14
»Das ist Thomas …
Tom«, sagte Jess Flynn. »Und wie Sie sehen, ist er aus Fleisch und
Blut.«
Thomas Gadd war
mindestens sechzig; ein kleiner, drahtiger Mann mit pulvergrauem
Haar, das im Nacken zu einem Zopf gebunden war. Sein gebräuntes,
ledriges Gesicht und die abgearbeiteten Hände deuteten darauf hin,
dass er sein Leben lang im Freien gearbeitet hatte. Man sah, dass
er hinkte, jedoch nicht sehr stark, und trotz dieser Behinderung
schien er sehr rüstig für sein Alter. Andererseits sah die Narbe
wesentlich gefährlicher aus, als Hawkwood es sich nach Jess’
Beschreibung vorgestellt hatte. Sie sah aus, als sei sie von einer
Klinge verursacht worden. Es war ein Wunder, dass der Mann nicht
das Auge verloren hatte.
Man sah sofort, dass
Gadd Seemann war. Sein wettergegerbtes Gesicht und der geflochtene
Zopf verrieten ihn sofort, genau wie der Anker, der auf seinen
rechten Unterarm tätowiert war.
»Tom, dies sind
Captain Hooper und Captain Lasseur.«
Gadds Gesicht zeigte
keinerlei Überraschung, als sei das Zusammentreffen mit geflohenen
Kriegsgefangenen etwas ganz Alltägliches für ihn.
»Die Herren möchten
sich gern nützlich machen, Tom«, sagte Jess Flynn.
Hawkwood und Lasseur
merkten, dass sie aufmerksam betrachtet wurden.
»Hab dir schon oft
gesagt, dass ich Hilfe gebrauchen könnte«, sagte Gadd. Er sah
Hawkwood an. »Jessie sagt, dass Sie ein Yankee sind,
Captain.«
»Das
stimmt.«
Gadd nickte. »Ich
nehm’s Ihnen nicht übel. Hab zu meiner Zeit’ne ganze Menge
kennengelernt. Die meisten waren ganz in Ordnung.« Ohne Übergang
fuhr Gadd fort: »Sie werden auch Soldat sein, Captain Hooper, und
Ihr Freund is’n Seemann, schätze ich.«
Lasseur sah ihn
überrascht an.
Gadd schniefte.
Ruhig sah er Hawkwood an. »Sie halten sich gerader. Ich hab Sie
gesehn und hab mir gesagt, also, das is’n Mann, der viel marschiert
ist und dabei immer was Schweres auf dem Rücken hatte.« Er wandte
sich an Lasseur. »Aber Sie, Captain, Sie sehen aus wie jemand,
der’s gewohnt ist, Wind und Gischt ins Gesicht zu kriegen. So ein
Gesicht kriegt man nur auf Deck. Hab ich Recht?«
»Sie haben Recht,
mein Freund«, sagte Lasseur. Er war einerseits beeindruckt, aber
auch verblüfft.
»Dann haben wir
beide was Gemeinsames. Ich schätze, ich bin so ziemlich auf jeder
Art von Schiff gefahren, die es gibt. War bei der John Company und
in der holländischen Navy, ehe ich dem König diente. Die Verwundung
habe ich mir am Nil geholt, falls Sie das wissen wollen. Aber keine
Angst, ich bin nicht nachtragend, zumindest nicht sehr
lange.«
»Da bin ich aber
sehr froh«, sagte Lasseur.
»Ich sprech Ihre
Sprache und alles.« Er grinste Hawkwood an. »Genug, um
durchzukommen jedenfalls. Hab auch’n bisschen Spanisch
aufgeschnappt, und wenn ich will, kann ich sogar auf Portugiesisch
fluchen.«
»Tom war mit meinem
Mann in der Navy«, sagte Jess Flynn. »Dienten zusammen auf der
Orion«, sagte Gadd. »Jack war
Vollmatrose. Ich war Quartergunner. Hab’02
abgemustert.«
Nach dem Frieden von Amiens, erinnerte sich
Hawkwood. Obwohl der nicht von langer Dauer gewesen war. Die
Feindseligkeiten fingen ein Jahr später schon wieder an. Er fragte
sich, warum Gadd und sein Freund Jack nicht wieder zur See gefahren
waren. Gadds Verletzung hätte ihn nicht gehindert, wieder auf ein
Schiff zu kommen. Vielleicht hatte er einfach genug. Bei Flynn war
der Grund vielleicht, dass er eine Frau gefunden hatte. Er hätte
gern gewusst, wann die Flynns geheiratet hatten. »Schiffskumpel
kümmern sich um einander«, sagte Gadd. »So funktioniert das nun
mal. Die sorgen dafür, dass es den Familien ihrer Freunde auch gut
geht. Stimmt das nicht, Captain?« Er sah Lasseur an.
