Kapitel 11
Bruder Gregory stand einen Augenblick still und betrachtete die dunklen, tiefhängenden Wolkenmassen, die den Himmel bedeckten. Hinter ihm, gen Süden, zog sich meilenweit die uralte, zerfahrene Römerstraße nach London dahin. Um diese Jahreszeit gab es kaum Reisende, vor allem nicht zu Fuß, denn es war bitterkalt. Die kahlen Bäume am Wegesrand knarrten im Wind, und die trostlosen, windgepeitschten Felder, die sich vor ihm erstreckten, sahen wenig einladend aus.
Bruder Gregory hielt die behandschuhte Hand hoch. War das nicht eine Schneeflocke gewesen? Mist. Bei Schnee kam er noch langsamer voran, und bis zum nächsten Dorf waren es noch viele einsame Meilen. Ich spute mich wohl besser, dachte er, und er schritt mit Hilfe seines langen Stabes noch einmal so schnell aus.
Bald waren seine Kapuze und das Bündel auf seinem Rücken weiß getupft, und Bruder Gregory überlegte, ob er wohl noch vor seiner Ankunft Frostbeulen hätte. Immer wieder stieß ihm dergleichen zu, wenn er nach Haus wollte. Vielleicht sollte man es aber von der positiven Seite sehen. Frostbeulen würden seiner Demut gewiß förderlich sein, denn die hatte inzwischen unter Zuhilfenahme von bestimmten täglichen Gebeten schöne Fortschritte gemacht. Dieser Gedanke verleitete Bruder Gregory dazu, daß er, ohne das Tempo zu verlangsamen, in seiner Seele aufräumte – was er sich mindestens einmal wöchentlich vornahm, wenn nicht noch öfter. Ein paar Todsünden hatte er endlich gut im Griff – an der Hoffart arbeitete er noch, aber auch da waren Fortschritte zu verzeichnen. Die Völlerei würde ihm im Haus seines Vaters keinerlei Probleme bereiten – das Essen dort war furchtbar. Vater schien keinen Geruchssinn zu besitzen, also konnte sich der Koch natürlich alles herausnehmen.
Bruder Gregory überlegte kurz, ob Geruchssinn und Gehör in einem Zusammenhang standen, da sich beides im Kopf befand. Vater hatte soviel Hiebe auf den Helm abbekommen, daß auch sein Gehör gelitten zu haben schien – zumindest aber konnte ihn Musik nicht rühren. Vielleicht war ja auch sein Geruchssinn diesen Weg gegangen. Vater konnte nur noch eine sinnliche Freude genießen, und die saß nicht unter dem Helm. Hmmm. Eine interessante Idee. Entstand die Sünde nun im Kopf und bewegte sich von dort nach außen in die Gliedmaßen, oder entstand sie in den Gliedmaßen selbst und bewegte sich nach innen und zersetzte das Hirn? Aber wie alle Gedanken, die sich um Vater drehten, führte auch dieser, so dämmerte es Bruder Gregory, in Gottferne. Das durfte einfach nicht mehr geschehen, wenn er erst zuhause war. Er würde dort unter sehr starkem Druck stehen.
Selbst Sir William hatte man aufgerufen, daß er Vater in seinen Bemühungen unterstützte. Bruder Gregory barg an seinem Busen einen Brief von ersterem. Er war ganz eindeutig bei Vater auf Besuch gewesen, als er diesen Brief abfaßte, denn es war die Handschrift von Vaters Kaplan. Feinfühlig ging er gerade nicht vor; er pries den Herzog in den höchsten Tönen als den gütigsten und vortrefflichsten Herrn, den jemand haben konnte, und so weiter und so fort, und rief Bruder Gregory ins Gedächtnis, daß er Gottes Willen auf vielerlei Art auch außerhalb des Klosters dienen könne.
Aber so ganz Unrecht hatte Sir William nun auch wieder nicht. Der Herzog hatte für ihn wahre Wunder gewirkt. Mit einem einzigen Meisterstreich hatte er sämtliche Probleme Sir Williams durchgeschlagen wie den gordischen Knoten. Er hatte seine Rechtsberater an die Verträge mit den Lombarden gesetzt, und die hatten herausgefunden, daß selbige mehr Hintertürchen hatten als der Hund Flöhe. Der darauffolgende Prozeß, den der Herzog stark beeinflußte, zuzüglich einiger hübscher Geschenke an die Richter würde zugunsten von Sir William ausgehen. Und in der Zwischenzeit war Sir William wieder im Besitz seiner Ländereien, seine Töchter hatten wieder eine Mitgift, und sein Sohn war heimgekehrt.
»Hach! Da sieht man's wieder, die Macht des Geldes, des Schwertes und des Gesetzes«, sagte Bruder Gregory bei sich, denn sein Streit mit Kendall war ihm wieder eingefallen. Wieder gewinnt das Schwert. Schließlich würde der König nie jemand seine ganze Gunst gewähren, der nicht auch der größte Kriegsherr Englands war. Gern hätte er Kendall aufgesucht und ihm von diesem Fall berichtet, nur um ihm zu beweisen, daß er im Unrecht war. Schließlich weiß jeder, daß Geld ohne das Schwert keinen Landbesitz halten kann. Und da Land gleich Geld ist, ja, so kann sich Geld allein auch nicht halten – selbst wenn jedermann in London glaubt, daß nur noch das Geld zählt. So verderbt ist die Welt nun auch wieder nicht, dachte Bruder Gregory.
Denn etwas würde ihm fehlen, wenn er erst wieder im Kloster war, den Abt mit seiner Demut überwältigt hatte und den Rest seiner Tage in Kontemplation der Göttlichkeit verbrachte – das Disputieren mit Kendall. Und natürlich das Essen – obwohl man in Gegenwart der Gottheit nicht mehr ans Essen denkt, also war das nicht weiter wichtig. Das Unterrichten hatte ihm gutgetan, auch wenn es nicht Philosophie war und der Schüler bloß eine Frau. Das Erlebnis, Margaret ihre kindlichen Buchstaben ins Wachs ritzen zu sehen und zu wissen, daß er sie unwiderruflich veränderte, das verschaffte ihm eine sonderbare Befriedigung.
Ja, wenn er so darüber nachdachte, so war London voll von Dingen, die ihn glücklich machten. Das Leben dort war, als besäße man ein großes Haus: stets fand sich jemand zu einer gelehrten Disputation, es gab hervorragende Bücher oder ein unterhaltsames Essen. Und dann war da noch etwas, woran Bruder Gregory zwar mit keinem Gedanken dachte – und wenn, dann hätte er es sich ohnedies nicht eingestanden. In der Stadt war die kleine Schlange seiner Neugier zu riesiger Größe gediehen, weil es soviel Nahrung für sie gab. Sie hatte sich von den Briefen genährt, die er für alle Arten von einfachen Menschen schrieb, an Margarets Buch, an Beobachtungen, an Argumenten und ganz schlicht am Schnüffeln, bis sie riesig und ein wahrer Drache geworden war. Und immer wenn sich das Riesending jetzt in den Tiefen von Bruder Gregorys Seele regte, dann mußte er darüber nachdenken, woher wohl das Glas kam oder wie man Uhren herstellte oder wie die Sterne am Himmel befestigt waren oder leider zu oft, was Leute dazu veranlaßte das zu tun, was sie taten. Mittlerweile beobachtete Bruder Gregory mit Vorliebe andere Menschen, bohrte auch gern noch ein wenig nach, um herauszufinden, wie man sie reizen könnte, und verlangte danach, sie zu bessern, ob sie nun wollten oder nicht.
»Wohin du gehst, da gibt es nicht viel zu sehen«, flüsterte der Riesendrache.
»Es gibt Gott, und mehr will ich gar nicht sehen«, schnaubte Bruder Gregorys Seele.
»Werd' du nur nicht hochnäsig«, gab der Drache zurück.
Auf einmal kam Bruder Gregory eine neue Idee. Wenn Gott überall ist, dann wäre es doch durchaus vernünftig, ihn in der City zu suchen?
»Eine selbstsüchtige Vorstellung«, sagte seine Seele. Doch der Drache hatte sich erneut geregt und sein großes Haupt erhoben. Dieses Geschöpf ließ sich nur schwer unterkriegen.
Am Abend lag Bruder Gregory nachdenklich in einem Bett hinten im Ale-Ausschank eines Dorfes zusammen mit fünf weiteren Schläfern, die sich überall um ihn herum zusammengerollt hatten. Alle waren voll bekleidet, auch Bruder Gregory, damit niemand dem anderen die Kleider stehlen konnte. Mit dem Kopf auf dem kleinen Bündel, das sein Brevier, das härene Gewand und die Disziplin, seine Geißel, enthielt, starrte er die ganze Nacht in die Schatten des strohgedeckten Hauses und tat kein Auge zu, obwohl er den Schlaf bitter nötig hatte. Noch zwei Tage Wanderung lagen vor ihm, ehe er zu Weihnachten das Haus seines Vaters erreicht hätte.
Das eintausenddreihundertfünfundfünfzigste Jahr des Herrn ging mit Macht dem Ende zu. In Roger Kendalls hohem Haus in der Thames Street weihnachtete es. Der Himmel war bleiern, und ein kalter Wind vom Fluß verhieß Schnee. Große Eisschollen verstopften den Hafen, obwohl der Fluß immer noch eisfrei zwischen den Brückenpfeilern hindurchschoß. Auf den Straßen der City herrschte reges Leben und Treiben, die Schlachterstände machten gute Geschäfte, und in Cornhill und am Cheap wimmelte es von Straßenverkäufern aller Arten. Hinter den geschlossenen Läden der Armen und den verglasten Fenstern der Reichen brannten Kerzen, Binsenlichter und Fackeln, und auf jeder Straße konnte man Essensdüfte riechen. Denn Weihnachten war eine ganze Jahreszeit: nicht nur ein einziger Festtag, sondern eine lange Abfolge von Festlichkeiten, von den letzten Tagen im Advent bis nach Epiphanias.
Das Haus der Kendalls strahlte vom Licht der Kerzen und der brennenden Feuer in jedem Kamin. Selbst die gemalte Seeschlange im Wappen über dem Kaminsims lächelte durch eine leichte Rußschicht auf die hin- und hereilenden Gestalten in der großen Diele herab, die alles für Weihnachten richteten. Jedes Mitglied des Haushalts hatte zahllose Aufgaben zu bewältigen. Allein schon die Fleischkuchen für Weihnachten erforderten zwei Tage zur Fertigstellung. Gänse, Schwäne, Kapaune, ein Pfau, Rind, Lamm und Schwein mußten auf ein Dutzend verschiedene Arten zubereitet werden, einige wurden in Schüsseln serviert, mit Gewürzen im Mörser zerstoßen, andere als Schaugerichte im Federkleid auf kunstvoll geformten Unterlagen aus Teig angerichtet. Da gab es Kuchen, Sülzen, Puddinge und nicht weniger als zwei aufwendige Zwischengerichte, eins hinter jedem Hauptgang. Eine dieser kunstvollen Essenskreationen aus Teig und Farbe war wie ein Schiff geformt, die andere war eine Darstellung von Engeln, welche drei Hirten auf dem Felde erschienen, das Ganze komplett mit Schafen. Es gab mehrere Sorten Wein, Ale und Met; um diese Jahreszeit erreichte der gewöhnliche Trinkpegel wohl die Hochwassermarke.
Jeder im Haus half bei dessen Ausschmückung, stand auf Leitern und befestigte Efeugirlanden und Bündel von Immergrünzweigen an den Dachbalken der großen Diele. In jedem Zimmer duftete es frisch nach Mistel- und Stechpalmenzweigen. Ein richtiges Weihnachtsfest war nichts für Schwächlinge; das Marathon von Essen, Liedersingen, Tanzen und Kirchgängen erforderte einen ganzen Vorrat an Schwung und aufgestauter Begeisterung, alles, was sich im Laufe eines harten und unbarmherzigen Herbstes und Winters angesammelt hatte. Margaret sauste durch die Gegend, kümmerte sich um die Ausschmückung, das Essen und Kendalls Weihnachtsgeschenke an die Armen und seinen eigenen Haushalt. Dazu kamen noch über ganz London die Maskenfeste und Abendessen in den Häusern von Bekannten und Geschäftsfreunden, die sie zusammen mit ihm besuchte. In ihrem eigenen Haus herrschte Chaos, über das der Geselle wachte, der am meisten zu Streichen aufgelegt und zum Wilden Mann bestellt war, daß er die Spiele vorbereitete.
