6
Was den Gestank
betraf, so hatte der Dolmetscher nicht Recht gehabt. Nach vier
Tagen hatte Hawkwood sich noch immer nicht daran gewöhnt. Gestank
war ihm nichts Neues, dafür hatte sein Leben in London gesorgt,
aber in der eingeschlossenen Enge dieses Geschützdecks erzeugten
vierhundert menschliche Körper ihren eigenen Mief, und obwohl
Geschützöffnungen und Luken offen waren, kam bei diesem warmen
Wetter kein frischer Windhauch ins Schiff. Die Brise, die über das
brackige Wasser kam, brachte auch keine Erleichterung. Sie wälzte
lediglich den feuchten Fäkaliengeruch vom Marschland herüber, der
wie eine schwere, nasse Decke auf dem verschmutzten Fluss
lag.
Dennoch hatte
Hawkwood den Eindruck, dass Murat vielleicht doch nicht ganz
richtig gelegen hatte mit seiner Behauptung, dass das Fieber und
die Schwindsucht die häufigsten Todesursachen auf dem Schiff waren.
Soweit Hawkwood es beurteilen konnte, war eine der Hauptursachen
sicherlich die ununterbrochene Langeweile.
Manche der
Gefangenen beschäftigten sich durchaus sinnvoll, indem sie
künstlerischen oder handwerklichen Tätigkeiten nachgingen, andere
unterrichteten oder selbst am Unterricht teilnahmen, oder indem sie
sich als Schuster oder Händler für Tabak oder sonstige Dinge
betätigten, doch schien es Hawkwood, als sei das eine Minderheit.
Eine große Anzahl von Schiffsbewohnern zog es vor, die Tage in
völliger Untätigkeit zu verbringen. Auch auf dem Geschützdeck
fanden Glücksspiele statt, und es war nicht schwer, diejenigen zu
erkennen, die dem Spiel bereits verfallen waren. Die stumme
Verzweiflung auf den Gesichtern, wenn Sie ihre Karten hinlegten
oder ganz langsam den Becher von den kleinen knöchernen Würfeln
hoben, wobei sie eigentlich schon wussten, dass ihr Abstieg auf das
Orlopdeck bereits begonnen hatte – all das waren Beweise genug.
Andere gingen noch dubioseren Geschäften nach: Sie manipulierten
schwächere Mithäftlinge durch Diebstahl, Einschüchterung oder
sexuelle Gefälligkeiten, worauf sie dann mit Konsequenzen drohten,
wenn ihre Autorität infrage gestellt wurde. Manche flüchteten sich
in den Schlaf, sie rollten sich zusammen und schliefen, wo immer
sich ein freies Plätzchen bot – und davon gab es nicht viele. Der
Rest schien sich damit abgefunden zu haben, einfach abzuwarten und
irgendwann zu sterben.
Im Bemühen, dem
Gestank zu entkommen, hielt Hawkwood sich so viel wie möglich auf
dem Vordeck auf, wo Lasseur ihm manchmal Gesellschaft leistete. Um
nicht vollkommen untätig zu sein, hatte er sich bereiterklärt, bei
Arbeiten auf Deck mitzuhelfen. Damit hatte er so manche Bemerkung
seiner Mitgefangenen provoziert. Die meisten der Offiziere
betrachteten diese Art von körperlicher Arbeit als unter ihrer
Würde und bezahlten lieber andere dafür, die Arbeit für sie zu
verrichten. Der gängige Preis war ein Sou oder zehn Unzen Brot von
der Tagesration.
Hawkwood hatte damit
keine Probleme, schließlich hatte er im Schützencorps gedient, wo
man erwartete, dass jeder mit anpackte. Und selbst vorher, als
Captain, war es immer Hawkwoods Grundsatz gewesen, keinem seiner
Soldaten eine Arbeit zuzumuten, die er nicht selbst auch gemacht
hätte. Das war ein guter Grundsatz, der ihm die Loyalität seiner
Leute sicherte, was sich in der Hitze der Schlacht für alle
ausgezahlt hatte. Also ließ Hawkwood sich bereitwillig Lasten auf
den Rücken laden, die an Bord gebracht werden mussten, oder er
schrubbte nach dem Abendessen das Vordeck und den Park. Ihm war der
Geruch von ehrlich erworbenem Schweiß lieber als der
allgegenwärtige Gestank unter Deck.
Lasseur leistete
ebenfalls seinen Teil an Arbeit, er hatte schon am Aufzug und im
Laderaum neben Hawkwood gearbeitet. Dort unten war es so warm, dass
man Jacken und Hemden bald ausziehen musste. Die Rücken der
Gefangenen glänzten vom Schweiß, und man konnte leicht erkennen, ob
jemand neu an Bord war oder schon länger hier mitarbeitete: die
Haut der Neuen war weiß wie Papier.
Lasseurs Haut hatte
die Farbe, wie Seeleute sie in fernen, warmen Ländern bekamen. Sein
Oberkörper war gut gebaut, wenn auch nicht übermäßig muskulös, und
gleichmäßig gebräunt – im Gegensatz zu einigen der Männer, bei
denen Gesicht und Unterarme die einzigen Körperteile waren, die
Farbe hatten. Der Rest ihrer Haut, die normalerweise von einem Hemd
bedeckt war, blieb blass.
Ein weiterer
Unterschied Lasseurs zu den anderen waren die Narben auf seinem
Rücken, die von Peitschenhieben stammen mussten. Hawkwood hatte
diese nicht kommentiert. Er hatte genug eigene Narben,
einschließlich des bläulichen Streifens um seinen Hals, der ihm
einige neugierige Blicke eingebracht hatte, als er vor der
Registrierung gebadet hatte, aber auch jetzt, wenn er beim Arbeiten
das Hemd auszog.
