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»Vielleicht hätten
sie uns doch zerlegen und an die Krabben verfüttern sollen«, sagte
Lasseur düster.
»Das wäre jedenfalls
besser, als an die Rafalés verfüttert zu werden«, sagte Hawkwood.
Er fühlte etwas Warmes und Feuchtes an seiner Seite. Seine Wunde
hatte wieder angefangen zu nässen.
»Glauben Sie
wirklich, was Murat uns erzählt hat?«, fragte Lasseur.
»Schon möglich«,
sagte Hawkwood. »Es heißt ja, dass man wahnsinnig wird, wenn man
Menschenfleisch isst. Und unter denen hier gibt es wirklich
Wahnsinnige.«
Lasseur schwieg.
Schließlich sagte er leise: »Vor vielen Jahren, als ich dritter
Maat auf einem Schoner im Südchinesischen Meer war, entdeckten wir
eines Tages ein treibendes Rettungsboot. An Bord waren vier Männer,
von denen drei gerade noch halbwegs am Leben waren. Der vierte war
tot. Seine Leiche war ziemlich verstümmelt. Zwei der Überlebenden
starben, der dritte erholte sich. Er sagte, dass Seevögel die
Leiche des vierten Mannes verstümmelt hatten, aber niemand glaubte
ihm. Wir waren sicher, dass er und die anderen von ihm gegessen
hatten, um nicht zu verhungern. Warum hatten sie die Leiche sonst
nicht gleich über Bord geworfen? Als der letzte Überlebende endlich
wieder gehen konnte, band er sich ein Stück Kette um und stürzte
sich über Bord. Wir nahmen an, dass er es aus Reue tat, weil er
Menschenfleisch gegessen hatte. Entweder das, oder er war
tatsächlich wahnsinnig geworden.« Lasseur unterbrach sich, dann
murmelte er: »Ich habe gehört, es soll wie Huhn
schmecken.«
»Ich habe mir sagen
lassen, es schmeckt wie Schweinefleisch«, sagte
Hawkwood.
Lasseur schüttelte
sich und verfiel in Schweigen. Nach einer Weile sagte er: »Aber wie
haben Matisse und seine Männer die Verluste vertuscht? Es müsste
doch beim Appell aufgefallen sein, dass jemand fehlte. Wie haben
sie es geschafft, dass es beim Zählen niemand bemerkt
hat?«
Auch Hawkwood hatte
sich das bereits gefragt. Widerwillig sagte er: »Vielleicht wurde
es ja bemerkt.«
Lasseur stützte sich
auf den Ellbogen. »Wie haben sie es dann erklärt, dass jemand
fehlte?«
»Indem sie Hellard
und die Wachen in dem Glauben ließen, die Leute seien geflüchtet.«
Hawkwood wartete, bis Lasseur die ganze Tragweite dieser Antwort
verarbeitet hatte.
Es dauerte etwas,
dann sagte Lasseur: »Oh Gott.«
Dieser halbfertige
Gedanke hatte Hawkwood beschäftigt, seit sie Hellards Kajüte
verlassen hatten. Erst seit er wieder auf seiner Pritsche lag,
hatte er ihn zu Ende denken können.
»Wenn es gar keine
wirklichen Ausbrüche gegeben hat«, sagte Lasseur, »dann heißt das,
dass Murat uns von Anfang an belogen hat.«
Hawkwood antwortete
nicht.
»Wenn ich
feststellen sollte, dass das wirklich der Fall ist, dann bringe ich
diesen falschen Hund um«, sagte Lasseur. Seine Augen blitzten
wütend.
»Dann wird man Sie
bestimmt aufhängen«, sagte Hawkwood.
»Vielleicht sollten Sie versuchen, nicht aufzufallen, solange Sie
im Vorteil sind.«
»Zum Teufel noch
mal!«, fluchte Lasseur. »Er hat uns für dumm
verkauft!«
Der Freibeuter ließ
sich verzweifelt zurückfallen.
Konnte das wahr
sein?, fragte sich Hawkwood. Vielleicht hatte Ludd es völlig falsch
eingeschätzt, und es hatte gar keine Ausbrüche gegeben, sondern nur
Auseinandersetzungen, die hier ausgefochten wurden, worauf man die
Überreste der Toten über die Latrinen oder die Blechnäpfe der
Rafalés entsorgt hatte.
Aber damit konnte
man doch sicher nicht alle fehlenden
Männer erklären, oder?
Was hatte Matisse
gesagt? Dass es schon eine Weile her gewesen sei, seit sie etwas
Unterhaltung gehabt hatten. Damit hatte er gemeint, dass seit dem
letzten Duell einige Zeit vergangen war. Aber Ludd hatte Hawkwood
und Read gesagt, die Ausbrüche seien erst vor ganz kurzer Zeit
gewesen. Vielleicht hatten es tatsächlich einige Männer geschafft,
vom Schiff zu entkommen, lebend und im Ganzen, statt in
Einzelteilen durch die Latrinenöffnungen.
Aber trotzdem
mussten die Kopfzahlen noch manipuliert werden. Wie leicht war das?
Soweit er gesehen hatte, ließ die Sorgfalt beim Abzählen viel zu
wünschen übrig. Die Differenz musste ja nur so lange vertuscht
werden, wie der Flüchtende brauchte, um vom Schiff zu kommen und an
Land einen guten Vorsprung zu erreichen.
Doch Hawkwood sah
ein, dass diese Spekulationen zu nichts führten. Es waren alles nur
Theorien. Sein Auftrag war nicht nur ein Scherbenhaufen, sondern er
lag mausetot im Wasser. Was man ruhig wörtlich nehmen
konnte.
Und wie würde er
sich diesmal aus dem Schlamassel befreien? Er musste es Ludd wissen
lassen, aber das hatte Hellard fürs Erste unterbunden. Wenn er zu
der Verabredung nicht erschien, würde Ludd sicher Erkundigungen
einholen. Er würde Hawkwoods Schicksal bald in Erfahrung bringen
und versuchen, ihn zurückzuholen. Die Admiralität würde sich einen
neuen Weg einfallen lassen müssen, um die Fluchtwege und das
Schicksal der beiden anderen Offiziere aufzuklären. Was für ein
verdammtes Fiasko! Hawkwood verfluchte seine Dummheit. Plötzlich
stellte er fest, dass das Hämmern in seinem Kopf fast ganz
aufgehört hatte. Wenigstens etwas, wofür er dankbar sein
konnte.
Die anhaltenden
harten Hustenanfälle eines Gefangenen etwa sechs Pritschen weiter
unterbrachen seine Gedanken. Es verschlimmerte sich, bis es sich
anhörte, als würde der Patient gleich alle seine Eingeweide als
blutige Brocken ausspucken. Innerhalb von Sekunden hatte sich ihm
ein ganzer Chor angeschlossen, dessen krächzendes, rasselndes
Husten zu einem wahren Crescendo anschwoll, das von den Schotten
widerhallte. Es wurde von grauenhaftem Würgen und Keuchen
begleitet. Im Krankenrevier breitete sich der Gestank von
Exkrementen und frisch Erbrochenem aus. In der Dunkelheit sah
Hawkwood, wie Krankenwärter mit Ledereimern und Lappen zwischen den
Pritschen hantierten. Von den Wachen der Miliz war keine Spur zu
sehen. Hawkwood vermutete, dass sie sich in die relative Sicherheit
von Treppenschacht und Niedergang zurückgezogen
hatten.
