11
Hawkwood löste seine
Hände und streckte den rechten Arm aus. Er bewegte seine Finger und
versuchte, die Knie anzuziehen und war unglaublich erleichtert, als
er feststellte, dass ihm beides gelang, wenn auch mit einigen
Schwierigkeiten. Er konnte seine Knie nicht sehr stark beugen, aber
er wusste, dass er wahrscheinlich genug Spielraum hatte, um sich
trotz des Gewichts der Erde zu befreien.
Durch das Segeltuch
hindurch konnte er noch immer winzige Lichtpunkte wahrnehmen, ein
Zeichen dafür, dass das Massengrab nur sehr oberflächlich und
absichtlich flüchtig gefüllt worden war, wobei man gerade genug
Erde über die frisch hinzugefügten Leichensäcke geworfen hatte, um
die Milizionäre zu täuschen.
Er hörte keine
Stimmen mehr. Sie hatten sich entfernt, als der Bestattungstrupp
zum Boot zurückgegangen war. Er hörte in der Ferne Seevögel und am
Strand das Plätschern der Wellen. Er hörte auch Schafe blöken. Auch
dieses Geräusch war den Gefangenen vertraut, denn wenn der Wind von
der Marsch herüberwehte, hörte man das schwermütige Klagen der
Tiere bis aufs Schiff.
Er zog das rechte
Knie an, streckte den rechten Arm aus und schob die geöffnete Hand
ganz langsam an seinem Oberschenkel hinab. Es ging nicht so leicht,
wie er erwartet hatte. Im Sack war nicht genug Platz, um ihm in
Rückenlage den Spielraum zu geben, den er brauchte. Er wartete
einen Augenblick. Dann holte er tief Luft und drehte sich auf die
linke Seite, wobei sich die Leiche unter ihm bewegte. Ein Schwall
fauler Luft traf ihn. Er schluckte den sauren Geschmack in seiner
Kehle hinunter und versuchte wieder, sich zu bewegen. Diesmal
schaffte er es fast. Seine Fingerspitzen schoben sich an seinem
Knie vorbei. Er bog seine Schultern nach vorn und langte wieder
nach unten. Seine Schultermuskeln reagierten mit schmerzhaftem
Protest, aber endlich gelang es ihm, mit Daumen und Zeigefinger das
Messer aus seinem Stiefelschaft zu ziehen.
Keuchend ruhte er
sich aus und wartete, bis seine Schulter sich beruhigt hatte. Dann
drehte er sich wieder auf den Rücken und zog den Arm hoch. Das
Messer war weniger als eine Handbreit entfernt, als er die
rasiermesserscharfe Klinge in die Naht über seinem Gesicht steckte
und anfing zu schneiden.
Er war beim zweiten
Stich, als er ein Geräusch bemerkte, das er vorher nicht gehört
hatte. Seine Haut prickelte. Langsam zog er das Messer
zurück.
Wieder hörte er das
Geräusch, es klang, als ob sich jemand vorsichtig näherte. Hawkwood
erstarrte. Er hörte ein leises Kratzen, dann wieder Stille. Dann
war ihm, als ob er Stimmen hörte, doch er konnte nichts verstehen.
Es musste die Miliz sein. Sie waren zurückgekommen, um nachzusehen.
Offenbar versuchten sie, so leise wie möglich zu sein, aber es
gelang ihnen nicht ganz. Vorsichtig drehte Hawkwood das Messer um
und hielt es flach vor die Brust, den Arm darüber. Wieder hörte er
das Kratzen. Plötzlich verdunkelte sich das Licht, das durch den
Stoff gedrungen war. Eine Gestalt kniete über ihm. Ohne Vorwarnung
kam eine Messerklinge, größer als seine eigene, durch den Spalt im
Stoff, nur wenige Zoll von seinem Gesicht entfernt. Sie trennte
mühelos die Stiche auf und die Ränder des Segeltuches wurden
auseinander gezogen.
»Du stinkst fast so
bestialisch wie ich.« Lasseur rümpfte die Nase, lachte leise und
deutete mit dem Kopf nach hinten. »Er sagt, wir sollen uns beeilen
und die Köpfe einziehen, was sehr vernünftig klingt.«
Hawkwood sah an
Lasseur vorbei und sah einen Mann unbestimmten Alters, der mit
einem Spaten in der Hand auf dem Boden hockte. Er trug ein
langärmeliges graues Hemd und eine schmutzige braune Hose. Außer
seinen zusammengekniffenen dunklen Augen konnte man nicht viel von
seinem Gesicht sehen, denn über Mund und Nase trug er ein dreieckig
gefaltetes Tuch. Hawkwood nahm an, dass das eher ein Schutz gegen
den Gestank aus dem Massengrab war als der Versuch, sich
unkenntlich zu machen. Unter dem Rand des weichen Filzhutes
ringelte sich schwarzes Haar hervor.
»Hat er einen
Namen?«, fragte Hawkwood.
»Er sagt, wir sollen
ihn Isaac nennen.« Lasseur wollte Hawkwood gerade das Messer
reichen, als er die Klinge sah, die dieser selbst unter seinem Arm
verborgen hatte. »Ich sehe, du hast schon angefangen.«
Lasseur warf dem
Mann hinter sich das Messer zu und sah beifällig zu, wie Hawkwood
sich mit seiner eigenen Klinge befreite, ehe er das Messer wieder
in seinem Versteck verschwinden ließ.
Lasseur grinste.
»Vielleicht bist du ein noch viel größeres Schlitzohr als
Murat.«
»Hört auf zu
quatschen und bewegt eure Ärsche!« Der Mann, der sich Isaac nannte,
steckte das Messer in den Gürtel. »Und vergesst die verdammten
Säcke nicht. Vous parlez Englisch, ja?«
»Das sagte ich
bereits«, erwiderte Lasseur. »Wir sprechen beide Englisch.« Er sah
Hawkwood an und rollte mit den Augen.
»Gut, also dann
Köpfe runter! Wir sind noch nicht in Sicherheit.«
Hawkwood und Lasseur
taten, wie er befohlen hatte, und der Mann fing an, Erde in das
Massengrab zu schaufeln, um die Vertiefungen, die Hawkwood und
Lasseur hinterlassen hatten, wieder zu füllen. Als er zufrieden
war, drehte er sich um und kroch an ihnen vorbei, immer noch tief
geduckt. »Kommt mit. Bleibt dicht hinter mir.«
Hawkwood riskierte
einen Blick aufs Wasser hinaus und sah, warum sie sich ducken
sollten. Zwischen dem Massengrab und dem Strand erhob sich eine
flache Sandbank. Auf ihrer anderen Seite fiel der steinige Strand
zum Wasser ab. Hier wo sie waren, war die Erhebung gerade hoch
genug, um den Blick auf die Schiffe zu versperren. Vom Boden aus
war der Blick auf die Flussmündung nicht möglich, da auf der
Sandbank große Büschel von Seegras wuchsen, die auf beiden Seiten
ein gutes Stück der Sicht nahmen.
