15
Hawkwood rümpfte die
Nase. Pisse, man konnte den Geruch nicht mit etwas anderem
verwechseln. Er war da und beleidigte mit jedem Atemzug seine Nase.
Da das Atmen unvermeidlich war, konnte er nicht viel mehr tun, als
den Geruch so weit wie möglich zu ignorieren. Das war schwierig,
denn er kam von dem Mann, der neben ihm saß. Es war merkwürdig,
dachte Hawkwood, denn ehe er den Gestank des Hulk von sich selbst
abgewaschen hatte, hätte er es wahrscheinlich kaum gemerkt. Jetzt
musste er alle Willenskraft aufbringen, um sich nicht die Nase
zuzuhalten.
Die
schwarzgekleidete Gestalt merkte, dass Hawkwood angewidert war, und
sah ihn an. »Das bin ich nicht. Es ist die verdammte Farbe. Und
wenn Sie denken, ich stinke, dann schätzen Sie sich glücklich, dass
ich neben Ihnen sitze und nicht Billy dort hinten.« Sein Daumen
zeigte nach hinten. »Denn der stinkt noch viel
schlimmer!«
Lasseur, der seinen
Platz geräumt und sich nach hinten zu den Särgen gesetzt hatte,
verzog ebenfalls das Gesicht.
Hawkwoods Kenntnis
der Alchemie ging gegen null. Er hatte keine Ahnung, wodurch die
Farbe in der Dunkelheit leuchtete, und es interessierte ihn auch
herzlich wenig, obwohl er zugeben musste, dass die Wirkung ziemlich
dramatisch war, besonders wenn es unerwartet kam. Wahrscheinlich
hatte Asa Higgs irgend so einen Spuk erwartet, aber selbst er war
vor Schreck fast vom Bock gefallen, zum Gaudium der beiden
Gespenster, als sie sahen, wer da im Wagen saß.
Die Totenköpfe waren
mit einer wachsartigen Masse auf eng anliegende schwarze Kapuzen
gemalt, ähnlich denen, wie sie Scharfrichter trugen. Im Mondlicht
und umrahmt von den Falten des Mönchsgewandes war der Effekt
spektakulär und für Uneingeweihte grauenvoll. Ganz bestimmt war es
ein wirksames Mittel, um unangemeldete Besucher, die vielleicht
eine gewisse Neugier trieb, schnell wieder in die Flucht zu
schlagen.
Aber
wozu?
Der Weg ging stetig
bergauf. Schließlich sah Hawkwood ein Licht durch die Bäume
schimmern. Man sah ein Gebäude, aber die Umrisse waren noch
unscharf. Erst als sie um die letzte Kurve bogen und der Weg wieder
eben wurde, erkannte er, was es war.
Das Torhaus mit den
kleinen Zinnen sah alt aus, ebenso die hohe graue Steinmauer, die
sich zu beiden Seiten anschloss. Mitten durch das Gebäude führte
ein normannischer Torbogen. Zwei Männer in Arbeitskleidung, aber
bewaffnet mit Keulen und Pistolen, bewachten das Tor. Der
übelriechende Mönch nickte kurz und die Wächter traten zur Seite
und ließen sie passieren.
Der Totengräber
schnalzte mit der Zunge und trieb das Pferd wieder an. »Willkommen
im Haunt.«
»Haunt?«,
wiederholte Lasseur hinten.
»Schlupfwinkel der
Mönche. Wenigstens nennen wir es jetzt so. Früher war es das
Kloster St. Anselm; das meiste ist verfallen, aber einiges steht
noch. Sie werden es gleich selbst sehen. Hat im Laufe der Zeit
schon viele verschiedene Eigentümer gehabt. Ein Squire aus der
Gegend hatte sich das Haus gebaut und hier gewohnt. Nach seinem Tod
war es noch eine Weile’ne Farm, dann hat Mr. Morgan es übernommen.
Der hat ihm auch den Namen gegeben, weil man sich Geschichten
erzählt, dass hier Mönche rumspuken sollen. So hält er sich
Neugierige vom Leib, die hier rumschnüffeln wollen. Immer wenn wir
nachts Ware befördern, müssen Typen wie Del hier rumkaspern und
allen Leuten Angst und Schrecken einjagen.«
Der falsche Mönch
grinste. Er hatte einen sehr wirren Lockenkopf, ein mageres
Gesicht, das an ein Frettchen erinnerte und Zähne wie ein Maultier.
Fast wäre Hawkwood die Bemerkung entschlüpft, dass er doch
eigentlich gar keine Maske brauche.
Der Mönch warf dem
Totengräber einen missbilligenden Blick zu. »Du brauchst gar nicht
so zu feixen, Asa Higgs. Es funktioniert, und das weißt du auch.
Ich habe gesehen, wie Leute sich nassgemacht haben, wenn wir ihnen
erschienen sind. Ein paar sind sogar vor Angst tot
umgefallen.«
»Das wird wohl eher
an eurem verdammten Gestank gelegen haben«, murmelte
Higgs.
»Ich hab’s dir doch
gesagt«, protestierte Del beleidigt, »das bin ich nicht, das ist
diese verfluchte Farbe.«
Während Del und der
Totengräber die phosphoreszierenden Eigenschaften von Pisse und
Pigmenten erörterten, sahen Hawkwood und Lasseur sich skeptisch an.
Jeder von ihnen wusste, dass auch der andere an das Gespräch mit
Jess Flynn und Tom Gadd zurück dachte.
Ein Gebäude tauchte
auf, aber in der Dunkelheit war es schwer, Einzelheiten zu
erkennen. Hawkwood nahm an, dass es sich um das Hauptgebäude
handeln müsse. Er sah solide Mauern, Giebelfenster und hohe
Schornsteine. Hinter dem Haus erkannte er die Umrisse weiterer
Gebäude, einige davon schienen intakt zu sein, während andere ganz
offenbar Ruinen waren. Der Größe nach mussten es ehemalige
Klostergebäude sein. Er dachte wieder an das Torhaus und die Mauer
und überlegte, wie lang diese wohl sein mochte. Das wiederum warf
die Frage auf, wie viele weitere Wachen hier in den Wäldern
umherstreiften, denn wenn dies auch ursprünglich einmal ein Ort des
Gebets und der Meditation gewesen sein mochte, jetzt war es etwas
ganz anderes. Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Haunt alle
Merkmale eines bewachten Geländes.
Der Totengräber fuhr
auf den Hof und hielt den Wagen vor einer Reihe von Holztüren an,
die zum Teil offen standen. Licht fiel nach draußen, in der Luft
hing Stallgeruch.
Del kletterte vom
Wagen, wobei er fast über den Saum seiner Kutte gestolpert wäre.
