hawkwood wechselte
einen Blick mit Lasseur. »Weiß Jess davon?«
»Nein«, sagte
Lasseur niedergeschlagen. Er sah über den Bug aufs offene Meer
hinaus und verfiel in bedrücktes Schweigen.
Lasseurs Mannschaft
machte kein Geheimnis aus ihrer Freude über seine Rückkehr, sie
hatten sich an der Reling entlang aufgestellt, um ihn willkommen zu
heißen. Doch nachdem sie erstmal an Bord der Scorpion waren, verlor
Lasseur keine Zeit und gab seinem Leutnant Befehl, so schnell wie
möglich loszusegeln.
Die Männer machten
sich an die Arbeit. Hawkwood sah über die Reling zum Festland. Er
sah die Kette der Kreidefelsen hinter sich, noch schienen sie so
dicht, dass man glaubte, sie berühren zu können. Von Micah und den
Pferden war nichts mehr zu sehen. Er sah über den Bug zum Horizont,
doch hier hatte die Dunkelheit alles verschluckt. Die Lichter der
Schiffe, die er vorhin gesehen hatte, waren
verschwunden.
Als der Anker
gelichtet war, drehte sich das Schiff. Die Mannschaft setzte Segel
und Lasseur ging mit den Männern unter Deck. Im Kartenraum
schaukelte eine Laterne am Deckenbalken, und Lasseur zog eine Karte
aus einem Schrank und entrollte sie auf einem Tisch.
»Morgan wird hier
hinfahren -«, sagte er und zeigte mit einem Zirkel auf das Ziel.
»Gravelines.«
Hawkwood sah auf die
Linien und Schnörkel unter den Zirkelspitzen. Der Name stand auf
halbem Wege zwischen Dünkirchen und Calais an der
Nordküste.
»Warum
dahin?«
»Man nennt es
la ville des Smoglers. Bonaparte hat
diesen Hafen als Anlaufpunkt für Schmuggler und ihre Waren
bestimmt. Man hat dort eine besonders geschützte Anlage gebaut, mit
Lagerhäusern, Speichern und Unterkünften. Das ganze Areal wird von
Kanonen geschützt. Es gibt sogar ein englisches Viertel. Es heißt,
dass sich ständig bis zu dreihundert englische Schmuggler hier
aufhalten. Der Kaiser hat verschiedenen Händlern Sonderlizenzen
erteilt, um Schmuggelware zu importieren und exportieren. Alles,
was an Schmuggelware an eurer Südküste ankommt, ist hier verladen
worden.«
Lasseur klopfte mit
dem Fingerknöchel auf den Kartentisch. »Und hier setzen die Guinea
Boats ihre Ladungen ab. Der Handel wird von der Familie Rothschild
kontrolliert. Der Kopf der Operation ist Nathan Rothschild, der
Bankier; der sitzt in London. Sein Bruder James kümmert sich um den
Weitertransport des Goldes von Gravelines nach Paris, wo es wieder
in englische Banknoten umgetauscht wird. Und dabei machen die
Schmuggler und ihre Helfer ihr Geschäft. Morgan hält auf Gravelines
zu, da gehe ich jede Wette ein.«
»Und du denkst, dass
wir ihn immer noch abfangen können?«, fragte Hawkwood.
»Wenn es ein Schiff
kann, dann dieses.«
»In Deal erwähntest
du den Wind. Was hast du damit gemeint?«
»Der Wind kommt von
Osten.«
»Ich verstehe
nicht«, sagte Hawkwood.
»Ein Grund, warum
Morgan den Überfall für diese Zeit angesetzt hatte, war, dass er
die Flut nutzen wollte. Kutter haben einen ziemlichen Tiefgang und
eignen sich nicht für Arbeiten dicht vor der Küste, also brauchte
er Hochwasser, um das Gold zu verladen und
fortzukommen.
»Um jedoch nach
Gravelines zu kommen, muss er erst nach Süden fahren, um Les Sables
zu umgehen – was Ihr in England die Goodwin Sands nennt.« Lasseur
klopfte auf die Karte. »Und bei diesem Teil seiner Fahrt hatte er
die Gezeiten gegen sich; der Wind wird ihn auf die Küste
zugetrieben haben und er wird nur langsam vorangekommen sein. Doch
wenn er erst an den Downs vorbei ist und das südliche Ende der
Sands erreicht hat, ist der Wasserstand günstiger für ihn, aber
solange wir diese Windrichtung haben, wird er nicht so schnell
vorwärtskommen. Selbst bei mäßigem Wind wird er dauernd kreuzen
müssen. Kutter sind schnell, deshalb benutzen Schmuggler sie gern.
Unter normalen Verhältnissen könnte ein Schoner wahrscheinlich mit
einem Kutter nicht mithalten, aber bei diesem Gegenwind wird er
noch nicht sehr weit gekommen sein. Die Scorpion wird schneller sein, denn sie kann sich
dem Wind besser anpassen. Ich denke, wir können ihn noch
abfangen.«
»Ich dachte immer,
Schiffe können nicht gegen den Wind segeln«, sagte
Hawkwood.
»Die Scorpion kann es«, sagte Lasseur
zuversichtlich.
»Wie?«
»Sie hat eine
besondere Takelage. Die habe ich selbst entworfen. Sie basiert auf
der Takelage der Xebecs, das waren die Schiffe der Berberpiraten.
Die haben europäische Schiffe ausgeraubt und sind dadurch
entkommen, dass sie in den Wind
segelten und keiner konnte sie einholen. Ich habe mir das System
gut angesehen, als ich im Mittelmeer war. Die Takelage der
Scorpion ist so eingerichtet, dass wir
dieselbe Technik benutzen können. Hast du die Rahtakelage am
Großmast gesehen? Diese Segel sorgen für den Schub, um
vorwärtszukommen. Die Segel der Xebecs waren dreieckig und wurden
zwischen Bugspriet und Fockmast gesetzt. Ich benutze dasselbe
Prinzip, nur dass ich statt eines großen Segels zwei habe, zwischen
Fock- und Großmast. Zusammen mit den Klüvern haben sie die Wirkung,
das Schiff anzuheben; sobald sie gesetzt sind, wirst du sehen, dass
sie flacher sind als normal. Dadurch kann die Scorpion in den Wind segeln und wesentlich leichter
über die Wellen gleiten.«
Hawkwood versuchte,
ein intelligentes Gesicht zu machen, als hätte er verstanden, wovon
Lasseur redete. Er war erleichtert, dass Jago auch nicht klüger
schien.
»Was hast du der
Mannschaft gesagt?«
»Dass wir den Feind
verfolgen. Das tun wir ja auch.«
»Werden sie sich
nicht fragen, was Nathaniel und ich hier machen?«
»Wir sind schon sehr
lange zusammen. Sie werden an dem, was ich mache, keine Zweifel
haben.«
Man hörte ein
diskretes Hüsteln. Es war Lasseurs Leutnant, der in der Tür
stand.