Lasseur nickte
ernst. Hawkwood ahnte, dass er an seine tote Frau und seinen Sohn
dachte.
»Tja, aber ich kann
nicht den ganzen Tag hier stehen und quasseln«, sagte Gadd
entschlossen. »Die beiden Herren kannst du mir jetzt ruhig
überlassen, Jessie. Ich werde sie schon beschäftigen, und pass auf,
im Nu haben wir hier Klarschiff!«
In der Mittagspause
brachte die Frau ihnen einen Korb mit Essen und einen Krug Cider,
den sie zum Kühlen in den Bach stellten. Sie hatten bereits das Tor
zum Schafpferch repariert, die Wiese gemäht und die losen Latten an
der Scheune festgenagelt. Die Frau hatte das Essen hingestellt und
war wieder ins Haus gegangen, so dass die Männer allein
aßen.
Hawkwood nahm einen
Schluck Cider und reichte Gadd den Krug. Der Seemann rauchte
zufrieden seine Tonpfeife. Er nahm sie aus dem Mund und setzte den
Krug an die Lippen. Als er getrunken hatte, wischte er sich mit dem
Ärmel über den Mund und stellte den Krug auf die Seite. Er lehnte
sich auf dem Ellbogen zurück und steckte seine Pfeife wieder in den
Mund. Wegen der Sonne hielt er die Augen halbgeschlossen; er sah
aus wie jemand, der mit sich und der Welt zufrieden
ist.
»Ist Madame Flynn
eine Schmugglerin?«, fragte Lasseur.
Bei dieser
unerwarteten Frage riss Gadd die Augen auf. Dann nahm er die Pfeife
aus dem Mund und klopfte den Kopf an seinem Stiefel aus. »Nicht
jeder im Geschäft arbeitet auf den Schiffen. Manche lagern die Ware
nur, bis sie zum Käufer weitertransportiert werden
kann.«
Schäfer, Gastwirte und Witwen, dachte Hawkwood.
»Gibt es davon viele?«
»Eine ganze Armee.
Jemand bietet dir ein Fässchen an, wenn du ihm für ein paar Nächte
die Scheune zur Verfügung stellst, oder sie brauchen vielleicht ein
paar Ponys, um etwas zu transportieren; dann sagt man doch nicht
nein. Nehmen Sie zum Beispiel Morgan, der hat Leute in der ganzen
Grafschaft.«
»Wer ist
Morgan?«
Es war das zweite
Mal, dass dieser Name fiel.
»Ezekiel Morgan. Er
kontrolliert den größten Teil der Küste hier. Kam rein und übernahm
Strecken, wo die alten Banden am Aussterben waren. Heute passiert
hier praktisch nichts, von dem er nichts weiß.«
»Hat er auch dafür
gesorgt, dass wir hierhergekommen sind?«
Gadd
nickte.
»Werden wir ihm die
Hand schütteln können?«, fragte Lasseur.
»Wenn Sie das
machen, dann zählen Sie aber hinterher Ihre Finger
nach.«
Gadd unterbrach
sich, als fiele ihm ein, dass er vielleicht ein wenig zu viel
preisgegeben hatte. Er griff nach dem Korken und steckte ihn wieder
in den Krug. »Aber Sie brauchen sich deshalb nicht den Kopf zu
zerbrechen. Wir haben noch viel zu tun, und wir machen am besten
jetzt weiter. Jessie wird uns was erzählen, wenn sie sieht, dass
wir hier wie drei alte Marktweiber sitzen und
tratschen.«
Hawkwood überlegte,
ob Morgan der Beschützer war, den Jess am Abend zuvor erwähnt
hatte. Er dachte noch über diese Möglichkeit nach, als sie wieder
an die Arbeit gingen.