Lasseur hatte
Hawkwoods flüchtigen Blick auf seinen Rücken bemerkt und sein
einziger Kommentar war gewesen: »Ich war nicht immer
Soldat.«
»Ich auch nicht«,
war Hawkwoods Antwort gewesen, und das hatte genügt. Sie
ignorierten die anderen Männer, die mit ihren fragenden Blicken
vielleicht eine Erklärung erwartet hatten.
Wenn er nicht
arbeitete oder sich mit Hawkwood oder Fouchet unterhielt – mitunter
wechselte er auch mit dem Jungen ein paar Worte -, ging Lasseur
meist unruhig an Deck auf und ab und schaute ruhelos zur
Flussmündung hin, in seine eigenen Gedanken versunken. Hawkwood
nahm an, dass der Privateer es sich zur Aufgabe gemacht hatte,
selbst irgendeinen genialen Fluchtplan zu ersinnen, falls Murat
seinen Teil des Abkommens nicht einhalten sollte. Aber er drang
nicht weiter in ihn. Bei so vielen Menschen, die hier auf engstem
Raum leben mussten, war ruhiges Alleinsein bestenfalls ein
Wunschtraum. Hawkwood wusste, dass es an Bord kaum einen Menschen
gab, der nicht versuchte, wenigstens in Gedanken für sich allein zu
sein und etwas Ruhe zu haben. Auch er versuchte es, so oft er
konnte, und nutzte diese Gelegenheit, um den täglichen
Routineablauf auf dem Schiff genau zu studieren. Und bei diesen
Beobachtungen kam er zu dem Schluss, dass eine erfolgreiche Flucht
vom Schiff so gut wie unmöglich war. Sie lagen nur einen Steinwurf
von der Mitte der stark befahrenen Flussmündung entfernt, waren von
unwirtlichem Marschland umgeben, dazu schwer bewacht von einer
Miliz und einem Commander, der bereit war, bei Auflehnung
Waffengewalt anzuwenden. Sie hätten genauso gut auf dem Schiff
eingemauert sein können.
Ludd war der Meinung
gewesen, dass es in den letzten Wochen vier Männern gelungen wäre,
zu fliehen. Aber in der kurzen Zeit, die er an Bord war, hatte
Hawkwood noch keinen einzigen Hinweis gefunden, wie sie das hätten
schaffen können. Er hatte versucht, Fouchet und die anderen
festzunageln, aber zu seinem Frust waren sie genauso wenig eine
Hilfe gewesen wie Leutnant Murat.
Mit Ausnahme der
Bewohner des Orlopdecks und derer, die sich in ihre eigene kleine
Welt zurückgezogen hatten, beschränkte sich das Leben der übrigen
Gefangenen auf die sozialen Kontakte innerhalb der kleinen Gruppe,
mit der sie zum Essen eingeteilt waren. Viele von ihnen wussten
wahrscheinlich nicht einmal, dass
jemand geflohen war, geschweige denn, wie die Flucht bewerkstelligt
worden war. Sie konnten es erst durch die verstärkte Präsenz der
Milizionäre und des Commanders bemerken, und durch das massive
Vorgehen der Wachen, wenn sie das Deck inspizierten oder
außerplanmäßig alle nach oben beorderten, um sie zu zählen. Jemand,
der so gut informiert war wie Fouchet, wusste natürlich mehr, aber
der Lehrer war viel zu vorsichtig, als dass er derartige Dinge mit
einem Neuen besprochen hätte, besonders im Hinblick auf Murats
Bemerkung, dass es hier Informanten gebe. Hawkwood hatte schon oft
verdeckt gearbeitet, und obwohl Geduld nicht gerade seine Stärke
war, wusste er, dass ein unauffälliges Verhalten besser war als zu
viele direkte Fragen.
Ludds Verdacht, es
könne sich bei den Fluchten um ein organisiertes Vorgehen handeln,
war ihm von Murat bestätigt worden. Und doch hatte Hawkwood immer
noch keine Ahnung, wer hinter der Sache steckte. Er fragte sich,
wie lange es wohl dauern würde, ehe der Dolmetscher sich wieder an
ihn wandte. Eine Woche? Zwei? Einen ganzen Monat? Oder noch länger?
Bei diesem Gedanken lief es Hawkwood kalt über den Rücken. Sein
Treffen mit Ludd sollte in drei Tagen stattfinden. Würde er ihm
wenigstens etwas Positives berichten
können? Es sah nicht so aus. Wenn man sich hier nicht in eine Ratte
verwandeln und durch die Gitterstäbe schlüpfen konnte, wie
Hawkwoods kleine geschwänzte Freundin neulich, dann schien der
einzige andere Weg vom Schiff herunter der einer in Segeltuch
gewickelten Leiche zu sein. Und selbst dann würde man nicht sehr
weit kommen.
Es hatte mehrere
Todesfälle gegeben, seit Hawkwood an Bord war. Die Ursache war
jedes Mal das Marschfieber gewesen. Besonders im Sommer forderte es
viele Opfer unter den Schwachen und Unterernährten. Es war ganz
natürlich, dass auch das Alter eine Rolle spielte, obwohl in der
drangvollen Enge eines Hulks weder Fieber noch Typhus noch Pocken
besonders wählerisch unter ihren Opfern waren. Zwei der Toten waren
in den Zwanzigern gewesen.
Es hatte keinerlei
Zeremonie gegeben. In schmutzige Säcke verpackt, die man in aller
Eile aus Segeltuch genäht hatte, waren die Leichen im Netz an der
Winsch hängend in ein wartendes Boot hinuntergelassen worden. Dann
war die traurige Fracht von einer Gruppe Gefangener, die dazu
abgestellt und von vier Milizionären bewacht waren, zu einer
Sandbank gerudert worden, die eine halbe Meile vom Heck entfernt
lag. Hawkwood und Lasseur hatten stumm zugesehen, wie die Leichen
auf das Vorland hochgetragen und in eine Grube geworfen wurden, die
man weiter hinten am Strand gegraben hatte. Soweit sie sehen
konnten, war bei der Beerdigung kein Wort gesprochen worden, ehe
das Boot sich auf den Rückweg machte.