Lasseur wandte sich
um und legte den Zirkel auf die Karte. »Entschuldigung, meine
Herren«, sagte er entschlossen. »Ich sollte jetzt an Deck sein.
Aber erst zeige ich euch noch meine Kajüte.«
Lasseur führte sie
durch das Schiff nach achtern. Der Schoner war klein, fand
Hawkwood, verglichen mit der Rapacious
war er eine Nussschale. Es war seltsam, denn obwohl er auch hier
den Kopf unter den Balken einziehen musste, war die Deckenhöhe doch
wesentlich größer, was wohl daran lag, dass es nur ein unteres
Wohndeck gab. Mehrere Mitglieder der Mannschaft, die Lasseur oben
bereits begrüßt hatten, saßen in der Messe an den Tischen. Ihre
Gesichter strahlten, als Lasseur eintrat, und er grüßte im
Weitergehen jeden von ihnen mit Namen. Es war nicht zu übersehen,
wie beschwingt sein Gang plötzlich war, seit er sich wieder an Bord
seines Schiffes befand.
Die Kajüte am Heck
war winzig, sie hatte zwei schmale Kojen und unter dem Fenster eine
Bank mit einem Tisch davor.
»Macht es euch
bequem«, sagte Lasseur. »Ich sage Raoul gleich, dass er euch etwas
aus der Galley bringen soll. Es wird später kalt werden an Deck,
ich werde euch auch etwas Warmes zum Anziehen
besorgen.«
Als Lasseur gegangen
war, setzte Jago sich auf die Bank und fuhr mit der Hand über sein
kurzes Haar. Er sah Hawkwood an und seufzte.
»Erinnere mich mal
daran, warum wir hier sind.«
Hawkwood warf sich
in eine der Kojen.
»Weil ich verdammt
sein will, wenn ich Morgan das durchgehen lasse. Dies ist meine
einzige Chance, ihn noch zu kriegen.«
»Umgebracht zu
werden, meinst du wohl! Morgan ist weg. Kannst du dir nicht einfach
eingestehen, dass er dir entwischt ist? Man kann doch nicht immer
gewinnen.«
»Ich habe ihn aber
noch nicht verloren«, sagte Hawkwood.
»Nein, ganz recht,
und darum segeln wir jetzt mit’nem Froschfresser von einem
Privateer nach Frankreich. Könntest du nicht einfach das kleinere
Übel wählen, nämlich den Musjöh an die Obrigkeit ausliefern und
dann mit Micah und mir zurück nach London reisen?«
»Ich kann ihn nicht
ausliefern, Nathaniel. Denn damit würde ich ihn wieder auf die
Hulks schicken. Das würde ich niemandem antun. Würdest du auch
nicht, wenn du erlebt hättest, wie es dort zugeht. Er hat mir das
Leben gerettet, ich stehe in seiner Schuld. Ich denke, wenn er so
weit gekommen ist, sollte man ihm eine Chance geben. Und außerdem
glaube ich, dass ich gar keine andere Wahl habe.«
»Du hast immer die
Wahl gehabt!«
»Es ist nicht so
einfach.«
»Von meinem
Standpunkt aus schon«, sagte Jago kurz. »Hast du dich schon mal
gefragt, warum Lasseur das hier macht? Wie ich es sehe, ist es doch
in seinem Interesse, dass Morgan ungeschoren über den Kanal kommt.
Der Kaiser bekommt sein Gold und Lasseur kommt nach Hause. Wir sind
doch bloß verdammter Ballast hier! Du weißt doch hoffentlich, dass
du das Gold nicht zurückkriegst?«
»Mir ist das Gold
scheißegal! Ich will Morgan. Der Schweinehund hat zwei
Navyoffiziere auf dem Gewissen, außerdem einen Zollbeamten und
mindestens zwei britische Soldaten. Ganz zu schweigen von dem
Ärger, den er mir bereitet
hat.«
»Und die
französischen Gefangenen?«
»Die überlasse ich
Lasseurs Gewissen.«
»Ach, hat er eins?
Was sollte ihn davon abhalten, uns den französischen Behörden
auszuliefern? Vielleicht hast du einfach einen englischen Hulk
gegen einen französischen eingetauscht. Wenn sie uns nicht vorher
schon als Spione erschießen.«
»Das wird er nicht
tun.«
»Wer sagt
das?«
»Er sagte es. Er gab
mir sein Wort.«
»Und du glaubst
ihm?«
»Ja. Außerdem ist es
nicht in seinem Interesse, mich auszuliefern.« Hawkwood lächelte.
»Ich schulde ihm immer noch viertausend Francs.«
»Na, dann wird es
wohl seine Richtigkeit haben. Und ich dachte schon, er ist nur von
dem Gedanken an die vier Tonnen Gold angetrieben, die Boneys
Schatztruhen wieder füllen werden. Wie naiv kann man sein? Aber ich
sehe noch immer nicht, warum er so drauf versessen ist, Morgan
abzufangen, ehe er Frankreich erreicht. Warum wartet er nicht, bis
Morgan dort ist und denunziert dieses Arschloch erst
dann?«
»Weil Morgan, sobald
er gelandet ist, in der englischen Exklave verschwinden würde. Das
sind alles seine Freunde dort. Außerdem besteht eine gute Chance,
dass die Franzosen ihn schützen würden. Schließlich liefert er
Bonaparte zwölf Millionen Francs, da könnte es sich doch lohnen,
die Hand über ihn zu halten. Vielleicht denken sie, wenn er es
einmal schafft, dann schafft er es immer wieder.«
»Er hat acht
Franzosen umgebracht. Willst du mir weismachen, das würden sie ihm
nicht übelnehmen?«
»Morgan kommt zuerst
nach Gravelines, und seine Geschichte wird sein, dass sie beim
Ausüben ihrer patriotischen Pflicht gefallen sind – wenn er sie
überhaupt erwähnt. Bis Lasseur Zeit hat, seine Version zu erzählen,
ist Morgan bereits Schoßhündchen beim Kaiser. Für zwölf Millionen
Francs kann man sich viel erkaufen. Und außerdem gibt es keine
Beweise dafür, dass er sie umgebracht hat. Wer weiß denn genau,
dass sie nicht von unseren Leuten erschossen wurden? Es würde
Lasseurs Wort gegen Morgans sein, und Lasseur war nicht
dabei.«
»Also plant Lasseur,
Morgan auf hoher See einzuholen?«
»So sieht es
aus.«
»Und ihn dann selbst
zur Rechenschaft zu ziehen?«
Hawkwood antwortete
nicht.
»Und wir sollen ihm
helfen?«, bohrte Jago weiter.
»Du hättest nicht
mitzukommen brauchen«, sagte Hawkwood.
»Natürlich musste
ich mitkommen! Herrgott nochmal, wenn du schon diese irrsinnigen
Einfälle hast, muss doch einer auf dich aufpassen!«
»Und das bist
du?«
»Ja, das bin ich!