Erst am späten
Nachmittag machten sie Schluss, und Hawkwood spürte eine angenehme
Müdigkeit in Rücken und Schultern. Lasseur strich sich mit der Hand
über die Stirn. »Ich glaube, ich werde heute Nacht gut
schlafen.«
»Erst werden Sie
essen«, sagte Jess Flynn.
Sie hatte das
Abendessen vorbereitet, das sie zusammen am Küchentisch einnahmen,
während der Hund vor der offenen Tür Wache hielt.
»Wie viele andere
waren vor uns hier?«, fragte Hawkwood.
»Ein paar«, gab Jess
Flynn zu. »Aber das ist schon länger her.«
»Dieser Mann,
Morgan, hat er auch für ihre Überfahrt gesorgt?«
»Morgan?« Jess Flynn
sah auf, plötzlich war ihr Gesicht verschlossen.
»Thomas erwähnte
seinen Namen. Er sagte, Morgan kontrolliert hier die
Schmuggelgeschäfte, und er sei auch derjenige, der unsere Flucht
organisiert hat.«
Jess Flynn sah Gadd
an, der mit einem entschuldigenden Achselzucken antwortete, ehe er
sich ein Stück Brot abbrach, um damit die Soße von seinem Teller zu
tunken.
»Wir waren nur
neugierig, weiter nichts«, sagte Hawkwood. »Wir wollten wissen, wem
wir unsere Freiheit zu verdanken haben.«
»Ich bezweifle, dass
Ihr Dank Ezekiel Morgan interessieren würde«, sagte Jess Flynn
trocken. »Das Einzige, was den interessiert, ist das Geld, das er
für Ihre Beförderung bekommt.«
»Das klingt ja, als
ob Sie ihn nicht gerade besonders schätzen«, sagte
Hawkwood.
»Kann man’s ihr
verdenken?«, sagte Gadd.
»Tom«, sagte Jess
Flynn warnend.
Gadd sah sie mit
einem Blick an, der deutlich sagte, du kannst
es ihnen ruhig sagen.
Jess Flynn zögerte,
dann sagte sie: »Mein Mann arbeitete für Morgan. Das war, nachdem
wir geheiratet hatten, als er auf der Orion abgemustert hatte. Es gab hier nicht viel
Arbeit.«
»Zu viele Schiffe,
die nichts mehr zu tun hatten«, warf Gadd ein. »Zu viele Leute, zu
wenig Jobs.«
Der Preis für den Frieden, dachte Hawkwood. So war
es doch immer. Das Ende der Kriegshandlungen bedeutete immer, dass
die Schiffe stillgelegt und ihre Besatzung entlassen wurde. Dadurch
entstand ein Heer von Arbeitslosen, die andere Beschäftigungen
suchten.
»Er war aber schon
immer ein geschickter Handwerker.« Sie lächelte, als sie daran
dachte. »Es gab nichts, was er nicht machen konnte.«
»Hat die Scheune
dort draußen gebaut.« Gadd deutete mit dem Daumen nach draußen,
doch dann presste er den Mund zusammen. »Für Morgan.«
»Ezekiel Morgan ist
mein Verpächter«, erklärte Jess Flynn. »Ihm gehört viel Land in
dieser Gegend. Das ist die ehrliche Seite seines Geschäfts. Na ja,
ehrlich im Vergleich zu seinen anderen Geschäftsinteressen. Als wir
hierherkamen, hat die Farm sich nicht selbst getragen. Wir haben
Eier und Milch verkauft, aber es hat nicht gereicht. Jack hat alles
Mögliche getan, damit wir über die Runden kamen: Er hat Wagen
repariert, Pferde beschlagen, Tore gebaut – einfach alles. Er hat
sogar Särge geschreinert. Es war schwer, aber wir hatten unser
Auskommen. Dann hat Morgan den Pachtzins erhöht. Das erste Mal, als
wir nicht bezahlen konnten, wollte Morgan unsere Pferde für einen
seiner Transporte geliehen haben. Das nächste Mal wollte er für ein
paar Tage einige Fässer unterstellen. Dann war es Tabak. Es dauerte
nicht lange, da mussten wir jede Woche etwas für ihn
verstecken.