Wieder hörten sie
die raue Stimme hinter sich. »Jetzt ist keine Zeit, die verdammte
Landschaft zu bewundern. Das Signal sagte, dass wir euch so schnell
wie möglich hier wegbringen sollten. Wenn ihr jetzt nicht grade auf
die Miliz warten wollt, dann sollten wir uns wirklich auf die
Socken machen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
Hawkwood merkte, wie
der Mann ihn am Ärmel zog. Er wandte sich vom Wasser weg, nahm das
Segeltuchbündel unter den Arm und folgte Isaac und Lasseur auf
allen vieren, weg von der Grube und seinem grausigen
Inhalt.
Es war mühsam.
Hawkwood schätzte, dass sie vielleicht fünfzig Yards auf dem Bauch
gekrochen waren, als das Gelände vor ihnen plötzlich offener wurde
und sich vor ihnen ein Entwässerungsgraben auftat, der vielleicht
sechs Schritt breit sein mochte und steile Seitenwände hatte. In
seinem Bett floss ein etwa drei Fuß breites Rinnsal aus trübem
braunem Wasser, gesäumt von Rohrkolben und schmalblättrigem
Schilf.
Isaac nahm das
Halstuch vom Gesicht, reichte es Hawkwood und deutete aufs Wasser.
»Trinken kann man es nicht, aber vielleicht solltest du langsam
dran denken, dich ein bisschen zu waschen. Aber mach
schnell.«
Hawkwood tauchte das
Halstuch ins Wasser und wusch sich das Blut vom Gesicht, dann
reichte er es Lasseur. Das Wasser war warm und roch nach Torf und
mehr als einem Hauch Dung. Hawkwood mochte gar nicht daran denken,
was noch alles darin liegen mochte, aber alles war besser als der
Gestank in der Grube.
»Sie sagten, Sie
hatten ein Signal bekommen«, sagte Hawkwood, der sich daran
erinnerte, dass Murat das gleiche Wort benutzt hatte. »Was war das
für ein Signal?«
Er merkte, dass der
Mann ihn überrascht ansah.
»Sie klingen nicht
wie’n Froschfresser«, sagte Isaac.
»Ich bin auch
keiner.«
»Ihr Englisch ist
verdammt gut. Was sind Sie dann? Holländer?«
»Amerikaner.«
»Ein Yankee?« Isaac
machte große Augen. »Heiliger Bimbam, dann sind Sie aber weit weg
von zu Hause.«
»Das versichert mir
jeder«, sagte Hawkwood. »Was für ein Signal?«
Isaacs
Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung zu Ungläubigkeit, wie
jemand mit auch nur halbwegs gesundem Verstand so etwas fragen
konnte. Er sah Lasseur an, als suchte er die Bestätigung, dass
seine Einschätzung von Hawkwood als leicht beschränkt zutreffend
war, doch Lasseur sah ihn genauso fragend an.
Er drehte sich um.
»Die verdammten Wäscheleinen natürlich! Was hattet ihr denn
gedacht?«
»Die Wäscheleinen?«,
sagte Lasseur verblüfft. Plötzlich sah er auf die Fetzen in seinen
Händen und seine Augen wurden groß. »Flaggen! Mein Gott, die haben
Wäschestücke als Signalflaggen benutzt!« Er drehte sich zu Hawkwood
um und strahlte vor Begeisterung.
»Also gut, aber
jetzt reicht’s«, sagte Isaac ungeduldig. Er starrte auf die
Blutflecke auf Hawkwoods Hemd und auf die Wunden in Lasseurs
Gesicht und winkte ab, als dieser ihm das Halstuch zurückgeben
wollte. »Gehen wir. Allez!«
Ohne auf eine
Antwort zu warten, setzte der Führer sich im Graben in Trab, immer
am Wasserlauf entlang. Hawkwood und Lasseur, die immer noch die
Leichensäcke unter dem Arm hatten, stolperten hinter ihm
her.
Hawkwood sah, wie
Lasseur das Halstuch in seine Tasche stopfte und sah vor seinem
geistigen Auge die Hemden und Hosen als Signalflaggen im Wind
flattern. Er fragte sich, wie das System funktionierte, und kam zu
dem Schluss, dass die Botschaft in der Reihenfolge der aufgehängten
Wäschestücke liegen musste. Ein Hemd, gefolgt von einem Paar
Socken, gefolgt von zwei Hosen, und so weiter. Er musste zugeben,
das System war genial in seiner Einfachheit und für nicht
Eingeweihte völlig unverdächtig.
Das Land um sie
herum war flach und ohne jegliche Kontur; eine Mischung aus Moor
und holprigem Weideland, von Gräben durchzogen, die sich wie
Schlangen durch das Marschland wanden. In der näheren Umgebung
waren keine Bäume, obwohl sich weiter östlich in der Ferne eine
Reihe von bewaldeten Hügeln erhoben, die sanft zur Mitte der Insel
hin ausliefen.
Hier im Graben
hinter Isaac herzulaufen war wie das Verfolgen eines Jagdhundes.
Ungefähr alle zwanzig Schritte blieb ihr Führer stehen und steckte
seine Nase in die Luft, als nehme er Witterung auf, dann drehte er
sich um und vergewisserte sich, dass sie noch hinter ihm
waren.
Sie waren wohl eine
weitere halbe Meile gerannt, als sie abermals anhielten. Hawkwood
schätzte, dass sie immer noch nicht weiter als etwas über eine
Meile vom Schiff entfernt waren. Per Luftlinie war es sogar noch
etwas weniger, viel zu wenig, um sich entspannen zu können. Ihr
Führer war offenbar derselben Meinung, denn er spähte über den Rand
des Deiches zurück dorthin, wo sie hergekommen waren, als hielte er
nach Verfolgern Ausschau. Befriedigt, dass die Luft rein war,
duckte er sich wieder, und sie rannten weiter.
Selbst wenn es nicht
der direkteste Weg in die Sicherheit war, wusste Hawkwood, dass es
vernünftig war, den Graben als Deckung zu benutzen. An dieser
Küstenstrecke war die Landschaft so flach, dass man sie, wenn sie
sich aufrichteten, mit jedem halbwegs scharfen Fernrohr vom Schiff
aus sehen würde. Doch auf diese Weise sorgte Isaac dafür, dass ihre
Köpfe nicht überm Horizont auftauchten. Es war besser, eher zu
vorsichtig als zu leichtsinnig zu sein. Mit etwas Glück würden sie
die verlorene Zeit bald wieder eingeholt haben.
Es war ein warmer
Tag. Der Schweiß lief Hawkwood über den Rücken und er ahnte, obwohl
er noch nicht nachgesehen hatte, dass seine Wunden an Bauch und Arm
wieder bluteten. Er hörte Lasseur keuchen und fragte sich, wie fit
der Mann war und wie lange er dieses Tempo durchhalten würde. Beim
Militär war Hawkwood lange Märsche gewohnt gewesen, und als Schütze
hatte er seine Leute durch Moore und über Gebirgswege geführt, die
reguläre Soldaten nicht geschafft hätten. Doch er wäre der Erste
gewesen, der zugegeben hätte, dass seine Muskeln jetzt teilweise
infolge Untätigkeit schlaff geworden waren, seit er wieder in
England war und in Bow Street arbeitete. Wenn er sich auch ›Runner‹
nannte, so kam es doch äußerst selten vor, dass er Kriminelle über
weite Strecken und über Stock und Stein verfolgen musste – genauer
gesagt, es war, soweit er sich erinnern konnte, noch nie
vorgekommen.