Immer bin ich’s, verdammt nochmal! Und wenn ich mir die Bemerkung
erlauben darf, du hast im Laufe der Zeit schon ziemlich viele
verrückte Ideen gehabt, aber das hier ist wohl nicht mehr zu
überbieten. Du bist entschlossen, dich in dieses zweifelhafte
Abenteuer zu stürzen, bloß damit du einem verfluchten Schmuggler
das Handwerk legen kannst?«
»Das Gold ist
sowieso weg. Aber so kann ich wenigstens dafür sorgen, dass Morgan
nichts davon hat.«
»Und wie steht’s mit
der Möglichkeit, es Lasseurs Klauen wieder zu
entreißen?«
»Wir zwei allein?«,
sagte Hawkwood trocken. »Da hab ich meine Zweifel.«
»Zumindest sollte
man mal drüber nachdenken. Also kriegen Lasseur und sein Kaiser
zwölf Millionen Francs, und du kriegst einen verdammten Mistkerl
von Mörder und Schmuggler?«
»Manche würden das
für einen guten Tausch halten.«
»Aber nur, wenn sie
nicht ganz dicht sind. Und hast du überhaupt schon drüber
nachgedacht, wie wir wieder nach Hause kommen?«
»Lasseur wird dafür
sorgen, dass wir zurückkommen.«
»Du hast verdammt
viel Vertrauen zu dem Mann.«
»Ich sagte dir doch,
er hat Angst, dass er das Geld verliert, was ich ihm
schulde.«
Jago schüttelte
verzweifelt den Kopf. »Du kannst deine Späße machen, aber wenn
Lasseur etwas passiert und wir landen in Verdun oder einem dieser
anderen Froschfresser-Gefängnisse, dann sitzen wir wirklich in der
Scheiße.«
»Hast du Micah
deshalb nach Hause geschickt?«
»Ich wollte, dass
dort drüben jemand weiß, wo wir sind.«
»Willst du damit
sagen, er würde uns suchen, wenn er von uns nichts
hört?«
»Wenn er von
mir nichts hört, kommt er.« Jago
verstummte, schließlich sagte er: »Mein Gott, ist das eine
verrückte Situation. Du musst es wirklich auf diesen Bastard
abgesehen haben.«
»Habe ich auch«,
sagte Hawkwood. »Aber es hat keine geschäftlichen Gründe. Bei
Morgan geht es um persönliche Dinge.«
Es klopfte, dann
trat ein Seemann mit einem Tablett ein, mit Brot, kaltem Braten,
zwei Bechern, einer Kanne Kaffee und einer Flasche
Brandy.
»Avec des compliments de Capitaine Lasseur,
messieurs.«
Er stellte das
Tablett auf den Tisch und verschwand.
Jago schenkte sich
Kaffee ein und versah jeden Becher mit einem großzügigen Schuss
Brandy, ehe er Hawkwood einen davon über den Tisch schob. »Hier,
trink mal.«
Hawkwood nahm einen
Schluck. Der Kaffee war kochend heiß. Er wartete, bis sich seine
Kehle wieder beruhigt hatte, dann sagte er: »Erzähle mir, was du
über Cephus Pepper weißt.«
Jago verzog das
Gesicht. »Er ist Morgans rechte Hand, aber das weißt du bereits.
Ich habe gehört, er war Erster Steuermann auf einem Sklavenschiff,
das Sklaven zu den Westindischen Inseln brachte. Kam einer
britischen Fregatte vor Havanna in die Quere, das war so um’02,
glaube ich. Verlor den Arm bei dem Gemetzel auf Deck. Man sagt, er
entwischte, indem er über Bord sprang. Kein Mann, den man zum Feind
haben sollte, wie du schon gemerkt hast.«
»Wie lange ist er
schon mit Morgan zusammen?«
»Etwa acht Jahre.
Nimmst du an, dass er heute Nacht mit Morgan zusammen
war?«
»Worauf du dich
verlassen kannst. Morgan kennst du doch, oder?«
»Wir sind uns nie
begegnet, aber ich glaube, ich weiß genug über ihn, dass ich ihn
nicht aus den Augen lassen würde. Er erzählt gern, dass er von
Henry Morgan abstammt, dem berühmten walisischen Freibeuter, aber
das glaube ich nicht. Soweit ich weiß, ist er ein Bauernsohn aus
der Gegend von Ruckinge. Die Familie war jahrelang im Geschäft.
Morgans Vater gehörte zur Bande von Callis Court. Morgan lief schon
als Junge von der Farm weg. Es gibt ein Gerücht, dass er zur See
ging, um dem Gesetz zu entkommen, aber vielleicht ist das auch bloß
so eine Geschichte, die er selbst in die Welt gesetzt hat. Genau
wie die, dass er angeblich Bootsmann auf der Britannia war; obwohl das die Erklärung dafür sein
könnte, wie gut er immer alles organisiert und dass viele seiner
Leute aus der Navy kommen. Vielleicht sind er und Pepper auch
deshalb ein so gutes Team. Er kam zurück, machte weiter, als sein
Alter starb, und hat das Geschäft aufgebaut. Nee, der hat kein
walisisches Blut in den Adern, es sei denn, man rechnet die
Tatsache dazu, dass man seinen Urgroßvater dabei erwischt hat, wie
er’s mit’nem Schaf trieb. Hat er dir davon erzählt?«
»Er muss vergessen
haben, das zu erwähnen«, sagte Hawkwood. »Hast du seine Dienste
schon mal in Anspruch genommen?«
»Sprichst du von
meinen Geschäftsinteressen?«
Hawkwood
grinste.
Jago zuckte die
Schultern. »Schon möglich, vielleicht indirekt, bei dem Einfluss,
den er hat. In meiner Branche kann man nicht immer genau wissen, wo
die Ware herkommt. Hauptsächlich habe ich aber mit den
Geschäftleuten in Sussex zu tun.«
»Darüber will ich
lieber nicht so viel wissen«, sagte Hawkwood.
»Ist auch besser
so.«
»Und Garvey,
arbeitet der für Morgan?«
»Du bist offenbar
gar nicht so dumm, wie du aussiehst.« Jago nahm einen Schluck aus
seiner Tasse und schmatzte genießerisch.
»Vertreter in dieser Gegend?«, sagte Hawkwood. »Das
kannst du erzählen, wem du willst! Er kennt Pepper, er erkannte die
Leichen in der Scheune, und er kannte sich offenbar bestens in der
Gegend aus. Dazu braucht man kein Genie zu sein.«
Hawkwood lehnte sich
an das Schott zurück. Aus irgendeinem Grund fühlten sich seine
Glieder plötzlich schwer wie Blei an. Er hatte den überwältigenden
Wunsch, die Augen zu schließen. Doch er durfte nicht einschlafen,
denn das wäre gefährlich. Wenn er einnickte, würde er womöglich nie
wieder aufwachen. Er versuchte, gegen seine Müdigkeit
anzukämpfen.