»Der Boss wollte, dass ich euch gleich zu ihm bringe. Wir
probieren’s erst mal hier. Eine Stute ist trächtig. Er glaubt, dass
das Fohlen heute Nacht kommen wird. Am besten wartest du hier,
Asa.« Er winkte Hawkwood und Lasseur. »Ihr beide kommt
mit.«
Del ging voran in
die Ställe. Zwei Männer standen ganz hinten vor einer Box. Als sie
die Schritte hörten, sahen sie sich um. Der eine ging gebeugt, er
hatte schütteres Haar und krumme Beine. Er trug eine dunkle Weste
und eine abgewetzte Lederschürze und hielt eine Laterne in der
Hand. Der andere Mann war größer und schlanker, sein
zurückgekämmtes Haar war silbergrau, genau wie sein Bart, der kurz
und säuberlich gestutzt war. Mit seinem gefurchten Gesicht und den
blauen Augen hätte er ein distinguierter Rechtsanwalt oder ein
gütiger Onkel sein können, wenn da nicht der verkürzte Arm gewesen
wäre, der gleich unter dem Ellbogen in einer Ledermanschette
endete.
Dels Blick fiel auf
den graubärtigen Mann. »Mr. Pepper.« Sein Ton war äußerst
unterwürfig.
»Del«, sagte Pepper.
In seiner Stimme war keine Spur von Wärme.
Wohl doch kein so gütiger Onkel, dachte Hawkwood
und fragte sich, wer Pepper wohl sein mochte und ob der verlorene
Unterarm bedeutete, dass er im Krieg gewesen war.
»Asa hat sie
mitgebracht«, sagte Del und deutete mit dem Daumen über seine
Schulter.
In Peppers blauen
Augen zeigte sich ein Funken von Interesse. Er sah Hawkwood und
Lasseur von oben bis unten an. »Und die Fässer?«
»Die sind draußen
auf dem Wagen«, erwiderte Del nervös.
»Gut, dann geh und
hilf Asa beim Abladen. Ihr könnt sie an den gewohnten Platz
stellen.«
Del nickte. Hawkwood
fand, dass er noch immer etwas eingeschüchtert wirkte. Beim Anblick
von Pepper war der Grund nicht schwer zu erraten. Der Mann strahlte
etwas Bösartiges aus, selbst wenn er sich bisher kaum bewegt hatte.
Erleichtert und mit einem schnellen Nicken in Richtung der beiden
Männer verschwand Del mit wehender Kutte.
»Wo ist die
verdammte Laterne, Thaddäus?«
Die Frage kam von
jemandem, der hinter Pepper stand.
Die Stute stand mit
gespreizten Beinen in der Box, ihre Flanken glänzten vor Schweiß.
Der aufgetriebene Leib sprach für sich. Ein untersetzter,
breitschultriger Mann mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar und
dunklem Bart, der die Ärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt hatte,
streichelte zärtlich den Hals des Tieres. Er hatte Hawkwoods und
Lasseurs Ankunft bisher nicht zur Kenntnis genommen.
Der Mann und Pepper
gingen wieder in die Box und hielten die Laterne hoch. Die Stute
sah sich um. Ihre sanften braunen Augen leuchteten im Kerzenlicht.
Sie trat ruhelos von einem Bein aufs andere und scharrte im
Stroh.
»Es wird nicht mehr
lange dauern«, sagte der dunkelhaarige Mann. Er trat schnell
zurück. »Machen wir ihr Platz.«
Als habe sie die
Worte verstanden, spannte sich die Stute plötzlich an und wieherte
leise, worauf ein Strom von Fruchtwasser aus der Geburtsöffnung
schoss, über ihre Hinterbeine lief und das Stroh in der Box
durchnässte. Mit angespannten Bauchmuskeln und immer noch
ausströmendem Wasser ging die Stute in die Knie und legte sich auf
die Seite. Der Strom von Fruchtwasser schien nicht enden zu wollen.
Schließlich, nachdem sie mehrere Gallonen verloren hatte, versiegte
die Flut, und die Stute kam wieder zu Atem. In ihrem Bauch regte
sich etwas.
»Das Fohlen dreht
sich«, sagte der bärtige Mann.
Die Stute legte den
Kopf aufs Stroh, als wolle sie ihre Kräfte sammeln. Dann hob sie
den Kopf und wieherte leise. Ihre Hinterbeine zitterten und unter
ihrem Schwanz erschien eine kleine weiße Blase. Die Männer
beobachteten, wie der Ballon sich weitete und länger wurde. In
dieser Membran sah man zwei dunkle Gliedmaßen, lang und dünn wie
Stöcke. Hawkwood erkannte, dass es die Vorderbeine sein mussten.
Die Stute beruhigte sich wieder, aber sie atmete schwer, und ihr
Leib arbeitete mit. Sie presste wieder. Etwas Dreieckiges erschien,
das auf den Beinen lag. Es war der Kopf des Fohlens. Die
Fruchtblase, die von Adern durchzogen war, wurde weiter in die
Länge gezogen, bis sie plötzlich zerriss und ein kleiner Huf zum
Vorschein kam. Die Stute ruhte sich einen Moment aus, dann presste
sie wieder mit aller Macht. Es passierte nichts. Sie versuchte es
wieder. Immer noch keine Bewegung.
»Komm, mein
Mädchen«, ermunterte sie der bärtige Mann.
Die Stute presste
wieder, doch der Kopf und die Vorderbeine des Fohlens rührten sich
nicht vom Fleck. Der Bärtige fluchte leise.
»Sieht aus, als ob’s
festsitzt, Mr. Morgan«, sagte der Mann mit der Laterne. »Wollen
wir’n bisschen nachhelfen?«
Morgan sah auf die
Stute hinunter. Seine Lippen bewegten sich, und Hawkwood fragte
sich, ob er wohl betete.
Die Hinterbeine der
Stute schlugen erschöpft gegen das Stroh, während sie einen
erneuten Versuch machte, das Fohlen auszustoßen. Sie schnaubte
hilflos und legte den Kopf wieder hin.
Morgan trat in die
Box. »Halt mal das Licht hoch.«
Die Laterne wurde
hoch gehalten, und Morgan hockte sich vor das Hinterteil der Stute.
Er schob den Schwanz zur Seite und ergriff die Vorderbeine des
Fohlens über den Fesseln. »So, mein Mädchen, jetzt probieren wir’s
noch mal.« Er stemmte sich gegen die Wand und zog
vorsichtig.
Als ob sie wusste,
dass man ihr helfen wollte, presste die Stute abermals, den Kopf
immer noch auf dem Strohlager. Morgan packte fester zu und
veränderte den Winkel etwas, in dem die Vorderfüße des Fohlens
lagen. Die Stute spannte sich wieder an, Morgans Armmuskeln traten
hervor.