»Und bei Morgan sagt
man nicht nein«, unterbrach Gadd. »Zumindest, wenn man weiß, was
gut für einen ist. Und wer es doch macht, wird schnell eines
Besseren belehrt. Du findest plötzlich, dass zwei deiner Schweine
über Nacht gestorben sind, oder dass ein Heuschober abgebrannt ist,
oder du hast ein totes Lamm im Brunnen. Da ist es wesentlich
einfacher, das zu machen, was Morgan will. Und wenn du Glück hast
und alles gutgeht, dann findest du am nächsten Morgen ein Fässchen
Branntwein vor deiner Tür.«
Jess Flynn fuhr
fort: »Nach einiger Zeit fing Jack an, mit auf Transporte zu gehen.
Das Geld war gut. Er fing an als Fassträger, danach wurde er Bote
und Späher. Schließlich wurde er einer von Morgans Leutnants.« Sie
unterbrach sich und ihre Stimme wurde unsicher. »Und dann ist er
eines Nachts nicht mehr wieder gekommen.« Sie
verstummte.
Gadd nahm die
Geschichte auf. »In Whiteness war eine große Ladung angekommen;
zweihundert Fässer, dazu Tabak; sie brauchten siebzig Ponys. Die
trugen die Fässer vom Strand hoch. Oben, auf Kemp Stairs, wartete
der Zoll auf sie. Zehn von Morgans Männern wurden festgenommen,
sechs wurden verletzt, auf drei wurde geschossen, darunter auch
Jack, aber er und zwei andere schafften es, zu fliehen. Sie kamen
bis Reading Street. Die Zollbeamten durchsuchten die Häuser. Die
anderen wurden geschnappt, aber Jack fanden sie nicht. Später ließ
Morgan einen Arzt für ihn kommen, aber es war zu spät, er war
verblutet.«
Jess Flynn sagte:
»Ich dachte, ich müsste die Farm verlassen, aber Morgan sagte, ich
könne bleiben. Im Gegenzug kann er die Pferde benutzen, wenn er sie
braucht, und ich verstecke auch immer noch Fässer vor dem Zoll. Ab
und zu bekomme ich Nachricht, dass ich ihm einen besonderen
Gefallen tun soll, und dann nehme ich solche Vagabunden wie Sie
auf.«
»Was würde
passieren, wenn Sie ihm von Seth erzählten?«, fragte
Hawkwood.
»Seth?«, fragte Tom
Gadd verwundert. »Was hat das Arschloch denn mit all dem zu
tun?«
»Das käme drauf an«,
sagte Jess Flynn.
»Worauf?«
»Ob Morgan es als
eine Bedrohung für sein Geschäft ansähe, wenn Seth mich
belästigt.«
»War er hier?« Gadd
sah sie an.
»Und wenn er ihn für
eine Bedrohung hielte?«, sagte Hawkwood.
»Dann müsste ich
meiner Schwester meine Trauerkleidung leihen.«
»Was hat das
Arschloch jetzt wieder gemacht, Jessie?«, fragte Gadd.
»Es ist schon gut,
Tom. Es ist nichts passiert.«
»Er wollte sie
vergewaltigen«, sagte Lasseur. »Captain Hooper und ich haben ihn
verjagt.«
»Um Himmelswillen,
Jess!«, sagte Gadd.
»Er war betrunken,
Tom.«
»Der verdammte Kerl
ist doch immer besoffen«, murmelte Gadd.
»Und wenn Morgan es
nicht als ein Risiko für sich ansähe, dass Seth Ihnen nachstellt,
was dann?«, fragte Hawkwood.
»Dann würde ich mir
ständig Sorgen um Annie und den Jungen machen.«
»Annie?«, sagte
Hawkwood. »Ihre Schwester?«
Jess Flynn nickte.
»Seth drohte, ihnen was anzutun, wenn ich ihm nicht zu Willen bin.