Was Hawkwood
ebenfalls bemerkt hatte, war, dass außer ihm, Lasseur und einer
Handvoll neuer Gefangener niemand von diesem Vorfall Notiz nahm.
Auf der Rapacious waren Tote und ihre
Entsorgung etwas ganz Alltägliches.
Es war der
Nachmittag seines fünften Tages an Bord. Hawkwood lehnte an der
Reling des Vordecks und gönnte sich eine Pause, nachdem er drei
Stunden lang Fässer mit getrockneten Heringen und Säcke voll
Zwiebeln an Bord gehievt hatte. Es war schwere Arbeit gewesen, aber
sie war sinnvoll, und was noch wichtiger war, die Zeit war
schneller vergangen. Jetzt schien die Sonne warm auf seinen Rücken,
und das Wasser war ruhig. Wenn man Augen und Nase verschloss,
konnte man sich einen Augenblick lang tausend Meilen weit weg
versetzen.
Lasseur stand neben
ihm. Der Privateer hatte zum vielleicht hundertsten Male die
Zigarre aus seiner Jackentasche geholt und starrte sie mit
derselben Konzentration an wie ein Trinker eine Flasche
Rum.
Hawkwood spürte,
dass jemand hinter ihm stand.
Es war der Lehrer,
Fouchet, dessen fassungsloses Gesicht Hawkwood sofort verriet, dass
etwas Schlimmes geschehen sein musste.
»Sébastien?«, sagte
Lasseur vorsichtig fragend.
Fouchet starrte ihn
an, als wisse er nicht, wo er anfangen sollte. Man sah, dass er
verzweifelt war.
»Sébastien?«, sagte
Lasseur nochmals.
Das Gesicht des
Lehrers war vor Schmerz verzerrt. »Sie haben sich den Jungen
geschnappt.«
Hawkwood runzelte
die Stirn. »Wer? Die Wachen?«
Fouchet schüttelte
den Kopf. »Die Römer.«
Lasseur hielt vor
Schreck die Luft an, die Zigarre hatte er vergessen. »Was? Wie ist
das passiert?«
»Ich schickte ihn
nach dem Unterricht in die Küche, weil es Zeit war, Samuel mit dem
Abendessen zu helfen. Er kam nie dort an. Das habe ich aber erst
später erfahren, als ich hinging, um unsere Rationen abzuholen.«
Der Lehrer rang die Hände. »Ich hätte ihn begleiten sollen. Es ist
meine Schuld.«
Es war Lasseurs
Vorschlag gewesen, den Jungen als Küchenhelfer zu
beschäftigen.
»Woher wissen Sie,
dass die Römer ihn haben?«, fragte Hawkwood. »Könnte er nicht bei
den anderen Jungen sein?«
Die Bewohner des
Orlopdecks hatten sich seit ihrem Überfall im Park sehr
zurückgehalten – zumindest als Gruppe. Einzeln unternahmen sie
immer noch Raubzüge auf das Vordeck, wo sie nach Abfällen stöberten
oder Gelegenheiten zu einem Tauschgeschäft suchten, obwohl die
anderen Gefangenen ihnen meist eine Abfuhr erteilten. Die Gegenwart
der Römer als Gesamtheit, die ja nur ein Deck tiefer lebten, lag
jedoch wie ein dunkler Schatten über den anderen Gefangenen. Sie
erinnerten Hawkwood an die Unberührbaren, die er in Indien gesehen
hatte; sie wurden gehasst und gefürchtet, aber es war unmöglich,
sie zu ignorieren.
Fouchet schüttelte
den Kopf. »Ich habe mit Millet und Charbonneau gesprochen. Sie
haben herumgefragt. Lucien wurde mit Juvert gesehen.«
»Wer ist Juvert?«,
fragte Hawkwood.
»Den kenne ich«,
sagte Lasseur. »Dieser verfluchte Päderast! Den habe ich doch
gleich am ersten Tag dabei erwischt, wie er sich an Lucien
heranmachen wollte. Ich warnte ihn, er solle den Jungen in Ruhe
lassen.«
Hawkwood fiel der
degeneriert aussehende Mann wieder ein, der neben dem Jungen
gehockt und mit seinen schlanken Fingern dessen Rücken getätschelt
hatte. »Der ist ein Römer?«
»Er ist einer von
Matisses Gefolgsleuten«, sagte Fouchet.
»Matisse?«
»Ein widerwärtiger
Kerl, nennt sich König der Römer. Er regiert auf der untersten
Ebene. Noch dazu ein Korse, wenn Sie sich das vorstellen können«,
fügte der Lehrer verächtlich hinzu.
»Dieser wilde Haufen
hat einen Anführer?« Lasseur konnte seine Skepsis kaum
verbergen.
»Und was ist mit den
Wachen?«, fragte Hawkwood, der sich wunderte, warum Matisse sich
König nannte. Die alten Römer waren doch von einem Kaiser regiert
worden? Aber wenn man es recht bedachte, dann war ein korsischer Kaiser wahrscheinlich erst mal
genug. Ihm fiel wieder der Kommentar ein, den er bei seiner Ankunft
auf dem Schiff von den Wachen gehört hatte, als sie den Jungen
sahen:
Warte mal, bis seine Majestät das
sieht!
Hawkwood merkte,
dass ihm übel wurde.
Fouchet schüttelte
den Kopf. »Die machen gar nichts. Es ist ja nichts Verbotenes
passiert. Und außerdem trauen die sich gar nicht so weit unter
Deck.«
Hawkwood sah den
Lehrer eindringlich an. »Es ist doch ein britisches Schiff! Wollen
Sie damit sagen, dass die britische Navy auf einem ihrer eigenen
Schiffe keine Macht hat?«
Fouchet breitete die
Hände aus. »Die Macht hat sie schon. Aber es fehlt der Wille, besonders wenn die Römer im Spiel sind.