Heiligabend schleiften Lehrlinge und Gesellen einen riesigen Julsack herein, und Alison, die Kleinste der Familie, ritt darauf wie auf einem Pony und jubelte und fuchtelte mit den Armen, während ihre ältere Schwester Cecily folgte und vor Freude kreischte und hüpfte. Die Jugend ging aus zu Liedersingen und Tanz, zunächst vor der Haustür ihres Meisters und dann durch die Straßen bis hin zum Friedhof, wo der Auflauf von festfrohen Menschen, Musikanten und Strolchen ganz gewiß die Priester störte, welche sich auf die Mitternachtsmesse vorbereiteten.
Wer zuhause blieb, saß mit einem Getränk am Feuer; man erzählte sich himmelschreiende Geschichten und sagte die Zukunft voraus, denn gerade in dieser Nacht versuchen Mädchen herauszubekommen, wie ihr künftiger Ehemann aussieht. Als Mädchen hatte Margaret Freude an diesen Spielen gehabt, ihnen aber nie Glauben geschenkt, weil niemals etwas eingetroffen war; ihr Leben war ganz anders verlaufen. Jetzt mußte sie eine ihrer Mägde trösten, der man zu ihrem Kummer weissagte, sie würde sechsmal heiraten und jedes Mal einen Seemann.
»Ich will aber keinen Mann, der nie zuhause ist!« sagte das Mädchen und brach in Tränen aus.
»Bess, nimm dir das doch nicht zu Herzen. Im nächsten Jahr hörst du etwas ganz anderes, und dann kannst du wählen, was dir mehr zusagt«, beschwichtigte Margaret und setzte hinzu, »außerdem hat man mir einmal geweissagt, ich würde hoch zu Roß entführt und geheiratet, und das stimmt, wie du sehen kannst, nun weiß Gott nicht.«
Doch Margaret saß nicht nur untätig herum und sah den Spielenden zu, sie hatte ihren eigenen Schatz an Geschichten, den Restbestand aus der Zeit ihrer Wanderschaft, der selbst ihren weitläufigen Ehemann erstaunte. An jenem Abend erzählte sie die Geschichte, wie der Teufel als Kleriker verkleidet Lieblingssekretär des Erzbischofs wurde, bis er am Heiligabend seine Macht auf die peinlichste und vergnüglichste Weise einbüßte. Und so verging allen der Abend bei fröhlichem Liedersingen und Geschichtenerzählen.
Am ersten Weihnachtstag wurde nach der Messe im Haus der Kendalls wirklich Ernst mit dem Feiern gemacht. Fässer mit Wein und Ale wurden hereingebracht, damit man die vielen Gänge des Weihnachtsessens hinunterspülen konnte. Neben der ›Familie‹, die an sich schon groß genug war, gedachten die Kendalls ihrer Christenpflicht und baten gewisse Witwen und vom Unglück Betroffene aus der Nachbarschaft zu Tisch. Doch gerade die Gäste, welche Margaret eingeladen hatten, trugen am meisten zu ihrer Weihnachtsfreude bei.
Von all ihren alten Freunden hatte nur Hilde die ganze Zeit über auf Besuch kommen können, und daß noch heimlich – durch die Hintertür. Aber jetzt waren Hilde, Malachi, Sim, Peter und Hob da und gar prächtig anzusehen in den neuen Kleidern, die Margaret ihnen geschenkt hatte. Je mehr das Andenken an ihren Skandal verblaßte, desto weniger Angst hatte sie, daß sie unbeabsichtigt das Augenmerk der Kirchenbehörden auf Bruder Malachis ruchlose Unternehmungen lenkte; und mittlerweile fühlte sie sich endlich so rundum sicher, daß sie ihre Freunde mit Aufmerksamkeiten überschütten konnte, was schon immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen war. Dieses Weihnachtsfest war ihr erstes öffentliches Zusammensein mit ihnen, und wie sie so mit ihrem Mann am Kopfende des Tisches saß, konnte jeder sehen, daß ihr Gesicht vor Glück nur so strahlte.
Sim und Peter saßen am niedrigeren Tisch unter den Lehrbuben, wo Sim, der immer aufpassen mußte, daß Peter beim Essen nicht etwas in die falsche Kehle geriet, den vertrauensseligen Jungen eine Geschichte zum Besten gab, die ihm plötzlich während des ersten Gangs eingefallen war. Peter, so behauptete er mit dramatischen Gesten, war einst haargenauso wie sie geformt gewesen, bis ihn eine Feenkönigin ›verhext‹ hatte, die er zufällig beim heimlichen Baden im Wald überrascht hatte. Am Haupttisch erklärte Malachi – heute im dunklen Gelehrtenhabit ohne die geringste angesengte Stelle oder ein Loch – Lionels ›Braut‹, wie ungemein dekadent doch die neue französische Mode sei, und die hing nur so an seinen Lippen. Sie war derart bezaubert, daß sie sogar vergaß, die Blicke neidisch im Zimmer umherwandern zu lassen und abzuschätzen, welches Möbelstück sie wohl nach dem Tod von Lionels Vater haben wollte.
Selbst die beiden Söhne Kendalls schienen zum heiligen Fest in sich gegangen zu sein, und Margaret glaubte, daß sie endlich die Versöhnung zustandegebracht hätte, um die sie solange gebetet hatte. Beide, Lionel und Thomas, hatten ihre Einladung höflich angenommen und kamen ihrem Vater jetzt so rücksichts- und achtungsvoll entgegen, daß ihm warm ums Herz wurde. Sie entwickelten sogar Pläne, zusammen ein eigenes Handelskontor zu eröffnen und sich zu läutern, wenn er nur dazu bereit wäre, ihnen unter die Arme zu greifen.
Am fröhlichsten aber war der Haushaltsvorstand, der gebratenen Schwan mit großen Schlucken Met hinunterspülte, während er eine Geschichte von seinen Abenteuern in Italien erzählte, die ihn an einem längst vergangenen Weihnachten leibhaftig nach Rom geführt hatten. Margaret legte ihm die Hand auf den Arm und wollte ihn mahnen, seiner Gicht zuliebe vorsichtig zu sein, doch schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten. Er lächelte nachsichtig, während er sich für einen neuen Trinkspruch nachschenkte.
Als die Gäste dann fort waren, ging es Roger Kendall sehr schlecht. Die Diener mußten ihn nach oben tragen und aufs Bett legen, und Margaret zog ihm Schuh und Strümpfe aus.
»Genau wie früher, was?« grinste er auf seine komische, schiefe Art, doch er biß dabei die Zähne zusammen.
»Genauso«, lächelte Margaret, »denn du bist so maßlos und trotzig wie ein Kind, finde ich.«
»Leg deine Hand – ja – genau dorthin; ja, da ist's richtig. Weißt du was? Du hast mich geheiratet und meine Gicht geheilt, damit ich noch viele fröhliche Weihnachtsfeste erleben konnte. Alles war von Gott vorherbestimmt.«
»Und doch solltest du dich mehr vorsehen.«
»Was habe ich denn zu fürchten, wenn du bei mir bist, Margaret?« Kendall entspannte sich, nachdem der Schmerz in seinem malträtierten Fuß nachgelassen hatte.
»Fürwahr, rein gar nichts. Ich liebe dich so sehr, daß ich selbst in die Hölle gehen und dich ihr entreißen würde, wie dazumal Orpheus.« Margaret war mit der Behandlung seines Fußes fertig, und nun saßen sie zusammen händchenhaltend auf dem Bett.
»Wenn in dieser Familie jemand entrissen wird, mein Mädchen, dann du, wenn ich dich nämlich nächste Woche auf dem Maskenfest im Savoy vor dem Zugriff dieses lüsternen Herzogs von Lancaster bewahren muß. Weißt du eigentlich, welches Gerücht jetzt wieder in der Stadt umläuft? Seitdem du Französisch kannst, soll ich dich aus einem Kloster entführt und anschließend geheiratet haben.« Er lachte in sich hinein, als Margaret ausrief:
»Ehrlich, ich finde, die Menschen glauben nicht nur alles, was sie hören, sie behalten es auch nicht länger als vierundzwanzig Stunden!«
Das Gerücht lief die ganze Weihnachtszeit über auf einer Reihe von Festlichkeiten hinter ihnen her, und beide hatten ihren Spaß daran, denn bei genauem Hinhören kamen sie auf mehrere Varianten der Geschichte. Schließlich konnte Margaret der Versuchung, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, nicht länger widerstehen. Als dann der nächste rougierte Lebemann daherkam und sie um unschickliche Gunstbeweise bat, da murmelte sie ihm ins Ohr:
»Ach, wenn mein böser Onkel mich doch nur nicht im Kloster eingesperrt hätte – aber jetzt ist es leider ganz und gar zu spät, mein Los ist besiegelt –« Damit verschwand sie in der Menge, daß sie ihrem Mann alles haarklein berichtete, und ließ den angemalten Kerl einfach stehen.
»Mein lieber Baron, es gehört sich wirklich nicht für einen Niemand, ein gebildetes Mädchen von edler Herkunft auf diese Weise einzufangen«, beschwerte sich der Lebemann.
»Wer weiß? Vielleicht habt Ihr ja noch Chancen bei ihr. Meinen Mittelsmann hat sie just nach Martini abgewiesen, die kleine, frömmelnde Schwindlerin. Aber es ist vorauszusehen, daß sie ihr langweiliges Leben bei diesem alten Kaufmann bald leid wird«, erwiderte sein Kumpan. Doch das hörte Margaret natürlich nicht.
Zu Neujahr beschenkten die Kendalls die Mitglieder des Haushalts mit neuen Kleidern und Geld, und das kam für die Lehrbuben gerade noch rechtzeitig, denn die wuchsen aus ihren Sachen heraus, kaum daß sie gekauft waren. Die kleinen Mädchen bekamen jede ein Spielzeug und von ihrer Mutter zwei kleine Nähkörbe, denn diese fand, es sei nie zu früh, nützliche Dinge zu erlernen. Ihr Vater hatte für jedes eine Bernsteinkette und ein kleines Goldarmband gekauft, in das ihre Initialen graviert waren. Dann schenkte Margaret ihrem Mann etwas, das sie lange geheimgehalten hatte, nämlich ein Schachspiel mit geschnitzten, orientalischen Figuren und einem Brett in Einlegearbeit, was alles ebenso faszinierend zum Betrachten wie zum Spielen war.
Doch sein Geschenk für sie, das er so lange und klug im voraus geplant hatte, machte für sie den Tag zum Fest. Der Psalter war schön in schlichtes Kalbsleder gebunden und trug als rundes Muster Margarets Initialen auf dem Deckel. Drinnen zogen sich säuberliche Reihen von Latein über die Seiten, wobei die englische Übersetzung gleich darüberstand und fast Wort für Wort dem Latein entsprach. Auf Illumination war verzichtet worden, doch die englischen Anfangsbuchstaben waren hübsch rot nachgezogen und die lateinischen blau, so daß man sie auseinanderhalten konnte. Das hatte in ganz England nicht seinesgleichen, denn es war gleichzeitig Lehrbuch und Andachtsbuch. Margaret war entzückt. Wenn das nicht einfach märchenhaft war! Ein richtiges Buch, das nur ihr gehörte, ein Symbol dafür, wie stolz ihr Mann auf sie war, weil sie sich mit dem Lesenlernen soviel Mühe gegeben hatte. Und wer weiß? Womöglich würde es ihr eines Tages auch die Geheimnisse der lateinischen Sprache erschließen.