Zehn Schritte vor
ihm hob Isaac die Hand und legte den Finger auf die Lippen. Als
Hawkwood und Lasseur ihn eingeholt hatten, sah ihr Führer hoch über
den Rand des Deiches. Hawkwood und Lasseur folgten seinem
Blick.
»Merde!«, flüsterte Lasseur.
Die Schafe waren
weniger als zwanzig Schritte entfernt in einem Pferch aus
Weidengeflecht. Es war eine kleine Herde; vielleicht insgesamt
dreißig Tiere, mit schwarzen Gesichtern und langen Schwänzen.
Manche hatten kurze, gebogene Hörner. Es waren jedoch nicht die
Schafe, die Lasseur in Alarmzustand versetzt hatten. Am Tor des
Pferchs waren zwei schwarz-weiße Hunde mit drahtigem Fell
angebunden. Beim Anblick der Männer waren beide aufgesprungen. Sie
standen da und warteten mit hechelnder Zunge, die Ohren gespitzt,
die Augen hellwach und dienstbeflissen.
Lasseur legte
warnend die Hand auf Hawkwoods Arm.
»Ist schon in
Ordnung«, sagte Isaac. »Die wissen genau, dass sie nicht bellen
dürfen. Wenn sie’s tun, kriegen sie meinen Gürtel zu
spüren.«
Isaac kletterte aus
dem Graben und ging zu den Hunden. Ein kurzes Kommando, und die
Tiere legten sich hin.
»Ihr könnt
rauskommen«, sagte er, und Hawkwood und Lasseur kamen näher. Die
Hunde verfolgten ihre Ankunft mit Interesse.
Isaac band die Hunde
los und öffnete das Tor. Sofort rannten die Hunde an das Ende der
Herde und trieben die Schafe aus dem Pferch heraus auf die offene
Weide.
Isaac ging in den
Pferch, ließ sich auf die Knie fallen und hob mit dem Spaten ein
Rasenstück auf, unter dem ein aus Seil geknoteter Griff erschien.
Er fasste das Seil, lehnte sich zurück und zog. Damit hob sich ein
noch größeres Stück Rasen, das eine hölzerne Falltür bedeckte.
Isaac zog die Falltür auf und Hawkwood sah in eine
Grube.
Die unterirdische
Kammer war gut durchdacht. Der Boden war gestampfter Lehm, die
Wände mit Brettern verkleidet. Ein halbes Dutzend Holzfässchen,
jedes von ihnen mit einem Fassungsvermögen von vier Gallonen
Branntwein, waren an der Wand aufgestapelt. Auf der Erde neben den
Fässern waren mehrere Säcke aus Öltuch und ein Baumwollbeutel.
Isaac ließ sich in das Loch hinunter und reichte den Beutel hoch.
»Hier ist Brot und Käse und ein paar Äpfel, und auch etwas, damit
ihr nicht verdurstet. Dann streckte er die Hand aus. »Gebt mir die
Leichensäcke. Nehmt das hier und zieht es an.« Er verstaute die
Leichensäcke und den Spaten in der Grube und reichte ihnen zwei
Kleiderbündel.
Hawkwood und Lasseur
öffneten sie. Es waren Schäferkittel, die um zwei große Hüte mit
weicher Krempe gewickelt waren.
»Die hier braucht
ihr auch«, sagte Isaac und hielt ihnen zwei kurze Hirtenstäbe aus
Haselholz hin. Er nahm einen dritten, längeren Stab für sich selbst
heraus, dann schloss er die Falltür wieder und legte sorgfältig das
Rasenstück über den Griff. Er trat die Ränder des Rasens fest, dann
hob er eine Handvoll Schafköttel auf und streute sie darüber.
Zufrieden, dass der Eingang der unterirdischen Höhle vollkommen
verschwunden war, sah er auf und deutete auf die Kittel. »Ich hab
doch gesagt, ihr sollt die anziehen. Es wird Zeit, dass wir
weitergehen.«
Hawkwood und Lasseur
starrten ihn an.
Selbst die Hunde,
die an Isaacs Seite zurückgekehrt waren, machten zweifelnde
Gesichter.
Isaac seufzte
gereizt. »Die werden nach zwei flüchtenden Männern Ausschau halten,
nicht nach drei Schäfern, die mit ihrer Herde zu neuem Weideland
ziehen. Aber wenn ihr denkt, ihr wisst’s besser, dann bitte. Die
Fähre ist dort drüben.« Isaac deutete mit seinem kurzen, dicken
Zeigefinger nach Süden. »Entscheidet euch endlich, verdammt noch
mal!«
Im selben Augenblick
kam ein fernes Grollen, ähnlich einem kurzen Donner, von der
Flussmündung her, gefolgt von dem leisen Läuten einer Glocke. Die
Hunde spitzten die Ohren und sahen in die Richtung des Geräusches.
Isaacs Kopf schnellte herum. »Scheiße!«
»Das klingt nicht
gut«, sagte Lasseur.
Hawkwood legte den
Hirtenstab hin, schlüpfte in die Ärmel des Kittels und zog sich das
Kleidungsstück über den Kopf. Es war so ähnlich, wie in den
Leichensack zu kriechen, nur von der anderen Seite. Er stülpte sich
den Hut auf den Kopf und ergriff den Stock.
Isaac nickte
anerkennend. Hawkwood kam sich vor, als habe er sich gerade in
einen Dorfidioten verwandelt.
Lasseur zog
ebenfalls Kittel und Hut an und brachte ein etwas schiefes Lächeln
zustande.
Das machte alles
noch schlimmer. Hawkwood fragte sich, ob es wohl vorkam, dass ein
Dorf gleich zwei Trottel hatte. Er hob das Baumwollsäckchen auf und
schwang es über die Schulter.
Isaac ließ eine
Reihe kurzer, durchdringender Pfiffe hören. Gehorsam rasten die
Hunde los und trieben die Schafe von beiden Seiten auf ein Tor am
Ende des Feldes zu. Isaac deutete auf den bewaldeten Hügel, der
ihnen am nächsten war. »Wir gehen mit ihnen um Gorse Hill herum und
dann in die East Church Road.«
Lasseur folgte dem
Stock, dann sah er zurück zur Küste. Hawkwood wusste, der Privateer
überschlug die Zeit.