Ich weiß nicht, ob er es wirklich tun würde. Aber wenn ich zu
Morgan ginge, der aber nichts täte, und Seth würde es
herauskriegen, dann würde er ihnen vielleicht etwas antun, einfach
um sich an mir zu rächen.«
Lasseur sah Hawkwood
an. »Ich hätte ihn doch umbringen sollen.«
Hawkwood antwortete
nicht. Einen Augenblick sah er Jess an. »Also können Sie gar nicht
wissen, ob Morgan Ihre oder Seths Partei ergreifen
würde?«
»Nein. Aber Seth
weiß es auch nicht. Er ist einer von Morgans Boten, aber er weiß,
das würde ihn nicht retten, wenn er ausscherte.«
»Und Sie hoffen,
dass allein Ihre Drohung, zu Morgan zu gehen, reicht, um Seth in
Schach zu halten?«
»Du spielst da ein
gefährliches Spiel, Jess«, sagte Gadd.
»Ich weiß, Tom. Das
brauchst du mir nicht zu sagen.«
»Dieser verfluchte
Morgan«, sagte Gadd.
Draußen bellte der
Hund einmal.
»Scheiße!«, stieß
Gadd aus und drehte sich erschrocken um.
»Bleib hier«, sagte
Jess Flynn. Sie stand schnell auf und ging auf den Hof, schloss
aber die Tür hinter sich.
Sie hätten in der
Scheune bleiben sollen, dachte Hawkwood, dicht bei dem Versteck
hinter den Heuballen. Sie waren unvorsichtig geworden.
»Hier gibt es einen
Keller«, sagte Gadd hastig. »Der Eingang ist in der Speisekammer
unter der Matte.« Er deutete mit dem Kopf auf eine Tür in der
Ecke.
Hawkwood und Lasseur
waren bereits auf dem Weg dorthin, als der Riegel an der Hintertür
angehoben wurde.
Verdammt, zu spät, dachte Hawkwood.
Die Tür öffnete
sich.
»Es ist nur Asa«,
sagte Jess Flynn. »Er will die Fässer abholen.«
»Gott sei Dank«,
sagte Tom Gadd. Seine Erleichterung war deutlich zu
sehen.
Hawkwood und Lasseur
halfen beim Aufladen. Es waren insgesamt sechs Fässer. Es dauerte
nicht lange, bis sie aus ihrem Versteck hinter den Heuballen geholt
waren.
Der Totengräber
hatte wieder zwei leere Särge hinten auf dem Wagen. Hawkwood hätte
gern gewusst, ob sie neu waren oder dieselben, in denen sie gereist
waren. Sie legten in jeden Sarg drei Fässer. Dicht hintereinander
passten sie gerade hinein. Higgs nagelte die Deckel mit dünnen
Nägeln zu.
»Und wenn Sie
angehalten werden?«, fragte Hawkwood, als er vom Wagen zurücktrat.
»Ist das nicht eine merkwürdige Tageszeit, um mit Särgen durch die
Gegend zu fahren?«
Der Totengräber
schüttelte den Kopf. »Die Toten wissen nicht, wie spät es ist. Die
halten sich nicht an Geschäftszeiten. Zumindest nicht in dieser
Gegend. Außerdem halten wir uns an die Nebenstraßen.«
»Aber wenn Sie
angehalten werden und jemand will mal hineinsehen?«
»Dann sag ich, ich
hab hier zwei Pockenfälle. Dann wollen die nichts mehr sehen. Mein
Gott, Sie stellen aber viele Fragen für einen Franzmann.« Higgs’
Augen zogen sich zusammen. »Aber Sie sind ja gar kein Franzmann,
stimmt’s?«
»Da sind Sie falsch
informiert«, sagte Hawkwood.
Tom Gadd verdrehte
die Augen.
»Na ja, es wäre auch
nicht das erste Mal«, sagte Higgs düster. »Ist ja auch ganz egal.
Ich mach einfach das, was man mir sagt. Und jetzt, sind Sie soweit
oder nicht?«
»Wofür?«, fragte
Hawkwood.
»Die Fässer sind
nicht das Einzige, weswegen ich gekommen bin«, sagte Higgs. »Wenn
Sie noch Sachen haben, die Sie mitnehmen wollen, dann holen Sie sie
jetzt. Wir haben ein ganzes Stück zu fahren.«
»Fahren?«, sagte
Lasseur.