Allmählich ebbte das
Husten ab, denn die meisten der Patienten waren einfach zu
erschöpft. Hawkwood sah den
Arzt Girard. Er
beugte sich über die Pritschen und untersuchte die Kranken. Sein
Gesicht war ernst. Dreimal sah Hawkwood, wie der Arzt den Finger an
den Hals des Patienten legte und dann müde den Kopf schüttelte. Die
Laken wurden hochgezogen, um die Gesichter der Toten zu bedecken.
In dem trüben Licht sah das Gesicht des Arztes aschfahl aus. Wenn
der Tod bestätigt worden war, wickelten die Krankenwärter die
Leiche in das Laken, bis sie einem großen Kokon ähnelten. Auf ein
Nicken des Arztes hin wurde jeder eingewickelte Tote von der
Pritsche gehoben und ohne größere Umstände in einen Nebenraum am
Ende des Krankenreviers gezerrt. Mit etwas Mühe konnte Hawkwood
einen Blick durch die Luke erhaschen. In dem Nebenraum lagen
mindestens zehn eingewickelte Bündel nebeneinander auf dem Boden.
Er vermutete, dass die Leichen von Matisse und dem Jungen sowie von
den anderen, die im Laderaum getötet worden waren, auch darunter
waren.
Die meisten der
Laken, in die die Toten gewickelt waren, hatten dunkle Flecken. In
der Dunkelheit war es schwer, ihre Farbe zu erkennen. Sie waren
schwarz, wie Teer. Hawkwood wusste jedoch, dass es kein Teer war,
es war Blut, das die Patienten herausgewürgt hatten.
»Vielleicht sterben
wir ja am Fieber, ehe wir verlegt werden«, sagte Lasseur
niedergeschlagen, als er über Hawkwoods Schulter
spähte.
»Wenn ich die Wahl
hätte«, sagte Hawkwood und starrte auf die dreckigen, blutigen
Laken, »würde ich mich für die Samson
entscheiden.«
»Weil Sie meinen,
solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung?«, sagte Lasseur. Der
Privateer konnte den Zynismus in seiner Stimme nicht
verbergen.
Für mich vielleicht, dachte Hawkwood. Ich habe wenigstens eine Rettungsleine, einen
Ausweg.
Auf Lasseur wartete
lediglich eine weitere Bootsfahrt und eine ungewisse Zukunft in
einer neuen schwimmenden Hölle. Hawkwood wunderte sich selbst, wie
sehr Lasseurs Schicksal ihm zu schaffen machte.
Er sah hinüber zu
den Krankenwärtern, die den Boden um die leeren Pritschen
schrubbten. Ein bekannter Geruch breitete sich im Raum
aus.
»Das nennt man
Hämoptyse.«
Der Arzt stand am
Fußende von Hawkwoods Pritsche. Er wischte sich die Hände an einem
nassen Lappen ab, der stark nach Essig roch. Sein Haar hing ihm
feucht in die Stirn. Er sah müde und abgespannt aus.
»Die meisten hier
leiden darunter. Es wird durch den Blutandrang in der Lunge
verursacht, der bei Schwindsucht und Fieber und einem Dutzend
weiterer Krankheiten entsteht. Ich habe versucht, Dr. Pellow zu
überreden, einige der Schwerkranken auf die Sussex bringen zu lassen, aber er meinte, dort sei
kein Platz. Auf der Werft gibt es auch kein Krankenhaus, also
müssen wir hier tun, was wir können. Wie Sie sehen, sind wir
räumlich ohnehin sehr beschränkt. Morgen früh werden die armen
Teufel begraben, zusammen mit den anderen.« Girard steckte den
schmutzigen Lappen in seinen Hosenbund.
»Die anderen?«,
sagte Lasseur und runzelte die Stirn.
»Matisses Männer.
Die, die schon tot sind, und die, die aufgehängt
werden.«
»Das Urteil wird
hier an Bord vollstreckt?«, fragte Hawkwood.
Der Arzt nickte mit
düsterer Miene.
»Ich dachte, das
würden sie an Land machen.«
»Es sieht so aus,
als ob Commander Hellard es schnell hinter sich bringen
will.«
»Ich hätte
angenommen, dass die britische Admiralität da noch ein Wort
mitzureden hat«, meinte Hawkwood. »Natürlich müssen sie bestraft
werden, aber es sieht ja ganz so aus, als nähme der Leutnant das
Gesetz selbst in die Hand.«
»Auf diesem Schiff
ist der Commander Richter, Jury und Scharfrichter zugleich. Ich
würde sagen, Leutnant Hellard markiert sein Revier. Und außerdem –
denken Sie, dass in der britischen Admiralität auch nur ein Mensch
wegen einer Handvoll ausländischer Mörder schlaflose Nächte
verbringt? Ich glaube nicht.« Nach einer Pause fügte Girard hinzu:
»Ich habe gehört, dass einige der Gefangenen sich freiwillig
gemeldet haben, sie hochzuziehen.«
»Mein Gott!«,
entfuhr es Lasseur, doch dann sagte er nachdenklich: »Eigentlich
kann man es ihnen nicht verdenken. Ich bezweifle, dass auch nur
einer diesen Mistkerlen nachtrauern wird.«
Der Arzt zog die
Brauen hoch. »Ich habe gehört, man hat Sie und den Captain für eine
Heiligsprechung vorgeschlagen.«
»Dann ist es kein
Wunder, dass der Leutnant uns loswerden will«, prustete Lasseur
los. »Wann soll die Hinrichtung sein?«
»Bei
Sonnenaufgang.«
»Dann beten wir mal
um gutes Wetter«, sagte Lasseur. Plötzlich hellte sich sein Gesicht
auf. »Sébastien!«
Hawkwood und Girard
drehten sich um.
Der Lehrer kam
angehinkt. Er trug zwei Blechnäpfe und zwei Löffel. »Ich habe Ihnen
etwas vom Abendessen aufgehoben. Ich dachte mir, dass Sie
vielleicht hungrig sind.«
»Solange es kein
Hering ist«, sagte Lasseur und verzog das Gesicht. »Sonst würde ich
anfangen zu kotzen, wie diese anderen armen Teufel
hier.«
»Brot, Kartoffeln
und etwas Schweinefleisch.« Fouchet reichte ihnen die Näpfe. »Viel
ist es nicht.«
Lasseur beäugte den
Inhalt misstrauisch. »Sind Sie auch ganz sicher, dass es
Schweinefleisch ist?« Er sah Hawkwood an.
»Es könnte auch
Hammelfleisch sein«, sagte Fouchet mit zusammengezogenen Brauen.
»Was für einen Tag haben wir heute?«
»Vielleicht esse ich
nur die Kartoffeln«, sagte Lasseur.
»Ich glaube, es ist
okay«, sagte Fouchet. »Soweit wir wissen, hat Matisse lange
niemanden mehr umgebracht.«
»Dann haben Sie also
davon gehört?«, sagte Hawkwood.
Fouchet nickte. »Es
ist auf dem ganzen Schiff herum.«
Lasseur starrte
trübsinnig auf seinen Essnapf. »Was ist eigentlich mit Juvert
passiert?«
»Der sitzt im
schwarzen Loch bei den Ratten und leckt seine Wunden. Nach einer
Woche dort unten frisst er seine eigene Scheiße.« Ohne eine Spur
von Mitleid zu zeigen deutete der Lehrer auf das Essen. »Wenn Sie
jetzt nicht essen wollen, dann heben Sie es für später
auf.«
Lasseur stellte den
Blechnapf hin.
»Ich lasse Sie jetzt
allein«, sagte Girard. »Ich muss mich um meine Patienten kümmern.
Aber Sie sollten essen, um bei Kräften zu bleiben.« Er nickte
Fouchet zu, zog den mit Essig getränkten Lappen aus dem Hosenbund
und ging durch die Reihen der Pritschen davon.