Ehrlich gesagt, ich glaube, der Commander und seine Männer haben
mehr Angst vor Matisse und seinem Hofstaat als wir.«
»Aber die Briten
sind doch bewaffnet. Sie haben Musketen!«, protestierte
Lasseur.
»Stimmt, aber Sie
haben es ja selbst gesehen: Sie benutzen sie nicht, es sei denn,
einer ihrer eigenen Männer ist bedroht.«
Entsetzt sah Lasseur
den Lehrer an, der unter dem Blick noch ratloser
wurde.
»Das hatten Sie also
gemeint, nicht wahr?«, sagte Lasseur schließlich. »Deshalb hatten
Sie mir geraten, ihn im Auge zu behalten. Matisse hat das schon
mehrmals gemacht. Er hat sich auch andere Jungens geholt. Mein
Gott, wo sind wir hier bloß?«
»Wenn ich Ihnen auch
nur die Hälfte von allem erzählte«, sagte Fouchet leise, »würden
Sie mich für verrückt erklären.«
»Und was ist mit dem
Gericht, das die Gefangenen unter sich abhalten? Hat das denn
keinen Einfluss?«
Fouchet schüttelte
den Kopf. »Nein, nicht auf Matisse. Außerdem ist Gericht eigentlich
nur ein anderes Wort für Komitee. Und wann hat ein Komitee jemals
etwas Vernünftiges zuwege gebracht? Außerdem, bis die sich
zusammengefunden haben, wäre es zu spät. Wir müssen jetzt etwas
unternehmen!«
Du lieber Gott!, dachte Hawkwood in
Panik.
»In Ordnung. Von
Charbonneau wissen wir, dass alles, was unter Deck passiert, auch
unter Deck bleibt. Also werden wir uns selbst darum
kümmern.«
»Wie?« Fouchet hob
ruckartig den Kopf und sah ihn an. »Moment mal, wollen Sie etwa
dort runter gehen?«
»Es sei denn, Ihnen
fällt eine andere Lösung ein«, erwiderte Hawkwood. Er wartete auf
eine Antwort.
Fouchet sah ihn
hilflos an.
»Dieser Matisse,
können Sie uns zu ihm bringen?«, fragte Lasseur.
Fouchet wurde noch
blasser. Er trat einen Schritt zurück, wobei er fast
hintenübergefallen wäre.
In Lasseurs Augen
flammte kurz Zorn auf, sein Gesicht wurde hart. Aber als er Fouchet
anstarrte, sah er auch die Angst in dessen Gesicht.
»Wir verschwenden
kostbare Zeit«, sagte Hawkwood.
»Es tut mir
schrecklich leid«, flüsterte Fouchet. Sein Gesicht war schlaff.
Plötzlich sah er sehr alt und sehr hinfällig aus.
Lasseur lächelte dem
Lehrer beruhigend zu. »Wir kriegen ihn zurück, Sébastien, darauf
gebe ich Ihnen mein Wort.« Er wandte sich an Hawkwood. »Vielleicht
sollten wir uns bewaffnen?«
Der sah Fouchet an.
»Haben die dort unten Waffen?«
Fouchet nickte
unglücklich. »Das ist möglich.«
»Na, wunderbar«,
sagte Lasseur. »Und was machen wir jetzt?«
»Irgendwie kann ich
mir nicht vorstellen, dass Hellard uns den Schlüssel zur
Waffenkammer aushändigt«, sagte Hawkwood trocken. »Und Zeit zum
Suchen haben wir auch nicht. Wir müssen halt improvisieren.« Er
wandte sich an Fouchet. »Wo ist Juvert? Haben Sie ihn gesehen, seit
der Junge verschwunden ist?«
In den Augen des
Lehrers erschien ein Schimmer von Hoffnung. Er nickte und deutete
mit dem Finger.
Claude Juvert
kostete den Moment aus. Er stand auf dem Schnabeldeck im Kopf des
Schiffes und pinkelte. Er genoss es, denn hier von der Pissrinne
aus hatte man einen wunderbaren Blick über den Fluss, solange man
nach vorn schaute und die hässlichen Hecks der anderen
Gefängnisschiffe ignorierte, die vor dem Bug aufragten. Natürlich
stank es hier bestialisch, aber das war unvermeidlich, obwohl das
Deck gegen die Elemente offen war. Die Schiffslatrine hatte nur
sechs Sitze, und bei mehr als achthundert Gefangenen an Bord kam es
nur äußerst selten vor, dass nicht alle
gleichzeitig besetzt waren. Jetzt saßen vier Häftlinge hinter
Juvert, ihre Hosen bis auf die Knöchel herunter geschoben, und
meditierten über ihr Schicksal. Nur ab und zu wechselten sie ein
Wort.
Wäre die
Rapacious unter vollem Segel auf See
gewesen, hätte man den Gestank kaum wahrgenommen. Die
Salzwassermassen, die ständig über das Netz am Bug
hinwegschwappten, hätten dafür gesorgt, dass das Deck regelmäßig
gewaschen wurde. Die Fäkalienreste, die sich um die Löcher
ansammelten, wären ohne große Mühe beseitigt worden. Doch ein
Schiff, das mitten auf einem Fluss vor Anker lag, der fast immer
ruhig war und wo nur selten ein wenig Wellengang die Monotonie
unterbrach, waren die sanitären Einrichtungen alles andere als
befriedigend. In diesem Bereich war das Deck ziemlich nass und
glitschig. Juvert schüttelte die letzten Tropfen ab, knöpfte seine
Hose zu und wischte die Hände an der Jacke ab. Mit einem kleinen
befriedigten Seufzer wandte er sich zum Gehen.