»Sie haben doch
nicht gedacht, dass Sie für immer und ewig hierbleiben, oder? Es
ist Zeit, weiterzureisen.«
»Wohin?«, fragte
Hawkwood.
»Ein kleines
Häuschen auf dem Land; hübsch versteckt, wo’s keine neugierigen
Augen gibt.«
»Ich dachte, hier
sind wir schon auf dem Land«, sagte Hawkwood und dachte,
wenn das hier nicht versteckt liegt, was
dann?
»Es gibt noch andere
Orte.«
»Asa?«, sagte Jess
Flynn.
»Ach komm, Jess, du
weißt doch, dass du nicht fragen sollst. Ich liefere sie ab, und
ich nehme sie wieder mit, wenn mir’s aufgetragen wird. Den Rest
brauchst du nicht zu wissen.«
»Quatsch, Asa«,
sagte Gadd, »komm mir nicht damit. Wohin bringst du
sie?«
Higgs seufzte, biss
sich auf die Lippe und sagte: »Gut, also ich fahre mit ihnen zum
Haunt. Zufrieden?«
Gadd runzelte die
Stirn. »Warum dorthin?«
»Mein Gott, Tom, das
kannst du dir doch denken, verdammt noch mal!«
»Was ist der
Haunt?«, fragte Hawkwood.
»Die Frage ist
nicht, was es ist«, sagte Gadd, und seine Stimme klang rau. »Es
geht darum, wer es ist.«
Hawkwood
wartete.
Endlich beantwortete
der Totengräber die Frage selbst: »Mr. Morgan möchte Sie
kennenlernen.«
Nun, das dürfte interessant werden, dachte
Hawkwood.
Die Sonne stand
schon tief über dem Tal, als der Totengräber mit dem beladenen
Wagen über den tiefzerfurchten Weg in Richtung auf die Bäume zu
fuhr. Es war ein seltsames Gefühl, die Farm zu verlassen, die drei
Tage lang ihr Zuhause gewesen war. Hawkwood war kein Mensch, der
lange damit verbrachte, zurückzuschauen, aber diesmal konnte er
nicht anders, obwohl er schon wieder voller Ungeduld war,
weiterzukommen. In weniger als einer Stunde würde die Sonne
untergehen, am Waldrand waren die Schatten bereits lang. Haus und
Scheune waren in ein warmes rotes Abendlicht getaucht. Hawkwood
merkte, dass Lasseur neben ihm auch zurücksah, aber auf seinem
Gesicht war ein Ausdruck, als sehe er viel weiter als nur auf das,
was jetzt hinter ihnen lag.
Der Abschied war
kurz gewesen.
Tom Gadd hatte ihnen
nacheinander die Hand geschüttelt und ihnen guten Wind gewünscht,
worauf er wegen dieser Wortwahl etwas verlegen geworden
war.
Jess Flynn hatte
sich im Hintergrund gehalten und trat schließlich vor, um Lasseur
ein säuberlich in ein Tuch gewickeltes Päckchen zu überreichen.
»Etwas Proviant für die Reise. Es ist nicht viel, nur ein wenig
Brot und Käse.«
Als sie zurücktrat,
sah Hawkwood, wie ihre Finger Lasseurs Handgelenk berührten. Die
Geste war so unauffällig, dass er sich fragte, ob er sie sich nur
eingebildet hatte; doch instinktiv wusste er, dass es nicht der
Fall war und dass diese kurze Berührung und der Ausdruck in Jess
Flynns Augen mehr gesagt hatten als tausend Worte.
Dann hatte sie sich
an Hawkwood gewandt. »Gute Reise, Captain Hooper.«
»Madame«, sagte
Hooper.
Mit einem kurzen
Nicken und einem letzten Blick zu Lasseur drehte sie sich um und
ging ins Haus, aufrecht und mit erhobenem Kopf. Hinter ihr trottete
gehorsam der zottelige Vierbeiner.
Lasseur hatte mit
ruhigem Gesicht hinter ihr hergesehen.
»Es wird Zeit,
Captain«, murmelte Tom Gadd neben ihm.
Lasseur
nickte.
Der Seemann blieb
noch stehen, während Hawkwood und Lasseur auf den Wagen kletterten.