»Also gut«, sagte
Jago. »Aber es macht nichts. Er ist einer von Morgans Laufburschen.
Er trägt Informationen über neue Ladungen weiter und solche Sachen.
Morgan setzt Garvey auch ein, wenn Leute bezahlt werden müssen,
dadurch weiß er natürlich, wo ein paar seiner Knochen vergraben
sind. Wir sehen uns ab und zu, immer wenn ich in meine alte Heimat
komme, nehme ich Kontakt mit ihm auf. Ist auch ganz gut
so.«
Er schwieg, nahm
einen Schluck Kaffee und sah hinüber zu Hawkwood. Dem fielen die
Augen zu. Die Tasse war dabei, ihm aus der Hand zu
fallen.
Jago seufzte. Er
stellte seine Tasse hin und streckte den Arm aus, gerade noch
rechtzeitig, um die fallende Tasse zu retten. »Wird auch Zeit«,
murmelte er. Er stellte die Tasse auf den Tisch, nahm die Decke von
der Koje und breitete sie über Hawkwood aus, der bereits fest
schlief. Er sah hinunter auf das zernarbte, unrasierte Gesicht und
runzelte die Stirn beim Anblick der frischen Verletzungen und dem
Zustand von Hawkwoods Kleidern. Er schüttelte den Kopf und ging
wieder auf seinen Platz. »Manche Leute haben einfach keine
Kondition«, sagte er leise zu sich selbst.
Hawkwood fuhr aus
dem Schlaf hoch, als er eine Hand auf dem Arm spürte. Er musste
einen Augenblick nachdenken, wo er war. Dann hörte er das Ächzen
und Knarren und den Ruf eines Seemanns irgendwo oben auf Deck, und
sein Gehirn sprang wieder an. Er sah hoch und blickte in Jagos
zerfurchtes Gesicht, das sich über ihn beugte. Schnell setzte er
sich auf, wobei er sich beinahe eine Beule an einem niedrigen
Balken über dem Bett geholt hätte.
»Der Captain sagt,
wir sollen an Deck kommen. Auf Starbord am Bug soll ein Segel sein,
was immer das heißen mag.«
Hawkwood stand auf
und verlor fast das Gleichgewicht, denn das Schiff schwankte jetzt
stark. Er fluchte, hielt sich an der Tischkante fest und merkte,
wie sich sein Magen umdrehte.
Er folgte Jago die
Treppe hinauf an Deck und fühlte sofort den kalten Wind und den
Sprühnebel der Gischt im Gesicht. Er hörte das Zischen der Wellen,
die der Bug durchschnitt, und das laute Knallen der Segel. Es war
noch nicht hell, aber hinter dem Bugspriet zog sich ein rotbraunes
Band am Horizont dahin, das immer breiter wurde. An seinem unteren
Rand war ein ungleichmäßiger dunkler Streifen, und Hawkwood wusste,
das war Land. Es war aber noch zu weit entfernt, um Einzelheiten zu
erkennen.
Auf Backbord stand
Lasseur vorgebeugt an der Reling und sah durch ein Fernrohr, eine
Zigarre zwischen den Zähnen. Er sah aus wie ein Wolf, der Beute
gewittert hat; ein Mann in seinem Element.
»Heimat«, sagte er
und folgte Hawkwoods Blick. »Meine«, sagte er. »Nicht deine.« Er
grinste.
»Wie
weit?«
»Zwanzig Meilen,
vielleicht etwas weniger.«
Hawkwood sah ihm
über die Schulter. Über dem Heck war der Himmel viel dunkler, und
es war schwerer, zwischen Meer und Land zu unterscheiden, wenn es
dort überhaupt Land gab.
»Du sollst dort ein
Segel gesehen haben?«, fragte Hawkwood.
Lasseur nickte. Er
reichte Hawkwood das Fernrohr und zeigte geradeaus auf einen weit
entfernten Küstenstreifen.
»Zwei Meilen vor dem
Bug.«
Hawkwood stemmte
sich mit der Hüfte gegen die Reling und versuchte das Wasser zu
ignorieren, das über seine Stiefel schwappte. Er hielt das Fernglas
ans Auge. Anfangs sah er nichts als blauschwarze Wassermassen. Er
setzte das Glas ab, orientierte sich und peilte das helle Band an,
das über dem Bug am Himmel zu sehen war, und versuchte es nochmals.
Das Glas rutschte ab. Er unterdrückte einen Fluch, aber seine
Beharrlichkeit wurde belohnt, denn plötzlich glitt ein dunkler,
eckiger Gegenstand in sein Gesichtsfeld. Das Schiff lag tief im
Wasser und segelte mit Backbordhalsen dicht am Wind, Fock- und
Besansegel waren gebrasst.
»Ich sehe es!« Er
spürte, wie eine Welle der Erregung ihn packte.
»Morgan?« Er gab
Jago das Fernrohr.
»Es ist ein Kutter«,
sagte Lasseur zuversichtlich. »Und Gravelines liegt in fast gerader
Linie vor uns. In einer Stunde wird es hell, dann werden wir’s
wissen.«
»Sie zeigt keine
Flagge«, murmelte Jago, der durchs Fernglas sah. Das Fernrohr sah
in seinen Händen sehr klein aus.
»Wir auch nicht«,
erinnerte Lasseur ihn und nahm das Fernglas wieder an sich, um
nochmals durchzusehen. »Wenn die uns sehen – aber vielleicht haben
sie’s noch nicht -, dann werden sie sich fragen, wer wir sind,
obwohl sie an unserer Takelage sehen können, dass wir kein
britisches Schiff sind. Die Briten haben nicht viele Schoner. Ein
paar von denen, die sie besitzen, haben wir erobert, aber die sind
nicht so gut wie die Scorpion. Im
Moment macht er sich wohl auch noch nicht zu viele Gedanken
darüber. Damit sind wir im Vorteil.«
Hawkwood sah nach
oben. Genau wie der Schoner schien auch dieser Kutter für ein
Schiff seiner Größe außergewöhnlich viele Segel zu haben; das also
war Lasseurs Berber-Takelage. Er sah über die Reling auf das
Wasser, das am Bug vorbeischoss. Das Schiff schnitt durch die
Wellen wie ein Messer. Gischt sprühte über den Bug. Die
Geschwindigkeit war berauschend, und während der Himmel im Osten
langsam von Rotbraun in Goldorange überging und die Küste immer
näher kam, näherte sich die Scorpion
unaufhaltsam ihrem Opfer.
Die drei Männer
blieben an der Reling stehen. Hawkwood war beeindruckt von der
Geschwindigkeit, mit der ihr Schoner den Abstand verkleinerte. In
kürzester Zeit, so schien es, war der Kutter nur noch drei
Kabellängen von ihnen entfernt. Der Himmel war wesentlich heller
geworden. Er sah Menschen an Deck.