Fouchet sah ihm
nach, dann legte er seine Hand auf Hawkwoods Arm. »Sagen Sie mir,
dass der Junge nicht leiden musste.«
»Es ging sehr
schnell«, sagte Hawkwood. »Das ist leider das einzig Gute, was sich
darüber sagen lässt.«
Die Gesichtszüge des
Lehrers erschlafften. »Er wäre noch am Leben, wenn ich besser auf
ihn aufgepasst hätte«, sagte er traurig.
»Der Junge wurde von
Matisse getötet, Sébastien«, sagte Lasseur. »Nicht von
Ihnen.«
Fouchet sah auf
Hawkwoods blutgetränkte Verbände. »Ich wäre gern dabei gewesen, als
Sie das Schwein umgebracht haben.«
»Wenn Sie dabei
gewesen wären, wären wir jetzt nicht hier«, sagte Hawkwood. »Wenn
Sie die Wachen nicht alarmiert hätten, hätte man uns eimerweise
durch die Latrinenöffnungen gekippt … oder noch
schlimmer.«
»Und jetzt sollen
Sie auf die Samson verlegt werden«,
sagte Fouchet unglücklich.
»Besser, als an der
Rahe zu baumeln«, sagte Lasseur.
»Vielleicht denken
Sie anders darüber, wenn Sie erst dort sind.«
Habe ich dieses Gespräch nicht schon einmal
geführt?, dachte Hawkwood.
»Ich habe gehört,
auf der Samson soll es vor einem Monat
eine Revolte mit mehreren Toten gegeben haben«, sagte Fouchet.
»Zwei Mann kamen ins schwarze Loch. Nur einer kam lebend wieder
heraus.«
»Woher die diese
Idee wohl haben?« Lasseur lächelte mühsam.
Fouchet beugte sich
vor. »Charbonneau hörte, wie sich zwei Milizionäre unterhielten.
Die Briten glauben, dass die Revolte auf der Samson Teil eines
Komplotts ist, durch das alle Kriegsgefangenen in England zu einem
Aufstand aufgewiegelt werden sollen.«
Lasseur kaute an
seiner Lippe.
»Das wird sie das
Fürchten gelehrt haben.«
Fouchet zuckte die
Schultern. »Man kann ihr Dilemma verstehen. Einerseits hält die
Admiralität es für richtig, alle Unruhestifter zusammen an einem
Ort unterzubringen, aber gleichzeitig wissen sie, was für ein
Risiko sie damit eingehen. Zusammenstöße unter den Gefangenen
machen ihnen nichts aus; das ist für sie nichts weiter als ein
Keulen der Bestände. Aber ein solch geballtes Gewaltpotenzial
könnte auch für das britische Personal ein unnötiges Risiko
bedeuten.«
»Dann sind zwei Neue
das Letzte, was sie brauchen«, sagte Lasseur. »Kein Wunder, dass
sie das erst mal aufschieben. Langsam frage ich mich, warum
Commander Hellard uns nicht auch zum Strang verurteilt
hat.«
»Weil es genau das
war, was sein Stellvertreter wollte«, sagte Hawkwood. »Leutnant
Thynne hält den Commander für nicht fähig auf diesem Posten.
Hellard wiederum glaubt, Thynne hätte den Job gern selbst. Ich
würde sagen, wir verdanken der Dickköpfigkeit von Commander Hellard
unser Leben.«
»Dann haben wir
Glück gehabt, dass es nicht anders herum war«, sagte Lasseur, »und
dass es nicht Thynne war, der ein mildes Urteil
verlangte.«
»Amen«, sagte
Hawkwood.
Draußen wurde etwas
gerufen. Eine Glocke ertönte.
»Zapfenstreich«,
sagte Fouchet. »Ich muss gehen.«
Hawkwood sah zum
Gitter. Das letzte Tageslicht war verschwunden. Die einzige
Beleuchtung kam von den Laternen, die an den Balken
hingen.
Der Lehrer nahm ihre
Hände und sah sie ernst an. »Ich bin sehr froh, dass Sie leben,
meine Freunde. Ich werde Ihr Eigentum an mich nehmen und dafür
sorgen, dass niemand sich daran vergreift.« Er lächelte.
»Wahrscheinlich würde es sowieso niemand wagen. Sie haben sich hier
einen ziemlichen Ruf erworben.«
»Trotzdem zweifle
ich nicht daran, dass Murat unsere Schlafplätze sofort an zwei
Neuankömmlinge verkaufen wird«, sagte Lasseur bitter. »Wollen wir
wetten, dass er sich unseren Ruf zunutze macht? ›Hier schliefen die
Captains Lasseur und Hooper. Deshalb kostet es jetzt zehn Francs
mehr, und vielen Dank auch‹.«
Hawkwood musste
wider Willen grinsen.
»Sie sollten den
Leutnant nicht zu hart beurteilen, Captain«, sagte Fouchet ernst.
»In dieser Situation versuchen wir doch alle zu überleben, so gut
wir können.«
»Und manche
überleben besser als andere«, sagte Lasseur.
Fouchet drohte mit
dem Finger. »Ich muss jetzt weg, sonst komme ich noch ins Loch,
weil ich die Sperrstunde nicht eingehalten habe. An Ihrer Stelle
würde ich jetzt versuchen zu schlafen. Morgen müssen wir früh
raus.«
»Müssen wir?«, sagte
Lasseur. »Wieso?«
»Hat es sich noch
nicht bis zu Ihnen herumgesprochen?«, sagte Fouchet trocken.
»Morgen früh findet die Hinrichtung statt.«
Es gab keinen
Galgen.
Vom Großmast in zwei
gleiche Hälften geteilt, hob sich die Rahe gegen den Morgenhimmel
ab wie die Arme einer Vogelscheuche. Auf der Backbord- und
Steuerbordseite hingen jeweils drei Holzblöcke. Durch jeden der
Blöcke lief ein Seil, an dessen einem Ende eine Schlinge war. Das
andere Ende des Seiles war auf Backbord und Steuerbord mit einer
Klampe am Schanzkleid befestigt.
Eine Reihe von
Milizionären mit aufgepflanzten Bajonetten bewachte die Reling. Die
restliche Besatzung hatte auf dem Quarterdeck Aufstellung genommen.
Leutnant Hellards Gesicht war ernst, er hatte den ebenso ernst
blickenden Thynne auf seiner Rechten und den Dolmetscher Murat auf
der linken Seite. Die Männer hatten die eben aufgegangene Sonne im
Rücken. Beide Offiziere trugen volle Uniform. Ihnen gegenüber auf
Backbord stand eine Reihe von Gefangenen, einige in gelber
Gefängniskluft, einige in Zivil. Erst hatte Hawkwood gedacht, es
handle sich um die Verurteilten. Doch bei näherem Hinsehen und
nachdem er sie gezählt hatte, musste er feststellen, wie klug
Hellard gehandelt hatte. Es waren die Mitglieder des
Gefangenentribunals.
Diesmal konntet ihr euch ja recht schnell versammeln, wenn
es darum geht, Matisses Leute baumeln zu sehen, dachte
Hawkwood.
Er hatte schon
vorher eine Bestrafung an Bord erlebt, als er nach der Blamage von
Coruña nach England zurück reiste. Ein Seemann, der in betrunkenem
Zustand einen Befehl missachtet hatte, wurde ausgepeitscht. Man
hatte ihn auf Deck auf einem Schutzgitter festgebunden, wo er
vierundzwanzig Hiebe bekam, ausgeführt vom Maat des Bootsmanns. Die
gesamte Mannschaft musste sich versammeln und zuschauen, und auch
damals hatten mehrere Navysoldaten, die Musketen im Anschlag,
bereitgestanden.