Im letzten Moment wandte Lasseur sich an ihn. »Geben Sie gut auf
sie acht, Thomas«, sagte er leise, »damit ihr nichts
passiert.«
Gadd nickte. »Ich
werde mein Möglichstes tun, Captain.« Er sah zu, wie Lasseur seinen
Platz einnahm und wartete, bis Asa Higgs das Pferd angetrieben
hatte, ehe er der Frau und dem Hund ins Haus folgte.
»Ja, und wenn Sie
kein Franzmann sind, was zum Teufel sind Sie dann?«
Asa Higgs kratzte
einen Aschepfropf aus seinem Pfeifenkopf und klopfte ihn an seinem
Stiefel aus.
»Amerikaner«, sagte
Hawkwood.
»Tatsächlich?« Der
Totengräber dachte über diese Antwort nach. »Und deshalb kämpfen
Sie lieber für Boney als für den König?«
»Er ist nicht mein
König«, sagte Hawkwood. »Deshalb hatten wir ja auch eine
Revolution.«
Der Totengräber
saugte an seiner kalten Pfeife. »Und Kaiser bezahlen gut,
was?«
»Besser als
Könige.«
Der Totengräber
grinste. Seine knotigen Hände fassten die Zügel fester. »Ich
hab’nen Vetter drüben bei Rochester, der sagte mir, dass dort
Hunderte von Ihren Leuten hinter Gittern sitzen. Er sagte, die
Crown Prince, die vor Chatham liegt,
ist bis zum Rand voll mit gepressten Yankee-Matrosen, die sich
geweigert haben, für unseren Farmer George zu
kämpfen.«
Aus genau diesem
Grund war Hawkwood weiter flussabwärts auf die Rapacious geschickt worden, wo das Risiko geringer
war, dass seine falsche Identität auffliegen würde.
Der Totengräber fuhr
fort: »Hab gehört, die Armee soll Rekrutierungsoffiziere auf die
Schiffe geschickt haben, die jedem Amerikaner, der bereit war,
umzuschwenken, sechzehn Guineen geboten haben. Nach allem, was ich
über die Hulks gehört habe, hätte man denken sollen, die würden
Schlange stehen, aber kein Mensch hat sich bereiterklärt. Sie haben
Glück, dass Sie von diesem Ding runter sind.«
Sie waren schon eine
ganze Weile unterwegs, seit sie die Farm verlassen hatten. Auf den
Sonnenuntergang war die Dämmerung gefolgt, die in ein dunkelblaus
Zwielicht übergegangen war. Jetzt war es Nacht. Am klaren,
wolkenlosen Himmel stand der Mond, und die Sterne sahen aus, als
seien sie auf schwarzem Samt verstreut.
Soweit Hawkwood es
beurteilen konnte, hatte Asa Higgs sein Versprechen wahrgemacht und
sie von allem ferngehalten, was nach einer offiziellen Straße
aussah. Der größte Teil der Fahrt war über schmale Landwege und
Trampelpfade gegangen, versteckte Nebenwege, auf denen über
Jahrhunderte hinweg die Farmer ihr Vieh zu Markte trieben. Manche
dieser Wege waren so dicht von Bäumen überwachsen, dass man das
Gefühl hatte, als fahre man durch einen Tunnel. Auf solchen
Strecken hatte Higgs das Pferd einfach laufen lassen, das nicht vom
Weg abwich. Offenbar kannte das Tier sich genauso gut aus wie der
Kutscher, was auch ein Glück war, denn selbst bei Tageslicht hätte
hier ein Mensch auch mit guten Augen leicht vom Wege abkommen und
in dem tiefen Graben landen können, der sich daneben
befand.
Einmal hatten sie
einen Fluss überquert. Als der Wagen über die alte Steinbrücke
ratterte, hatte Hawkwood gesehen, wie der Mond sich im Wasser
spiegelte.
Nur selten sah man
eine menschliche Behausung. Ab und zu schien ein Licht durch die
Bäume, ein Anzeichen für eine abgelegene Farm oder ein Cottage. Sie
waren keinen anderen Reisenden begegnet. Hawkwood, Lasseur und der
Totengräber hätten gut die einzigen Menschen sein können, die
unterwegs waren.