Plötzlich lief es
wie Wellen über die Flanken der Stute. Morgan fuhr fort,
gleichmäßig zu ziehen. Zwei schmale Schultern erschienen. Die Stute
presste ein letztes Mal, und Morgan ließ los. Ein paar Sekunden
später lag das Fohlen als nasses Häufchen im Stroh.
Sanft entfernte
Morgan die Membran von Maul und Nase des Fohlens. Das Tier hob den
Kopf und Morgan brummte zufrieden. Vorsichtig, um die Nabelschnur
nicht zu zerreißen, zog Morgan das Fohlen weiter vor, damit die
Stute es sehen konnte. Er stand auf, und als er die Box verlassen
hatte, hatte sich das Fohlen ebenfalls auf den Bauch gedreht und
hob den Kopf. Die Stute erhob sich auf die Knie, schnüffelte an
ihrem Neugeborenen und leckte den Rest der Fruchtblase
weg.
Morgan wischte sich
die Hände mit Stroh ab und sah sich um. »Captains Lasseur und
Hooper, wie ich vermute? Willkommen, meine Herren, ich freue mich,
Sie kennenzulernen. Ich bin Ezekiel Morgan.«
Hawkwood schätzte,
dass Morgan und Pepper etwa gleich alt sein mussten. Aus Peppers
grauem Haar und den Lachfältchen in Morgans Gesicht schloss er,
dass keiner von beiden jünger als fünfzig war, obwohl sie, was
Haltung und Bewegung anbetraf, nicht wie alte Männer wirkten. Wenn
sie nebeneinanderstanden, war der Größenunterschied noch
auffallender. Morgans Kopf reichte gerade bis zu Peppers Schulter.
Im Licht der Laterne waren Morgans Augen die helleren: dunkel,
tiefliegend, intelligent und wachsam.
Morgan warf das
beschmutzte Stroh beiseite. »Entschuldigung, dass ich Ihrer Ankunft
nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmen konnte. Aber wie Sie
sehen, hatte ich hier gerade eine dringende Sache zu erledigen«
Morgan hielt ihnen die Hand hin. Sein Handschlag war fest und immer
noch etwas feucht. Hawkwood fühlte Hornhaut. »Sie haben meinen
Geschäftspartner, Cephus Pepper, bereits kennengelernt?« Morgan
deutete auf den grauhaarigen Mann.
Pepper hielt ihnen
nicht die Hand hin, stattdessen erwiderte er Hawkwoods Blick einige
Sekunden, dann nickte er kurz.
Morgan neigte den
Kopf leicht zur Seite. »Sie haben eine ziemliche Reise hinter sich.
Die Sache in Warden hat uns zu schaffen gemacht. Wir hatten dort
keinen Zwischenfall erwartet.«
»Wir auch nicht«,
sagte Hawkwood. »Wie viele Männer haben Sie verloren?«
»Zum Glück keinen,
aber drei sind verwundet worden.«
»Wir haben gesehen,
wie Isaac fiel«, sagte Lasseur.
Morgan nickte. »Der
hatte Glück. Die Kugel traf ihn an der Schulter, aber er wird
keinen bleibenden Schaden zurückbehalten.«
»Und die
Angreifer?«, fragte Hawkwood. »Waren die hinter uns her oder hinter
der Ware?«
Morgan sah Hawkwood
leicht ironisch an. »Ist schon gut, Captain, Sie können ruhig
schlafen. Die waren hinter der Ware her, nicht hinter Ihnen. Jemand
hat ihnen einen Tipp gegeben. Meine Leute ziehen schon
Erkundigungen ein. Wenn wir wissen, wer es war, werden wir uns um
ihn kümmern.« Morgan neigte den Kopf zur Seite. »Gideon sagte, es
ging um Haaresbreite, Sie hätten das Boot gerade noch
erwischt.«
Hawkwood zuckte die
Schultern. »Besser nass als tot. Was ist mit dem Zoll? Haben die
jemanden verloren? Es wurde viel geschossen. Es sah aus, als wären
auch Dragoner dabei gewesen.«
Morgan runzelte die
Stirn. »Drei Zöllner sind verwundet worden, ein Dragoner ist tot.
Ein Pferd ist auch umgekommen, das ist verdammt schade.« Er sah zur
Box hinüber. »Gute Reitpferde sind knapp.«
Gute Dragoner auch, dachte Hawkwood. »Sie hatten
Verstärkung auf den Klippen.«
»Das haben wir
immer. Es macht sich bezahlt, vorsichtig zu sein. Hat Jessie Flynn
sich gut um Sie gekümmert?«
Hawkwood nickte.
»Wir können nicht klagen. Den Überfall auf dem Weg hierher hätten
wir aber nicht gebraucht. Ihr Mann Higgs bekam ja fast einen
Herzschlag.«
Eine Sekunde lang
schien der bärtige Mann überrascht, doch dann verstand er. »Ach,
Sie meinen unsere Mönchsphantome. Ich muss zugeben, die sind ein
bisschen geschmacklos, aber es funktioniert. Die haben Sie etwas
erschreckt, ja?«
»Nur ihr
Geruch.«
»Ach, das wird unser
Del sein. Würzig, nicht wahr?«
»Also ist’s doch
nicht die Farbe«, sagte Hawkwood.
Morgan zog einen
Mundwinkel hoch. »Nein. Die Farbe wird mit vergorener Pferdepisse
gemacht. Das ist es, was sie zum Leuchten bringt. Aber der Geruch
verliert sich. Nein, das war ganz und gar Del. Deshalb beschäftigen
wir ihn gern an der frischen Luft, möglichst weit weg vom
Haus.«
»Sie machen die
Farbe aus Pferdepisse?«, sagte Lasseur.
Wieder das leicht
spöttische Lächeln auf dem bärtigen Gesicht. »Nicht wir selbst.
Dafür haben wir Leute. Fragen Sie mich nicht, wie die das machen.
Irgendein komplizierter chemischer Prozess.« Morgan verstummte,
dann sagte er: »Ich habe gehört, Sie haben einen ziemlichen Aufruhr
veranstaltet, ehe Sie sich verabschiedet haben.«
Lasseur hob den
Kopf.
Er weiß von Seth Tyler, war der erste Gedanke, der
Hawkwood durch den Kopf schoss. Er wusste, dass Lasseur dasselbe
dachte, obwohl das Gesicht des Privateers keinerlei Gefühlsregung
zeigte.
Wie hatte er es erfahren? Hatte Tyler es ihm
gesagt?