Roger Kendall war sehr zufrieden mit sich, als er den Ausdruck auf Margarets Gesicht sah. Es war eine Lust, sie glücklich zu machen. Und es auf diese Weise zu machen, bereitete ihm eine sehr komplexe Freude, so, wie er sie am liebsten hatte, denn schlichte Freuden ödeten ihn schon seit langer Zeit an. Als ihm die Idee gekommen war, hatte sie ihn noch tagelang danach glücklich gestimmt. Die Psalmen – wie abgenutzt sie doch vom ausgiebigen Gebrauch waren: Nummer einundfünfzig, die ›Halsverse‹; wenn man die ersten Zeilen lesen konnte, dann löste der weltliche Henker die Schlinge und übergab einen der weniger schlimmen Gerichtsbarkeit der Kirche, weil man dann als Kleriker galt. Schurken, die nicht lesen konnten, lernten diese Zeilen auswendig, um der Bestrafung zu entgehen. Die sieben Bußpsalmen: Ketzer, die widerrufen hatten, mußten sie täglich zur Strafe herbeten – eine der zahlreichen Strafen –, die Lippen bewegten sich, während das Herz noch aufsässig war. Manchmal forderte man von dem reuigen Sünder gleich den ganzen Psalter. Und dann gab es noch die gelehrten Doctores, welche jede Zeile auf der Suche nach Beweismaterial dafür, wie die natürliche Welt erschaffen wurde, zerbrachen, wo doch das Buch der Natur neu und ungelesen vor ihnen aufgeschlagen lag. O ja, die Psalter waren ein abgegriffener Buchstabenhaufen, den die Schreiber durcheinandergeworfen hatten. Doch nicht dieser Psalter. Da stand Margaret, hielt das Buch in der Hand, und auf ihrem Gesicht lag der gleiche Ausdruck wie an jenem Tag, als ihr einer seiner Kapitäne ein Kästchen türkische Rosenwasserbonbons mitgebracht hatte. Sie erinnerte Kendall an seine eigene Jugend, als er jene Verse auch geliebt hatte.
Natürlich durfte sie das Buch nicht haben. Sie ahnte ja nichts von jenem Kirchengesetz, welches den Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift in einer Volkssprache verbot. Selbst eine Nonne im Kloster hätte wohl kaum die Erlaubnis dazu erhalten, und Margaret war in Kendalls Augen wirklich weit davon entfernt, eine Nonne im Kloster zu sein. Ein heimliches Lächeln huschte kurz über sein Gesicht, so sehr freute er sich. Was für ein Spaß, den kirchlichen Institutionen eins auszuwischen! Er hatte sie einst gewogen, sie zu leicht befunden und sich angepaßt. Aber Margaret – die wischte ihnen allein schon dadurch eins aus, daß sie Atem schöpfte, doch sie schien es nicht zu würdigen. Vielleicht mußte sie erst älter werden, so wie er, daß sie es mit Humor nahm. Ihre Streiche waren für Kendall eine ständige Quelle des Vergnügens, und als er sah, wie sie die Seiten umblätterte, erfüllte ihn eine Art sardonische Freude, die er in vollen Zügen genoß. Und wie rasch und widerstandslos sich auch Bruder Gregory, dieser aufmüpfige Halunke, hatte hineinziehen lassen. Es freute ihn, daß er Menschen selbst nach so kurzer Bekanntschaft immer noch durchschauen konnte.
Margaret schlug das Buch auf und glättete die Seite mit einer Hand, die vor Vorfreude zitterte. Sie fing an, laut vorzulesen:
»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
und die Feste verkündiget seiner Hände Werk…«
Sie wußte sich vor Freude nicht zu lassen. Doch beim Lesen bemerkte sie, daß ihr die Handschrift des Kopisten sehr bekannt vorkam. Als Margaret mit Lesen aufhörte, da wußte sie auch warum. Es war Bruder Gregorys Handschrift. Sie mußte insgeheim bei dem Gedanken lächeln.
»Das sind mir Brüder, einer nicht besser als der andere. Vermutlich hat er für den Kopisten mehr verlangt und das Geld dann selbst eingesteckt. Schön zu wissen, daß er am Ende auch nur ein Mensch ist.«
Master Kendall blickte ihr über die Schulter. Auch er hatte Bruder Gregorys Handschrift erkannt und lächelte. Der Verdacht war ihm schon gekommen, daß dieser alles allein gemacht haben könnte, nur um sowohl das Honorar für den Kopisten als auch das für den Übersetzer einzustreichen, dazu noch die Vermittlungsgebühr fürs Erledigen. Genau das hatte er sich davon versprochen, und es freute ihn, denn er hatte Bruder Gregory zu Weihnachten etwas schenken wollen, wußte aber, daß dieser zu stolz war, ein direktes Geschenk anzunehmen.
»Gefällt es dir, Margaret?« fragte er und wußte doch die Antwort im voraus.
»Ich werde es nie aus der Hand geben«, sagte Margaret und legte ihre Hand auf seine. »Hoffentlich nimmst du es einmal zur Hand, wenn du ganz, ganz alt bist und erinnerst dich dann, wie sehr ich dich geliebt habe.«
»Du meinst, wie sehr ich dich liebe«, verbesserte ihn Margaret und küßte ihn.
Der Tag hatte gerade erst angefangen und schien bereits ein Glückstag zu werden. Vom Dock schickte man Nachricht, daß sich die Godspeed in den Hafen geschleppt hätte und jetzt im Eis vor Anker läge. Sie war mehr als zwei Monate überfällig, denn Winterstürme hatten sie vom Kurs abgebracht, und sie trug eine Ladung, die mehreren bedeutenden Handelsherren gehörte, darunter auch Roger Kendall. So ein schlimmer Verlust traf schwer, besonders vor Weihnachten, doch er hatte gelächelt, als ob alles in Ordnung wäre, und war seinen Verpflichtungen klaglos nachgekommen. Kendalls Theorie hieß: laß niemanden sehen, daß du blutest, das lockt nur die Haie an. Jetzt aber war wirklich alles in Ordnung, und er war sehr erleichtert.
»Margaret, liebes Mädchen«, rief er freudestrahlend, »ich gehe jetzt zum Hafen hinunter und rede selbst mit dem Kapitän und bitte ihn zu Tisch.«
»Kannst du nicht jemand schicken? Du fehlst uns hier, der Kapitän wird seine Geschichte sowieso noch früh genug los«, gab sie zurück.
»Unsinn, Unsinn, das wäre mir ja eine schöne Begrüßung. Ich bin im Nu wieder zurück.«
Etwas ganz, ganz Winziges, eine Art Stäubchen in Margarets Herzen – etwas, wovon kaum sie selbst wußte – machte, daß sie sagte:
»Dann nimm mich mit. Ich möchte so gern mit.«
»Das ist Männersache und sehr langweilig, mein Mädchen. Das Interessante hörst du dann beim Abendessen.« Und schon war er fort, in seinen dicken Mantel gehüllt und von zwei seiner Gesellen begleitet.
Zu Fuß brauchte man nicht lange zur Werft, doch Kendall war von dem vielen Feiern noch so übersättigt, daß er nur langsam vorankam. Überall hatte sich die Nachricht von der Ankunft des Schiffes verbreitet, und so strömten denn die Menschen herbei, darunter auch Lionel, Kendalls ältester Sohn, der meinte, daß jetzt, da sein Vater soviel Glück gehabt hatte, eine gute Gelegenheit wäre, ihn um Geld anzugehen. Er gesellte sich zu der kleinen Gruppe auf dem Dock, und noch in einiger Entfernung konnte man laute Worte hören, dann sah man, wie Lionel wutentbrannt die Faust hob. Doch sein Vater antwortete nicht. Kalter Schweiß bedeckte das Gesicht des alten Mannes. Er wurde totenblaß; ein schweres Gewicht preßte ihm die Brust zusammen, und er brachte kein Wort heraus. Jetzt drehten sich seine Männer plötzlich besorgt um und fingen ihn auf, als er umzufallen drohte. Der Kapitän des Schiffes, der ihm zur Begrüßung entgegenkam, stand still und bekreuzigte sich. Roger Kendall würde weder ihn noch jemand anders wieder zum Abendessen einladen.
Die entsetzte Magd holte Margaret zur Tür. Sie warf einen Blick nach draußen und sah die betretenen Gesichter der Gesellen ihres Mannes, dazu zwei Fremde, die auf der Straße vor der Haustür standen. Leichter Schnee wirbelte um sie herum und legte sich auf ihre Kapuzen und Bärte und das in den Umhang gehüllte Bündel, welches sie trugen. Wortlos forschte sie in ihren Gesichtern, sie ahnte, was man ihr sagen wollte. Dann trat sie hinaus und zog die Hülle vom Haupt ihrer betrüblichen Last. Es war der Leichnam ihres Mannes.
Margaret riß die Augen auf, rang nach Atem. Ihr Gesicht leuchtete geisterhaft blaß, und dann brach sie zusammen, fiel ohnmächtig in den matschigen Schnee vor der Tür. Jetzt kam Leben in ihre Leute, man hob sie auf und brachte sie nach drinnen, um den Weg für den Leichnam freizumachen.
Als man Roger Kendall dann zum letzten Mal in seiner eigenen Diele abgesetzt hatte, war auch Margaret wieder zu sich gekommen. Dem Haushalt wäre es lieber gewesen, wenn sie geweint hätte, denn dann hätte man sie trösten und den eigenen Gram lindern können. Stattdessen erteilte sie mit eigenartiger und abwesender Stimme Anweisungen für die erforderlichen Vorbereitungen. Der Schockzustand hielt an, bis der Leichnam zur Aufbahrung im Sarg fertiggemacht werden sollte. Man hatte zwei Mönche bestellt, daß sie ihn wuschen und ins Leichentuch nähten. Doch Margaret hatte sie beiseitegeschoben. Eigenhändig wusch sie den Toten und bahrte ihn auf; keiner durfte ihn anrühren. Als sie seine Hände nahm und sie auf der Brust falten wollte, da fiel ihr Blick auf die große Narbe, die über den ganzen Handrücken der Rechten lief. Ein unerträglicher Schmerzklumpen löste sich und stieg hoch, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie zuerst die Narbe, dann den Handteller küßte und ihre Hand zum letzten Mal darauf legte. Sie umschloß seine eiskalten Wangen mit ihren Händen und blickte ihm ins eingesunkene Antlitz. Sie flüsterte:
»Wenn du mich doch nur mitgenommen hättest«, während sie sich langsam vorbeugte und ihn zum letzten Mal küßte. Dann saß sie ganz zusammengekauert und tränenblind in einer Ecke beim Feuer, während die Mönche die Arbeit beendeten. Sie wachte die ganze Nacht beim Schein der Kerzen rings um den Sarg. Ihr Hirn wollte es nicht fassen, daß er ohne Absolution gestorben war, das machte ihr furchtbar zu schaffen; und wenn sie einen Augenblick nicht an ihren entsetzlichen Verlust dachte, dann schrie sie insgeheim zu Gott, daß er ihn auch ohne Absolution erlöste. Nie und nimmer würde sie aufhören, Gott damit in den Ohren zu liegen, bis Er ihr sagte, daß ihr Roger Kendall erlöst sei. Sie würde sich an den Saum Seines Gewandes klammern und weinen und schreien, bis Er ihn erlöste, ob er nun wollte oder nicht, und wenn auch nur, um diese Plage loszuwerden. Sie würde zu Jesus und allen Heiligen beten, bis sie alle wie ein Mann aufstanden und Gott anflehten, sie ihnen vom Hals zu schaffen, indem er nachgab. Am Morgen fand man sie dort am Sarg mit einem glasigen und eigenartig entschlossenen Blick, aber immer noch wach.
Roger Kendall war alt und sehr beliebt gewesen. An der schwarzumflorten Tür mit dem Priester standen alle Mitglieder der Tuchhändlerzunft, um dem Leichnam das Geleit zu geben. Als der Sarg das Haus verließ, setzte die größte Glocke von St. Botolphe Billingsgate mit dem Trauergeläut ein. Ihr klagender Klang folgte der Prozession, die Kendall die letzte Ehre erwies, durch die gewundenen Straßen. Voran schritten seine Zunftbrüder, dann der Kreuzträger; hinter dem Kreuz ging paarweise die Geistlichkeit mit brennenden Kerzen in der Hand. Vor dem Sarg schritt einsam und allein der Gemeindepfarrer; zu beiden Seiten der Sargträger gingen Männer mit brennenden Kerzen. Margaret folgte dem Sarg wie von Sinnen und gestützt von Hilde. Neben ihr gingen ihre beiden Töchter mit roten, verweinten Augen, und klammerten sich an ihre Röcke. Danach kamen die Söhne des Toten in tiefstem Schwarz und nach außen hin furchtbar betrübt. Es folgte sein Haushalt und alle, die ihn geliebt hatten, und sie schrien und stöhnten und wehklagten, wie es Brauch war.