Gegen die Reling der
Back gequetscht, neben sich Lasseur und hinter sich die beiden
Wachen vom Krankenrevier, musste Hawkwood daran denken, wie ähnlich
diese Situation hier war. Doch auch wenn der Schauplatz fast
identisch war, die Stimmung war ganz anders. Die Auspeitschung des
Seemanns war von düsterem Schweigen begleitet gewesen, während die
Atmosphäre an Deck der Rapacious eher
an eine öffentliche Hinrichtung erinnerte, wie sie vor den Londoner
Gefängnissen stattfanden.
Es war Commander
Hellards Befehl gewesen, dass alle Gefangenen, einschließlich der
Schiffsbesatzung, der Exekution beiwohnen sollten, außer denen, die
zu krank waren, um das Krankenrevier zu verlassen. Die große Anzahl
der Gefangenen auf dem Schiff jedoch hatte die praktische
Durchführung unmöglich gemacht, so dass der Befehl schließlich
dahingehend geändert wurde, dass von jeder Essgruppe mindestens
zwei Personen anwesend sein sollten, einschließlich der Rafalés.
Dementsprechend überfüllt waren jetzt die Decks, und Hawkwood
konnte sich nicht erinnern, schon jemals eine so jämmerliche,
abgerissene Ansammlung von Menschen gesehen zu haben.
Unten im Park war
die Luft sauer vom Gestank dreckiger, ungewaschener Körper, aber
unter den Männern knisterte eine Spannung, die schon fast an
freudige Erregung erinnerte. Hawkwood wäre nicht weiter überrascht
gewesen, wenn die fliegenden Händler des Schiffs auch hier
aufgetaucht wären und versucht hätten, Geschäfte zu machen, ähnlich
den Pastetenverkäufern und Süßwarenhändlern, die die Menschenmengen
vor dem Gefängnis von Newgate versorgten.
Während er zusah,
versuchte Hawkwood das Gefühl zu ignorieren, wie sich ihm langsam,
aber unerbittlich sein Hals zuschnürte, ebenso wie den Schweiß, der
ihm zwischen den Schulterblättern den Rücken
hinunterlief.
Ein Murmeln lief
durch die Menge, als die Verurteilten aufs Deck geführt wurden, die
Hände auf dem Rücken gefesselt und von Wachen der Miliz flankiert.
Zwei der Männer trugen eine Toga, die anderen hatten ihre gelbe
Kluft an. Ihre Gesichter waren zum Teil übel zugerichtet. Die
beiden, die eine Toga trugen, hatten auch Verletzungen an Armen und
Beinen. Hawkwood fragte sich, wie viele der Verletzungen von dem
Gemetzel im Laderaum herstammten, und wie viele durch das
Eingreifen der Miliz entstanden waren.
Irgendjemand im Park
rief etwas Obszönes, worauf andere mit einem wahren Pfeifkonzert
reagierten. Die verurteilten Männer waren kreideweiß und man sah,
wie stark sie zitterten.
»Ruhe!« Die Stimme
von Sergeant Hook schallte über das Deck. Als die Milizionäre
anfingen, den Männern die Schlingen um den Hals zu legen, brachen
zwei von ihnen weinend zusammen. Unter spöttischem Johlen wurden
sie wieder auf die Beine gestellt. Beide schwankten bedenklich, als
die Schlingen um ihren Hals lagen. Als alle Schlingen an Ort und
Stelle waren, wurden den Männern Kapuzen über Kopf und Gesicht
gezogen.
Leutnant Hellard
trat vor, begleitet von Murat. Er hob den Arm, und es wurde still
auf dem Deck.
Hellard sprach und
Murat übersetzte.
Hawkwood fragte
sich, wie viele Nationalitäten es wohl hier an Bord gab. Wer
dolmetschte für die anderen?
»Wir verkünden
hiermit, dass die Besatzung des Schiffs und seine Gefangenen sich
heute hier versammelt haben, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.
Die Männer, die hier vor Ihnen stehen, haben sich
verabscheuungswürdigster Verbrechen schuldig gemacht. Auf Befehl
der Admiralität Seiner Majestät von Großbritannien wird jeder
dieser Männer zum Tode verurteilt, wozu er am Hals aufgehängt wird,
bis er tot ist. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«
Abrupt, als sei ihm
die Kürze der Ansprache peinlich, trat Hellard zurück und nickte
den Mitgliedern des Gefangenentribunals zu.
Der Arzt hatte Recht gehabt!, Dachte
Hawkwood.
Er sah, wie zwölf
Männer in gelber Gefangenenkluft vortraten. Sie teilten sich in
drei Teams zu je vier Mann. Jedes Team löste eins der Seile von den
Klampen am Schanzkleid. Dann drehten sie den verurteilten Männern
den Rücken zu und standen bereit, jeder von ihnen hatte ein Stück
des Seils auf der rechten Schulter.
»Fahren Sie fort,
Sergeant Hook«, sagte Hellard.
Der Sergeant nickte
zwei Wachen der Miliz zu, einer von ihnen zielte mit der Muskete in
die Luft. Die Männer an den Seilen zogen an. Die Wachen, die die
Verurteilten begleitet hatten, traten weg.
Hawkwood ballte die
Fäuste. Die Wache schoss in die Luft.
Im selben Augenblick
stürmten die Männer mit den Seilen so schnell sie konnten in
Richtung des Hecks. Hinter ihnen schossen drei vermummte Gestalten
an der Rahe in die Luft. Das Echo des Schusses war noch nicht
verklungen, da wurden die Enden der straff gespannten Seile auch
schon fest gemacht. Erst jetzt sahen sich die Mitglieder der Teams
ihre Arbeit an. Hoch über ihnen, und sich vom Schwung des
Hochziehens immer noch drehend, hingen die drei Leichen von der
Rahe wie groteske Schmuckstücke.
Die Teams wandten
sich den Seilen auf Steuerbord zu. Auch hier traten die Wachen zur
Seite.
Ein erneutes Nicken
von Hood, und auch der zweite Milizionär schoss. Die Henker
stürmten abermals vorwärts. Drei weitere Körper stiegen schnell in
die warme Morgenluft.
Ein Seufzer lief
über das Deck wie ein Windhauch.
Einer der
Milizionäre fluchte, als ein Schauer von Urin und Kot von einer der
leise pendelnden Leichen ihn nur knapp verfehlte und zu seinen
Füßen aufs Deck klatschte. Seine Kollegen sahen hoch und sprangen
schnell zurück, um der Flut von Fäkalien auszuweichen, die von oben
kam, als sich die Schließmuskeln der Erhängten langsam entspannten.
Ein Lachen lief durch die Reihen der Gefangenen. Langsam löste sich
die allgemeine Spannung.
»Ruhe!«, brüllte
Hook.
»Ein Arzt sagte mir
mal, es sei ein schneller Tod.« Lasseur starrte auf die
Leichen.
Hawkwood antwortete
nicht. Er wusste es. Die Tatsache, dass keines der Opfer die Beine
mehr bewegt hatte, nachdem sie den Boden verlassen hatten,
bestätigte die Aussage des unbekannten Arztes. Der Tod war
eingetreten, sowie die Seile straff gezogen waren, nämlich durch
Genickbruch und nicht durch langsames Ersticken. Er sah seine Hände
an, in seinen Handflächen waren rote Flecken, dort wo seine
Fingernägel sich eingegraben hatten.