»Wenn sie bisher
nicht ahnten, dass wir uns für sie interessieren, dann würde ich
sagen, jetzt tun sie’s aber«, sagte Lasseur. Er hob das Fernrohr.
»Bâtards!«, fluchte er plötzlich und
reichte Hawkwood das Glas.
Hawkwoods erster
Gedanke war, sie hätten das falsche Schiff verfolgt. Dann glitt ein
schwarzer Bug in den Vordergrund und wurde immer größer, wirkte
aber immer noch klein im Vergleich zur Größe der Segelfläche.
Hawkwood erinnerte sich an Gadds Beschreibung der Sea Witch. Er suchte an der Gillung nach einem
Namen, aber die Jolle, die außen an dem schmalen Heck hing,
verdeckte ihn. Drei Männer standen auf Steuerbord an der Reling,
dicht beim Steuermann, und starrten auf die Scorpion. Zwei von ihnen trugen blaue Jacken und
weiße Hosen. Als Hawkwood den dritten Mann erkannte, der zwischen
ihnen stand, war ihm der Name des Schiffes nicht mehr wichtig. Groß
und graubärtig stand er da und hielt ein Fernglas ans Auge. Er
hielt es nur mit der rechten Hand.
Es war
Pepper.
Und während Hawkwood
und Lasseur ihn noch beobachteten, trennten sich die drei Männer.
An Deck des Kutters entwickelte sich plötzlich eine fieberhafte
Aktivität.
»Oh Gott, die fahren
ihre verdammten Kanonen aus«, rief Hawkwood, als die Mannschaft des
Kutters anfing, die Segeltuchplanen von den Kanonen im Heck des
Kutters zu entfernen. Soweit er sehen konnte, waren es sechs, auf
jeder Seite drei. Er gab Lasseur das Fernrohr.
»Merde!«
»Was für welche sind
es denn?«, fragte Hawkwood. Er war nicht sehr bewandert in den
Kalibern der Marinegeschütze. Als ob es darauf ankam. Kanonen waren
überall verdammte Kanonen.
»Was ihr
Sechspfünder nennen würdet, wie es aussieht. Euer Zoll hat die
auch. Bei richtiger Höhe sind sie zielgenau bis zu
zweihundertfünfzig Yards. Zum Glück sind wir im Vorteil. Wir haben
mehr davon.«
An die Möglichkeit,
dass die Sea Witch schwere Geschütze an
Bord haben könnte, hatte Hawkwood überhaupt nicht gedacht. Er war
davon ausgegangen, dass Morgan und seine Leute kleine Waffen
hatten, höchstens Drehbassen – er hatte eine davon im Bug des
Kutters gesehen -, aber keine Kanonen auf Lafetten, obwohl die
kurze Kanone, die sie beim Erstürmen der Admiralität benutzt
hatten, ihn eigentlich hätte warnen müssen. Er überlegte, wie geübt
sie wohl sein mochten, falls es zu einem Seegefecht kommen sollte.
Der Gedanke, dass Morgan unter den ehemaligen Seeleuten in seinen
Diensten auch ein paar Kanoniere hatte, war gar nicht so
abwegig.
Lasseur war offenbar
ebenso überrascht. Im Nu war er weg.
»Tous les marins sur le pont!«
Eine Glocke fing an,
laut zu scheppern. Das Deck dröhnte vom Rennen der
Männer.
Die Scorpion hob
sich aus den Wellen und schoss dahin.
»Preparez les canons!«
Innerhalb von
Sekunden war Sand gestreut, waren die Kanonen ausgefahren,
persönliche Waffen verteilt und Halstücher um die rechten Arme der
Männer gebunden. Lasseur erklärte, dass sich seine Männer zwar
kannten, aber jeder, besonders Hawkwood und Jago, musste Freund von
Feind sofort unterscheiden können. Selbst ein Zögern um den
Bruchteil einer Sekunde konnte den Unterschied zwischen Leben und
Tod bedeuten.
»Sie wollen
tatsächlich entern?«, fragte Jago und fuhr mit dem Daumen über die
Klinge seines Entermessers, während Lasseur Hawkwood eine Pistole
und einen Tomahawk gab.
»Ich bezweifle, dass
Morgan sich auf Zuruf ergeben wird«, sagte Lasseur
grimmig.
Schließlich war
jedes Mitglied der Mannschaft an seinem Platz, und die Scorpion schoss weiter durchs Wasser.
Der Kutter, der
jetzt weniger als eine Kabellänge vor ihrem Bug war, drehte nach
Backbord. Seine Segel flatterten, als er aus dem Wind drehte, doch
dann wurden sie festgezurrt und füllten sich wieder. Hawkwood fand,
dass er ziemlich toplastig aussah.
Lasseur gab mit
lauter Stimme Kommandos. Den nautischen Jargon verstand Hawkwood
nicht, Lasseur hätte seine Anweisungen ebenso gut auf Chinesisch
geben können. Doch als die Männer eilig an den Tauen zogen um die
Segelfläche zu verkleinern, und als der Steuermann hart am Ruder
drehte, wurde ihm klar, dass der Privateer versuchte, sich den
Manövern des Kutters anzupassen. Die Scorpion drehte langsam bei.
In der Ferne hörte
man eine Explosion, und auf dem Deck des Kutters sah man eine
Rauchwolke, dann stieg fünf Yards vor Steuerbord des Schoners eine
Wasserfontäne auf.
Irgendjemand
prustete schadenfroh los.
Lasseur schnaubte
verächtlich und rief seinem Ersten Offizier zu: »Bei Hub
schießen!«
Hawkwood erinnerte
sich, dass er mal gehört hatte, dass englische Kanoniere gewöhnlich
schossen, wenn der Bug sich senkte, so dass bei einer Verzögerung
die Kugel am Wasser abprallen und den Bug des Feindes treffen
würde. Französische Geschützmannschaften jedoch zielten in erster
Linie auf die Takelage. Was zur Folge hatte, dass die Franzosen
meist größere Verluste bei der Besatzung erlitten. Hawkwood wusste,
dass Lasseur den Kutter auf keinen Fall versenken wollte, besonders
in Anbetracht seiner Ladung, also hielt er sich an die Tradition,
indem er auf die Takelage schoss. Hawkwood versuchte, nicht darüber
nachzudenken, was danach passieren würde.
Als die Scorpion mit der Steuerbordseite an dem schmalen
Heck des Kutters vorbeiflog, senkte Delon den Arm.
Der Kanonier riss an
der Schnur und Hawkwood war überrascht von der Explosion. Sie war
schärfer und lauter, als er erwartet hatte, eher ein
ohrenbetäubender Knall als ein Dröhnen. Der Lärm fühlte sich an wie
ein Spieß, der sich in seinen Kopf bohrte, und er sah, wie auch
Jago neben ihm zusammenzuckte.
Hawkwood wartete auf
den Einschlag, doch er sah nichts. Verdammt,
nicht getroffen!, dachte er enttäuscht, und dann sah er, wie
die Spitze des Großmasts sich in einem Gewirr von Tauwerk auf die
Seite legte.