Irgendwie bewahrte Margaret während des Gottesdienstes Haltung, nachdem man Kendalls Leichnam zu Requiem und Absolution vor dem Altar abgesetzt hatte. Doch als die Sargträger ihre Last wieder aufnehmen und der Kantor den uralten Gesang anstimmte: »Send mir dein Engelein, führ mich ins ewig Leben«, da erblickten alle, welche Margaret dem Sarg folgen sahen, wie sich ihr Mund zu einem lautlosen Schmerzensschrei öffnete, der viel fürchterlicher war als alle Tränen.
Auf eine Beerdigung folgt Essen und Trinken, doch das merkte und an das erinnerte sich Margaret nicht mehr. Sie war eine Zeitlang völlig von Sinnen. Hilde rief nach Bruder Malachi und vielen ihrer Freunde, denn Margaret war weitaus beliebter, als sie überhaupt ahnte. Grüppchenweise saßen sie bei ihr und ließen sie weder bei Tag noch bei Nacht allein und versuchten, sie zum Reden oder Essen zu bewegen. Man setzte ihr die Kinder auf den Schoß, doch sie sah sie nicht. Schon mußte das Haus befürchten, daß es nicht mehr lange dauerte, und man hatte auch die Herrin verloren, was so traurig war, daß man es kaum ertragen konnte.
Als Bruder Malachi dann eines Tages mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Händen durch den Schneematsch in Cheapside stapfte und sich fragte, was man noch tun könne, da hörte er vertraute Laute. Zum Dröhnen der Trommel trugen zwei wohlbekannte Stimmen den Disput zwischen Winter und Sommer vor. Dieses Mal schnitt der Sommer schlecht ab, kein Wunder auch bei dieser Jahreszeit. Das konnte niemand so gut wie Maistre Robert le Tambourer. Malachi wartete im Hintergrund, bis das Geld wohlbehalten eingesammelt war, dann begrüßte er Master Robert.
»Seid mir gegrüßt, Master Robert!« empfing er seinen alten Freund von der Wanderschaft. »Heute brauche ich Eure Hilfe ganz dringend – nur Ihr, ein leibhaftiger Meister, könnt mir noch helfen. Eure alte Freundin Margaret ist frisch verwitwet und vor Gram ganz von Sinnen. Könnt Ihr kommen, und sie uns zuliebe wieder gesundmachen?«
»Ei der Daus, alter Freund! Was für eine Überraschung, Euch hier zu sehen!« rief Master Robert jovial. »Das tut mir aber leid. Natürlich habt Ihr recht; Musik ist das allerbeste Heilmittel.« Dann verabschiedete er sich mit einer tiefen Verbeugung von der kleinen Menge um ihn herum: »Liebwerte Freunde, ich muß Euch leider verlassen – wir wurden unvermutet zu einer Privatvorstellung abgerufen.« Zusammen stapfte die kleine Gruppe – Malachi, der Kleine William, der Jongleur, der Lange Tom, der Pfeifer, und Maistre Robert – durch die schmalen Straßen zum Fluß hinunter und zu Margarets Haus. Als Master Robert an der leuchtend bemalten Fassade hochblickte, hielt er den Atem an. Wenn Margaret es nicht großartig getroffen hatte – nicht, daß sie es nicht verdiente, doch Master Robert mußte daran denken, wie sie alle in grobe Decken gehüllt am Wegesrand geschlafen hatten und von Glück sagen konnten, wenn sie die paar Pence für altbackenes Brot und dünnes Ale zusammenbekamen.
»Keine Sorge«, sagte Bruder Malachi, »sie ist noch genauso nett wie früher – aber betrüblich verändert durch den herben Verlust. Das macht uns nämlich allen Sorge.« Man führte sie zusammen nach oben, obwohl ihre schreiend bunten Umhänge und die bändergeschmückten Instrumente die konservativeren Mitglieder des Haushalts schockierten. Margaret saß im Bett und blickte ins Leere, sie sah sie nicht. Ihr Anblick schnitt Master Robert doch sehr ins Herz. Ob nun schlicht oder prächtig, seine Umgebung war ihm ziemlich gleichgültig. Mit einem Blick erfaßte er die Wandbehänge, die dicken Teppiche, das große Himmelbett und die eisenbeschlagenen Truhen und sah, daß Geld, welches so manche Witwe tröstet, Margaret nichts bedeutete. Wer auch immer der Mann gewesen sein mochte, sie mußte ihn von ganzem Herzen geliebt haben.
Also nahm Maistre Robert le Tambourer seine kleine Handharfe und begann mit der langen, traurigen Ballade von Tristan und Isoldes Liebe. Als er dann bei Tristans Tod ankam, waren alle so betrübt, daß sie weinten. Und als er von Isoldes Gram sang, da blickte ihn Margaret mit leeren Augen an, in denen jetzt die Tränen schimmerten. Und als sie dann flossen, da fing sie an zu schluchzen, als ob ihr das Herz brechen wollte. Hilde nahm sie in die Arme.
Doch Master Robert wußte mit Kummer umzugehen, denn er hatte ihn in fast allen Abschattierungen an sich selbst erfahren und war schon zu so manchem gerufen worden, daß er ihn tröstete. Und so ließ er auf die Ballade etwas anderes folgen, ein zartes, lyrisches, instrumentales Duett mit dem Langen Tom. Dann trocknete sich der Kleine William, dessen Tränen auch reichlich flossen, die Augen und setzte mit einem anderen traurigen Lied ein. Alsdann beschleunigte Master Robert das Tempo mit einem lebhafteren Lied. Danach stimmten sie eines von Margarets Lieblingsliedern an und baten sie mitzusingen. Zunächst konnte sie nicht, doch als man beim zweiten Kehrreim angelangt war, setzte sie mit zitternder Stimme ein. Dann sangen sie zusammen, schlugen dazu kräftig den Takt, während die anderen im Zimmer den Kehrreim so unerschrocken mitsangen, daß das Haus von dem Lärm schier ins Wackeln kam. Danach führte Master Robert einen komischen Tanz auf, und alle lachten, selbst Margaret.
Sie blieben die ganze Nacht, sangen und trugen verrückte Dialoge vor, bis die Kerzen niedergebrannt und die Diener vor Erschöpfung umgefallen waren, und Margaret seit jenem furchtbaren Tag zum ersten Mal richtig Schlaf fand. Als sie am Morgen aufwachte, kam Master Robert persönlich mit dem Frühstück hochgetanzt, und der Lange Tom und der Kleine William standen um sie herum und erzählten Witze, während sie aß. Als sie merkten, daß sie langsam wieder zu sich fand, umarmten sie Margaret und sagten ihr Lebewohl:
»Margaret, liebes Mädchen, ohne dich ist es auf der Landstraße sehr langweilig gewesen, und seitdem du uns verlassen hast, haben wir uns gezwungenermaßen mit unserer Satire äußerst vorsehen müssen. Vergiß nicht, in der Truppe von Robert le Tambourer wartet immer ein Platz auf dich! Und jetzt, liebes Herz, müssen wir dich verlassen, denn wir haben eine Vorführung im Gildensaal der Goldschmiede.« Dann verneigten sich alle drei äußerst elegant und gingen. Margret sagte:
»O Hilde, wie ich sie liebe! Vielleicht wird ja doch noch alles gut.«
Margaret und ihre Freunde bemerkten allerdings nicht, daß die Wölfe sie schon umkreisten wie ein verwaistes Lämmchen auf einer Waldlichtung. Eine arme Wittib mag ein Weilchen keine Freunde haben, eine reiche jedoch ist eine fette Beute. Und wenn sie nicht nur reich, sondern auch noch attraktiv ist, dann steht es außer Frage, daß man sie allzu lange in Ruhe läßt. Mehreren Ortes in der City stellten mächtige Männer bereits Berechnungen an, wenn auch nicht für sich, so doch für ihre Söhne: wieviel Tage es sich nämlich noch schickte zu warten, ehe man um ihre Hand anhielt, und wie man sie sanft unter Druck setzen könnte, um ihre Einwilligung gewissermaßen zu erzwingen.
Doch noch unangenehmer machte sich bemerkbar, daß bei den angeblich geläuterten Söhnen Lionel und Thomas kurz nach dem Begräbnis alles wieder beim alten war, ja, genau in dem Augenblick, als sie erfuhren, was im Testament ihres Vaters stand. Was sie planten, war noch schlimmer als eine Ehe. Eines Nachmittags, als im Haus der Kendalls Ruhe eingekehrt war, Kendalls Lehrbuben und Gesellen ausgezogen waren und sich keine Besucher mehr die Türklinke in die Hand drückten, da donnerte Lionel an die Haustür und bat um Einlaß. Thomas versuchte es zur gleichen Zeit an der Hintertür. Zu ihrer Überraschung wurden die Haushaltsmitglieder, die beide Türen öffneten, auf der Stelle von einem halben Dutzend bewaffneter Banditen überwältigt, die sich jetzt hereindrängelten und die verschüchterten Dienstboten in der Diele zusammentrieben.
»Wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann versucht nicht zu fliehen«, sagte Lionel zu ihnen, lächelte dabei sein wölfisches Lächeln und schwang sein Kurzschwert. »Wir haben für Eure Herrin eine Überraschung auf Lager und lassen uns nicht gern dabei stören.« Als die Unholde die Nachzügler aus den Ställen hereingetrieben hatten, sperrten sie die Dienerschaft in einen Vorratsraum im Keller. Dann stürmten sie auf der Suche nach Margaret, ihren Kindern und der Kinderfrau die Treppe hoch.
»Ha, Agatha, jetzt kriegst du endlich die Gelegenheit, sie zu versohlen, wie sie es verdienen«, lachte Thomas und warf der Kinderfrau einen Beutel voller Geld zu. »Paß auf sie auf, aber bring sie nicht um – wenn alles wie geplant läuft, dann machen wir ein gutes Geschäft mit dem Verkauf ihrer Mitgift.«
»Stets gern zu Euren Diensten, Sir«, sagte sie mit einem Knicks und einem hämischen Grinsen.
Die gedungenen Mordbuben hatten Margaret gefunden und hielten sie in ihrem Schlafzimmer an den Armen gepackt, während Lionel sie umschlich.
»Los, du Dirne, sag uns, wo es ist«, fauchte er.
»Wo was ist?« stieß Margaret hervor.
»Tu doch nicht so, du weißt ganz gut, wonach wir suchen.«
»Ich weiß es wirklich nicht, ich schwöre es«, sagte Margaret, doch ihre Antwort erboste Lionel nur noch mehr. Er hielt sie an der Kehle gepackt, als wollte er die Antwort aus ihr herauswürgen, als sein Bruder hereinkam:
»Noch nicht erdrosseln; denk daran, wir kriegen gar nichts und verlieren alles, wenn du sie gleich umbringst«, rief er Lionel zu, der im gleichen Augenblick einen schrillen Schrei ausstieß.
»Die Hexe hat mich verbrannt!« Heftig zog er die Hand zurück und betrachtete sie; es roch nach angesengtem Fleisch. Über seinen Handteller lief ein schwarzes Mal, ein Brandmal, das genau die gleichen Kettenglieder zeigte wie die Kette um Margarets Hals. Sie schreckte vor ihm zurück und versuchte mit der Hand nach ihrem Hals zu fassen, doch Lionels Männer hielten sie bei den Ellenbogen gepackt, und so konnte sie die schmerzende Stelle nicht erreichen. Am Halsansatz bildete sich im Nu ein großer, blauer Fleck, der wie zwei Daumen geformt war. Während des ganzen Zwischenspiels hatten die beiden Männer, die sie an den Armen festhielten, ihren Griff nicht gelockert.
»Bruder, Bruder. Warte bis später. Bring sie zuerst zum Reden, ehe du etwas tust, was sich nicht wieder gutmachen läßt«, sagte Thomas. Auch er zog sein Messer und hielt ihr die Klinge an die Kehle. »Und jetzt«, sagte er, »erzählst du uns, wo es ist, oder du wirst es sehr, sehr langsam bereuen.«
»Ich schwöre bei allen Heiligen, ich weiß nicht, was Ihr meint!« keuchte Margaret und traute sich nicht, auch nur den allerkleinsten Muskel zu rühren.