Der Tritt von
Lasseurs Stiefel traf ihn im unteren Rücken, sodass sein Kopf gegen
die Stütze des Netzes geschleudert wurde. Man hörte ein dumpfes
Krachen, als Juverts schmale Nase aufprallte. Er schrie auf. Das
Blut floss. Lasseur trat näher, packte Juvert an der Kehle und
drückte zu. Das Blut aus Juverts gebrochener Nase tropfte auf sein
Handgelenk.
»Erinnerst du
dich?«, sagte Lasseur. In seinen Augen loderte die
Wut.
Juvert riss die
Augen auf, zuerst vor Schreck, dann vor Angst. Er stöhnte auf und
versuchte sich mit einem Ruck zu befreien, aber Lasseurs Griff war
eisern.
Hawkwood nahm
Juverts linken Arm. Lasseur nahm den rechten. Sie zerrten ihn
wieder auf die Füße.
»Wenn du
Schwierigkeiten machst, hast du nicht nur’ne gebrochene Nase – dann
brech ich dir das Genick.«
Mit grimmigem
Lächeln sah Hawkwood hinüber zu den Gefangenen auf der Latrine, die
mit offenem Mund dasaßen und nicht wussten, ob es ratsamer war,
sitzen zu bleiben oder einen strategischen, wenn auch wenig
eleganten Rückzug anzutreten. »Weitermachen, meine Herren. Wir
gehen sowieso gerade.«
Sie verließen die
Latrine, wobei sie den wimmernden Juvert zwischen sich nahmen. Die
kleine Prozession wurde von vielen neugierigen Blicken begleitet.
Einige runzelten die Stirn beim Anblick von Juverts
blutverschmierter Visage, während er ohne weitere Umstände übers
Deck gezerrt wurde, aber ein Blick auf Lasseurs wütendes Gesicht
reichte, um jeden wissen zu lassen, dass es unklug wäre, sich
einzumischen.
Lasseur beugte sich
ganz dicht an Juverts Ohr. »Habe ich dich gewarnt, den Jungen in
Ruhe zu lassen, oder nicht?«
»We – welcher
Junge?«, stotterte Juvert. Beim Zusammenstoß mit der Stütze war
seine Lippe geplatzt und hatte die paar Zähne, die ihm noch
geblieben waren, gelockert.
Es war die falsche
Antwort. Lasseur schwenkte Juvert herum und schleuderte ihn gegen
das gewölbte Schott. Dann schlug er ihm mit voller Wucht ins
Gesicht. »Versuche nicht, irgendwelche Spielchen mit mir zu
treiben! Dazu bin ich jetzt nicht aufgelegt.«
»Was hab ich denn
gemacht?«, kam es schwach über Juverts blutige Lippen.
Ehe er sich’s
versah, hatte Lasseur ihm einen noch heftigeren Faustschlag
versetzt.
Wieder stieß Juvert
ein hohes, heiseres Krächzen aus. Aus seiner Nase tropfte Blut und
rann über sein Kinn.
»Du hast doch den
Jungen, Lucien, entführt, stimmt’s?«, fragte Lasseur mit
Nachdruck.
Die Hand über der
Nase, murmelte Juvert etwas Unverständliches. Der Schmerz hatte ihm
Tränen in die Augen getrieben.
»Was?«, Lasseur
hielt die Hand hinter sein Ohr. »Bisschen lauter, wir verstehen
nichts.«
Juvert, der einen
weiteren Schlag erwartete, hob die Hände. »Ich musste es tun.« Die
Worte blubberten aus seiner gebrochenen Nase und der geplatzten
Lippe hervor.
»Musste?«, sagte
Hawkwood.
Juvert spuckte einen
Klumpen Blut aus. »Es war Matisse! Er hat mich dazu gezwungen. Ich
hatte Sp – Spielschulden bei ihm. Er sagte, wenn ich ihm den Jungen
bringe, sind wir quitt.«
»Du erbärmliches
Stück Scheiße«, fauchte Lasseur. Er holte mit der geballten Faust
aus.
Juvert krümmte sich
und schloss die Augen. »Bitte …«
»Bitte? Du wagst es noch, zu bitten? Hat Lucien
Ballard um Gnade gebeten? Hat einer der anderen Jungen um Gnade
gebeten, die du zu ihm gebracht hast?«
Juvert wich
zurück.
Besorgt, dass
Lasseur Juvert völlig zusammenschlagen würde, ehe sie ihr Ziel
erreicht hatten, ging Hawkwood mit der Hand
dazwischen.
»Du wirst uns zu
Matisse bringen«, sagte er. »Und dann werden Captain Lasseur und
ich seiner Majestät klarmachen, dass er einen Fehler begangen
hat.«
»Das dürfen Sie
nicht«, bettelte Juvert und versuchte wieder, sich zu befreien.
Sein verängstigter Blick ging erst zu Hawkwood, dann zu Lasseur,
dann wieder zurück. »Sie kennen ihn nicht. Matisse bringt mich
um.«
Hawkwood deutete mit
dem Kopf auf Lasseur. »Und wenn du uns nicht zu ihm führst, bringt
er dich um. Und wenn er es nicht macht,
dann ich. Also los.«
Der Balken über dem
Abgang hätte eine Inschrift tragen müssen, dachte Hawkwood, als er
in die Dunkelheit hinunter sah: Die ihr hier
eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. Er hatte diesen Satz
irgendwo einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wann oder
wo.
Lasseur hatte vom
Geschützdeck eine Laterne mitgebracht. Er hielt sie über die Luke.
Verglichen mit den anderen an Bord, war diese hier klein. Auch die
Treppe nach unten sah schmaler und viel steiler aus. Von hier oben
konnte Hawkwood nur mit Mühe die unterste Stufe erkennen. Sie lag
im Dunkel und war kaum zu sehen. Es waren keine Anzeichen von Leben
auszumachen, obwohl er schwache Geräusche hören konnte, die von
tief im Inneren des Schiffsrumpfes zu ihm heraufdrangen; ein leises
Flüstern, wie das Flattern winziger Flügel. Er hörte auch ein
schwaches Rascheln, dann brummendes Gelächter und ein leises
Klicken, wie wenn winzige Krallen über eine Tischplatte
laufen.