Die
Geschützmannschaft stieß einen lauten Freudenschrei aus und war
bereits dabei, das Kanonenrohr für den nächsten Schuss
vorzubereiten. Die restliche Mannschaft stimmte in den Jubel ein,
als der Mast in einem Durcheinander von Tauen und Spieren
umstürzte.
Lasseurs Munition
bestand aus jeweils zwei kleinkalibrigen Kanonenkugeln, die durch
eine Kette verbunden waren. Wieder schrie er: »Feu!«
Erneut eine
Detonation. Diesmal sah Hawkwood den Treffer, der die Gaffel
hinwegriss, das Segel beschädigte und den Rest des Masts
beseitigte. Ohne Taljen und mit dem Großsegel in Fetzen hatte die
Takelage des Kutters ihre Wirksamkeit eingebüßt. Der Mann im Heck
kämpfte mit der Ruderpinne, aber das Schiff begann sich hilflos zu
wälzen.
Doch ihre Besatzung
kämpfte auch.
Ein doppelter Schuss
hallte über das Wasser. Hawkwood sah, wie sich die Qualmwolken auf
dem Deck verflüchtigten, eine davon kam von der Drehbasse.
Instinktiv duckte er sich, als ein Teil der Steuerbordreling des
Schoners zertrümmert wurde, hörte ein Pfeifen, als die Kugel an
seinem Ohr vorbeiflog, und duckte sich wieder, als Splitter durch
die Luft flogen. Er hörte Schreie. Hawkwood sah, wie ein Mann sich
zusammenkrümmte, die Hand am Hals, aus dem man Blut zwischen den
Fingern herausquellen sah.
Ein trotziges
Gebrüll erhob sich unter der Mannschaft der Scorpion.
»Au tribord!«, schrie Lasseur dem Steuermann
zu.
Der Steuermann
drehte das Ruder und die Scorpion
reagierte sofort. Ihr Bug senkte sich. Das Wasser an ihrer Seite
kochte und schäumte über ihr stark geneigtes Deck, als sie sich dem
Rumpf des Kutters näherte. Ihr Heck hob sich und sie drehte nach
Steuerbord. Ein weiterer Kanonenschuss, und Hawkwood sah, wie einer
der Männer auf dem Kutter in einem Chaos aus Blut und Rauch und
Splittern und taumelnden Gefährten zerrissen wurde. Und die
Scorpion lag jetzt in voller Breite mit
Backbord neben der Steuerbordseite des Kutters. Die Schiffe waren
keine zwei Kanonenlängen voneinander entfernt, als der erste
Enterhaken über das Schanzkleid des Kutters geworfen wurde. Es
folgte ein wahrer Hagel von Metallklauen. Während ihre Kameraden
für Feuerschutz sorgten, holten die Männer die Seile ein. Hawkwood
fühlte Jagos starke Hand auf der Schulter, hielt sein Tau mit aller
Kraft fest und stemmte die Beine auf den Boden, um den Aufprall
abzufangen. Es war nicht sehr anders als der Angriff auf eine
Bresche in einer Mauer, dachte er, während der Abstand zwischen den
beiden Schiffen sich immer weiter verringerte. Das Prinzip war
dasselbe: Immer versuchte jemand, einen umzubringen. Also: Augen
auf, Verstand gebrauchen, möglichst nicht hinfallen.
»Es ist möglich,
dass sie genau so viel Mann sind wie wir«, hatte Lasseur gesagt.
»Aber meine Leute haben das schon ein paarmal gemacht. Achtet auf
eure Flanken.«
Pulverblitze
beleuchteten die Gesichter an der Reling des Kutters. Der Seemann
links von Hawkwood stöhnte laut auf und stürzte nach hinten, auf
seiner Brust breitete sich ein Blutfleck aus.
Krachend und unter
Ächzen des Holzes stießen die Schiffe aneinander. Sofort sprangen
die Männer der Scorpion mit Gebrüll auf
das Schanzkleid und warfen sich auf das Deck des
Kutters.
Sie wurden mit Kugel
und Klinge empfangen.
Als Hawkwood sprang,
sah er in der Lücke unter sich das graugrüne Wasser schäumen. Auf
der anderen Seite kam das Deck ihm entgegen. Er landete hart,
rutschte in einer dunklen Blutlache aus, zog die Pistole und schoss
aus nächster Nähe auf jemanden, der mit hoch erhobener Klinge auf
ihn zukam. Er sah, wie der Kopf des Angreifers in einem roten Nebel
verschwand, dann sackte die Leiche in dem allgemeinen Gewühl aufs
Deck. Hawkwood drehte die Pistole um und zog den Tomahawk aus dem
Gürtel. Die Luft hallte wider vom Klirren der Stahlklingen und den
Schüssen der Pistolen.
Er suchte Morgan,
konnte aber weder ihn noch Pepper sehen. In dem Wirrwarr und dem
Lärm und dem Pulverdampf, der sich über das Deck wälzte, konnte er
nichts erkennen, es war ein unübersichtliches Durcheinander
kämpfender Männer. Hawkwood hielt Ausschau nach jemandem, der kein
Halstuch um den Arm trug. Er sah Lasseur, der mit Messer und
Schwert kämpfte, seine Klinge gegen einen Mann in blauer Jacke
schwingen; sein Gesicht war eine wütend verzerrte Maske. Einige von
Morgans Leuten trugen noch immer die französische Uniform. Lasseur
hatte seine Mannschaft darauf vorbereitet, die diesen Hinweis zu
nutzen wusste. Die blauen Jacken boten gut sichtbare
Ziele.
Eine riesige Gestalt
– offenbar jemand von der Besatzung des Kutters, da er keine
Armbinde trug – erschien an Hawkwoods rechter Seite, in den Händen
ein Musketoon, mit dem man aus der Nähe schoss. Hawkwood kam es
vor, als habe die Mündung der Waffe einen Durchmesser von einem
Fuß. Hawkwood dachte, er sähe dem Tod ins Auge, doch dann war Jago
da und hieb dem Mann mit dem Entermesser ins Handgelenk, ehe er
abdrücken konnte. Hawkwood beendete das Werk mit dem Tomahawk. Er
spürte, wie die Klinge in den Knochen drang, nahm die Waffe an sich
und kämpfte weiter.
Die Schlacht tobte.
Sie war brutal und blutig, und der Boden wurde immer glitschiger.
Durch die Überreste der zerstörten Takelage war das Deck schon
vorher ein Wirrwarr aus Tauen, zerfetztem Segeltuch und
zerbrochenen Spieren gewesen, jetzt war das Chaos durch die Toten
und Verletzten, die überall herumlagen, noch größer.
Plötzlich entdeckte
Hawkwood in einer Lücke, die zwischen den Kämpfenden entstanden
war, Pepper. Morgans Leutnant stand am Heck des Kutters und
versuchte, mit dem Entermesser einen Tauknoten am Arm der Winde zu
durchschlagen, an dem die Jolle hing. Der Steuermann lag tot zu
Peppers Füßen.