Doch dann sprach
Morgan weiter: »Es war ein Glück, dass wir Sie rausholen konnten,
ehe Sie verlegt wurden«, und den Männern wurde klar, dass Morgan
von den Ereignissen auf der Rapacious
sprach.
Hawkwood atmete
unhörbar auf. Doch gleichzeitig wunderte er sich, woher Morgan
wissen konnte, was auf dem Hulk vorgefallen war. Der Mann hatte
offenbar ein weit verzweigtes Netz von Informanten.
»Sie dürfen nicht
alles glauben, was Sie hören«, sagte Lasseur. Sein Gesicht blieb
völlig ausdruckslos.
Morgan hob den Kopf.
»Oh, das tue ich auch nicht, Captain, aber Sie sollten sich auch
nicht unterschätzen.« Er sah Hawkwood an. »Und Ihnen möchte ich
dasselbe sagen, Captain Hooper, aber wenn Sie mir verzeihen –
Bescheidenheit ist nicht gerade die Eigenschaft, die mir bei
Amerikanern zuerst einfällt, jedenfalls wenn ich nach denen gehe,
die ich kennengelernt habe.«
»Haben Sie denn
viele von uns kennengelernt?«
»Ein paar. Und ich
muss sagen, sie sind immer so erfrischend frei heraus gewesen, wenn
es um ihre eigenen Fähigkeiten ging. Ich weiß nicht, ob man es
Selbstbewusstsein nennen soll oder ob es einfach eine verdammte
Arroganz ist, aber auf jeden Fall ist es eine beeindruckende
Eigenschaft. Damit haben Sie die Revolution gewonnen und einen neuen Staat gegründet. Dagegen gibt’s
nichts einzuwenden.«
»Wir haben es eben
nur nicht gern, wenn jemand glaubt, uns sagen zu müssen, was wir zu
tun haben«, sagte Hawkwood.
Morgans dunkle Augen
blitzten. »Ha! Hast du das gehört, Cephus? Aus dem machen wir noch
einen richtigen Schmuggler!«
Pepper sagte nichts.
Langsam wurde klar, dass Morgans Leutnant kein Freund vieler Worte
war.
»Wie geht’s unserem
Neuankömmling, Thaddäus?«, wandte Morgan sich an den Stallburschen,
der sich noch immer mit der Stute und dem Fohlen beschäftigte und
von der Unterhaltung hinter sich offenbar nichts mitbekommen
hatte.
»Sehr gut, Mr.
Morgan. Die Nachgeburt kommt auch gleich.«
»Gut. Behalt sie im
Auge.« Morgan wandte sich wieder um.
»Warum sind wir
hier?«, fragte Hawkwood.
Die Frage schien
Morgan unvorbereitet zu treffen. Pepper kniff die Augen
zusammen.
Doch Morgan lächelte
schon wieder. »Mein Gott, Ihnen kann man nichts vormachen, Captain
Hooper, was? Macht nichts, ich mag ehrliche Menschen. Sie sind
hier, weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte.«
Lasseur zog die
Brauen zusammen. »Was für einen Vorschlag?«
»Wenn alles gutgeht,
einen äußerst profitablen.«
»Was ist mit unserer
Überfahrt nach Frankreich?«, fragte Hawkwood.
»Keine Sorge, Sie
werden beide heil und gesund dort ankommen, nur mit einem kleinen
Extrageschenk, damit Sie sich an uns erinnern.«
»Und was sollte das
sein?«
Morgan sah aus, als
amüsierten ihn Hawkwoods direkte Fragen noch immer. »Alles zu
seiner Zeit, Captain.« Er zog eine Uhr aus der Westentasche. »Es
ist zu spät, um jetzt Einzelheiten zu besprechen. Ich habe hier
noch zu tun, und sie hatten auch einen langen Tag. Warum ruhen Sie
sich jetzt nicht aus und wir reden am Morgen darüber? Ich werde
dann alles erklären, dann brauche ich es auch nicht zweimal zu
machen. Was sagen Sie dazu?«
Haben wir eine Wahl?, dachte Hawkwood und
überlegte, was Morgan wohl damit gemeint haben könnte, er müsse es
dann nicht zweimal erklären.
Ehe einer von ihnen
eine Chance hatte, zu antworten, nickte Morgan zufrieden. »Also
abgemacht. Cephus wird Ihnen Ihre Zelle zeigen. Es ist schon in
Ordnung, Captain«, sagte er lachend, als er Lasseurs erschrockenes
Gesicht sah. »Nur ein kleiner Scherz von mir. Sie sind ganz sicher.
Hier gibt es keine Gefängniswärter.« Morgan wandte sich um, dann
blieb er stehen, als sei ihm eben etwas eingefallen. »Ich würde
Ihnen aber raten – obwohl Sie sich natürlich frei bewegen können -,
dass es am besten wäre, wenn Sie nicht zu weit gehen würden. Wie
Sie gesehen haben, habe ich Männer, die die äußere Mauer bewachen,
und nachdem ich keine Mühe gescheut habe, Sie bis hierher zu
bringen, wäre es doch verdammt schade, wenn Sie zu weit wanderten
und einer meiner Männer Ihnen eine Kugel durch den Kopf jagte, weil
er Sie für einen Einbrecher hält.«
Morgan lachte über
Lasseur Gesichtsausdruck, aber seine Augen blickten finster. »Es
sind schon ganz andere Dinge hier passiert, Captain, glauben Sie
mir.«
Sie kamen aus dem
Stall und sahen, dass der Wagen verschwunden war. Hawkwood
vermutete, dass Asa Higgs und Del irgendwo die Fässer abluden;
entweder das, oder der Totengräber war bereits wieder auf dem
Rückweg zur Küste, während Del zusammen mit Billy, seinem ebenso
kräftig duftenden Kumpel, wieder die Wälder unsicher
machte.
Eine Laterne in der
Hand, führte sie der wortkarge Pepper über den Hof und um mehrere
Ecken, bis sie schließlich einen Innenhof erreichten, der von einem
Kreuzgang umschlossen war. Dieser Teil des Hauses war sehr alt und
offenbar ein Überrest des ursprünglichen Klosters. Die alten
Steinplatten unter den Bögen des Kreuzganges glänzten im Mondlicht
wie die Oberfläche eines Teiches. Es war nicht schwer, sich Mönche
in dunklen Kutten vorzustellen, die hier stumm meditierend
umhergewandelt waren, wobei jeder ihrer frommen Schritte im Laufe
der Jahrhunderte die Steine ein wenig mehr abgenutzt
hatte.
Pepper hielt sich
nicht lange auf, sondern führte sie in der Ecke des Kreuzganges
durch einen Torbogen. Sie gingen einen dunklen Korridor entlang bis
zu einer niedrigen Holztür. Als Pepper die Tür aufstieß und
zurücktrat, verstanden sie Morgans kleinen Scherz.