Er hörte, wie
Lasseur leise vor sich hin fluchte, und als er sich umdrehte, sah
ihn der Privateer mit verlegenem Gesicht an. Lasseur öffnete den
Mund und wollte etwas sagen.
»Ist schon in
Ordnung, Captain«, sagte Hawkwood. »Es ist schon sehr lange
her.«
Einen Augenblick sah
es aus, als wolle Lasseur etwas antworten. Seine Augen wanderten
von Hawkwoods Hals zu den Striemen an seinen Händen, dann nickte er
stumm.
Hawkwood wandte sich
um und sah zum Quarterdeck, wo Hellard und Murat sich mit dem
Gefangenentribunal besprachen, während über ihnen die sechs
Leichen, die Beine nass und fleckig von ihren Exkrementen,
weiterhin sanft in der Morgenbrise schwangen. Seine Augen wanderten
übers Wasser zu den anderen Schiffen. Überall war die Reling
schwarz von Menschen, Gefangene und Mannschaften, aller Augen waren
auf die Rapacious gerichtet. Hawkwood
fragte sich, wie lange es gedauert hatte, bis die Nachricht von der
bevorstehenden Hinrichtung sich im Gebiet der Flussmündung
herumgesprochen hatte. Bestimmt nicht lange, wenn die Buschtrommeln
der Navy so effizient waren wie die des restlichen Militärs, die er
kennengelernt hatte.
Langsam verliefen
sich die Gefangenen. Die Stimmung war gedämpft. Es schien, als
werde allen die Bedeutung dessen, was geschehen war, erst jetzt
richtig bewusst. Viele düstere Blicke wanderten hinauf zur Rahe.
Hawkwood kannte das. Die kollektive Euphorie, mit der die
Hinrichtung begrüßt worden war, wich jetzt einem gewissen Zweifel
und der allmählichen Erkenntnis, dass durch das Mitwirken des
Gefangenentribunals praktisch jeder Gefangene an Bord den Feind
unterstützt hatte.
Hawkwood hatte auch
gemerkt, dass seine und Lasseurs Anwesenheit an Deck mit
Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Sie zogen die Blicke auf sich,
teilweise heimlich, bei manchen ganz offen; einige voller Respekt,
andere vorsichtig, und langsam wurden die Wachen des Krankenreviers
nervös und bestanden darauf, Hawkwood wieder unter Deck zu
bringen.
Er warf einen Blick
aufs Quarterdeck. Das wurde gerade geschrubbt, die Milizionäre
hatten die Seile gelöst und ließen die Leichen herab. Hawkwood
wusste, dass es eigentlich Tradition war, die Leichen von Gehängten
ein paar Stunden als Warnung hängen zu lassen. Er vermutete, dass
Hellard diese Toten herunterbringen ließ, entweder als Geste dem
Tribunal gegenüber, oder was wahrscheinlicher war, weil der Geruch
der Leichen in der Hitze nur schwer zu ertragen gewesen
wäre.
Der Arzt Girard war
auch dabei zugegen. Hawkwood nahm an, dass er den Tod feststellen
musste; obwohl daran eigentlich kein Zweifel bestand. Denn wenn es
eine Fertigkeit gab, in der die Navy es zur Meisterschaft gebracht
hatte, dann war es das Knüpfen von Knoten.
Hawkwood und Lasseur
kehrten auf ihre Pritschen zurück. Selbst mit dem Geruch des
Verfalls, der aus jeder Pore dieser Abteilung drang, war es nach
dem überfüllten Oberdeck eine Erholung, wieder im Krankenrevier zu
sein.
»Was glauben Sie,
wann wir verlegt werden?« Lasseur sah nachdenklich
aus.
Hawkwood zuckte die
Schultern und sah nach hinten zu den Wachen, die ihre alte Position
bei der Luke wieder eingenommen hatten. »Könnte jederzeit
passieren. Ich würde vermuten, sobald der Commander die Genehmigung
bekommt. Vor der Hinrichtung war nicht damit zu rechnen. Da sollten
wir auf jeden Fall dabei sein. Hellard und die Admiralität würden
keine Gelegenheit verpassen, die Gefangenen auf der Samson durch uns warnen zu lassen, was passiert,
wenn sie aufmüpfig werden. Mich würde es gar nicht wundern, wenn
die Arschlöcher uns nur deshalb geschont haben, damit wir die gute
Nachricht verbreiten und alle Aufrührer das Fürchten
lehren.«
Lasseur sah Hawkwood
von der Seite an. »Hat man Ihnen schon jemals gesagt, mein Freund,
dass Sie ein sehr misstrauischer Mensch sind?«
»Das sagt man mir
ständig«, erwiderte Hawkwood. »Es ist wie ein Fluch.«
Lasseur zwang sich
zu einem Grinsen, strich sich über den Spitzbart und legte den Arm
über die Augen.
Merkwürdig, dachte
Hawkwood, wie einfach es war, sich mit dem Schicksal der Gefangenen
zu identifizieren und wie schnell die Admiralität zum Feindbild
geworden war.
Seine Gedanken
wurden unterbrochen von dem Tritt schwerer Stiefel und einem
Schwall von Obszönitäten. Zwei Gefangene kamen gerade die letzte
Stufe der Treppe herunter. Sie schleppten eine Leiche, schwer und
unhandlich. Lasseur entfuhr ein Schreckenslaut. Die Gehängten, die
vorhin von der Rahe genommen worden waren, wurden
heruntergebracht.
Hawkwood und Lasseur
sahen, wie die Toten nacheinander den Krankenwärtern übergeben
wurden. Unter denen, die sich als Leichenträger betätigen mussten,
waren auch Millet und Charbonneau. Sie fingen Hawkwoods Blick auf
und nickten ihm kaum wahrnehmbar zu. Am Schluss kam Girard, der
Arzt.
Hawkwood überlegte,
wer wohl die brillante Idee gehabt hatte, dass die Gefangenen eine
so aktive Rolle bei der Vollstreckung des Todesurteils spielen
sollten. Wenn es Hellard gewesen war, dann war es ein genialer
Schachzug. Matisse und seine Römer hatten einen
Einschüchterungskrieg gegen ihre Mitgefangenen geführt. Wenn
Hellard es geschafft hatte, den Hass, den alle Gefangenen dem
Korsen und seinen Mitläufern entgegenbrachten, auf geschickte Art
und Weise dem Tribunal zu vermitteln, dann hatte er nicht nur auf
einen Streich die Hierarchie der Gefangenen an Bord respektiert,
sondern er war auch – wenigstens zum Teil – entlastet von der
Alleinschuld an dieser drakonischen Bestrafung fremder
Staatsangehöriger.
Es war schwer
vorstellbar, dass die Admiralität die Mitwirkung von Gefangenen
gutgeheißen hätte, möglicherweise hätte sie sogar die Hinrichtungen
gar nicht genehmigt, besonders an Bord eines Schiffes – jedenfalls
nicht offiziell. Darüber, was inoffiziell geschehen wäre, konnte
man nur spekulieren. Hawkwood hatte den Verdacht, dass auch die
Admiralität, genau wie das Militär, die Politiker und die Justiz,
sich ziemlich drastischer Methoden bedienen konnte, wenn es ihren
Zwecken diente. Die Einbindung des Gefangenentribunals hatte der
Verurteilung und Exekution einen Anstrich von Legitimation
verliehen. Und wenn es Konsequenzen geben sollte, konnte die
Admiralität die Sache immer noch voll und ganz auf Hellards ohnehin
schon besudeltes Konto schieben und behaupten, er habe eigenmächtig
gehandelt.