»Wenn sie die Kanone
abgeschossen haben, bedeutet es, dass sie das Schiff durchsucht
haben und uns vermissen«, sagte Hawkwood. »Als Nächstes werden sie
also einen Trupp losschicken, um das Massengrab zu untersuchen. Das
dürfte eine Weile dauern.«
Es war klug gewesen,
die Leichensäcke mitzunehmen und die Lücken im Grab wieder
aufzufüllen. Wenn es keine sichtbaren Anzeichen dafür gab, dass
Hawkwood und Lasseur aus dem Grab geflohen waren, konnte man ihre
Flucht mit dem Leichentransport nur beweisen, indem man das
Massengrab öffnete, in alle Leichensäcke schaute und die Toten
zählte, was hoffentlich alles zu noch größeren Verzögerungen
beitragen würde. Hawkwood beneidete die Männer nicht, die diese
Aufgabe zu erledigen hatten.
Die Hunde genossen
die Wanderung und sausten unter Isaacs wachsamen Augen im Zickzack
hin und her. Die Schafe waren die strenge Behandlung offenbar
gewohnt, manchmal sah es sogar aus, als gehorchten sie Isaacs
kurzen, schrillen Pfiffen noch vor den Hunden. Als sie am Tor
angekommen waren, warteten die Tiere geduldig, bis die Männer
angekommen waren. Isaac zeigte auf eine kleine Holzbrücke auf der
anderen Seite. »Dort drüben ist die Straße.«
Die Straße war
nichts weiter als ein schmaler, etwa fünfzehn Fuß breiter Reitweg;
eng und holprig und zerfurcht von Hufen und Wagenrädern. Auf der
anderen Seite stieg das Land sanft an.
»Das hier ist die
Minster Road«, sagte Isaac. »Wir wollen zu der Straße hinterm Berg,
die geht über die ganze Insel. Wir gehen dann nicht direkt auf ihr,
wir bleiben daneben, aber so kommen wir auch dorthin, wo wir hin
wollen. Wir müssen nur die Augen offen halten, alles andere
besorgen die Hunde schon. Wenn ihr jemanden seht, sagt Bescheid.
Nicht vergessen: die sehen nur drei Einheimische, die mit’ner
Schafherde unterwegs sind, also gibt’s keinen Grund, wegzurennen.
Behaltet die Hüte auf und haltet die Köpfe gesenkt, und was immer
ihr tut, macht euren verdammten Mund nicht auf. Ihr könnt ihnen auf
die Stiefel spucken, wenn ihr wollt. Das ist die Miliz gewohnt. Die
haben hier das Sagen, aber die Leute von Sheppey halten nicht viel
von Autorität – die lassen sich nicht gern vorschreiben, was sie
tun sollen, das geht ihnen gegen den Strich.« Isaac grinste.
»Verstehen Sie, Monsör?«
Lasseur nickte. »Ich
glaube schon.«
»Also los, meine
Herrn«, sagte Isaac. »Dann machen wir uns mal auf die
Wanderschaft.«
Die Schafe gingen
nicht sehr schnell, besonders wenn es bergauf ging, und als Tarnung
und Fluchthilfe war ihr gemächliches Trödeln nicht gerade
vertrauenerweckend. Doch zugleich musste Hawkwood sich eingestehen,
dass diese Art des Wanderns äußerst angenehm sein konnte, wenn man
keine Sorgen hatte und einem auch nicht gerade die Miliz auf den
Fersen war.
Doch selbst bei dem
Gedanken, dass die Verfolger vielleicht immer näher kamen, war die
einfache Tatsache, dass man nicht mehr auf diesem Schiff war, schon
ein wunderbares Gefühl. Keine Holzwände mehr, keine Männer, die in
Gestank und Dunkelheit aufeinanderhockten. Nur der weite, blaue
Himmel und das Gras unter den Füßen. Auch der Geruch der Marsch
schien hier auf den Wiesen und Feldern längst nicht so
allgegenwärtig. Und natürlich hatten sie die Begleitung der
Singvögel. Nicht das raue, ununterbrochene Kreischen der Möwen,
sondern das melodiöse Zwitschern der Singdrosseln, der Amseln und
der Heckenbraunellen. Hawkwood war der Kriegstrommel nach Spanien,
Portugal, Südamerika und vielen anderen Ländern gefolgt, aber
nirgendwo hatte er etwas gesehen, was mit der englischen Landschaft
an einem hellen Sommermorgen vergleichbar gewesen
wäre.
Sogar Lasseur schien
entzückt. Hawkwood hatte gesehen, wie der Privateer immer wieder
sein Gesicht der Sonne entgegenstreckte. Wenn der Franzose schon
nicht auf seinem Schiff sein konnte, war dies wahrscheinlich das
Nächstbeste für ihn.
In gleichmäßigem,
gemächlichem Tempo erreichten sie schließlich die Hügelkuppe und
wollten gerade auf der anderen Seite den Weg ins Tal nehmen, als
Hawkwood sah, dass Isaac stehen blieb. Der Führer sah über
Hawkwoods Schulter zurück gen Westen.
Hawkwood drehte sich
um.
In der Ferne waren
Reiter, und auf den ersten Blick sah es aus, als kämen sie direkt
auf die drei Männer zu. Hawkwoods Herz schien vor Schreck
stillzustehen, aber nach kurzer Zeit wandten sich die Reiter
plötzlich nach Süden.
»Die werden zur
Swale reiten.« Isaac schien sich sicher zu sein. »Kommen
wahrscheinlich von der Queenborough Road oder von Mile Town. Vor
denen brauchen wir uns nicht zu fürchten. Vielleicht haben sie ja
die Garnison um Hilfe gebeten, es dürfte aber’ne Weile dauern, bis
die mal soweit sind. Hier draußen gibt’s nicht viel berittene
Polizei. Solange wir ganz ruhig bleiben und einfach weitergehen,
wird uns nichts passieren. Das ist viel besser als rumzurennen wie
kopflose Hühner. Und so weit haben wir’s auch gar nicht mehr. Für
uns ist es fast wie’n Kirchgang, um die Sonntagspredigt zu
hören.«
Sie aßen im Gehen.
Das einfache Vergnügen, in ein Stück Brot zu beißen, das nicht erst
in Wasser aufgeweicht werden musste, damit man es hinunterbekam,
war fast unmöglich zu beschreiben. Der Käse war würzig und
schmackhaft, die Äpfel säuerlich und knackig. Der Cider, der in der
unterirdischen Kammer kühl geblieben war, wurde direkt aus dem Krug
getrunken und war so erfrischend wie Wasser aus einem
Gebirgsquell.
Sie waren mehr als
zwei Stunden gegangen und hatten die Herde immer wieder ausruhen
lassen, als es Hawkwood auffiel, dass sie, abgesehen von der
berittenen Patrouille, den ganzen Vormittag keinen Menschen gesehen
hatten. Auch Lasseur hatte das bemerkt.
»Deshalb haben wir
auch diesen Weg genommen«, sagte Isaac, als Lasseur ihn darauf
ansprach. »Die meisten Leute leben im Norden, an der Straße dort
und an der Küste. Im Süden, nach Elmley und Harty zu, ist es
sumpfig und von dort kommt das Fieber. Manche Leute sagen, es ist
der letzte Ort, den Gott geschaffen hat. Darum nennen sie die Leute
von Sheppey auch Swampies.«
»Swam-pies?« Lasseur
hatte Schwierigkeiten, das Wort auszusprechen.