Die Zelle, denn um
eine solche hatte es sich früher sicher gehandelt, war einfach
möbliert und bot gerade genug Platz für zwei schmale Pritschen,
einen Stuhl und einen kleinen Tisch, auf dem ein Leuchter mit einem
Kerzenstummel stand, daneben lagen ein paar Wachsstöcke. Gegenüber
der Tür war hoch oben in der Wand ein kleines Fenster, das kaum
diesen Namen verdiente, und durch das ein schmaler Mondstrahl fiel.
Das Einzige, was fehlte, war das Kruzifix an der Wand.
Pepper nahm einen
der Wachsstöcke und übertrug damit das Licht von der Laterne auf
den Leuchter. »Der Schlafsaal ist voll, deshalb sind Sie hier. Sie
werden’s ganz bequem haben. Denken Sie daran, was Mr. Morgan Ihnen
gesagt hat. Bleiben Sie dicht am Haus, es ist zu Ihrer eigenen
Sicherheit. Hier den Korridor entlang gibt’s einen Waschraum und
ein Klo.«
Ohne eine Antwort
abzuwarten, verließ er den Raum und machte die Tür hinter sich zu.
Hawkwood und Lasseur standen da und sahen sich an. Durch die dicke
Holztür konnten sie nicht hören, ob Pepper weggegangen war, oder ob
er, das Ohr an die Tür gelegt, noch draußen stand.
Hawkwood probierte
die Türklinke. Zwar hatte er nicht gehört, dass ein Schlüssel
umgedreht worden war, aber es hätte ihn nicht überrascht, wenn
Pepper sie eingeschlossen hätte. Die Tür ließ sich ohne Mühe
öffnen. Der Gang draußen war dunkel, leer und still.
»Nun ja«, sagte
Lasseur und probierte die Pritsche aus. Er verzog schmerzhaft das
Gesicht, als er merkte, wie dünn der Strohsack war. »Das Abenteuer
geht weiter. Was hältst du von Monsieur Morgan?«
»Ich glaube, dass
man jemand, der sich mit einem Haufen bewaffneter Wachen umgibt,
ernst nehmen sollte.«
Lasseur lachte
leise, das Kerzenlicht spielte auf seinem aristokratischen Gesicht.
»Und Pepper?«
»Pepper ist
gefährlich«, sagte Hawkwood ohne zu zögern.
Lasseur dachte eine
Weile darüber nach. »Dieser Vorschlag, von dem Morgan sprach, was
glaubst du, was das sein wird?«
»Auf jeden Fall
werden wir nichts umsonst bekommen«, sagte Hawkwood, »so viel ist
klar.«
Lasseur sah sich im
Raum um. »Also schlafen wir drüber.«
Hawkwood streckte
sich auf der zweiten Pritsche aus und verschränkte die Hände hinter
dem Kopf.
»Zunächst mal«,
sagte er.
Morgengrauen.
Hawkwood warf seine
Decke zur Seite, setzte sich auf und zog die Stiefel an. Er sah zu
Lasseur hinüber. Der Franzose hatte den Kopf zur Wand gedreht und
schien noch zu schlafen.
Hawkwood nahm seine
Jacke und verließ die Zelle. Er ging zum Klo und pinkelte, dann
wusch er sich an einem der Steinbecken im Waschraum das Gesicht mit
kaltem Wasser. Er fuhr sich mit den Fingern über das stoppelige
Kinn und überlegte kurz, ob er sich einen Bart wachsen lassen
sollte. Doch dann stellte er sich Maddie Teagues Gesicht vor, wenn
er mit Vollbart bei ihr auftauchen würde. Doch keine so gute Idee,
entschied er.
Er zog die Jacke
wieder an. Zeit für einen Morgenspaziergang.
Er ging den Weg zum
Kreuzgang zurück, dann verließ er den Schutz der Gewölbe, trat aus
dem Hauptgebäude und ging nach draußen. Er hatte den Kragen seiner
Jacke hochgestellt, die Hände in die Taschen gesteckt und war für
alle gut sichtbar. Gemäß dem Grundsatz, dass es nicht klug ist,
einen Terrier in ein Rattenloch zu schicken, wenn man nicht
mindestens einen Ausweg kennt, wusste Hawkwood, dass es auch hier
seine erste Aufgabe sein musste, den Grundriss des Haunt zu
erkunden und herauszufinden, wie effizient das Anwesen bewacht
war.
Hawkwood hatte keine
Uhr. Er schätzte, dass es etwa zwei Stunden nach Sonnenaufgang sein
musste. Es sah aus, als würde es wieder ein schöner Tag werden. Die
blasse Sonne hatte den Morgennebel schon zum größten Teil
aufgelöst, nur über dem taufeuchten Gras hingen noch ein paar dünne
Schwaden. In den nahen Wäldern hörte man Ringeltauben gurren und
umherflattern und von den Wiesen weiter unten drang das
schwermütige Muhen der Kühe durch die morgendliche Stille herauf.
Es war nicht schwer sich vorzustellen, warum ein Mönchsorden sich
diese friedliche Umgebung für eines ihrer Klöster ausgesucht hatte.
Das erhöhte Gelände und die Abgeschiedenheit hatten den frommen
Männern sicher das Gefühl gegeben, hier Gott näher zu
sein.
Hawkwood
bezweifelte, dass für den augenblicklichen Landbesitzer ähnliche
spirituelle Erwägungen eine Rolle gespielt hatten. Ezekiel Morgan
hatte diesen Ort in erster Linie aus logistischen Gründen gewählt.
Man hätte blind sein müssen, um nicht die strategischen Vorteile
dieser Lage zu erkennen, von der aus man einen so weiten Blick über
die Umgebung hatte. Selbst wenn man den umliegenden Wald
berücksichtigte, war es äußerst unwahrscheinlich, dass es einem
größeren Trupp gelingen könnte, unbemerkt in den Haunt
einzudringen.
Er sah zurück.
Jetzt, bei Tageslicht, erfasste er erst das gesamte
Herrschaftsgebiet von Ezekiel Morgan. Jess Flynns kleiner Hof hätte
hier bestimmt mehrmals hineingepasst. Wenn die Größe des Anwesens
ein Maßstab war, dann war mit dem Schmuggelgeschäft weitaus mehr
Geld zu verdienen, als Hawkwood es sich vorgestellt hatte. Kein
Wunder, dass der Mann so einen Aufwand mit der Bewachung
trieb.