»Das Testament, das Testament, du gerissene, tückische, kleine Schlampe. Das richtige. Das, was du gestohlen hast.«
»Es gibt kein anderes Testament abgesehen von dem, das gerade eröffnet worden ist. Was um Himmels willen meint Ihr damit?«
»Das Weib ist wirklich erstaunlich unverschämt, Bruder. Hörst du, wie sie es abstreitet?«
Lionel stand von der Truhe auf, wo er gesessen und sich die verbrannte Hand gehalten hatte. In seiner vollkommen schwarzen Trauerkleidung war er ein finsterer Geselle. Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer und nahm das Messer seines Bruders mit einer beinahe zärtlichen Geste von ihrer Kehle weg, dann schlug er Margaret jäh brutal ins Gesicht. Sie blinzelte, versuchte, die Tränen zu unterdrücken, und starrte ihn verständnislos an.
»Verschwende keine Zeit mit Abstreiten. Wir wissen von dem Komplott. Du wolltest das echte Testament verstecken und eine Fälschung unterschieben. Man hat dich und deinen Liebhaber dabei gesehen.«
»Meinen Liebhaber?« rief Margaret außer sich, »ich habe keinen Liebhaber.«
Beide Brüder stießen ein heiseres Lachen aus. Lionel höhnte:
»Uns lügst du nicht an, du fromme, kleine Heuchlerin, so wie du es bei Vater geschafft hast. Du bist die ganze Zeit doch nur hinter seinem Geld hergewesen; das haben wir gewußt und dich beobachten lassen. Du bist mit Papieren gesehen worden, welche dieser schmierige Klosterbruder, mit dem du geschlafen hast, für dich geschrieben hat.«
»Nie, nie und nimmer habe ich sowas getan. Es ist gemein von Euch, mir das vorzuwerfen, wo Euer Vater eben erst unter der Erde ist.«
»Du willst also abstreiten, daß man dich mit Papieren gesehen hat? Uns führst du nicht hinters Licht. Wir wollen sie haben, noch ehe die Nacht um ist. Wo sind die Papiere?« Lionel hatte sein Messer gezogen, und es glänzte tückisch, als er die Spitze sacht, ganz sacht über Margarets Kehle zog, wo sie eine schmale, rote Spur wie ein dünner Kratzer hinterließ. Inmitten dieser entsetzlichen Ereignisse ging Margaret jäh auf, was sie meinten. Jemand hatte ihnen von ihrem Buch erzählt. Was nutzte da alle Erklärungen – sie würden ihr keinen Glauben schenken. Und wenn, dann würden sie in ihrer Wut über den Fehlschlag das Buch vernichten. Sie sah sie direkt vor sich, wie sie lachten und sich die Seiten laut vorlasen, eine nach der anderen, während sie diese vor ihren Augen dem Feuer übergaben. Nie und nimmer würde sie das Versteck verraten. Ihr Blick suchte verzweifelt nach Hilfe, aber es gab keine. Lionel merkte, wie sich ihr Ausdruck flüchtig veränderte, und ein schiefes Grinsen, eine finstere Karikatur von seines Vaters gewinnendem Lächeln, verzerrte seine Züge.
»Aha! Du weißt sehr wohl, wo es ist. Unser Vater hat uns alles hinterlassen, und das weißt du. Am Ende hat er doch noch herausgefunden, was du für eine bist.«
»Ja«, kam Thomas dazwischen. »Wir haben ihn gewarnt. Dann haben wir versucht, ihn vor sich selbst zu bewahren, diesen senilen, alten Narren, doch jemand hat das Gift gefunden, und du bist noch einmal davongekommen, du hartnäckige, kleine Ratte, du.«
»Aber jetzt ist es zu spät für dich. Rede, oder ich schneide dir auf der Stelle die Kehle durch«, sagte Lionel lächelnd und legte ihr die Klinge quer über den Hals.
»Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte Margaret, »macht nur. Ich habe darum gebetet, sterben zu dürfen. Stecht nur zu.« Sie drehte den Kopf, so daß die Arterie unterhalb ihres Ohres unter der Messerklinge pochte.
Thomas hatte zugesehen, und dabei war ihm ein Gedanke gekommen.
»Vielleicht hast du ja wirklich keine Angst vorm Sterben, aber ich könnte mir vorstellen, daß du es gar nicht so gern siehst, wenn hier, bevor du gehst, so ein niedlicher, kleiner Finger abgehackt wird. Wo sind die Bälger, die nie versohlt werden?«
»Um Gottes willen, rührt sie nicht an!« schrie Margaret verzweifelt. »Ich sage Euch ja alles!« Ganz außer sich wand sie sich im Griff der bewaffneten Männer.
»Also«, sagte Lionel mit einem triumphierenden Hohnlächeln, »wo ist nun das Testament?«
»Ich habe es nicht da.«
»Dann hast du es deinem Liebhaber gegeben?«
»Ja, ja, ich habe alle Papiere Bruder Gregory gegeben.«
»Und wo ist der jetzt?«
»Weiß ich nicht – er ist weg und hat gesagt, er würde wiederkommen.«
»Du weiß es also nicht? Bruder, ich glaube, sie lügt«, sagte Thomas. In diesem Augenblick klopfte es an die Tür im Untergeschoß.
»Geh einer hin!« brüllte Lionel seinen Männern dort unten zu. Einer stand von seinem Platz am Feuer auf, wo er sich hingefläzt und Kendalls Ale zugesprochen hatte. Als er mühsam hochkam, stolperte er über Lion, der auch am Feuer gelegen hatte.
»Verdammichter Köter«, sagte er und versetzte ihm einen Tritt, der ihn gegen die Wand schleuderte. Als er die Haustür aufmachte, um nachzusehen, wer dort war, sauste Lion aufjaulend nach draußen. Vor der Tür stand ein Junge, ein frecher, kleiner Junge mit Sommersprossen, und verkündete, er hätte eine Nachricht für Mistress Margaret Kendall und streckte dabei die Hand nach einem Trinkgeld aus.
»Gib sie mir«, sagte der Mordbube.
»Und mein Trinkgeld, Master?« forderte der Junge.
»Hau ab!« brüllte der Bandit und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Dann rief er in schrillem, falschen Falsett nach oben:
»Nachricht für Mistress Margaret!«
Lionel las die Botschaft mit einem wölfischen Lächeln.
»Sie hat nicht gelogen, Bruder«, verkündete er. »Das hier ist von ihrem Liebhaber – er sagt, daß er in drei Tagen kommt, um ›ihre Rechtschreibung nachzusehen‹. Hach! Kann mir schon denken, wie er die nachsieht, weiß Gott. Tüpfelt alle ›i's‹ mit seinem Schwanz, wetten das?« Alle im Zimmer lachten schallend, und Margaret lief vor Scham hochrot an.
»Gut, die drei Tage warten wir, Bruder«, sagte Thomas.
»Ei, sperren wir sie doch bis dahin im Keller ein, und dem lüsternen Klosterbruder bereiten wir einen kleinen, unverhofften Empfang«, erwiderte Lionel. »Der will nämlich gewiß den Mund auch nicht aufmachen. Hat zweifellos vor, sich die Beute irgendwo in einem kleinen Liebesnest mit ihr zu teilen. Und der ist viel zäher und gerissener als die da.«
»Das muß man ihm lassen, ein gewagter Plan. Darauf wäre eine Frau nie im Leben gekommen.« Thomas wußte Menschen zu würdigen, die gerissener waren als er, obwohl diese Art von Würdigung keinem nutzte. Nachdem er also Bruder Gregory als Bösewicht gewürdigt hatte, drehte er sich um und würdigte die Bosheit seines älteren Bruders, denn der hatte sich entschieden etwas umwerfend Böses ausgedacht. Lionel ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, dann sagte er zu seinem Bruder und dem aufmerksamen Publikum gedungener Banditen:
»Ei, schlagen wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe. So kriegen wir unseren Spaß und unsere Rache. Jemand muß diesen schmierigen Schreiberlingen eine Lehre erteilen. Wenn wir an diesem da ein Exempel statuieren, so könnte das später andere abschrecken. Wir werden diesem gerissenen Klosterbruder einen grandiosen Empfang bereiten! Ihn aufhängen wie Abaelard und ihn vor Margarets Augen entmannen. Dann prügeln wir die Wahrheit aus ihm heraus.« Die Unholde nickten und knurrten beifällig. »Und jetzt, liebe Stiefmutter, wollen wir dich in den Keller geleiten.«
Margaret war übel vor Angst, als man sie allein in einen ihrer eigenen Vorratsräume einsperrte. Die ganze Nacht über grämte sie sich, schlief nur sporadisch im Sitzen an ein Faß gelehnt. Sie sorgte sich um ihre Kinder und weinte um sie; ach, wie sie ihren Mann vermißte! Vor allem aber setzte ihr zu, daß sie in ihrer Not, ihre Kinder und ihr Buch zu retten, einen unschuldigen Menschen an seine Mörder ausgeliefert hatte. Sie war so außer sich vor Gram, daß sie mit keinem Gedanken daran dachte, was für ein Glück es doch war, daß es im Vorratsraum keine Ratten gab.
Margaret wäre es vielleicht etwas besser gegangen, wenn sie gewußt hätte, daß man Lion aus dem Haus geworfen hatte. Er machte genau das, was er sonst auch machte, wenn man ihn nach draußen ließ. Er lief schnurstracks zu Mutter Hilde.
Als Mutter Hilde in den frühen Morgenstunden von einer langwierigen Entbindung zurückkehrte, fand sie zu ihrer Überraschung Lion wie ein Lumpenbündel elend auf ihrer Schwelle liegen.
»Ei, was heißt denn das, Lion? Du blutest ja! Stimmt etwas nicht?«
Lion jaulte und schniefte und versuchte, sie zu Margarets Haus zu ziehen. Hilde folgte ihm die Straßen entlang. Scharfsinnig wie sie war, klopfte sie nicht an der Haustür, sondern lauschte an einem Fenster. Sie sah Licht, lange nachdem der Haushalt üblicherweise im Bett lag, Licht, das durch die Läden der Küche drang. Sie vernahm unbekannte Stimmen und den rauhen Lärm eines Zechgelages. Lion zupfte an ihrem Kleid, jaulte und führte sie ums Haus herum zu einem der fest vergitterten Schächte, die in den Keller gingen. Er grub an dem Schacht und jaulte. Das Gejaule weckte Margaret auf, die ohnedies nicht richtig geschlafen hatte, und sie rief leise:
»Wer ist da? Bist du's Lion?« Wie freute sie sich, als sie Mutter Hilde im Flüsterton antworten hörte.
»Margaret? Was um alles tust du um diese Zeit im Keller?« Und dann kauerte sich Mutter Hilde im kalten Licht der Sterne, die gerade vor Sonnenaufgang am hellsten funkeln, in den Schnee und ließ sich von Margaret über den Hinterhalt berichten, in den man Bruder Gregory locken wollte.
»Mach schnell, Hilde, mach schnell, du mußt ihn warnen. Ich habe ihm etwas Furchtbares angetan, und du mußt ihn retten.«
»Und du, Margaret?«
»Ich weiß genau, Bruder Gregory fällt etwas ein. Er ist klug. Frag ihn, was da zu machen ist; aber beeil dich, Hilde, warne ihn!«
Die Morgenröte dämmerte bereits rosa herauf, als die Tore geöffnet wurden und die City erwachte. Da hatte Mutter Hilde mit einiger Mühe das Haus gefunden, in dem Bruder Gregory wohnte. Mit Lion auf den Fersen keuchte sie die baufällige Stiege draußen am Haus zu dem winzigen Raum unter dem Dachfirst hinauf, den er gemietet und schon bald für immer verlassen wollte. Ihr verzweifeltes Geklopfe störte Bruder Gregory in einem heiklen Augenblick. Nachdem er seine Morgengebete gesagt hatte, meditierte er. Am besten war es wohl, man fing mit Christi Wunden an, doch er kam nicht recht voran. Zum einen war er hungrig. Das war er immer nach dem Aufstehen, und es lenkte ihn ab. Zum anderen war Weihnachten bei seinem Vater im Norden nicht gut gelaufen, und er hatte immer noch eine Prellung an der Schläfe, wo ihm sein Vater im Laufe einer wüsten Auseinandersetzung über seinen Entschluß, sein Leben der Einsamkeit und dem Gebet zu weihen, eins übergezogen hatte. Ja, der alte Mann war, kaum daß Bruder Gregory über die Schwelle getreten war, so wütend geworden, daß dieses sofort seiner wankenden Überzeugung aufgeholfen hatte. Je eher desto besser, war seine Folgerung nach dem ersten, zornigen Wortwechsel mit seinem Vater gewesen.