Der Bastard will wieder über Bord gehen, dachte
Hawkwood. Doch Pepper war nicht allein. Ein zweiter Mann versuchte,
das Tau am anderen Arm der Winde durchzuschneiden. Hawkwood
erkannte Morgan nicht sofort. Er trug den schwarzen Bart nicht
mehr, aber sein Körperbau verriet ihn. Er sah hoch, erkannte
Hawkwood und versuchte es trotz seiner Überraschung nur noch
verzweifelter. Wie einige seiner Männer trug auch er noch die blaue
Uniformjacke und die weiße Hose. Als Morgan den Arm hob, sah
Hawkwood die diagonalen Streifen an den Manschetten der Jacke und
plötzlich hörte er wieder die Stimme von Leutnant Borden und seine
Beschreibung des breitschultrigen Sergeanten, der Korporal Jefford
in der Eingangshalle erschossen hatte.
Mit den Augen
überflog er das Deck und versuchte, durch den Pulverdampf hindurch
etwas zu sehen. Er sah Lasseur, nahm Blickkontakt auf und deutete
auf die beiden. Lasseur folgte seinem Blick und man sah, wie sein
Gesicht sich veränderte und eine noch größere Anspannung zeigte.
Der Privateer stieg über die Haufen aus herabgestürztem Segeltuch,
er ignorierte das Gedränge um ihn und kletterte mit entblößten
Zähnen weiter in Richtung der Jolle.
Hawkwood merkte, wie
Pepper aufsah. Morgans Leutnant hatte bemerkt, dass Lasseur auf ihn
zukam. Peppers Züge unter dem Bart waren wie versteinert. Mit dem
Entermesser in der Hand bewegte er sich langsam von der Winde weg.
Hinter seinem Rücken versuchte Morgan immer noch, das Tau
durchzuhauen. Plötzlich gaben die Fasern nach, und die Jolle hing
mit dem Bug nach unten. Morgan konzentrierte sich auf den zweiten
Arm der Winde.
Hawkwood hörte Jago
brüllen. Wieder einer von Morgans Männern, der seinen Arm
riskierte, dachte er. Blitzartig drehte er sich um und rammte das
stumpfe Ende der Pistole in ein überraschtes Gesicht. Er bemühte
sich, auf den Beinen zu bleiben. Während das Kampfgetümmel hinter
ihm weitertobte, machte er sich auf zum Heck.
Pepper griff das
Entermesser fester und wartete auf Lasseurs Angriff. Er wirkte
furchtlos und selbstbewusst. Das Entermesser war eine Waffe, die er
beherrschte.
Lasseur stürzte sich
auf ihn, und Pepper zielte mit dem Messer auf dessen Schwertarm.
Lasseur parierte den Angriff und wehrte ihn mit der flachen Klinge
ab. Als er von Peppers Körpergewicht auf die andere Seite gedrückt
wurde, ließ Lasseur sich fallen und zog sein Messer durch die
Sehnen in Peppers Kniekehlen. Pepper brach zusammen, auf seinem
Gesicht eine Mischung aus Verwunderung, Schock und Schmerzen. Den
Kopf zurückgebeugt, wollte er aufschreien, kam jedoch nicht mehr
dazu, weil Lasseur ihm seinen Säbel in den ungeschützten Hals
stieß.
Lasseur stellte
seinen Fuß auf Peppers Brust, die sich nicht mehr bewegte, und zog
die Klinge wieder heraus.
»Crétin!«, zischte er.
Morgan hatte das
letzte Tau fast durchgehauen, als er Pepper fallen sah. Der Anblick
von Lasseur und dem Runner am Heck des Schoners war ein riesiger
Schock gewesen. Aber was noch schlimmer war, jetzt war auch sein
Leutnant plötzlich und mit brutaler Perfektion umgebracht worden.
Eben war Cephus noch da und hielt ihm den Rücken frei, im nächsten
Moment lag er mit einer klaffenden Wunde im Hals in seinem Blut.
Morgan konnte nicht glauben, wie schnell das passiert
war.
Aber es war
geschehen. Morgan hatte den Ausdruck in Lasseurs Augen gesehen und
wusste, was er zu bedeuten hatte.
Also ignorierte er
den toten Steuermann und das Blut, das überall in die Deckplanken
eindrang, und fuhr fort in seinem verzweifelten Versuch, die Jolle
frei zu bekommen, obwohl er wusste, dass es sinnlos
war.
Er hörte eine
Stimme. »Es ist vorbei, Morgan.« Schwer atmend drehte er sich
um.
Lasseur und Hawkwood
standen Seite an Seite. Neben ihnen stand ein untersetzter Mann mit
hartem Gesicht und eisengrauem Haar, der ein blutiges Entermesser
in der Hand hielt.
»Es ist vorbei,
Morgan«, sagte Hawkwood wieder. »Du hast verloren. Deine Leute sind
erledigt.«
Morgan sah, dass
Hawkwood Recht hatte. Die Mitglieder seiner Mannschaft, die noch
auf den Beinen waren, legten ihre Waffen hin und ergaben sich,
indem sie sich aufs Deck setzten, die Hände auf dem Kopf. Lasseurs
Männer gingen zwischen ihnen hindurch und sammelten die Waffen ein.
Die meisten der Toten, die auf dem Deck lagen, hatten keine
Halstücher an den Armen. Die Mannschaft des Kutters war durch reine
Waffengewalt überwältigt worden. Die Speigatten der Sea Witch waren glitschig vom abfließenden
Blut.
»So sieht es also
aus, wenn Ratten das sinkende Schiff verlassen«, sagte
Jago.
Morgan ließ seinen
Säbel fallen. Er atmete schwer.
»Es sind noch
fünfzehn Meilen bis zur Küste«, sagte Hawkwood. »Hast du wirklich
gedacht, du schaffst es?«
»Der Herr liebt
Optimisten«, sagte Lasseur.
»Wer kann’s einem
verdenken, wenn man’s probiert?«, sagte Morgan.
Hawkwood steckte die
Pistole in seinen Gürtel, warf den Tomahawk zur Seite und zog das
Messer aus dem Stiefel.
Ein leiser Zweifel
erschien auf Morgans Gesicht. Sein Unterkiefer war angespannt. Ohne
Bart sah der Mann merkwürdig aus, stellte Hawkwood fest. Sein
Gesicht wirkte runder und mindestens fünf Jahre jünger, und auch
nicht so aggressiv. Überhaupt war da etwas um Morgan, was anders
war. Er wirkte im Ganzen korpulenter, was ein bisschen komisch war,
und seine Bewegungen waren irgendwie … gemessen.
Ehe Morgan reagieren
konnte, fuhr Hawkwood mit der Messerspitze unter den Saum von
Morgans Uniformjacke, und mühelos, wie ein Chirurg, der eine Leiche
öffnet, schlitzte er die Jacke bis unter Morgans Kinn auf. Sie
klaffte auseinander wie eine aufgeschnittene Frucht.