Was Hellard
anbetraf, so konnte man es so auslegen, dass er seine Autorität
ausgeübt hatte, sowohl den Gefangenen als auch seinen Vorgesetzten
gegenüber wie auch im eigenen Haus, insbesondere was Leutnant
Thynne und die restliche Schiffsbesatzung betraf. Durch die
Hinrichtung hatte Hellard sich den Ruf eines Mannes erworben, mit
dem nicht zu spaßen ist. Vielleicht hatte er es auf irgendeine
bizarre Art sogar für einen Weg gehalten, um seinen angeknacksten
Ruf bei der Admiralität wieder zu reparieren.
Lasseur brummelte
etwas und Hawkwood sah hoch. Eine bekannte Gestalt kam auf sie
zugehinkt und hielt zwei Rucksäcke hoch.
»Ich habe die
Erlaubnis, Ihnen die zu bringen. Ich dachte, Sie können sie
vielleicht brauchen«, sagte Fouchet. »Und hungern sollen Sie auch
nicht.« Er gab ihnen die Rucksäcke und fing an, in seinen Taschen
zu wühlen.
»Bitte, sagen Sie
nicht, dass es wieder Schweinefleisch ist«, bat
Lasseur.
»Frühstück – das
Übliche. Aber essen Sie nicht alles auf einmal.«
Hawkwood sah den
trockenen Brotkanten an, den Fouchet ihm in die Hand gedrückt
hatte. Damit konnte man den Hunger eine Weile
überbrücken.
»Sie hätten eine
großartige Frau für jemanden abgegeben, Sébastien«, witzelte
Lasseur.
Fouchet lachte
leise. »Irgendjemand muss sich ja um Sie kümmern.« Plötzlich war
das Lächeln wie weggeblasen. »Denken Sie daran, was ich gesagt
habe; vielleicht heben Sie es besser für später auf.«
Lasseur erstarrte,
gerade als er das Brot in den Mund stecken wollte.
»Haben Sie gehört,
wann wir verlegt werden?« Hawkwood langte in den Rucksack und holte
sein einziges Ersatzhemd heraus. Es war nicht viel sauberer als
das, welches der Arzt ihm vom Leib geschnitten hatte. Er zog es an,
wobei er darauf achten musste, dass seine Verbände nicht
verrutschten.
Der Lehrer drehte
sich um und spähte nach achtern in den Raum, wo die Krankenwärter
die Leichen der erhängten Männer in Säcke aus Segeltuch einnähten
und wo Millet und die anderen auf weitere Anweisungen warteten,
wobei die Milizionäre sie gelangweilt beobachteten.
Während Hawkwood und
Lasseur dem Blick des Lehrers folgten, erschienen zwei weitere
Männer am unteren Ende der Treppe. Einer trug die Uniform der
Miliz; beim Anblick des anderen verfinsterte sich Lasseurs Gesicht.
Es war Murat, der Dolmetscher.
Die Wache deutete
mit dem Kopf auf die Krankenwärter. »Sag diesen Scheißkerlen, dass
das Leichenboot hier ist und dass Leutnant Hellard die Toten so
schnell wie möglich vom Schiff haben will. Dieser verdammte Pott
stinkt auch so schon schlimm genug.« Er verzog das Gesicht bei dem
Geruch im Krankenrevier, und mit einem mitleidigen Blick auf seine
beiden Kollegen verschwand er die Treppe hinauf.
Murat gab die
Information auf Französisch an die Krankenwärter und die wartenden
Männer weiter. »Ihr könnt anfangen, sie hochzutragen.«
Hawkwood, Lasseur
und Fouchet sahen, wie der erste Leichensack am Kopf- und Fußende
aufgehoben und zur Treppe getragen wurde. Es war ein schwieriges
Unterfangen. Die beiden Träger gingen tief gebeugt, teils wegen des
Gewichts und teils weil der Raum so niedrig war und sie zudem kaum
Platz hatten, sich zu bewegen. Von Pietät war nicht viel zu merken.
Die Männer fluchten genau so lautstark wie vorhin, als sie die
Toten zum Einnähen heruntergebracht hatten.
Während die ersten
Leichen unter Aufsicht von Murat und dem Arzt die Treppe
hochgetragen wurden, fuhren die Krankenwärter fort, die restlichen
Säcke zuzunähen.
Hawkwood sah zu und
fragte sich, wie oft der Arzt diese Arbeit wohl schon gemacht
hatte.
Als das siebente
oder achte Bündel nach oben gehievt wurde, passierte das Malheur.
Es krachte, dann folgte ein erschreckter Schrei, gefolgt von einem
lauten Poltern und einer wahren Flut von Flüchen, als der Mann am
Kopfende des Leichensacks auf der Treppe ausrutschte und losließ.
Während Mann und Leiche die Treppe hinunterrutschten und mit den
beiden kollidierten, die hinter ihnen gingen, rutschte auch der
zweite Leichensack seinen Trägern aus den Händen. In wenigen
Sekunden war die Treppe ein einziges Durcheinander von rutschenden
Körpern, teils tot, teils lebendig.
Aufgeschreckt von
dem Lärm drehten sich beide Wachen um. Man hörte wüste
Beschimpfungen darüber, welcher Idiot denn hier nicht aufgepasst
hatte, und schließlich beschlossen die Milizionäre, auf der Treppe
wieder Ordnung zu schaffen.
Sowie die Wachen
durch diese Aufgabe abgelenkt waren, ergriff Fouchet Lasseurs
Ärmel. »Kommen Sie schnell mit«, zischte er. »Lassen Sie Ihre
Rucksäcke hier.« Er griff nach oben und löschte die Laterne aus,
die über ihnen hing.
Instinktiv blickte
Hawkwood auf das Durcheinander. Eine weitere Laterne wurde
gelöscht, aber es war noch hell genug, um zwei Männer zu erkennen –
beides Gefangene -, die eilig zwischen den Pritschen auf sie
zukamen; es waren Millet und Charbonneau. Jeder von ihnen trug
einen Toten über der Schulter.
Hawkwood stand auf.
»Los geht’s, kommen Sie«, sagte er zu Lasseur und griff nach seiner
Jacke.
Lasseur sah an
Hawkwood vorbei nach achtern, wo ein dritter Mann beim Niedergang
stand. Es war Murat, der ihnen signalisierte, sich zu
beeilen.
Die Wachen waren
noch immer mit den anderen beschäftigt.
Lasseur sprang auf.
Gebückt duckte er sich zwischen den Deckenbalken hindurch und fast
stolpernd vor Eile folgte er Hawkwood und Fouchet nach achtern in
die Kammer.
Hawkwood wusste, so
sicher wie zwei mal zwei vier ist, dass die Wachen sich gleich
wieder umdrehen würden. Er war noch immer mit diesem Gedanken
beschäftigt, als er geduckt an der Luke vorbeihuschte und
erleichtert feststellte, dass er es geschafft hatte. Er drehte sich
um und sah, wie Millet und Charbonneau die Toten auf die leeren
Pritschen legten und sorgfältig zudeckten. Dann schob Murat sie
dorthin, wo die beiden halbfertigen, blutverschmierten Kokons aus
Segeltuch nebeneinander auf dem Boden lagen.
Er deutete darauf.
»Kriechen Sie rein. Hände auf dem Bauch falten. Und ganz still
liegen. Schnell!«
Blitzschnell folgen
Hawkwood und Lasseur seinen Anweisungen. Sowie ihre Füße das Ende
der Säcke berührten, zogen die Wärter die beiden Seiten des
Segeltuchs über ihnen zusammen, so fest, dass ihre Körper nicht
verrutschten, aber gerade noch lose genug, dass sie trotzdem ihre
Glieder bewegen konnten.