»Man könnte sagen,
es ist ein Kosename«, sagte Isaac und fügte trocken hinzu, »genau
so, wie wir euch Froschfresser nennen.«
Lasseur hob
spöttisch eine Augenbraue. Hawkwood unterdrückte ein Lachen, obwohl
es ihm schwerfiel.
»Wohin bringen Sie
uns?«, fragte Lasseur.
»Na ja, nicht bis
nach Hause, so viel ist sicher. Wenn wir in Warden sind, hab ich
meinen Teil erledigt. Dann muss sich jemand anderes um euch
kümmern.«
Hawkwood lief ein
Kribbeln über den Rücken. Wenn es noch weiterer Beweise bedurfte,
dass es hier eine Organisation gab, die den Flüchtenden half, dann
hatte er diese soeben erhalten.
»Dieser Ort, Warden
– wie lange brauchen wir noch, bis wir dort sind?«, fragte
Lasseur.
»Ach, gar nicht mehr
lange, wir sind bald da«, sagte Isaac, ohne sein Tempo zu
verändern.
Es dauerte den
ganzen Tag.
Sie kamen an East
Church vorbei. Das Dorf machte nicht viel her, es war ein winziges,
verschlafenes Nest an der Wegkreuzung. Etwa ein Dutzend Cottages
drängten sich um eine gedrungene graue Kirche mit Zinnen und
viereckigem Turm. Aus der Entfernung sah man ein paar Dorfbewohner,
die zwar auf Isaacs freundliches Grüßen zurückwinkten, sich aber
sonst nicht weiter um Schafe, Hunde oder die falschen Schäfer
kümmerten.
Das Dorf lag auf
einem der höchsten Punkte der Insel. Von hier fiel die Landschaft
nach allen Seiten in sanften Wellen ab, besonders nach Süden hin
bis zur Swale und weiter bis aufs Festland hinüber.
Ein kurzes Stück
hinter dem Dorf zeigte Isaac auf eine leichte Anhöhe. »Ungefähr
eine Meile dahinter ist Warden, oben auf dem Hügel, hinter den
Bäumen dort.«
Lasseur wurde
langsam unruhig. Seine Augen leuchteten vor Aufregung. Der
Privateer hatte durch eine Senke in der Landschaft seinen ersten
Blick aufs Meer erhascht und eine Nase voll Salzluft gerochen, und
jetzt erinnerte er Hawkwood an ein durstiges Pferd, das Wasser
wittert. Er war überzeugt, dass Lasseur selbst taub und mit
verbundenen Augen den Weg zur Küste finden würde.
Sie näherten sich
dem Dorf von Süden her. Die Hunde drängten die Schafherde zu einer
säuberlichen Keilform zusammen und trieben sie vor sich her die
Anhöhe hinauf.
Auch Warden war kein
besonders großes Dorf, soweit Hawkwood es durch die Bäume sehen
konnte. Es sah aus wie eine weitere Ansammlung ärmlicher Cottages
rund um eine Kirche, die sich wie Napfschnecken an den kleinen
Küstenvorsprung klammerten, der hier den Arsch der Welt um ein
winziges Stück verlängerte.
Isaac hatte nicht
übertrieben, wenn er sagte, dass es ihnen wie ein Kirchgang am
Sonntag vorkommen würde, denn genau das taten sie, auch wenn es
vielleicht nicht Sonntag war. Die Kirche stand am Dorfende, das dem
Meer zugewandt war, keinen Steinwurf vom Klippenrand entfernt. Sie
traten aus dem Wäldchen. Die Nachmittagssonne schien auf das alte
Mauerwerk, die Ringeltauben gurrten, vor ihnen lag der Kirchhof.
Isaac öffnete das Tor, und die Hunde erledigten den Rest. Die Herde
zerstreute sich zwischen den Grabsteinen und fing an zu grasen.
Isaac sicherte das Tor hinter ihnen, band die Hunde an und ging
zwischen den Grabsteinen hindurch zu einer eisenbeschlagenen
Seitentür. Hawkwood stellte fest, dass die Grabsteine stark
verwittert waren. Die meisten Namen waren nicht mehr zu entziffern,
Wetter und Zeit hatten sie abgeschliffen. Man konnte sich gut
vorstellen, wie einsam und unwirtlich es hier im Winter sein
musste.
Vor der Tür kniete
Isaac sich hin. Er entfernte einen Ziegelstein aus der Kirchenwand,
griff in das Loch und holte einen Schlüssel heraus. Lasseur und
Hawkwood sahen erstaunt zu. »Der Pfarrer ist nicht zu Hause.« Er
setzte den Stein wieder an seinen Platz und fügte hinzu: »Der
Pfarrer ist nie zu Hause, wenn jemand geflohen ist.«
Sie traten durch die
Sakristei ein, dann verschloss Isaac die Tür hinter ihnen und ging
voran in den Kirchenraum. Hier drinnen war es kühl und trocken; es
roch nach Stein und Holz, nach Wachskerzen und Staub. Die späte
Nachmittagssone schien durch die Fenster und warf bunte Muster auf
Wände und Steinfußboden.
»Die braucht ihr
jetzt nicht mehr.« Isaac deutete auf die Schäferkittel und die
Hüte. »Ihr könnt sie dort auf die Bank legen, die Stöcke auch. Und
jetzt helft mir mal hiermit.« Isaac ging auf eine Seite des
Kirchenschiffs, wo mehrere Steinplatten mit Inschriften in den
Boden eingelassen waren. Auch sie waren alt und verwittert, und
genau wie bei den Grabsteinen draußen waren die Namen darauf kaum
lesbar, doch schien es ihm, als trügen mehrere von ihnen den Namen
Sawbridge. Wahrscheinlich eine hochwohlgeborene Familie, die hier
ansässig war, dachte Hawkwood, doch eigentlich sah das Dorf für den
Wohnsitz einer aristokratischen Familie nicht wohlhabend genug
aus.
Isaac beugte sich
hinunter und schob ein Messer in den Spalt zwischen zwei
Steinplatten. Die Platte sah dick und solide aus, aber es war
überraschend einfach, sie hoch zu hebeln. Hawkwood sah, dass sie
sehr viel dünner war als die umliegenden Steinplatten. Wie die
Falltür draußen auf der Weide war auch dies eine Tarnung; entweder
man hatte sie abgeschliffen oder aus einem leichteren Stein
gemacht, mit einer Inschrift versehen und künstlich gealtert, damit
sie unter den anderen nicht auffiel.
Isaac stieg als
Erster hinunter und befahl ihnen, zu warten. Man hörte Feuerstein
auf Stahl schlagen, und wenige Sekunden später wurde die Dunkelheit
dort unten von einer Laterne erhellt. »Kommt jetzt runter«, rief
Isaac.
Er wartete, bis sie
ebenfalls unten waren, dann gab er Hawkwood die Laterne, streckte
die Hand aus und schob die Steinplatte über dem Loch wieder an
ihren Platz.