Außer dem Haus und
den Stallungen entdeckte Hawkwood eine Reihe weiterer Außengebäude
und eine große Scheune. Er sah auch mehrere Koppeln, auf denen
Pferde grasten. Man konnte die Mauerreste des ehemaligen Klosters
leicht an ihrem Alter und an der Bauweise erkennen. Von der Kapelle
standen nur noch die Außenmauern, das Dach war seit langem
eingefallen, und das Kirchenschiff war ungeschützt Wind und Wetter
preisgegeben. Die hohen Fenster, die einst mit kunstvollen bunten
Bildern verglast gewesen sein mochten, sahen jetzt aus wie blinde
Augenhöhlen in einer Reihe grauer Totenschädel. Zwischen den Mauern
der Ruinen grasten schwarzwollige Schafe.
Hawkwood atmete tief
durch. Die Luft war frisch und duftete nach Gras und Blüten, der
allgegenwärtige Gestank der überfüllten Londoner Straßen schien
eine Ewigkeit entfernt. Auch der Geruch des Hulk war nur noch eine
blasse Erinnerung.
Die neun Fuß hohe
Mauer um das Anwesen schien auf den ersten Blick intakt zu sein,
aber als Hawkwood weiterging, bemerkte er Stellen, wo sie repariert
worden war. Ein Stück weiter entfernt sah er Teile, die eingestürzt
waren.
Die Lücken waren mit
Palisadenhölzern überbrückt worden, die jedoch nicht sehr
widerstandsfähig aussahen. Man sah jedoch auch, dass es nur eine
vorübergehende Maßnahme war, denn überall lagen schon Handwerkszeug
und Steine bereit, außerdem Eimer und Säcke mit Sand und Kalk zum
Mischen von Mörtel.
Die Mauer verschwand
im Wald, aber Hawkwood war überzeugt, dass sie entweder
unbeschädigt war, oder dass schadhafte Stellen, genau wie die
anderen, vorübergehend gesichert waren, bis sie repariert werden
konnten. Er hatte genug gesehen und wusste jetzt, dass Morgan,
genau wie ein guter General, seinem Schutzwall größte
Aufmerksamkeit widmete. Hawkwood erinnerte sich an die Stadtmauern,
die er in Spanien gesehen hatte; auch hier war die Kirche immer auf
dem höchsten Punkt gebaut worden.
Das Auftauchen
weiterer Frühaufsteher war nicht weiter überraschend. Hier gab es
Viehhaltung, also musste es auch Personal geben, das sich darum
kümmerte. Zwischen Scheune und Stallgebäude tauchten zwei Gestalten
auf. Es war auch nicht schwer gewesen, Morgans Wachen zu entdecken,
die außen an der Mauer patrouillierten. Sie hielten sich zwar in
einigem Abstand, aber dicht genug, dass Hawkwood die Schlagstöcke
in ihren Händen und die Pistolen im Gürtel erkennen konnte. Sie
hatten ihm keine Schwierigkeiten gemacht, denn Hawkwood hatte nicht
versucht, sich zu verstecken, sondern war ganz offen aufgetreten,
deshalb hatten sie in ihm keine Bedrohung gesehen. Er hob die Hand,
um ein Wiedererkennen anzudeuten, und setzte seinen Rundgang
ungestört fort. Das mangelnde Interesse, das die Wachen ihm
entgegenbrachten, ließ darauf schließen, dass sie vielleicht doch
nicht ganz so gewissenhaft waren, wie ihr Arbeitgeber annahm, was
wiederum bedeutete, dass der Haunt doch nicht ganz so sicher
abgeriegelt war wie Morgan dachte. Möglicherweise waren die Männer
nach einer durchwachten Nacht nachlässig geworden waren, und
Hawkwood registrierte diese Information, die vielleicht einmal
nützlich sein könnte.
Aus dem Gras, das
die Schafe sehr kurz gehalten hatten, erhoben sich vor ihm die
Außenmauern eines uralten Gebäudes. Die leeren Torbögen wirkten wie
offene Mäuler. Um die bemoosten Steine wuchs Unkraut. Er wollte
gerade vorbeigehen, als er durch einen Mauerspalt eine dunkle
vierbeinige Gestalt sah. Als der Hund Hawkwood entdeckte, blieb er
wie angewurzelt stehen.
Hawkwood erstarrte
ebenfalls.
Es war ein riesiger
Hund mit gestromtem Fell, der mindestens drei Fuß Schulterhöhe
hatte. Als ein zweiter Hund, genau so groß wie der erste, um die
Ecke getrabt kam, krampfte sich Hawkwoods Magen zusammen. Dieses
Tier war hellbraun, Gesicht und Schnauze waren
schwarz.
Der gestromte Hund
knurrte. Es war einer der unheimlichsten Laute, die Hawkwood je
gehört hatte. Er kam tief aus der Brust des Tieres und ließ die
Luft vibrieren.
Die Hunde taten
einen Schritt auf ihn zu, völlig lautlos auf dem noch feuchten
Gras.
Hinter ihnen
erschienen jetzt zwei weitere Gestalten. Eine war groß und hatte
einen grauen Bart, die andere war kleiner, hatte einen Stiernacken
und trug einen kräftigen Spazierstock aus Schlehdorn.
»Captain Hooper!«,
rief Ezekiel Morgan gut gelaunt. »Ich wünsche Ihnen einen guten
Morgen. Sie sind früh auf. Ich hoffe, Sie fanden Ihre Unterkunft
bequem?«
Hawkwood merkte erst
jetzt, dass er den Atem angehalten hatte. Langsam atmete er aus. Er
gab sich Mühe, die Hunde nicht anzusehen, was nicht ganz einfach
war, denn erstens ließen sie ihn nicht aus den Augen, und zweitens
wusste er, wie kräftig ihr Gebiss beschaffen war.
»Neues Quartier,
neues Bett. Man braucht immer eine Weile, bis man sich eingewöhnt
hat. Ich dachte, ich gehe ein bisschen an die frische Luft. Sie
wissen ja, wie es ist.«
Er hatte nicht
gelogen. Er hatte schlecht geschlafen, aus genau den Gründen, die
er genannt hatte. Lasseurs Schnarchen hatte auch nicht gerade
geholfen.
Morgan breitete die
Arme aus und tat einen tiefen Atemzug. »Ein Morgenspaziergang?
Ausgezeichnete Idee! Wer könnte es einem verdenken, an einem Morgen
wie diesem? Da freut man sich doch, am Leben zu sein. Ist Captain
Lasseur nicht mitgegangen?«
Hawkwood fragte
sich, ob der Mann neben Morgan sich auch freute, am Leben zu sein.
Schwer zu sagen. Cephus Peppers Gesicht war völlig
ausdruckslos.
»Der schläft noch.
Was macht das Neugeborene?«
Morgan klopfte mit
dem Stock gegen seinen Stiefelschaft. »Das Fohlen? Das ist wohlauf.