»Ihr Freund hat aber
nicht viel zu sagen«, murmelte der Totengräber.
»Es war ein langer
Tag«, erwiderte Hawkwood. »Vielleicht ist er müde.«
Doch der Totengräber
hatte Recht. Seit sie die Farm verlassen hatten, war Lasseur
auffallend still gewesen. Vermutlich dachte er an Jess
Flynn.
Es war ganz gut, dass wir abgereist sind, dachte
Hawkwood im Stillen. Es war sonnenklar, dass Lasseurs Gefühle für
diese Frau weiter gingen als reines Mitgefühl wegen ihres toten
Mannes und ihrer Einsamkeit. Und beim Abschied hatte es sich
gezeigt, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Andererseits
war es auch möglich, dass die Geste der Frau beim Abschied weniger
ein Zeichen tiefer Gefühle war als mehr ein Ausdruck von
Dankbarkeit, weil er ihr bei dem Überfall beigestanden hatte. Doch
Hawkwoods Bauchgefühl sagte ihm, dass das nicht der Fall war. Und
er war sich darüber im Klaren, dass hier ein Problem lag. Das
Mitgefühl, das der Privateer Schwachen gegenüber hatte, war zwar
bewundernswert, doch es war sie bereits teuer zu stehen gekommen
und hätte um ein Haar ihre Fluchtpläne samt Hawkwoods Auftrag
zunichtegemacht. Das Letzte, was Hawkwood brauchen konnte, war,
dass Lasseur nicht mehr objektiv genug war, zudem wegen einer Frau,
mit der es für ihn ohnehin keine Zukunft geben konnte. Früher oder
später musste der Franzose einsehen, dass er nicht alle verlorenen
und unglücklichen Seelen retten konnte, wie gern er es auch getan
hätte.
Vor ihnen stieg das
Gelände an. Sie fuhren nicht mehr durch Senken und Hohlwege,
sondern waren jetzt auf einem breiteren Weg, der zu beiden Seiten
von dichtem Buschwerk gesäumt war. Die Nacht war voll unheimlicher
Geräusche: Eulen schrien, Frösche quakten, und überall raschelten
Tiere, die jetzt auf der Jagd waren. Irgendwo im tiefen Wald hörte
man einen Fuchs bellen; das Heulen schwoll an und ebbte ab und
klang durch die Nacht wie die Schreie einer gequälten Seele. Obwohl
er dieses Geräusch kannte, sträubten sich bei Hawkwood die
Nackenhaare.
Dann hörte das
Gejaule auf.
Plötzlich schien die
Nacht unnatürlich still. Asa Higgs trieb das Pferd an und sah sich
argwöhnisch um.
Hawkwood fühlte sich
angespannt. Rechts von ihnen hatte sich etwas bewegt; eine kaum
erkennbare, dunkle Gestalt, die er gerade noch aus dem Augenwinkel
wahrgenommen hatte, die durch die Bäume gehuscht war, kurz vom
Mondlicht beleuchtet … irgendetwas, doch er wusste nicht,
was.
Er merkte, dass sich
auch Lasseur neben ihm bewegt hatte und war beruhigt. Trotz seiner
Grübelei war der Privateer so wachsam wie immer.
Dennoch war keiner
von ihnen auf das wilde, kreischende und Nerven zerfetzende
Gelächter vorbereitet, das plötzlich aus dem Wald kam, noch auf die
grauenhafte Erscheinung, die ihnen den Weg verstellte.
Der erschrockene
Totengräber riss an den Zügeln und der Wagen rutschte zur
Seite.
Es waren zwei, sie
sahen identisch aus. Sie waren als Mönche verkleidet, in schwarze
Kutten mit Kapuzen. Aber was am schlimmsten war und einem das Herz
stillstehen ließ, waren weniger ihre Kutten, die zerrissen und
verdreckt waren, noch die Pistolen, mit denen sie herumfuchtelten,
sondern es war das, was aus den Kapuzen heraussah. Denn wo man
Gesichter erwartet hätte, sah man bei den schwarz gekleideten
Mönchen Totenköpfe, die wie glühende Kohlen in der Dunkelheit
leuchteten.