Unter der Kirche
musste Hawkwood plötzlich an eine andere Krypta denken, die weit
entfernt von Kent und seinem Marschland lag. Das Beinhaus unter der
Kirche St. Mary, wo er den Mörder Titus Hyde gejagt hatte. Seine
Gefährten ahnten nicht, dass es ihm dabei kalt über den Rücken
lief.
Der Tunnel war
gerade so breit, dass zwei Mann nebeneinander gehen konnten, aber
es war einfacher, hintereinander zu gehen. Isaac ging mit der
Laterne voran, Lasseur und Hawkwood folgten ihm. Die Luft war
feucht und roch nach Lehm.
Wo zum Teufel führt er uns hin?, Dachte
Hawkwood.
Sie waren etwa
hundert Schritte gegangen, als der Gang anstieg und plötzlich an
einer einfachen schwarzen Holztür endete. Isaac hob den Riegel an.
Er öffnete die Tür und hob die Laterne hoch. Sie befanden sich in
einem noch kleineren Tunnel, der fast ganz rund war. Hawkwood
runzelte die Stirn. Er klopfte an die Tunnelwand, sie war aus Holz
und klang merkwürdig hohl. Von vorn kam ein lautes Klicken, als ein
weiterer Riegel angehoben wurde, worauf sich am Ende des Tunnels
eine Öffnung wie eine Schiffsluke vor ihnen auftat.
Das Erste, was
Hawkwood sah, als er durch die Öffnung kletterte, waren Weinfässer.
Fässer in allen Größen, vom großen Hogshead bis hinunter zum
Half-Anker, die an den Wänden entlang gestapelt waren. Er hörte
Lasseur anerkennend mit der Zunge schnalzen und drehte sich um, als
Isaac gerade die Tür zum Tunnel hinter sich schloss. Lasseurs
Reaktion war berechtigt. Das Ende des Tunnels, durch den sie gerade
gekommen waren, bestand aus einem großen Fass, das hier neben
mehreren anderen auf der Seite lag. Hawkwood konnte nur ahnen, wie
viel Wein in jedem dieser Fässer sein mochte – auf jeden Fall
mehrere hundert Gallonen. In jedes Fass war ein hölzerner Zapfhahn
geschlagen. Neugierig öffnete Hawkwood einen Hahn, worauf eine
dunkle Flüssigkeit auf den Boden tropfte. Er hielt die Hand
darunter und probierte. Es war Wein. Als er sich umdrehte, grinste
Isaac ihn an. »Es ist immer gut, einen Fluchtweg zu haben, falls
der Zoll einem mal einen Besuch abstatten will.«
»Wo sind wir hier?«,
fragte Hawkwood.
»Im Keller vom
Smack.« Isaac deutete auf die Fässer.
»Das ist der Pub hier; ich hielt es für besser, euch auf diesem Weg
herzubringen, als euch auf der Hauptstraße zur Schau zu stellen.
Wie ich schon sagte, die Leute hier halten nicht viel von der
Obrigkeit, aber man kann nie vorsichtig genug sein.«
Von oben kamen
Geräusche: ein dumpfes Poltern, als ob jemand Möbel verschob, dann
gedämpfte Stimmen.
»Wartet hier«, sagte
Isaac. Er stellte die Laterne auf ein Fass und ging zur Kellertür.
Er drehte sich noch einmal um. »Und fasst, verdammt noch mal, bloß
nichts an.« Die Tür schloss sich hinter ihm.
Lasseur sah sich um.
»Na ja, wenigstens werden wir hier nicht verdursten.« Er zeigte auf
das Baumwollsäckchen, das Hawkwood noch immer mit sich trug. »Ich
habe einen fürchterlichen Hunger. Ist da noch irgendwas
drin?«
Hawkwood warf ihm
einen Apfel zu und schüttelte den Steinkrug. Er hörte ein leises
Schwappen. Er reichte Lasseur den Krug, doch der rümpfte die Nase
und ging zu dem falschen Fass. Er öffnete den Hahn und hielt die
hohle Hand darunter und nahm einen Schluck. Schnell drehte er den
Hahn wieder zu und warf Hawkwood einen angewiderten Blick zu. »Wie
können sie bloß diese Pisse trinken?«
»Das tun sie wohl
auch nicht«, sagte Hawkwood. »Ich glaube nicht, dass sie das gute
Zeug hier lagern. Das hier ist nur dazu da, falls die Behörden mal
eine Durchsuchung machen.«
Lasseur betrachtete
die anderen Fässer. Hawkwood ahnte, dass er überlegte, ob er davon
etwas versuchen sollte.
Draußen hörte man
Schritte. Die Tür ging auf und Isaac trat ein, zusammen mit einem
weiteren Mann. Der Neue war rundlich und rotgesichtig, er hatte
einen gewaltigen Backenbart und kleine stechende Äuglein. Er
wischte seine Hände an der schmutzigen Schürze ab.
»Dies ist Abraham«,
sagte Isaac. »Ihm gehört der Pub.«
Lasseur verbeugte
sich. »Sehr erfreut. Ich bin Captain …«
»Ich brauche keine
Namen«, unterbrach der bärtige Mann ihn. »Ihr bleibt ja nicht
hier.«
»Ihr reist heute
Nacht weiter«, sagte Isaac. »Es steht’ne Fahrt an.«
»Eine Fahrt?«, sagte
Lasseur. »Wohin fahren wir?«
Isaac und der Wirt
sahen sich an. Der Wirt zuckte die Schultern.
»Das bedeutet, es
kommt eine Lieferung«, sagte Isaac. »Schmuggelware, Branntwein und
Tabak. Das Schiff, das die Ware bringt, nimmt euch mit raus. Es
passiert aber erst nach Einbruch der Dunkelheit, also müssen wir
noch ein paar Stunden totschlagen. Macht’s euch bequem.« Er sah auf
den Beutel und den Ciderkrug. »Ich bringe euch was zu
essen.«
»Ich brauche auch
Verbandszeug«, sagte Hawkwood.
Der Wirt drehte sich
abrupt um. Er starrte Hawkwood an, seine Augen blickten
hart.
»Er ist ein Yankee«,
sagte Isaac.
»Da ist er aber weit
…«
»Das haben ihm schon
viele erzählt«, sagte Isaac.
Der Wirt betrachtete
Hawkwoods zernarbtes Gesicht, sein verfilztes Haar und das Blut auf
seinem Hemd. Er wandte sich an Isaac. »Ich dachte, du hattest
gesagt, es sei alles glattgegangen.«
»Ist es auch«, sagte
Isaac. »Er hat schon vorher so ausgesehen.«
Der Blick des Wirtes
wanderte zu den Blutergüssen in Lasseurs Gesicht und er runzelte
die Stirn. »Braucht einer von euch einen Arzt?«
Hawkwood schüttelte
den Kopf. »Nur Verbandzeug.«
Der Wirt schien
erleichtert. Er nickte kurz. »Ich will sehen, was ich machen
kann.«
Es dauerte gar nicht
lange, bis Essen und Verbandzeug gebracht wurden. Das Essen bestand
aus zwei Schüsseln Hammeleintopf, einem Laib Brot und einem Krug
Bier. Der Eintopf schmeckte wunderbar, es waren große Fleischstücke
darin, und er war gut gewürzt. Selbst Lasseur war beeindruckt,
obwohl Hawkwood wusste, dass sie nach dem Fraß auf dem Schiff
wahrscheinlich auch gebackene Kröten exquisit gefunden hätten. Aber
wenn ein Wirt auf Sheppey keinen ordentlichen Hammeleintopf kochen
konnte, wer dann?