Murat nickte, und
die Wärter griffen zu den Nadeln.
»Moment noch, weg
da!« Der Arzt schob Murat und die Wärter zur Seite. Einen Holznapf
in der Hand, beugte er sich über Hawkwood. »Machen Sie den Mund
zu.«
»Schnell!«, zischte
Fouchet, der an der Luke stand. »Wir haben nicht viel
Zeit.«
Hawkwood machte
seinen Mund fest zu. Seine Augen wurden groß, als der Arzt einen
blutigen Lappen aus dem Napf nahm, den er über Hawkwoods Mund, Kinn
und Wangen ausdrückte. Dann wiederholte er den Vorgang mit
Lasseur.
»Es würde einer
näheren Inspektion nicht standhalten, aber es ist das Beste, was
ich unter den Umständen tun kann.« Der Arzt erschrak, als zwei
Schatten hinter Fouchet erschienen. Mit Erleichterung stellte er
fest, dass es Millet und Charbonneau waren.
»Alles fertig«,
sagte Millet.
Murat spähte durch
die Luke. »Gut, die Aufregung hat sich gelegt. Macht euch bereit,
die restlichen Leichen raus zu bringen.« Er nickte den beiden
Wärtern zu. »Näht sie ein.« Er machte eine Pause. »Und vergesst
nicht, hinterher drauf zu pinkeln.«
Er sah hinab zu
Hawkwood und Lasseur, die schockiert aussahen. »Na, hätten Sie
Lust, einen Sack aufzumachen, der ganz blutig ist und nach Pisse
stinkt? Nee, ich auch nicht. Und vergessen Sie nicht, Sie sind
jetzt tot. Kein Mucks. Es wir Ihnen vorkommen wie eine Ewigkeit.
Der Gestank wird schrecklich sein. Versuchen Sie, flach zu atmen.
Tut mir leid, dass wir keine Zeit hatten, Sie rechtzeitig zu
warnen. Wir hatten gehört, dass Ihre Verlegung genehmigt war. Wir
dachten, wir hätten noch einen Tag, aber ich hörte, wie der
Commander und Leutnant Thynne sich unterhielten. Sie sollten morgen
auf die Samson verlegt werden. Das ist
jetzt unsere einzige Chance, Sie vom Schiff zu bringen. Wir haben
es unserem Kontaktmann auf dem Festland schon signalisiert. Egal
was passiert, bleiben Sie ruhig. Millet und Charbonneau gehören zu
den Totengräbern. Sie können ihnen vertrauen. Die beiden wissen,
was sie machen. Gott mit Ihnen!«
»Hellard wird
wissen, dass Sie uns geholfen haben«, sagte Hawkwood.
Fouchet zuckte die
Schultern. »Was kann er denn schon mit uns machen, das schlimmer
wäre als das, was wir hier sowieso schon mitmachen?«
»Hoffentlich kriegen
Sie einen guten Preis für unsere Schlafplätze«, sagte
Lasseur.
»Schon verkauft.«
Murat grinste. Er schnippte mit den Fingern und sah die
Krankenwärter an. »Macht voran! Wir müssen sie hier
rauskriegen.«
»Er könnte Sie ins
schwarze Loch stecken«, sagte Hawkwood.
Fouchet lachte.
»Dann müssten sie Juvert erst rauslassen. Obwohl ich etwas Ruhe und
Frieden gut brauchen könnte.«
»Seien Sie
vorsichtig mit Ihren Wünschen«, sagte Hawkwood. Er sah Murat an.
»Sind die anderen auch so rausgekommen?«
Murats Gesicht wurde
finster. »Nein.«
Trotz der Hitze
überlief Hawkwood ein kalter Schauer. »Matisse?«
Murat nickte
unglücklich.
»Wie
viele?«
»Zwei, laut Sarazin.
Einer durch die Latrine, der andere …«
Mein Gott!, dachte Hawkwood.
»Bei zweien haben
wir es aber geschafft«, sagte Fouchet.
»Wie?«
Fouchet sah Murat
an, der ein schwaches Lächeln zustande brachte und sagte: »Erwarten
Sie, dass wir alle unsere kleinen Geheimnisse verraten,
Captain?«
»Wenn Sie sie sehen,
dann grüßen Sie sie von uns«, sagte Fouchet. »Leutnant Masson und
Captain Bonnefoux.«
»Mache ich«, sagte
Hawkwood.
Lasseur sah zu Murat
hoch. »Ich glaube, ich hatte Sie unterschätzt, Leutnant. Tut mit
leid.«
»Noch sind Sie nicht
frei, Captain.«
Lasseur funkelte den
Wärter, der ihn einnähte, warnend an. »Wenn du meine Nase mit
festnähst, mache ich Hackfleisch aus dir. Und sorg gefälligst
dafür, dass deine Pisse nach Rosenwasser duftet, hörst
du!«
Der Wärter
antwortete nicht, aber als er den letzten Faden am Segeltuch
verknotete, zitterten seine Hände. Lasseurs blutverschmiertes
Gesicht verschwand.
Das Letzte, was
Hawkwood sah, war Fouchets Gesicht, das auf ihn hinabstarrte. Der
Mund des Lehrers formte leise die Worte: »Vive
la France!«
Nicht unbedingt das, was ich bei meiner Beerdigung hören
möchte, dachte Hawkwood, als die Nadel den Stoff über seinem
Gesicht zum letzten Mal durchstach.
Murat hatte Recht
gehabt. Der Gestank im Sack war wirklich überwältigend. Der Geruch
nach Urin stieg ihm in die Nase, während der metallene Geschmack
von Blut den Rachen reizte. Er wollte gar nicht daran denken, mit
welchen anderen Körperflüssigkeiten der Sack noch in Berührung
gekommen war. Am besten, man blendete diesen Gedanken einfach aus.
Er vermutete, dass es Lasseur ebenso erging. Auf irgendeine
perverse Art hoffte er es sogar.
Plötzlich veränderte
sich der Griff unter seinen Schultern und seine Beine zeigten nach
unten. Er wurde die Treppe hinaufgetragen. Nun ja, wenigstens mit
dem Kopf voran, dachte er.
Es war ein
merkwürdiges Gefühl, getragen zu werden und dabei nichts zu sehen.
Unter Deck war es zu finster, um durch das Segeltuch hindurch etwas
zu erkennen außer ganz schwache Unterschiede in den Schatten, die
sich um ihn bewegten, aber seine anderen Sinne fingen bereits an,
dies zu kompensieren. Jeder Schritt, jedes Ächzen im Holz, jedes
Poltern, jede Äußerung, sei es Rufen oder Flüstern, klang ganz
anders. Als er in den Leichensack geschlüpft war, war sein erster
Gedanke gewesen, seinen Körper so weit wie möglich zu entspannen,
um das Gewicht eines Toten zu simulieren. Doch jetzt, wo alle seine
Sinne angespannt waren, gab es in seinem Körper keinen Muskel,
keine Sehne und keinen Nerv, der nicht bis zum Äußersten angespannt
war. Alles wurde beherrscht von der Furcht, entdeckt zu werden. Als
er Charbonneau leise murmeln hörte: »Jetzt kommen wir an Deck«,
bekam er schweißnasse Hände.
Der Übergang von der
Dunkelheit zum Tageslicht war sofort erkennbar. Hawkwood konnte
zwar nach wie vor nichts sehen, aber allein die Tatsache, dass es
draußen, außerhalb des Segeltuchs hell war, machte die Enge des
Sackes erträglicher.