Juvert sah aus wie
jemand, der kurz davorstand, in eine Schlangengrube geworfen zu
werden. Das Blut aus seiner gebrochenen Nase war auf seiner
Oberlippe angetrocknet, und auf seinen Wangen waren senkrechte
Schlieren, wo Schweiß und Tränen sich den Weg durch den Schmutz auf
seinem Gesicht gebahnt hatten.
»Vorwärts«, befahl
Hawkwood.«
Den widerstrebenden
Juvert vor sich her schiebend, stiegen Lasseur und Hawkwood durch
die Luke.
Es war, als stiege
man in einen Backofen. Mit jeder Stufe war es Hawkwood, als würde
mehr Luft aus seiner Lunge gequetscht. Er erinnerte sich an Murats
Beschreibung des untersten Decks, und dass es verglichen mit dem
Geschützdeck noch wesentlich niedriger war. Trotzdem war er, als er
unten angekommen war, auf diese geringe Höhe nicht vorbereitet; die
Decke war mindestens sechs Zoll niedriger als auf dem Geschützdeck.
Er hörte einen dumpfen Schlag. Die Laterne schaukelte hin und her,
und er hörte Lasseur fluchen, ein Beweis, dass es selbst für
erfahrene Seeleute noch Überraschungen gab. Hardy, der Kapitän der
Victory , sollte einiges über sechs Fuß
groß gewesen sein. Weiß der Himmel, wie der klargekommen war. Der
Mann muss ja ständig blaue Flecken gehabt haben.
Hawkwood vermutete,
dass seine Ankunft sich herumgesprochen hatte, sowie Juvert seinen
Fuß auf die Treppe gesetzt hatte. Das Flüstern, das er vorhin zu
hören glaubte, hatte zugenommen, als die Nachricht von seiner
Ankunft sich auf dem Deck verbreitete. Es klang wie Blätterrauschen
im Wind. Wenn das Schiff noch seetüchtig gewesen wäre, hätte dieses
Deck unter dem Wasserspiegel gelegen, ohne jede Zufuhr von frischer
Luft oder natürlichem Licht. Aber Hawkwood hatte vom Boot aus
gesehen, dass man auf Höhe dieses Decks Fensteröffnungen in den
Schiffsrumpf gesägt hatte. Sie waren kleiner als die
Geschützöffnungen auf dem Deck darüber, ebenfalls viereckig und mit
Eisenstäben vergittert, aber dennoch groß genug, dass Tageslicht
einfiel, wie Hawkwood erleichtert feststellte. Er wäre nicht gern
im Dunkeln hier herumgeirrt, mit nichts weiter als einer Laterne
als Lichtquelle.
Das Geschützdeck
ähnelte einem Keller, doch dieses Deck hier war eher wie eine
Katakombe. Wieder hörte er Lasseur leise fluchen und dachte daran,
wie der Privateer ihm von seiner Reise auf einem Sklavenschiff vor
Südafrika erzählt hatte. Es schien, als durchlebte er diese
Abenteuer jetzt wieder. Die Hitze allein wäre schon genug gewesen,
um die Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Sie war erstickend,
viel schlimmer als auf dem Geschützdeck, und die feuchte Luft war
unerträglich. Hawkwoods Hemd war vom Schweiß durchnässt, auf seiner
Haut kribbelte es unangenehm.
Wenn man Charbonneau
Glauben schenken durfte, dann zogen die Römer die Dunkelheit vor.
Doch das schien nicht ganz zu stimmen, wie die offenen Bullaugen
bewiesen, außerdem sah Hawkwood auch Laternenlicht. Er überlegte,
ob es nicht eher die Angst der Römer und Rafalés vor Außenseitern
war, die sie praktisch nachtaktiv gemacht hatte, als ihre
angebliche Vorliebe für die Dunkelheit.
Als er einen Blick
auf das dämmerige Deck warf, erkannte er grob gezimmerte Bänke und
Reihen von Schlafpritschen. Viele der Männer, die dort lagen, waren
nackt. Sie lagen dicht aneinandergedrängt wie Löffel in einer
Schublade, ihre Haut war leichengrau. Andere, die noch Reste von
Kleidung anhatten, erinnerten an Vogelscheuchen, während
diejenigen, die ihre Decken wie Togen trugen, eher Nachtfaltern
ähnelten, die vor dem dunklen Hintergrund verschwanden oder um die
flackernden Kerzen herumhockten, wo sie mit spinnendürren Fingern
Karten spielten.
Hawkwood, dem das
Hemd am Körper klebte, fing an, die nackten Männer zu beneiden. Es
wurde immer schwerer, hier zu atmen. Nun verstand er auch das leise
Klappern von vorhin, und es ärgerte ihn, nicht gleich erkannt zu
haben, dass es sich um hölzerne und knöcherne Würfel handelte, die
über eine Tischplatte rollten. Selbst nackt und halbverhungert
waren die Rafalés noch immer damit beschäftigt, ihr Leben mit
Glücksspielen zu verbringen. Trotz der Dunkelheit konnte man ihre
wilden Gesichter sehen, die sich um jede kleinste Kerzenflamme
drängten. Jeder Wurf wurde mit aufgeregtem Geschrei oder irrem
Gelächter quittiert. Es war, als ginge man durch die Korridore
eines Irrenhauses.
Köpfe drehten sich
nach den Eindringlingen um. Auf einigen Gesichtern lag unverhohlene
Feindseligkeit. Andere schienen sich eher zu fürchten, weil man
ihren Bereich betreten hatte. Einige der Männer auf den
Schlafpritschen, die sich inmitten dieses Elends einen winzigen
Funken von Anstand bewahrt hatten, rollten sich zusammen und
versuchten, sich mit ihren kümmerlichen Fetzen zuzudecken. Die
anderen drehten sich weg und hofften, in der Dunkelheit unsichtbar
zu werden.