Die Stute ist eine gute Mutter. Den beiden geht’s gut, denke
ich.«
Morgan machte keine
Anstalten, die Hunde zu sich zu rufen. Hawkwood wusste, der Mann
wollte zeigen, wer hier das Sagen hatte: Es war Morgans Anwesen,
und man lebte nach Morgans Gesetzen.
»Schöne Tiere«,
sagte Hawkwood, der es noch immer für vernünftiger hielt,
stillzustehen und keine plötzliche Bewegung zu machen.
»Thor und Odin«,
sagte Morgan. »Thor ist der gestromte. « Liebevoll betrachtete er
die Hunde. »Die Mastiffs kamen mit den Phöniziern nach Europa,
wussten Sie das?«
Die Hunde stellten
die Ohren auf, als sie ihre Namen hörten. Sie sahen Morgan an, als
warteten sie auf seinen Befehl. Es war das erste Mal, dass sie
Hawkwood aus den Augen ließen.
»Ich kann nicht
behaupten, dass ich schon mal darüber nachgedacht habe«, sagte
Hawkwood.
»Sie waren schon vor
Cäsar hier«, fuhr Morgan fort, der Hawkwoods zurückhaltende Antwort
gar nicht beachtet hatte. »Die Römer nahmen sie mit nach Italien
und richteten sie zum Kampf in der Arena ab. Sie ließen sie gegen
Bären antreten. Sie haben sie auch auf dem Schlachtfeld eingesetzt.
Man sagt, dass auch auf dem ersten Schiff, das in der Neuen Welt
landete, ein Mastiff war. Interessant, dass es ausgerechnet die
Phönizier waren, finden Sie nicht? Das waren auch Kaufleute, wie
ich. Vielleicht habe ich irgendwann im Laufe der Zeit etwas von
ihnen geerbt. Das wäre doch was, nicht wahr?«
Hawkwood betrachtete
die Hunde. Und die Mastiffs betrachteten ihn, unerschrocken und
aufmerksam, wobei ihre Zungen zwischen den gewaltigen Kiefern
heraushingen.
Morgan lächelte
freundlich. »Hätten Sie Lust, uns Gesellschaft zu leisten, Captain?
Cephus und ich gehen oft um diese Zeit hier draußen spazieren. So
bekommen die Hunde die Bewegung, die sie brauchen, und wir bringen
inzwischen die Welt in Ordnung.«
Hawkwood nickte und
überlegte, ob diese Einladung erfolgt war, weil Morgan nicht
wollte, dass er allein hier umherwanderte.
Morgan schnippte mit
den Fingern, und mit einer Handbewegung schickte er die Hunde los,
die mit der Nase auf dem Boden losstürmten. Hawkwood ging neben ihm
und passte seinen Schritt an. Pepper ging einige Schritte
voraus.
»Man hat uns gesagt,
Sie kontrollieren den gesamten Handel entlang der Küste hier«,
sagte Hawkwood. Er hatte den Eindruck, als zuckte Pepper kurz
zusammen.
Morgan veränderte
sein Tempo nicht, sondern ging ruhig weiter. Er hielt seinen Stock
waagerecht auf dem Rücken.
»So, hat man das
gesagt?«
»Stimmt
es?«
Morgan lächelte.
»Sehen Sie sich um, Captain. Was glauben Sie denn?«
»Ich glaube, dass
ich im falschen Geschäft bin.«
Noch immer lächelnd,
sagte Morgan: »Ich würde sagen, Sie haben Ihre Frage selbst
beantwortet. Es hängt doch alles von Angebot und Nachfrage ab. Wenn
die verdammte Regierung nicht so darauf versessen wäre, uns mit
Steuern zu ruinieren, glauben Sie denn, dass wir dieses Gespräch
überhaupt hätten?«
»Regierungen
brauchen Steuergelder, um ihre Kriege zu finanzieren«, sagte
Hawkwood. »Es ist die einzige Möglichkeit, an das nötige Geld zu
kommen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man Engländer,
Franzose oder Amerikaner ist; wenn man sein Land verteidigen will,
muss man dafür bezahlen. Dafür wurden Steuern ja überhaupt
erfunden.«
Morgan schüttelte
den Kopf. »Ich habe ja grundsätzlich nichts dagegen, aber es ist
der hohe Steuersatz und die Tatsache, dass sie jedes Vergnügen
besteuern, niemals das Unangenehme. Verdammt noch mal, die
besteuern ja sogar Spielkarten! Können Sie sich das vorstellen? Das
ist ja fast so dämlich wie diese idiotische Fenstersteuer! Wenn so
ein armer Kerl den ganzen Tag schwer auf dem Feld arbeitet, dann
hat er sich meiner Meinung nach abends seine Pfeife, seine Runde
Whist und sein Glas Brandy ehrlich verdient, ohne dass er der
Regierung für dieses Privileg noch zusätzlich Geld in den Rachen
schmeißen sollte. Deshalb sehe ich es so: Wenn ich das Leben dieses
Mannes etwas leichter machen kann, dann ist das kein Verbrechen.
Und wenn ich gleichzeitig der Regierung auch noch ein Schnippchen
schlagen kann, dann ist das erst recht in Ordnung.«
Morgan stieß mit der
Stiefelspitze einen Stein aus dem Weg. »Verstehen Sie mich nicht
falsch, Captain. Ich unterhalte hier keinen Wohltätigkeitsverein.
Sie sagten vorhin, dass Sie glauben, Sie sind im falschen Geschäft.
Ja, genau das ist es – ein Geschäft. Ich sah eine Chance, und ich
habe sie ergriffen. Ich bin schon lange dabei, und die Erträge sind
ausgezeichnet – wie bei den meisten meiner anderen Geschäfte zum
Glück auch.«
»Sie müssen aber
auch erhebliche Ausgaben haben«, sagte Hawkwood.
Ohne seinen Schritt
zu unterbrechen, zuckte Morgan die Schultern. »Löhne, Transport und
Verteilung, Lagerung: Das ist genau wie in jedem anderen Geschäft.
Nur muss ich ein paar Leute mehr schmieren, das ist der ganze
Unterschied.«
Mehr als nur ein paar, dachte Hawkwood. Er wandte
den Kopf und merkte, dass Morgan ihn fragend ansah.