Seine Gedanken
wanderten zurück zu dem Tag, als er und Lasseur die erste Fahrt des
Leichenbootes beobachtet hatten. Damals waren es sechs Tote
gewesen, die übergesetzt werden mussten. Diesmal waren es mehr als
doppelt so viele. Er hoffte inständig, dass sie nicht zwei Fahrten
machen mussten.
»Festmachen!« Der
Ruf kam ganz aus der Nähe.
Die Männer, die
Hawkwood trugen, blieben stehen. Hawkwood war überzeugt, dass sie
sein Herz hören konnten, das wie wild in seiner Brust
klopfte.
Wieder kam dieselbe
Stimme: »Also los, setzt eure Ärsche in Bewegung! Schmeißt das
verdammte Ding schon runter! Der merkt nichts mehr, der ist doch
sowieso schon tot!«
Auf diese Bemerkung
folgte eine Lachsalve.
Sie gingen weiter.
Hawkwood atmete aus und hörte, wie Charbonneau leise vor sich hin
fluchte. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie viele Leichen
vor ihm hochgetragen worden waren. Er hatte die Horrorvision, dass
man ihn ins Netz legen könnte, wo ihn die anderen Leichen, die man
nach ihm hineinwerfen würde, erdrücken könnten. Er bemühte sich,
die panische Angst, die in ihm aufstieg, unter Kontrolle zu
halten.
Dann wurde er
hinuntergelassen. Durch das Segeltuch hindurch fühlte er das Netz
sowie den Druck eines weiteren Sackes an seiner Seite. Er
gestattete sich einige tiefe, vorsichtige Atemzüge. Das Blut, das
der Arzt ihm ins Gesicht geschmiert hatte, war getrocknet, und er
befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Er wusste nicht, ob es nur
Einbildung war, oder ob es wirklich Pisse war, was er
schmeckte.
Die Geräusche des
Schiffes waren überall: das Rattern der Laufräder in ihren Blöcken,
das Klopfen der Leinen gegen die Rahe, Stimmen, die sich in den
verschiedensten Tönen und Lautstärken unterhielten, Möwen, die vom
Flaggenknopf herab protestierten, das Trampeln von Militärstiefeln
auf Deck.
Er fragte sich, ob
der Körper neben ihm Lasseur war. Trotz seiner Bemühungen,
gleichmäßig zu atmen, klopfte sein Herz wie wild, während er auf
den Alarm wartete, der losbrechen würde, sobald man sein
Verschwinden entdeckt hatte. Wie lange würde es Murat, dem Arzt und
den Krankenwärtern gelingen, ihre Abwesenheit zu
vertuschen?
Wieder erklang ein
Ruf. Der Sack neben ihm bewegte sich.
Hawkwood stockte der
Atem.
War es Lasseur, der
einen Krampf bekommen hatte, oder eine misstrauische Wache, die
kontrollierte? Dann rollte etwas gegen sein anderes Bein. Er hörte
das Rasseln der Winsch und wusste, das Netz wurde wieder
hochgezogen. Die Bewegung war wohl nur ein Ergebnis der Schwerkraft
gewesen. Eine Erinnerung kam ihm: Makrelen im Netz, Köpfe und
Schwänze durcheinander, und er überlegte, ob ein Netz voller
Leichensäcke für Zuschauer wohl ähnlich aussah.
Murat hatte nicht
nur wegen des Gestanks Recht gehabt. Hawkwood wusste, es konnte
nicht mehr als zehn Minuten her sein, seit sie eingenäht worden
waren, und dennoch schien es eine Ewigkeit her. Mit jeder weiteren
Minute waren seine Nerven stärker angespannt. Abermals nahm er eine
Bewegung des Netzes wahr. Sein sechster Sinn sagte ihm, dass gleich
etwas passieren würde. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich
seelisch darauf vorzubereiten. Das Netz landete mit Schwung, es war
eher eine Kollision als ein Aufsetzen – der Mann an der Winsch
hatte keinen Funken Mitgefühl für die Toten – und aus der Bewegung
unter ihm wusste er, dass sie in die Ducht gepackt worden waren. Er
spürte, wie das Boot schaukelte, als die Totengräber und die Wachen
einstiegen und ihre Plätze einnahmen. Dann kam der Befehl zum
Ablegen, und dann das unverwechselbare Geräusch der Ruder, die sich
in den Rudergabeln drehten, als das Boot langsam von der Seite des
Schiffs wegmanövrierte.
Es war warm im Sack
und das Quietschen der Ruder und das sanfte Schaukeln des Bootes
übten eine Art Hypnose auf ihn aus. Hawkwood war sich nicht nur des
Gestanks in seinem eigenen Leichensack bewusst, sondern auch aller
anderen um ihn, alle verdreckt mit entweder Blut, Kot oder Pisse,
und manche von ihnen mit allem gleichzeitig. Der Gestank würde sich
noch verschlimmern, wenn die Sonne höher stand, deshalb wollte
Hellard die Leichen von Bord haben. Es war ohnehin schon schwer
genug, ein gewisses Maß an Hygiene aufrechtzuhalten. Die Zustände
wären unhaltbar geworden, besonders im Krankenrevier, wenn die
Leichen noch länger an Bord geblieben wären.
Hawkwood wusste,
dass sie nicht mehr weit vom Ziel waren, als er den Befehl vernahm,
die Ruder einzuziehen. Eine kurze Stille, dann ein Zittern, als der
Kiel des Bootes knirschend aufsetzte, bestätigten die
Vermutung.
Als Hawkwood aufs
Vorland hinaufgetragen wurde, hörte er jemanden graben. Ein
starker, atemberaubender Gestank drang in den Sack, je näher sie
den Spatengeräuschen kamen, es war so schlimm, dass es sogar seinen
eigenen Gestank überdeckte. Hawkwood wusste, was es war. Er hatte
es schon oft gerochen, im Feldlazarett und in den Leichenhallen von
Krankenhäusern. Es war der Gestank verwesender Leichen. Er lag auf
der Erde, Kieselsteine im Rücken, die Nase gegen das übel riechende
Segeltuch gedrückt, und musste seine ganze Willenskraft zusammen
nehmen, um sich nicht durch Würgegeräusche zu
verraten.
»Also los, schmeißt
die Miststücke rein!«
Der Befehl war aus
einiger Entfernung gekommen. Er vermutete, dass die Wachen in
einiger Entfernung vom Massengrab gegen den Wind
standen.
Eine Stimme kam
dicht an sein Ohr und Charbonneau flüsterte: »Nicht mehr lange,
Captain. Es ist gleich vorbei.«
Wieder schoben sich
Hände unter seine Schultern und zerrten ihn über den Schlick. Er
fühlte, wie sein Schulterblatt über einen scharfen Stein schrammte,
dann ging es steil nach unten. Er landete auf etwas, das sich wie
ein Holzhaufen anfühlte, zumindest den Höckern und Unebenheiten
nach zu urteilen, aus denen gelegentlich etwas Spitzes ragte. Der
Gestank nach verwesenden Leichen war plötzlich noch viel schlimmer
als bisher.
Er hörte, wie ein
Spaten in den Boden gestoßen wurde. Hawkwood schnappte nach Luft,
als die erste Schaufel voll Erde und Kieselsteinen auf seinen
Beinen landete. Sein Herz stolperte, als die zweite Ladung auf
seine Brust fiel. Die Erde war feucht und schwer. Er versuchte,
seine Arme zu bewegen, wurde aber durch eine weitere Ladung Steine
verhindert, die von außen auf das Segeltuch prasselten wie Regen
auf ein Zelt.
Er hörte eine leise
Stimme. »Leben Sie wohl, Captain.«
Dann wurde sein
Gesicht mit Erde bedeckt, und die Welt wurde dunkel.