Isaac hatte auch
einen Kessel mit heißem Wasser aus der Küche mitgebracht, dazu eine
Schüssel und ein Handtuch. Hawkwood und Lasseur wuschen sich das
restliche Blut vom Gesicht.
»Wie fühlst du
dich?«, fragte Lasseur.
»Besser, als es mir
zusteht«, sagte Hawkwood. Er spürte ein schwaches Pochen hinter den
Augen und war froh, dass er in der relativen Dunkelheit des Kellers
war statt draußen in der Sonne. Mit den Hüten von Isaac hatten sie
zwar wie Dorfidioten ausgesehen, aber sie waren sehr praktisch
gewesen.
Lasseur sah zu, wie
Hawkwood seinen Verband abwickelte. Er zögerte etwas, ehe er sagte:
»Im Laderaum, ehe du dem Mamelucken das Genick gebrochen hast … als
du dich weggedreht hast, da wusstest du doch, dass er angreifen
würde, oder?«
Hawkwood antwortete
nicht gleich. Beim Schein der Laterne sah er seine Wunde an.
Entgegen seiner Befürchtung hatte sich der Schnitt in seiner Seite
nicht wieder geöffnet, Girards Naht war noch intakt. Er wickelte
sich die frische Binde um den Bauch. »Ich hielt es für
wahrscheinlich.«
Lasseur runzelte die
Stirn. »Das klingt ja, als wolltest du ihn auffordern,
anzugreifen.«
Hawkwood zuckte die
Schultern. »Du denkst, wenn ich mit gebrochenem Arm auf den Knien
gelegen hätte, hätte er nicht so schnell Schluss gemacht? Er hätte
es sich nicht zweimal überlegt.«
»Willst du damit
sagen, dass du ihm eine Chance geben wolltest?«
Hawkwood schüttelte
den Kopf. »Die hatte er nie.«
Lasseurs Augen zogen
sich zusammen, dann riss er sie auf und entsetzt stellte er fest:
»Mein Gott, also war es deine volle Absicht! Du hast ihn in die
Falle gelockt! Du hast ihn umgebracht, um Eindruck zu machen. Du
hast mit ihm gespielt.«
Hawkwood sicherte
das Ende seines Verbands, indem er es unter den Rand
stopfte.
Lasseur sah
unglücklich aus. Betrübt schüttelte er den Kopf. »Um dich ist etwas
Dunkles, mein Freund. Ich sah es damals in deinen Augen, als du
gekämpft hast. Und jetzt sehe ich es wieder. Es macht mich traurig,
aber ich bin ja froh, dass wir wenigstens auf derselben Seite
kämpfen.«
Hawkwood knöpfte
sein Hemd zu. »Man nutzt beim Gegner die Chance, die man hat.
Vielleicht bekommt man nur die eine. Und in neun von zehn Fällen
ist das Ergebnis kein schöner Anblick.«
Lasseur neigte den
Kopf zur Seite und sagte: »Vor vielen Jahren war ich mal mit einem
Malaien auf einem Schiff, der mit einem anderen Mitglied der
Mannschaft, einem Sizilianer, in Streit geraten war. Der Sizilianer
hatte ein Messer, und dennoch entwaffnete ihn der Malaie mit bloßen
Händen. Es war eines der merkwürdigsten Dinge, die ich je gesehen
habe. Der Malaie bewegte sich, als ob er tanzte. Oder wie
fließendes Wasser. Und etwas davon war auch in der Art und Weise,
wie du dem Mamelucken den Arm gebrochen hast, nachdem du das
Rasiermesser verloren hattest. Es schien, als hättest du gewusst,
was du tun würdest, noch ehe dein Schlag ihn traf. Wo hast du diese
Technik gelernt? Oder habe ich mir das nur
eingebildet?«
Hawkwood spülte sich
mit dem Rest des Wassers aus dem Kessel die Hände ab. »Ich kannte
mal einen Soldaten. Er war viel im Osten gereist und verkaufte
seine Dienste an jede Armee, die ihn bezahlte. Da gab es einen
Nabob, für den er kämpfte, einen Prinzen aus dem Reich der Moguln,
mit einem chinesischen Leibwächter. Der Soldat erzählte, der
Chinese sei eine Art Priester gewesen. Es hatte angeblich mal einen
Aufstand gegeben, bei dem die Priester sich weder mit Schwertern
noch mit Messern bewaffnen durften. Also lernten sie, wie man sich
Waffen aus Handwerkszeug herstellt, und sie lernten, mit Händen und
Füßen zu kämpfen. Er sagte, man müsse jahrelang trainieren. Er
hatte ein paar Tricks von diesem Leibwächter gelernt, und er
brachte sie mir bei. Aber sie funktionieren nicht immer. Ich
benutze lieber eine Pistole.«
Oder ein Gewehr, dachte Hawkwood.
Der Soldat, von dem
er erzählt hatte, war in Wirklichkeit ein portugiesischer
Guerillero namens Rodriguez gewesen, ein kleiner, drahtiger Mann,
der aussah, als ob ein starker Windstoß ihn umwerfen könne.
Hawkwood hatte ihm beigebracht, mit einer Bakerflinte zu schießen.
Im Gegenzug hatte Rodriguez Hawkwood gezeigt, wie man sich
unbewaffnet gegen Schwert- und Messerattacken verteidigt. Der
Guerillero hatte Hawkwood schnell klargemacht, dass diese Technik
nicht immer Erfolg hat. Wenn man im Zweifel ist und eine Pistole
besitzt, sollte man sie benutzen. Sie ist wesentlich
effektiver.
»Diese Leute, die
den Branntwein und Tabak bringen«, sagte Lasseur, »glaubst du, die
bringen uns bis nach Frankreich?«
Hawkwood dachte
darüber nach. »Ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie uns aufs
Festland bringen und dort über Land zu einem ihrer Häfen an der
Südküste, von dort nach Ostende oder Vlissingen. Aber das werden
wir bald wissen.«
Als sei ein
Stichwort gefallen, ging die Kellertür auf. Isaac kam herein. »Es
geht los«, sagte er aufgeräumt. »Abraham hat eben Nachricht
erhalten. Das Boot ist auf dem Weg hierher.«
Sie verließen den
Keller und stiegen hinauf in den Schankraum, wo sie feststellten,
dass sie Gesellschaft bekommen hatten. Hawkwood zählte wenigstens
fünfzehn Männer; sie waren alle dunkel gekleidet und saßen um
Tische herum, auf denen Kerzen standen. Sie sahen kurz auf, aber
niemand sagte etwas. Hawkwood kannte diese Typen. Die Slums von
London wimmelten davon: harte Männer, die keinem Gesetz
verpflichtet waren, loyal gegen ihresgleichen, aber sofort
misstrauisch gegenüber jedem Fremden, der sich unaufgefordert in
ihre Angelegenheiten einmischte.