»Ja, schaut doch
mal, was wir hier haben!«, sagte Jago überrascht. »So was habe ich
nicht mehr gesehen, seit unser alter König tot ist.«
Es war eine Weste,
aber keine, wie Hawkwood sie je gesehen hatte. Ihr Futter bestand
aus Taschen, und jede von ihnen war prall gefüllt.
Hawkwood streckte
die Hand aus, und mit einer Bewegung des Handgelenks filetierte er
auch dieses Kleidungsstück. Der Stoff gab nach, und das Gewicht des
Inhalts besorgte das Übrige. Ein Goldbarren schlug aufs
Deck.
Hawkwood steckte das
Messer wieder in den Stiefel und hob das Gold auf. Es war kein
großes Stück, etwa halb so groß wie eine Büchse, in der man
Feuerzeug aufbewahrte, aber dennoch schwer. In das stumpfe Metall
waren Nummern geprägt sowie ein runder Stempel mit dem Namen
Rothschild & Sons.
Nach seinem
Körperumfang zu urteilen hatte Morgan auch Taschen im Rücken der
Weste, und quer über den unteren Teil seines Rückens war ebenfalls
ein Wulst. Lasseur hob den Rücken der Uniformjacke mit der Spitze
seines Säbels an, und darunter kam ein Kleidungsstück zutage, das
einer Turnüre ähnelte.
»Vielleicht sollten
wir in seiner Hose auch noch nachsehen«, sagte Jago. »Ganz früher
hatte man doch auch noch Taschen an den
Oberschenkeln.«
»Wir wissen
Bescheid«, sagte Hawkwood. »Seht mal bei Pepper nach.«
Lasseur ging zu
Peppers Leiche.
»Dasselbe«, sagte
er. Jetzt wurde ihm auch klar, warum Pepper so schwerfällig gewesen
war und unfähig, den Angriff auf ihn abzuwehren.
»In den Westen, die
man zum Teeschmuggel trug, konnte man ungefähr dreißig Pfund
unterbringen«, sagte Jago.
»Judas bekam
Silberlinge. Du hast Gold«, sagte Hawkwood. »Du machst dir all die
Mühe, und alles, was dir zum Schluss bleibt, ist eine verdammte
Weste. Kaum der Mühe wert.«
»Was willst du mit
ihm machen?«, fragte Lasseur. »Entscheide du. Ich schenke ihn
dir.«
»Ich lass ihm das
Gold«, sagte Hawkwood.
»Was?« Lasseur blieb
der Mund offen stehen.
Hawkwood zuckte die
Schultern. »Soll er sein Glück versuchen.«
»Verdammt, das ist
doch nicht dein Ernst?«, sagte Jago. »Nach allem, was du gesagt
hast?«
Morgan hob den Kopf.
»Sie nehmen mich nicht fest?«
»Dich festnehmen?«
Hawkwood lachte. »Du kommst dir wohl immer noch sehr wichtig vor.
Nein, ich habe große Lust, dir deine Weste zu lassen. Ich glaube,
das Militär wird die dreißig Pfund Gold nicht vermissen, nicht
wahr? Was mich anbetrifft, wenn du’s bis zur Küste schaffst, dann
hast du sie auch verdient. Ich stelle nur eine Bedingung
…«
»Was für eine?« In
den dunklen Augen zeigte sich ein winziger Funken
Hoffnung.
»Du musst
schwimmen.«
Hawkwood machte eine
halbe Drehung und trat Morgan mit dem Stiefel in den
Bauch.
Der Tritt warf
Morgan fast um, er taumelte nach hinten. Er prallte rückwärts mit
den Beinen auf den Rand des Schanzkleides. Der Schwung besorgte den
Rest, er flog über Bord. Er landete im Wasser, immer noch mit
demselben ungläubigen Gesichtsausdruck. Er versuchte, Atem zu
holen, aber das Wasser schloss sich über ihm und sein mit Gold
beschwerter Körper sank in die Tiefe.
Es war schnell
vorüber. Von Morgan war keine Spur mehr vorhanden.
Hawkwood trat
zurück.
»Also, jetzt kann
ich wieder aufatmen«, sagte Jago. »Ich hatte mir wirklich schon
Sorgen gemacht. Ich dachte, du bist verrückt
geworden.«
Auch hinten
klatschte es immer wieder im Wasser auf. Unter der Aufsicht von
Leutnant Delon und seiner Mannschaft warfen Morgans übrig
gebliebene Männer die Leichen ihrer toten Kameraden über
Bord.
»Ich glaube, wir
können gehen«, sagte Lasseur, indem er sich umdrehte und seinen
Säbel einsteckte. Er rief seinen Leutnant.
»Wenn die Toten alle
weggeräumt sind, schließ die anderen unten ein. Bringe unsere
Männer auf die Scorpion zurück; auch
die Verletzten. Behalte ein paar Leute hier, um das Deck
aufzuräumen, dann setze ein Segel. Wir begleiten sie hinein. Als
Schiff kann man mit ihr zwar keinen großen Staat mehr machen, aber
ihre Ladung ist ein Vermögen wert.« Lasseur sah Hawkwood an und
grinste.
Hawkwood sagte: »Da
wirst du dich beeilen müssen.«
Dabei sah er Lasseur
nicht an. Er sah über den Bug. Im selben Augenblick rief Lasseurs
Leutnant: »Segel im Nordosten!«
»Britische
Fregatte«, sagte Hawkwood. »Aber das ist nur eine Vermutung.
Vielleicht ist sie auf Blockade-Patrouille. Sie ist verdammt nahe.
An deiner Stelle würde ich mal durchs Rohr gucken.«
Lasseur ging an die
Reling.
Die Fregatte kam
schnell näher. Sie war der französischen Küste näher als die
Scorpion. Sie hatte die Rahe gebrasst
und alle Segel gesetzt und segelte dicht am Wind. Lasseur sah sogar
schon den Schaum vor ihrem Bug.
»Rette dich oder das
Gold«, sagte Hawkwood. »Glaube nicht, dass du Zeit für beides hast.
Wenn sie dich kriegen, dann bist du ganz sicher im schwarzen Loch.
Und diesmal werden sie vielleicht den Schlüssel wegwerfen, nach dem
Chaos, das du hinterlassen hast. Ein interessantes
Dilemma.«
»Wirklich’ne
beschissene Lage«, sagte Jago.
Lasseur starrte das
Kriegsschiff an, das immer näher kam.
Er drehte sich um
und sah die Trümmer, die über das Deck des Kutters verstreut lagen,
die Leichen, die immer noch über Bord geworfen wurden, sein eigenes
Schiff und die Erschöpfung auf den Gesichtern seiner Leute, die ein
weiteres Gefecht nicht überstehen würden.
Er kaute an der
Unterlippe und fasste einen Entschluss.
»Merde«, sagte er.