Drinnen in dem Ohr, an der Seite, wo sein Vater ihm eins übergezogen hatte, summte es immer noch, und das störte beim Nachdenken doch erheblich. Er war aufgebracht: warum um alles hatte er sich von seinem Vater so verprügeln lassen, schließlich war er ein erwachsener Mann. Naja, so sinnierte er besorgt, entweder er ließ es zu, oder er schlug zurück, und das schickte sich nun wirklich nicht, auch wenn sein Vater ein gewalttätiger, alter Mann war. Anders besehen war es bewundernswert, daß er für seinen Entschluß sogar Prügel hingenommen hatte. Fürwahr, wenn das nicht bewies, daß sich der Abt ganz und gar getäuscht hatte! Er besaß auch kein bißchen, kein allerkleinstes bißchen Stolz! Allmählich wurde Bruder Gregory ganz stolz auf sich. Wie demütig er doch gewesen war, hatte nur ein wenig zurückgeschrien (was unter den Umständen völlig gerechtfertigt war), ehe sein Vater ihn mit dem machtvollen Schlag außer Gefecht gesetzt hatte. Der Abt würde sicher beeindruckt sein von seinem Grad an Demut und zugeben, daß er sich getäuscht hatte.
Als er es in diesem rosigen Licht besah, wurde er direkt umgänglicher Stimmung. Ob der Psalter Margaret wohl gefallen hatte? Natürlich würde sie die Handschrift erkennen und wahrscheinlich die prächtigen Anfangsbuchstaben bewundern, doch daß er auch die Übersetzung gemacht hatte, darauf kam sie nie. Das war sein Geheimnis. Für eine Frau war sie gar nicht so unrecht, und es war ein hübsches Abschiedsgeschenk. Natürlich hatte er die Vermittlungsgebühr eingesteckt – das war nur gerecht, fand er –, doch den Rest des Honorars hatte er in St. Bartholemew's in die Kollekte für die Armen gegeben. Im Grunde genommen machte sich Bruder Gregory nicht viel aus Geld – er fand, Gott war immer bereit, einem so bewundernswerten Kerl wie ihm unter die Arme zu greifen; irgendetwas würde sich schon ergeben. Außerdem war es gewöhnlich, sich wegen Geld zu grämen, und wenn er eines nicht war, bildete sich Bruder Gregory ein, dann gewöhnlich.
Die Meditation lief nicht ganz, wie sie sollte, und so bemühte sich Bruder Gregory denn, ein Weilchen an die Demut zu denken, ehe er zu Christi Wunden zurückkehrte. Genau in diesem Augenblick, als er vor seinem Kruzifix prosterniert am Boden lag, da klopfte Mutter Hilde.
»Wer ist da?« fragte er unwirsch und stand auf.
»Ich bin's, Mutter Hilde. Es ist wichtig.«
Mutter Hilde? Die berühmte Mutter Hilde. Die er nie gesehen hatte. In der Tat war Bruder Gregory fast der Letzte in der ganzen Stadt, der noch nicht von Roger Kendalls Tod gehört hatte, war er doch bis vor ein, zwei Tagen nicht im Lande gewesen; er hatte vorgehabt, seine Dinge zu regeln, bevor er ging, hatte aber bislang noch niemanden aufgesucht.
Er machte die Tür auf, und Mutter Hilde erfaßte sein schmalbrüstiges Zimmerchen mit einem Blick. Es war kaum groß genug zum Umdrehen, und die vom höchsten Punkt des Daches schräg abfallende Decke dräute nur wenige Zentimeter gefährlich über Bruder Gregorys Kopf. Schlichte, weiß getünchte Wände nur mit einem Kruzifix, eine geflochtene Strohmatte auf dem Fußboden, ein kleiner Schreibtisch, ein kalter Feuerrost in der Ecke und ein winziges Fenster mit einem durchlässigen Laden – es gibt in London schlimmere Zimmer, dachte sie, und in manchen wohnen ganze Familien. Dennoch war klar, daß er nicht in dem legendären Luxus der genußfreudigen Geistlichkeit lebte, die sie kannte.
»Bruder Gregory«, keuchte sie (denn die Stiege war steil), »Margaret hat mich geschickt, Euch vor einer schrecklichen Verschwörung gegen Euch zu warnen.« Bruder Gregorys nickte zur Begrüßung, doch seine Miene sah statt streng eher überrascht aus.
»Eine Verschwörung?« fragte er mit hochgezogenen Brauen. »Von wem denn?«
»Von den Söhnen Roger Kendalls, die einen Groll gegen Euch hegen. Sie haben Eure Nachricht abgefangen und wollen Euch überfallen, wenn Ihr zur verabredeten Zeit kommt. Sie sagt, sie wollen mit Euch verfahren ›wie mit Abaelard‹, was auch immer das heißen soll.«
»Wie um Himmels willen kann Master Kendall dergleichen zulassen? Oder macht er etwa mit?« fragte der nun doch etwas beunruhigte Bruder Gregory.
»Wißt Ihr denn nicht? Master Kendall ist doch schon seit vierzehn Tagen tot.« Bruder Gregory war entgeistert.
»Das ist ja furchtbar«, dachte er. »Auch wenn er viel von einem Freidenker hatte, so war er doch ein guter, alter Kerl – besser als so manch anderer alter Mann, den ich kenne –, ich werde für ihn beten müssen.«
Mutter Hilde fuhr nun fort, erklärte ihm, wie sie das Haus überrumpelt hatten und nun Margaret und ihre Töchter als Köder gefangenhielten, um ihn zurückzulocken.
»Warum bloß um Himmels willen?« fragte Bruder Gregory.
»Sie glauben, Ihr habt ein Exemplar von einem Testament, das mehr zu ihren Gunsten ist. Jemand hat ihnen erzählt, daß Margaret Euch Papiere gegeben hat, und nun glauben sie, daß es ein verstecktes Testament gibt und daß Ihr das vorliegende gefälscht habt.«
Bruder Gregory war tief bestürzt. Zunächst einmal war seine meditative Stimmung dahin, und ihm war klar, daß es ein Weilchen dauern würde, bis er wieder zu der richtigen Versenkung gefunden hatte. Zum zweiten gefiel ihm der Gedanke nicht, daß Margaret von derart widerwärtigen Charakteren unsanft behandelt wurde. Drittens gilt es als schlimme Beleidigung, wenn niedrig Geborene den Sohn einer alten Familie – selbst wenn es bloß ein zweiter Sohn ist – mit solch einem abscheulichen Überfall bedrohen. Und schließlich das Schlimmste überhaupt: es blieb ihm nur eines zu tun, und das war das Letzte auf der Welt, was Bruder Gregory vorhatte. Sein Gesicht wurde grimmig, die Muskeln an seinem Kiefer zuckten. Dann rannte er wild im Zimmer auf und ab, überlegte bei sich, ballte die rechte Hand und schlug sich mit der Faust in die linke. Am Ende stand er jäh still und sagte mit einem abgrundtiefen Seufzer:
»Ich muß zu Vater.«
»Vater? Wer ist das?« fragte Hilde.
»Vater. Mein Vater«, sagte Bruder Gregory, »und das fällt mir nicht leicht. Er hat mir schon einmal eins über den Kopf gezogen. Beim nächsten Mal bin ich vielleicht taub.«
»Du lieber Himmel, ja, das ist aber ein tüchtiger blauer Fleck«, pflichtete ihm Mutter Hilde bei.
»Wir haben drei Tage«, sagte Bruder Gregory. »Die Zeit dürfte reichen, wenn ich beim Hin- und Rückweg nicht zu Fuß gehe. Hat Bruder Malachi immer noch sein Maultier?«
»Woher wißt Ihr von Bruder Malachi?« Mutter Hilde stellte alle Stacheln auf.
»Ich weiß eine Menge – mehr als mir guttut«, erwiderte Bruder Gregory verdrießlich.
»Dann dürftet Ihr auch wissen, daß das Maultier alt und langsam ist«, sagte Mutter Hilde und warf ihm einen scharfen Blick zu. Bruder Gregory ließ sich das durch den Kopf gehen. Niedergeschlagen betrachtete er seine Hände.
»Dann werde ich ein anständiges Pferd mieten müssen. Ihr habt nicht zufällig Geld dabei, wie?«
»Nicht hier«, sagte Mutter Hilde, »aber wenn Ihr mich zurückbegleitet, sollt Ihr es haben.«
Bruder Gregory nahm sein kleines Bündel und packte sein Kruzifix dazu, dann folgte er Hilde aus dem Haus. Lion sprang ihm fröhlich um die Füße.
»Ich finde immer noch, es schickt sich nicht für einen Hund, vorn und hinten gleich auszusehen«, murrte Bruder Gregory, als sie zusammen die Stiege hinabkletterten.
Sie gingen durch die vereisten Straßen und suchten sich einen Weg um matschige Schneehügel herum, die mancherorts die ganze Straße versperrten, bis hin zu einer Gasse, über die Gregory schon viel geschrieben, die er jedoch noch nie gesehen hatte. Als er sich duckte, um durch die niedrige Tür des Hauses einzutreten, da stieg ihm ein vertrauter Geruch in die Nase – der Geruch aus einem alchimistischen Laboratorium.
»Schon daheim?« rief eine Stimme aus dem Hinterzimmer, und die gedrungene, etwas behäbige Gestalt Bruder Malachis tauchte im niedrigen Türrahmen am entgegengesetzten Ende des großen Zimmers auf. »Ich finde allmählich, ein bißchen Frühstück würde uns guttun – oh! Du lieber Gott, was tust denn du hier, Gilbert?«
»Das Gleiche könnte ich auch dich fragen, Theophilus von Rotterdam«, sagte Bruder Gregory gelassen.
»Ich wurstele mich, wurstele mich so durch. Was führt dich hierher?«
»Eigentlich wollte ich Geld borgen, damit ich ein Pferd mieten kann«, erwiderte Bruder Gregory.
»Von Frauen borgen? Tief bist du gesunken, Gilbert. Übrigens, schreibst du noch? Oder lehrst du wieder?«
»Ich widme mich dieser Tage der Kontemplation«, sagte Bruder Gregory von oben herab.
»Immer noch der alte Snob, was?« bemerkte Bruder Malachi heiter. »Aber mir macht das nichts – wir hatten eine schöne Zeit zusammen, zumindest bis ich in Verruf kam und die Stadt verlassen mußte. Wie ich hörte, haben sie deine Bücherverbrennung ganz groß aufgezogen – überall Blut auf dem Gehsteig und Tausende von jubelnden Menschen und dergleichen mehr. Also, ich trete da lieber einen heilsamen Urlaub an, solange ich noch in der Lage bin, ihn zu genießen. Deine Schuld, Gilbert, daß du dableiben und dich verteidigen mußtest. Aber du hast ja stets einen guten Rat in den Wind geschlagen.« Bruder Gregorys Brauen zogen sich in der Mitte zusammen, und er machte ein Gesicht wie eine Gewitterwolke.
»Bruder Gregory hat dringende Geschäfte anderswo, lieber Malachi, wir dürfen ihn nicht aufhalten.« Mutter Hilde behielt in kritischen Lagen immer einen klaren Kopf und das Wesentliche im Auge.
»Haust du ab? Ist jemand hinter dir her? Genau wie damals in Paris. Leichter Fuß und leichter Sinn, wie ich immer sage – halte nie zu sehr fest und dich nicht zu lange auf.«
Bruder Gregory lächelte. Theophilus war schon immer ein ulkiger Kerl gewesen. Dazumal hatte beispielsweise er dieses Spottliedchen auf den Rektor geschrieben. Man konnte ihm einfach nicht lange böse sein.
»Hast du schon den Stein der Weisen gefunden?« fragte er.
»Ich stehe ganz, ganz dicht davor«, vertraute ihm Bruder Malachi an, »aber andere Geschäfte haben mich davon abgehalten.«
»Als da sind gefälschte Ablaßbriefe, Pestarzneien und dergleichen mehr. Wieso bin ich nicht schon lange darauf gekommen, daß du's bist? Es gibt keinen anderen derart gelehrten Schurken oder schurkischen Gelehrten.«
»Hübsch ausgewogen, Gilbert. Talent hast du immer noch. Doch mir scheint, du bist jetzt Bruder Gregory. Das gehört wohl zur Kontemplation und der komischen Ausstaffierung. Bist du schon lange dabei?«
»Lange genug.« Bruder Gregory preßte den Mund zu einer Linie zusammen.