»Was hatten Sie denn
erwartet, Captain? Wir leben schließlich im neunzehnten
Jahrhundert, oder hatten Sie das vergessen? Wenn Sie dachten,
solche Geschäfte werden von zwei Fischern im Ruderboot abgewickelt,
dann müssen Sie schleunigst umdenken. Die Zeiten sind längst
vorbei. Ach, ich will gar nicht sagen, dass das nicht auch noch
passiert, aber so wird das große Geld nicht gemacht. Nein, man
kauft ganze Ladungen und legt sich einen möglichst guten
Steuerberater zu – dann kann man Geld verdienen.«
»Sie meinen, wie
neulich nachts in …« Hawkwood tat, als habe er den Namen vergessen,
»… wo war das gleich wieder?«
»In Warden.« Morgan
rief Pepper zu: »Wie viele Fässer waren das, Cephus?«
»Fünfundzwanzig«,
sagte Pepper, ohne sich umzudrehen. »Plus sechs Ballen
Tabak.«
Morgan nickte.
»Fünfundzwanzig Fässer. Das ist kein Großhandel, Captain Hooper.
Das sind kleine Fische. Ich hatte schon Ladungen, wo wir achtzig
Ponys brauchten, um die Ware zu transportieren. Vorige Woche hatte
ich zweihundertfünfzig Männer im Einsatz; fünfzig, um die Ware an
Land zu bringen, die anderen zweihundert, um die Umgebung zu
sichern.«
»Wollen Sie damit
sagen, dass Sie hier so viele Leute
untergebracht haben?« Hawkwood deutete mit dem Kopf hinüber zu dem
Haus und dem anderen Gebäude, wo er und Lasseur die Nacht
zugebracht hatten.
Morgan schüttelte
den Kopf. »Ich stelle sie ein, wie ich sie brauche. Wenn es etwas
gibt, woran es mir nicht mangelt, dann sind es Arbeitskräfte. Und
ich bezahle sie gut. Ein Arbeiter verdient, wenn er Glück hat,
einen Schilling am Tag. Ich zahle Fassträgern das Vierfache für nur
eine Nacht. Und meinen Kundschaftern zahle ich zehnmal so viel. Die
wissen, dass ich mich um sie kümmere. Ich habe immer einen Arzt an
der Hand, falls etwas passiert, und wenn es zum Schlimmsten kommt,
dann kümmere ich mich um ihre Familien. Ich habe eine
Rechtsanwaltskanzlei, die sie immer gegen Bürgschaft rauspaukt,
wenn sie gefasst werden und vor einem Richter erscheinen müssen.
Niemand, der für mich arbeitet, kommt ins Gefängnis, Captain.
Darauf können Sie sich verlassen, das ist so sicher wie das Amen in
der Kirche.«
»Steuerberater,
Ärzte und Rechtsanwälte?«, sagte
Hawkwood. »Ich bin beeindruckt.«
»Das sollten Sie
auch sein.« Morgan blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und
sah hinüber zum Haus und der Klosterruine, als bewundere er alles
zum ersten Mal.
»Nun, über das
Ergebnis kann man nicht streiten, das muss ich zugeben«, sagte
Hawkwood, der Morgans Blick gefolgt war. »Es ist ein prächtiges
Anwesen.«
Morgan drehte sich
um und verbeugte sich ironisch. »Vielen Dank, Captain. Obwohl es
nicht allein mein Verdienst ist. Die meiste Arbeit war bereits für
mich erledigt. Ich hatte eigentlich erwogen, die Ruinen abreißen
und das ganze Grundstück räumen zu lassen, aber der Pfarrer
protestierte. Er sagte, ich würde ewige Verdammnis riskieren, wenn
ich auch nur einen Stein entfernte. Allerdings war er ziemlich
angeheitert, als er das sagte, denn ich hatte ihm gerade ein
Fässchen meines besten Branntweins zukommen lassen, also hat er es
vielleicht nicht ganz ernst gemeint.«
»Aber Sie haben es
sicherheitshalber trotzdem nicht riskiert?«
»Es wäre dumm, dem
Allmächtigen ins Handwerk zu pfuschen, Captain
Hooper.«
»Von den geistlichen
Herren ganz zu schweigen«, sagte Hawkwood.
»In der Tat.
Besonders Reverend Starkweather. Seine Sonntagspredigten sind immer
besonders gut besucht.« Morgan schwieg, dann grinste er. »Nein, er
kann sich wirklich nicht beklagen, denn wenigstens fahre ich mit
der Tradition von St. Anselm fort.«
»Inwiefern?«
»Ich nehme immer
noch Pilger auf.«
»Pilger?«
»Hier pflegte man
Pilger auf dem Weg nach Canterbury zu beherbergen, bis König Henry
die Mönche alle hinauswerfen ließ. Heutzutage gewähren wir Leuten
wie Ihnen einen Zufluchtsort. Merkwürdig, wie manches sich fügt,
finden Sie nicht?«
»Dann wurden auch
schon andere Gefangene hierhergebracht?«
Morgan lächelte.
»Nur die, die uns vielversprechend schienen.«
»Haben Sie denen
auch ein Angebot gemacht?«
Pepper war in
einiger Entfernung ebenfalls stehen geblieben, und Hawkwood
bemerkte, wie er bei dieser Frage erstarrte. Das Lächeln auf
Morgans Gesicht veränderte sich kaum, obwohl die Lachfältchen um
seine Augen vielleicht nicht mehr ganz so zahlreich waren. Hawkwood
bemerkte, dass die Hunde ebenfalls stehen geblieben waren. Der
gestromte rannte über den Rasen, um ausführlich das Hinterteil
seines Kumpels zu beschnüffeln.
»Sie wissen von
unserem Kampf auf dem Schiff«, sagte Hawkwood. »Und Sie sprachen
von unserer Verlegung. Sie haben offenbar ein gutes
Spionagesystem.«
»Ich habe meine
Informationsquellen.«
»Die
Wächter?«
»Die sind nützlich,
wenn es darum geht, in die andere Richtung zu schauen, oder
Nachrichten weiterzugeben, aber auf den Schiffen arbeiten viele
Menschen und ich kann es mir leisten, ein großes Informationsnetz
zu unterhalten – an Land und auf dem Wasser. Geld redet
immer.«
In diesem Augenblick
wurde irgendwo im Kloster eine Handglocke geläutet. Die Hunde hoben
die Köpfe.
Morgenandacht?, dachte Hawkwood verblüfft.
Jetzt fehlt bloß noch, dass Morgan hier
Gebetsstunden abhält.
»Ach«, sagte Morgan
aufgeräumt und schwang sich den Spazierstock über die Schulter, »es
wird Zeit, dass wir zurückgehen.« Er pfiff nach den Hunden und
machte sich auf den Weg zum Haus. »Wir lassen Sie jetzt allein,
damit Sie Captain Lasseur wecken können. Sagen Sie ihm, Frühstück
gibt’s im Refektorium. Es wird uns Gelegenheit geben, Sie mit den
anderen bekanntzumachen.«
»Welche
anderen?«
Morgan lächelte.
»Ihre Mitpilger.«