Charbonneau hatte
die Bewohner des untersten Decks Tiere genannt. Selbst wenn man
Zugeständnisse an sein Vorurteil machte, schien das ein hartes
Urteil, aber wenn man sich hier umsah, musste man ihm Recht geben.
Während Hawkwood auf dem Deck weiterging, drehte sich ihm der Magen
um beim Gestank und Anblick der Gefangenen, die hier in ihrem
eigenen Dreck lagen.
»Hier würde ich
nicht mal einen Hund halten wollen«, flüsterte Lasseur
entsetzt.
Es schien
unvorstellbar, dass Menschen sich so degradieren konnten. Hawkwood
fragte sich, ob es britischen Gefangenen in französischen
Gefängnissen wohl ebenso ging. Er wusste nicht, ob die Franzosen
dafür auch Schiffe benutzten. Er wusste, es gab Festungen, die zu
Gefängnissen geworden waren; viele davon waren im Norden, bei
Verdun, Quimper und Arras. Waren die Zustände dort so schlimm wie
hier? Man musste doch vermuten, dass jeder französische Gefangene,
dem die Flucht gelungen war, keine Zeit verschwenden würde, um die
brutalen Bedingungen publik zu machen, unter denen er festgehalten
worden war. Und man konnte sich vorstellen, dass die Franzosen
ihrerseits dafür sorgen würden, dass die Briten im Gegenzug mit
derselben Verachtung behandelt wurden.
Wie viele Soldaten
hatte Hawkwood immer einen schnellen Tod auf dem Schlachtfeld für
weitaus wünschenswerter gehalten, als verwundet vom Feldchirurgen
aufgeschnitten und begutachtet zu werden, um dann langsam und
schmerzvoll als Krüppel zu sterben. Jetzt, tief gebückt und von
jämmerlichstem Elend umgeben, erkannte er, dass es noch schlimmere
Schicksale gab als das Messer des Chirurgen. Gefangen genommen zu
werden und an einem Ort wie diesem eingesperrt zu sein – das war
auch eine Art von Tod; ein ganz langsamer, allmählicher Tod. Und
das verdiente kein Mensch, egal auf welcher Seite er
kämpfte.
Während Hawkwood
sich unter den Deckenbalken weitertastete und versuchte, keine
weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bemerkte er einige
dunkle Gegenstände, die an die Stützpfeiler genagelt waren.
Neugierig blieb er stehen. Lasseur hob die Laterne höher, und
Hawkwood erkannte, dass er vor Rattenfellen stand, an denen noch
Ohren und Schwänze waren. Was hatte Charbonneau gesagt?
Selbst die Ratten sind vor ihnen nicht
sicher. Hawkwood überlegte, wie Ratte wohl schmecken mochte.
Angewidert drehte er sich weg.
Sie hatten fast den
Bug erreicht. Vor ihnen ragte stabil und zuverlässig der untere
Teil des Fockmastes aus dem Deck. Hier war es nicht so überfüllt
wie weiter hinten, stellte Hawkwood verwundert fest. Fast schien
es, als wäre der Mast so etwas wie ein Totempfahl, den die meisten
der Rafalés als eine Art Grenze respektierten, hinter die man nicht
ging.
Hawkwood merkte
plötzlich, wie ihm der Rücken wehtat, die Folge des ständigen
Bückens. Er versuchte, den Schmerz zu lindern, indem er sich
vorsichtig aufrichtete, erwartete aber gleichzeitig, dass das wenig
Sinn haben würde. Doch erstaunt stellte er fest, dass die
Deckenhöhe zwischen den Querbalken etwas großzügiger war. Er konnte
zwar noch immer nicht ganz gerade stehen, aber es war entschieden
besser als die jämmerliche Höhe am unteren Ende der
Treppe.
Juvert blieb stehen.
Plötzlich schien ihn wieder die Angst zu packen. Hawkwood spähte
angestrengt nach vorn. Er hörte Stimmen, aber in dem Teil des Bugs,
der vor dem Fockmast lag, herrschte fast undurchdringliche
Dunkelheit und er konnte nichts erkennen. Doch dann hörte er ein
brutales Gelächter und sah näher hin. Er brauchte einen Moment, bis
er erkannte, dass dort eine dicke Schicht von Decken wie ein
Vorhang vom Balken hing, wodurch der Raum am Bug vom Rest des Decks
praktisch abgetrennt war. In der Dunkelheit hinter dem Vorhang
hörte man Sprechen und das Klappern von Würfeln.
Lasseur hob die
Laterne. Er nickte. Hawkwood ergriff Juverts Arm und zog eine Seite
des Vorhangs zurück.
Während seiner Zeit
in der Armee hatte Hawkwood so manche Seereise mitgemacht. Die
Bedingungen waren fast ausnahmslos ziemlich primitiv gewesen. Aber
er konnte sich noch gut an die Transportschiffe erinnern und hatte
eine ungefähre Ahnung von ihrem Grundriss unter Deck. Im früheren
Leben der Rapacious war der Raum am Bug
wahrscheinlich vom Bootsmann und vom Schiffszimmermann bewohnt
gewesen, der hier sicher auch seine Werkstatt hatte. Außerdem hätte
hier das Munitionslager der Kanoniere gelegen. Dieser ganze Teil
des untersten Decks wäre durch ein gewölbtes Schott vom restlichen
Deck getrennt gewesen. Auf der Rapacious war dieses Schott jetzt entfernt worden.
Kabinen und Vorratslager waren dunkle Nischen, die nur von Laternen
beleuchtet waren, einige waren hinter aufgehängten Decken völlig
verborgen. Hawkwood sah, dass man auch vor die Fensteröffnungen
Fetzen von Decken gehängt hatte, damit weniger Tageslicht durch die
Gitter kam.