»Und bereits eine Offenbarung gehabt?«
»Augenblicklich befinde ich mich in einer so sublimen Geistesverfassung, wie sie sich gar nicht beschreiben läßt«, antwortete Bruder Gregory gereizt.
»Hmpf. Da ist mir aber anderes zu Ohren gekommen. Bei Margaret hast du herumgehangen. Vermutlich mit ihr geschlafen. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen, und ihr Mann war alt – eine Vernunftehe wohl. Hat sie aus einem schlimmen Schlamassel herausgeholt.«
»Ich habe nicht mit Margaret geschlafen«, sagte Bruder Gregory empört.
»Aber was hast du denn dort die ganze Zeit getrieben?«
»Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ihre Erlebnisse nach Diktat niedergeschrieben«, sagte Bruder Gregory mit einem prüde mißbilligenden Blick. Er mochte keine vulgären Menschen, und inzwischen war ihm wieder eingefallen, daß Theophilus ihn auch schon früher damit gereizt hatte.
»Du hast was?« Bruder Malachi brüllte vor Lachen und schlug sich auf die Schenkel. Er wiegte sich vor und zurück und lief vor Lachen rot im Gesicht an. »Gilbert, ich habe dich schon immer für unmöglich gehalten, aber diese Ausrede verfängt bei mir einfach nicht! Frauen schreiben keine Erinnerungen – o, schon gut, laß es dabei.« Er hatte mitbekommen, wie zornmütig Bruder Gregory aussah.
»Erinnerungen, hach! Kein Wunder, daß du so eilig verschwinden willst. Laßt mich wissen, wie es ausgegangen ist.«
»Sagtet Ihr, daß er Theophilus heißt?« fragte Mutter Hilde neugierig.
»Naja, wenigstens als ich ihn in Paris kannte – aber wer weiß das schon? Vielleicht hat er ja noch einen Namen.«
Als Mutter Hilde ihm das Geld hinzählte, merkte Gregory, wie besorgt sie aussah. Gern hätte er ihre Hand genommen und ihr Mut gemacht, doch er nahm nie die Hand einer Frau. So blickte er sie nur an und sagte:
»Sorgt Euch nicht. Es wird schon alles gut, und wir befreien Margaret«, und damit drehte er sich um und eilte aus dem Haus und so rasch es ging die Gasse entlang, damit sie nicht den Ausdruck auf seinem Gesicht mitbekam.
Das gemietete Pferd war ein dahintrottender Zelter, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber er war ausgeruht, hatte einen langen Schritt und kam gut voran. Und so dauerte es auch nicht lange, und Bruder Gregory hatte Aldersgate hinter sich gelassen, die lärmenden Gassen von Smithfield durchquert und zog nun über Land auf der großen Römerstraße dahin, die gen Norden führte. Ohne eine Rast einzulegen, schaffte es Bruder Gregory in etwas mehr als einem Tag nach Haus. Todmüde näherte er sich Vaters baufälligem, altem Herrenhaus, und schon fiel der Alte selbst auf der Landstraße über ihn her. Er probierte just ein neues Pferd aus, dicht hinter sich den Stallburschen. Er ließ das Pferd antraben, dann eine Piaffe tanzen, die besonders gut wirkt, wenn man bis an die Zähne bewaffnet durch eine Stadt reitet, und umrundete dann Bruder Gregory und blickte ihn von Kopf bis Fuß an, wie er da schweigend auf dem Zelter saß und darauf wartete, daß er das Wort an Vater richten durfte. Ein lohfarbener, pelzgefütterter Umhang bauschte sich um Bruder Gregorys Vater; seine behandschuhten Hände hatten Schinkenformat. Der ausnehmend muskulöse, schwarze Hals des Streitrosses glänzte wie ein schimmernder Bogen; seine pastetengroßen Hufe schlugen den gefrorenen Boden, sein Geschirr klirrte in dem Schweigen. Das Pferd war ein Ungeheuer – mindestens vierzehn Handbreit hoch, und Bruder Gregorys Vater saß so aufrecht darauf wie eine Schwertklinge, das weiße Haar und der Bart umwehten sein Gesicht, während er aus einer überragenden Höhe von gut einem Fuß auf Bruder Gregory herabblickte.
»Auf was zum Teufel sitzt du da eigentlich?« brüllte der alte Mann.
»Auf einem Mietpferd, Vater«, sagte Bruder Gregory erschöpft.
»Was, ein Mietpferd? Wo hast du denn das gemietet, im Trödelladen?«
»Vater, ich wollte dich um etwas bitten.«
»Kommst wohl zurückgekrochen«, donnerte der alte Mann. »Wußte schon immer, daß du kein Rückgrat hast.«
Bruder Gregorys Vater hatte keine Probleme mit Gott. Er wußte, Gott glich ihm aufs Haar, nur ein bißchen größer und natürlich seigneur eines etwas größeren Stückchens Grund und Boden. Der Gottesdienst gefiel ihm selbstverständlich.
Genau das, was er für sich anordnen würde, wenn er Gott wäre und es ihm zu langweilig würde. Und im Augenblick war es langweilig. Er befand sich zwischen zwei Feldzügen und mußte sich mit diesem Schwachkopf unterhalten, den Gott ihm als zweiten Sohn gegeben hatte – einer von Gottes wenigen Fehlern.
»Vater, ich komme nicht gekrochen.« Bruder Gregory wurde langsam ungeduldig.
»Nein du reitest – reitest auf einem Pferd, das aussieht, als ob man es stückchenweise zusammengesetzt hätte. Immerhin ein Fortschritt gegenüber letztem Mal, als du zweifellos auf dem Bauch im Staub zurückgekrochen bist.«
Sie ritten jetzt nach Haus, durch das kleine Dorf mit den strohgedeckten Katen und die lange, matschige Auffahrt entlang zur verfallenen Eingangspforte. Hinter ihnen ritt in diskreter Entfernung der Stallbursche, doch der mußte sich schon sehr zusammennehmen, daß man ihm seine Belustigung nicht ansah. Sie waren aber auch ein zu unterschiedliches Paar: Bruder Gregory in seinem alten, verfilzten Schafsfell, die knubbeligen Beine viel zu lang für die kleine Schindmähre mit dem Hohlrücken, auf der er hockte, und der alte Sir Hubert de Vilers, prächtig gestiefelt und gespornt, mit Umhang und auf dem größten, besten Hengst zwanzig Meilen in die Runde. Sie glichen sich allerdings in der Haltung: Vater und Sohn saßen beide mit der aufrechten, arroganten Anmut eines Kaisers zu Pferd.
»Und beide die gleichen Dickköpfe«, schmunzelte der Stallbursche bei sich und machte sich auf den unvermeidlichen Funkenregen gefaßt, der sprühen mußte, wann immer die beiden aufeinanderstießen.
Im Reiten erläuterte Bruder Gregory seinem Vater das Vorgefallene in Einzelheiten, doch nicht ohne gewisse, bissige Zwischenbemerkungen des alten Mannes.
»Ha, ha ha, ha! Du sagst also, sie lauern dir auf?«
Wenigstens lacht er, dachte Bruder Gregory.
»Hier ist's öde gewesen, Gilbert; immerhin, du sorgst jetzt für ein bißchen Spaß. Kann sein, du hast unter deinem langen Gewand da doch noch mehr als einen Bauchnabel. Weißt du eigentlich, daß dein Bruder Hugo noch zu Haus ist? Ich nehme wohl besser ihn und die Knappen und ein halbes Dutzend Stallburschen mit. Das wird ein Riesenjux.« Dann lachte er wieder seine empörende, wiehernde Lache.
Bruder Gregory ließ den Kopf hängen. Vater war einfach unmöglich. Selbst in umgänglicher Stimmung war er absolut entsetzlich. Er hätte sich wohl besser ins Kloster davongemacht, statt zurückzukommen und sich wieder auslachen zu lassen. Warum, o warum, hatte er sich das nur angetan? Aber gut, es war nun einmal geschehen, und ein Zurück gab es nicht. Margaret mußte jedenfalls gerettet werden.
Bruder Gregory nickte immer wieder auf der Bank in der großen Halle ein, während sein Vater Anweisungen erteilte. Die Hunde stritten sich um einen in den stinkenden Binsen verborgenen Knochen. Gregorys Vater hielt nichts davon, sie zu wechseln – ließ einfach neue auf die alten werfen, bis man so tief darin einsank, daß man nicht mehr gehen konnte. Er hatte schlichte Vorstellungen davon, was eine richtige Halle ausmachte: viel Hirschgeweihe an den Wänden, einige veraltete Streitäxte vielleicht, ein paar ererbte Lanzenwimpel, eine große Feuerstelle in der Mitte und einen endlosen Vorrat an Ale. Das machte ein Haus zum Heim, in seinen Augen jedenfalls. Um Haushaltsbelange kümmerte er sich ohnedies nicht. Das war Frauensache, wenn Frauen da waren, doch das waren sie eben nicht. Der Alte war Witwer, seitdem Bruder Gregorys Mutter an etwas gestorben war, das ihr Mann für religiöse Ausschweifung hielt. Immer noch plagten ihn Erinnerungen an große, braune, tränenerfüllte Augen, wie sie zu ihm hochflehten, er möge doch zu Gott zurückkehren; und dabei hielt sie seine Füße umschlungen. Zweifellos hatte sie sich jenes Fieber zugezogen, weil sie in der Regel zu jeder Tages- und Nachtzeit in der ungeheizten Kapelle gebetet und geweint und sich dabei auf den eiskalten Steinfußboden geworfen hatte. Sie hatte ihm zumindest einen richtigen Sohn als Erben hinterlassen, dazu aber auch den Blöden und eine ganze Reihe toter Geschöpfe, ehe sie sich am Ende in jenen Himmel aufmachte, nach dem sie sich so inniglich gesehnt hatte. Hugo hatte auch noch keine Frau. Er kümmerte sich nicht darum, war zu beschäftigt, und dabei wurde es höchste Zeit. Bruder Gregory gab es zwar auch noch, doch der war hoffnungslos. Immer wenn der alte Mann an ihn dachte, knurrte er bei sich: »Nur zwei Pfeile in meinem Köcher«, und hätte seinem elendigen zweiten Sohn gern wieder eins übergezogen.
»Aufwachen, willst du wohl aufwachen, du Faultier!« Bruder Gregorys Vater hatte ihn von der Bank zu Boden geschubst, besser geworfen. Bruder Gregory stand auf, staubte sich ab und blinzelte. Was für ein furchtbarer Alptraum; einen Augenblick war ihm doch so gewesen, als hätte er über sich seinen Vater mit großem, weißen Bart, buschigen Augenbrauen und bösartig funkelnden, blauen Augen gesehen. Dann ging ihm mit einem Ruck auf, daß es gar kein Traum war. Warum um Himmels willen war er heimgekehrt? O ja, um Hilfe für Margaret zu holen. Trotzig reckte er das Kinn und blickte seinem Vater in die Augen.
»Alles ist bereit, da kannst du nicht den lieben, langen Tag schlafen – wir brechen auf«, schnauzte ihn sein Vater an. Hugo und die anderen standen um ihn herum und sahen zu, wie er sich fertigmachte. Seine Rolle dürfte nicht sehr groß werden. Schließlich war kein Verlaß auf einen Simpel von Sohn, so einer machte nie etwas richtig. Bruder Gregory diente lediglich als Köder.
Der Stallbursche hielt unten an der Treppe frische Pferde bereit. Das Mietpferd ruhte sich aus und würde am nächsten Tag zurückgebracht werden. Der Trupp legte den Rückweg in einer guten Zeit zurück, trabte oder ging im Schritt, während Bruder Gregory vor sich hindöste und wie ein Mehlsack über die Sattelkante hing, denn es war für ihn nun schon der zweite Tag ohne Schlaf. Doch dieses Mal machte sich sein Vater nicht einmal über ihn lustig. Er war zu beschäftigt, seine Pläne mit den anderen zu bereden.