Abraham, jetzt ohne
seine Schürze, kam aus einer Tür hinter dem Tresen herein und
steckte sich eine Pistole in den Gürtel. »Also los, gehen wir.« Er
ging zu einem der Tische und nahm eine Laterne, die noch nicht
angezündet war. Drei ihrer Seiten waren abgeklebt.
Der Wirt sah zu
Hawkwood und Lasseur. »Bleibt dicht hinter uns und seid leise.
Sowie wir alles an Land haben, könnt ihr ins Boot
steigen.«
Die Männer an den
Tischen standen auf. Als Hawkwood ihnen nach draußen folgte, sah
er, dass sie gut bewaffnet waren. Jeder von ihnen hatte eine
Pistole im Gürtel, einige von ihnen hatten Holzkeulen. Auf Brust
und Schultern trugen sie etwas Merkwürdiges, das wie ein
Ledergeschirr aussah.
Unten im Keller war
Hawkwood jegliches Zeitgefühl verlorengegangen, und obwohl Isaac
sie darauf vorbereitet hatte, dass es dunkel war, war es doch ein
seltsames Gefühl, bei Nacht hier im Freien
herumzulaufen.
Sie gingen
hintereinander, und Abraham führte sie an der Kirche vorbei ans
Ende des Dorfes. Isaac hatte von einer Hauptstraße gesprochen.
Wieder einmal war diese Bezeichnung völlig übertrieben. Der
Haymarket und der Strand in London waren Hauptstraßen. Aber die
Hauptverkehrsader von Warden war ein Weg, der durch eine Reihe
dunkler Cottages, durch Baumgruppen und Brombeergestrüpp führte.
Außer den Männern aus dem Pub gab es hier draußen kein
Lebenszeichen anderer Bewohner.
Am Rande der Klippe
bot sich ihnen ein außergewöhnlicher Anblick. Es war, als stünde
man am Rand der Welt. Im Norden glitzerten vereinzelte Lichtpunkte
entlang der dunklen Küste, man hätte sie sogar für Sterne halten
können, wenn sie etwas höher gestanden hätten. Hawkwood versuchte,
sich an seine Geografiekenntnisse zu erinnern und kam zu dem
Schluss, dass dies Foulness sein müsse. Weiter westlich, aber nicht
so weit entfernt, schaukelte Nore Ligh, ein Lichtpunkt, der in der
Themsemündung verankert war. Hawkwood betrachtete das Panorama um
sich her. Bis zum Horizont waren die Lichter an den Mastspitzen und
auf den Decks der Schiffe verstreut, sie leuchteten über dem Wasser
wie winzige Glühwürmchen. Auf dem Festland im Süden waren ein paar
hellere Lichter. Eine Ansammlung ließ auf ein größeres Wohngebiet
schließen. Hawkwood nahm an, dass es sich wahrscheinlich um
Whitstable handelte, das sechs Meilen entfernt auf der anderen
Seite der Bucht lag.
»Da!«, flüsterte ein
Mann, den Arm ausgestreckt.
Hawkwood hatte es
zur gleichen Zeit bemerkt. Eine halbe Sekunde später, und man hätte
es verpasst. Es war ein heller, blauer Pulverblitz. Hawkwood
erkannte es, er selbst hatte im Felde auf gleiche Art Signale
gesandt und hatte dazu eine Steinschlosspistole ohne Lauf
verwendet. Wenn man das Pulver auf die Pfanne schüttete und den
Abzug betätigte, gab es dieses grellblaue Licht – weit sichtbar,
wenn man wusste, wonach man Ausschau hielt.
Hawkwood blickte
konzentriert in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war, und
bald sah er etwas Dunkles auf den Strand zuhalten. Dahinter, weiter
draußen, glaubte er einen weiteren, größeren Schatten zu sehen,
aber da er nicht beleuchtet war, konnte er nicht sicher sein, ob es
ein Schiff war oder nicht. Es konnte sich genausogut um eine
optische Täuschung oder das Spiel der Wellen handeln, obwohl der
Seegang nicht stark war.
Schnell hob Abraham
die Laterne hoch. Er drehte die offene Seite in die Richtung, aus
der der Pulverblitz gekommen war und zündete die Kerze an. Als
Antwort kam ein weiterer blauer Blitz.
Schnell löschte er
die Laterne wieder. »Gehen wir.«
Im Mondlicht führte
der Wirt sie den Klippenweg hinab. Er war steil und stellenweise
rutschig von losem Geröll. Drei Minuten später waren sie am Strand.
Der Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Die Wellen, die leise an
den Strand schwappten, klangen wie entfernter Applaus.
Die Männer blieben
stehen und horchten. Aus der Dunkelheit hinter der Brandung hörte
man rhythmisches Rudern. Hawkwood sah es silbern blitzen, wenn ein
Ruderblatt ins Wasser tauchte. Plötzlich verstummte das Geräusch.
Die Männer am Strand traten zurück, als das Boot auf sie zuschoss.
Die Ruderer waren schon aus dem Boot gesprungen, noch ehe es
richtig aufgesetzt hatte. Man begrüßte sich flüsternd und fing an
auszuladen.
Die Männer
arbeiteten lautlos. Auf ihren angespannten Gesichtern lag das
Mondlicht. Hawkwood und Lasseur standen in einiger Entfernung
weiter oben am Strand, um nicht im Wege zu sein, und sahen zu, wie
die Fässer aus dem Boot gehoben und auf den Kies gestellt wurden.
Der Grund für das Ledergeschirr, das die Männer trugen, wurde ihnen
bald klar: Es diente zum Tragen der Fässer, eines wurde auf die
Brust, ein zweites auf den Rücken gehängt. Hawkwood war beeindruckt
von dem Gewicht, das jeder von ihnen tragen konnte; es konnte nicht
viel weniger als hundert Pfund sein. Es musste Schwerarbeit für
Beine und Lunge sein, die Schmuggelware zum Pub
hinaufzutragen.
Sowie die Fässer an
den Geschirren befestigt waren, machten sich die Männer auf den Weg
über den Kies und den Klippenpfad hinauf. Es dauerte eine Weile,
bis die Fässer ausgeladen und am Strand aufgestapelt waren. Als sie
alle an Land waren, reichte die Mannschaft große Säcke aus Ölzeug
aus dem Boot. Hawkwood ahnte, dass es Tabak war.
Isaac packte
Hawkwood am Ärmel. »Auf jetzt, einsteigen!«
Im selben Moment
ertönte von der Kirche her der traurige Schrei eines
Käuzchens.
Isaac erstarrte. »Oh
Scheiße!«
Die Nacht wurde von
einer Salve Musketenfeuer zerrissen.