Hier hielten sich
vielleicht zehn bis zwölf Männer auf, die an den Tischen saßen oder
sich auf den Pritschen ausstreckten, die meisten von ihnen trugen
die gelbe Gefangenenkluft, doch einige trugen auch eine Decke als
Toga. Zwei der Männer waren mit einem Würfelspiel beschäftigt.
Weitere vier spielten an einem anderen Tisch Karten – Drogue, wie Hawkwood beim Anblick zweier Männer
schloss, die sich Holzklammern auf die Nase geklemmt hatten und den
Ausgang der nächsten Runde abwarteten.
Hawkwood fand, dass
es hier gar nicht so viel anders aussah als in den Schnapsspelunken
der Slums. Der einzige Unterschied war, dass hier ein halbes
Dutzend Hängematten an den Deckenbalken baumelten.
Als Hawkwood und
Lasseur eintraten, hörten die Gespräche schlagartig auf. Am
Kartentisch setzten sich die beiden Männer, die am Verlieren waren,
aufrecht hin und entfernten heimlich ihre
Nasenklammern.
Hawkwood sprach
zuerst. »Wir suchen Matisse.«
Niemand antwortete,
und einige der Männer beäugten sie argwöhnisch.
»Na, habt ihr die
Sprache verloren?« Hawkwood packte Juvert beim Ellbogen. »Welcher
ist es?«
Juvert wand sich.
Sein Mund war ein stummes O. Er schlotterte vor Angst, aber ehe er
antworten konnte, standen einige der Männer auf. Ihre Hände waren
nicht leer. Jeder war mit etwas bewaffnet, das wie eine schwere
Metallklinge aussah, ungefähr achtzehn Zoll lang.
Nun, Fouchet hat uns ja gewarnt, dachte Hawkwood.
Aber Säbel? Er hörte, wie Lasseur etwas
Obszönes murmelte.
Die Bänke wurden
geräuschvoll zurückgestoßen. Würfel und Karten waren
vergessen.
Einer der
Bewaffneten schlurfte vor. Es war ein massiger Kerl mit krummen
Beinen und niedriger Stirn. »Was habt ihr hier zu
schaffen?«
Das Licht der
Laterne beleuchtete sein Gesicht. Ein großes, birnenförmiges
Muttermal, dunkel wie ein Leberfleck, bedeckte seine rechte Wange
bis auf den Unterkiefer hinab. Irgendwann war auch seine Nase
einmal gebrochen gewesen. Sein Haar war lang und fettig, doch
mitten auf dem Kopf war er kahl, die runde Glatze sah aus wie eine
Mönchstonsur.
Hawkwood warf einen
verstohlenen Blick auf die Klinge, die der Mann in der Hand hatte.
Sie sah aus wie ein Fassreifen, den man flach gehämmert hatte. Die
Klinge war alles andere als scharf, sah aber aus, als könne sie
trotzdem noch erheblichen Schaden anrichten.
»Bist du
Matisse?«
Der Mann sah
überhaupt nicht königlich aus.
»Ich bin
Dupin.«
»Dann bist du nur
der Affe. Wir suchen den Leierkastenmann.«
Aus der Nähe sah
Hawkwood, dass Dupins Kluft etwas anders aussah. Neben den
schwarzen Pfeilen und den Nummern auf den Ärmeln und Hosenbeinen
war der Stoff mit einem unregelmäßigen Muster aus kleinen schwarzen
Punkten übersät. Einige der Punkte bewegten sich. Dupins Kluft
wimmelte von Läusen. Hawkwoods Haut fing an zu jucken. Er
unterdrückte den Drang, sich zu kratzen und schluckte den sauren
Geschmack herunter, der in seiner Kehle aufgestiegen
war.
Lasseur hatte das
Ungeziefer auch gesehen. Die Laterne beleuchtete sein angewidertes
Gesicht. Unwillkürlich schüttelte er sich.
Hawkwood sagte:
»Richte seiner Majestät aus, dass die Captains Hooper und Lasseur
hier sind. Er wird schon wissen, worum es sich
handelt.«
»Und zwar schnell«,
fügte Lasseur hinzu. »Sonst kannst du gleich Platz
machen.«
Dupin starrte auf
Juverts verletztes Gesicht. Dann drehte er sich um. Er deutete den
Männern hinter sich mit einer Kopfbewegung an, zur Seite zu treten,
worauf im Hintergrund ein weiterer Tisch sichtbar wurde. Um ihn
saßen fünf Männer. Soweit Hawkwood feststellen konnte, gab es hier
also keinen Thron, nur Bänke. Es gab auch keine Krone oder
Staatsgewänder. Auf dem Tisch standen Krüge und Flaschen, daneben
Teller mit Brot- und Käseresten.
Die Gestalt in der
Mitte des Tisches beugte sich vor und Hawkwood sah einen sauber
rasierten, ovalen Kopf mit einem völlig farblosen
Gesicht.
Lasseur schnappte
nach Luft. Es war keine Reaktion auf den kahlen Kopf des Mannes,
sondern auf seine Augen. Sie hatten, soweit man sehen konnte, keine
Pupillen. In der Mitte waren die Augen nicht dunkel, sondern rosa
wie das Innere einer Muschel, als hätte man einen Fingerhut voll
Blut in einen Teller Milch gekippt. Noch seltsamer war, dass dieser
Kopf irgendwie körperlos erschien, denn der Rest der sitzenden
Gestalt war vom Hals abwärts völlig in Schwarz gehüllt, bis auf
einen weißen, dünnen Arm, den er lässig um die Schulter des kleinen
blonden Jungen gelegt hatte, der neben ihm saß.
»Matisse.« Lasseur
flüsterte den Namen wie eine Obszönität. Er machte einen Schritt
auf ihn zu, aber sofort wurde ihm der Weg verstellt.
Die dünnen,
blutleeren Lippen sprachen.
»Schon gut, Dupin.
Du kannst ihn vorbeilassen. Wir haben sie erwartet.«