Zur verabredeten Zeit seines letzten Treffens mit Margaret wirkte das Haus in der Thames Street ganz so wie eh und je. Vom Fluß stieg Nebel auf und wehte in kleinen Schwaden über die Straße. Ein paar Häuser weiter sah man einen Mann Feuerholz anliefern, das er in Bündeln auf dem Rücken eines Esels transportierte, als der bis an die Zähne bewaffnete und gegen die Kälte vermummte Trupp die Straße entlangritt. Bei Master Wengrave nebenan kam gerade ein kleiner Lehrjunge mit einer Botschaft herausgeflitzt, sah den Trupp und machte in entgegengesetzter Richtung kehrt. Schwer vorstellbar, daß sich drinnen im einst so fröhlichen Haus der Kendalls irgend etwas tun sollte. Es stand ruhig da und hatte lediglich jenes eigenartige, etwas verlassene Aussehen eines Hauses, dessen Hausvater gestorben ist.
Doch drinnen im Haus ging es hoch her, Arglistiges wurde geplant. Die beiden Brüder, immer noch in Volltrauer, lungerten unten im Gartenzimmer herum und besprachen heiter mit ihren gedungenen Banditen, wie sie Bruder Gregory dazu bringen würden, daß er das Versteck des echten Testaments preisgab. Margaret saß gefesselt und geknebelt auf der großen, eisenbeschlagenen Truhe, welche ihre Erlebnisse enthielt, damit sie auch ja Zeuge des Hinterhalts und der Bestrafung ihres angeblichen Liebhabers würde.
»Also, ich finde, zuerst entmannen, und wenn er dann brüllt, prügeln, bis er redet«, sagte Lionel, rekelte sich in der Fensternische und säuberte sich die Fingernägel mit dem großen Messer, das er bei sich trug.
»Wenn du so vorgehst, könnte ihn das vom Reden abbringen: ich finde, zuerst fesseln, dann verprügeln und den Rest, nachdem er geredet hat«, sagte Thomas, die Stimme der Vernunft.
»Ihn an den Füßen vom Türrahmen aufhängen«, schlug einer der Banditen vor. »Dann haben wir alle mehr davon.«
»Aha! Ich höre ein Klopfen an der Tür«, rief Lionel erfreut aus. Er lächelte von einem Ohr zum anderen, als man Bruder Gregory meldete. Dann versteckte er sich neben der Tür und machte sich bereit, Bruder Gregory bei seinem Eintreten mit einem Hieb zu empfangen, der ihn außer Gefecht setzte.
Bruder Gregory stand einen Augenblick auf der Schwelle still. Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen, daß sie sein Gesicht beschattete – ein angespanntes und vom Schlafmangel bleiches Gesicht mit tiefen, dunklen Ringen unter den Augen. Er trat über die Schwelle, und als der Schlag von Lionels Knüppel auf seinen Rücken gekracht kam, fiel er auf ein Knie, fuhr dann aber zu seinem Angreifer herum und zog sein Messer. Thomas' Dolch wollte ihm in den Rücken fahren, als Lionels Hieb mit einem ›peng!‹ seitlich von Gregorys Kopf abprallte. Der Dolch traf, doch er drang nicht ein. Der lange Schnitt, den er auf Bruder Gregorys Rücken hinterließ, offenbarte auch warum: unter seinem Gewand kam schimmernd ein Kettenhemd zum Vorschein. Beim Kampf fiel ihm die Kapuze herunter, und da sah man auch den leichten Helm, den sie verdeckt hatte. Jetzt warfen sich die beiden Banditen auf ihn und drückten ihn zu Boden, und Lionel, der noch nie seine Ungeduld hatte zügeln können, wollte ihm schon den Todesstoß versetzen.
Weiter kam er nicht, denn augenblicklich war ein gräßlich zischendes Geräusch zu vernehmen, als nämlich Gregorys Vater über die Schwelle trat und Lionel mit einem einzigen Hieb seines großen Bihänders köpfte. Der Kopf hüpfte zu Boden und rollte in eine Ecke, während das Blut aus den Arterien am Hals durchs ganze Zimmer und auf den Teppich spritzte. Ehe noch der Rumpf aufgehört hatte zu zucken, war das Zimmer voller bewaffneter Männer, die nur so hausten. Die Meuchelmörder wurden beim Fluchtversuch getötet.
»Ei, Vater, willst du diesen da behalten?« Hugos muntere Stimme schallte über die Walstatt. Da stand er und hatte den Fuß auf Thomas' Kehle gesetzt. Der gab gurgelnde Geräusche von sich, die sich anhörten, als flehte er um Gnade. »Wir könnten ihn doch entmannen und rauswerfen, genauso wie sie es mit Gilbert vorhatten.«
»Reine Zeitverschwendung«, knurrte der alte Mann. »Erdolche ihn und den Rest dazu.« Als das getan war, wischte der alte Mann seine Klinge gelassen am schwarzen Überrock von Lionels kopflosem Rumpf ab und steckte sie in die Scheide. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Margaret zu. Bruder Gregory schnitt die Stricke an ihren Handgelenken durch; ihren Knebel hatte er bereits entfernt, doch ausnahmsweise hatte es Margaret die Sprache verschlagen.
»Nicht übel, gar nicht übel«, sagte der alte Mann, schlich um sie herum und musterte sie von Kopf bis Fuß wie ein zum Verkauf angebotenes Pferd. Margaret war fassungslos. Der alte Mann sah aber auch wirklich zum Fürchten aus. Sein Brustharnisch und seine Bruch waren blutbespritzt. Sein Bart – einer von der altfränkischen Art, in dem immer Bratensoße hängenbleibt, wenn man sich nicht vorsieht – stand ihm zerrupft und wirr ums Gesicht und wurde nur noch von dem schütteren, weißen Haar übertroffen, das zum Vorschein kam, als er den Helm abnahm. Seine wilden, gesträubten Brauen überschatteten Augen, die irgendwie enttäuscht blickten, enttäuscht, daß es nichts mehr zu töten gab.
»Das ist also die Frau, unter deren Röcke du gekrochen bist, Gilbert? Gar kein so übles Weibsbild.«
Da stand nun Margaret, adrett und tragisch in Schwarz, und das Brennende Kreuz glänzte auf dem dunklen Untergrund. Sie war wütend. Mit zusammengebissenen Zähnen flüsterte sie:
»Bruder Gregory, wer ist dieser gräßliche, alte Mann da?«
»Das ist Vater, Margaret. Vater, das ist Margaret – und das da ist mein Bruder Hugo, und das sind Damien und Robert, ihre Knappen.« Der alte Mann antwortete auf diese unbeholfene Vorstellung mit einem knappen Nicken. Hugo, der ebenfalls den Helm abgenommen hatte, wobei dunkelblondes, kurzgeschnittenes und im Nacken ausrasiertes Haar nach Normannenart und die kalten, blaßblauen Augen eines berufsmäßigen Killers zum Vorschein kamen, grüßte sie mit einem Grinsen.
»Sieh einer an, Gilbert«, fuhr der alte Mann fröhlich fort, »ich hatte ja lange so meine Zweifel, ob du unter dem Gewand da überhaupt etwas zum Abschneiden hättest, und zu meiner Freude hast du mir das Gegenteil bewiesen. Wenn ich's recht bedenke, gar keine so üble Masche, im geistlichen Habit in der Stadt herumzulungern und sich durch die Hintertür ins Haus gelangweilter Frauen einzuschleichen.«
»Vater!« Gregory war empört. Sein Gesicht lief zornesrot an. Kleine Adern traten an seinen Schläfen hervor. Fuchsteufelswild fuhr er seinen Vater an:
»Ich habe dir doch gesagt, daß ich mir für Christus einen reinen Leib bewahre!« Die Adern an seinem Hals traten hervor und pochten.
»Du willst dir was für wen bewahren?« brüllte der alte Mann. »Beim lebendigen Gott, was habe ich da in die Welt gesetzt? Dein Bruder Hugo hat Bastarde auf zwei Kontinenten, und du willst mir weismachen, daß du vollkommen unbrauchbar bist? Ich sollte dir noch eins über den Schädel ziehen!« Die Knappen wichen zurück. Sie wirkten belustigt.
»Vater, das haben wir bereits besprochen. Mich kannst du nicht mehr drangsalieren. Mein Entschluß steht fest.« Bruder Gregory knirschte mit den Zähnen. Sein Vater hatte eine Art, ihn so aufzubringen, daß er genau die Dinge sagte, die jenen am meisten erzürnen mußten.
»Was heißt hier drangsalieren? Ein rückgratloses Wundertier wie dich kann man nicht drangsalieren«, knurrte der alte Mann. Dann blickte er sich im Zimmer um, und ein schlauer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Den Blick kannte Bruder Gregory gut; er hatte ihn in vergangenen Jahren oft genug gesehen. Er bedeutete, daß der alte Mann den Wert der Wandbehänge überschlug. Sir Hubert hatte eine ganze Reihe ähnlicher Wandbehänge und dergleichen Einrichtungsgegenstände in französischen Schlössern mitgehen lassen, ehe er sie dem Erdboden gleichgemacht hatte, und er hatte einen guten Blick für ihren Wert. Es traf Bruder Gregory tief, daß sein Vater sich das Wohnzimmer der Kendalls mit diesem Blick ansah.
Dann wandte der alte Mann seine Aufmerksamkeit noch einmal Margaret zu.
»Nicht so übel. Eine Wittib. Reich«, überlegte er bei sich. »Und noch jung.« Noch einmal musterte er sie von Kopf bis Fuß. Bruder Gregory kannte auch diesen Blick. Er wurde nur noch böser auf Vater. Margaret stand starr vor Zorn. »Sieht wie eine gute Zuchtstute aus. Kann man bei einer Frau immer an den Hüften und Titten erkennen –«
»Wie könnt Ihr es wagen!« zischte Margaret ihn an.
»Und feurig. Ist auch gut fürs Zuchtgeschäft. Ein guter Hengst kriegt mit einer schlechten Stute auch schlechte Fohlen, sag ich immer. Wir wollen doch nicht noch mehr rückgratlose –«
Dann drehte er sich jäh zu Hugo um.
»Hugo, ich hab mir was überlegt. Du brauchst seit längerem eine Frau, und diese da dürfte es durchaus tun. Wir entführen sie, verheiraten euch beide zuhause schnurstracks in der Kapelle, ohne Aufgebot, und behalten sie da, bis wir einen Beweis für den Vollzug der Ehe haben. Nur so gehen wir sicher, daß kein gewiefter Rechtsverdreher die Ehe für nichtig erklärt. Ein bißchen hastig, aber solch eine Gelegenheit bietet sich so schnell nicht wieder. Ein, zwei Wochen, und jemand anders schnappt sie sich. Außerdem muß das Dach ausgebessert werden. Was sagst du dazu?«
»Ich hatte gedacht, das mit dem Dach wäre geregelt, Vater«, meinte Hugo, die Stimme der Vernunft.
»Das Geld ist schon weg – für einen neuen Hengst – den großen, schwarzen. Also abgemacht?«
»Ich gehorche, Vater«, sagte Hugo gleichmütig. Er hatte sie lieber mit mehr Busen und blond, doch abgesehen davon war für ihn eine Frau wie die andere.
Margaret stampfte wütend mit dem Fuß auf. Sie war bis zu den Haarwurzeln errötet. Ihre Augen blitzten, und sie ballte die Hände zu Fäusten:
»Ich heirate überhaupt niemand. Und vor allem keinen der hier Anwesenden. Und ich heirate nie im Leben, nur damit irgendein abscheuliches Dach ausgebessert werden kann. Ihr könnt mich nicht zwingen.«
»Aber natürlich doch; ist schon öfter vorgekommen«, bemerkte der alte Mann gelassen. »Übrigens, Hugo, ist dir was aufgefallen? Der Blöde hat recht gehabt. Sie hat die Fauconberg-Augen. Sehen bei einer Frau wirklich sehr komisch aus. Also, gehen wir.«
»Nein!« brüllte Bruder Gregory. »Ihr entführt mir Margaret nicht!« Er baute sich vor ihnen auf und zog das Messer.
»Ha, blöde wie üblich! Die Hand gegen mich zu erheben? Du Memme, du?« Der alte Sir Hubert holte zu einem einzigen, vernichtenden Schlag aus, und das Messer flog in die Ecke. »Sag ich's nicht, du brauchst eins über den Schädel, damit du vernünftig wirst –« Er hob die Faust; Bruder Gregory parierte den kräftigen Hieb mit dem Arm und versetzte seinem Vater einen Kinnhaken, mitten auf den Bart. Der alte Mann ging zu Boden, wo er sitzenblieb. Jetzt entsetzte sich Bruder Gregory über seine Tat, öffnete die Faust und starrte seine Hand an, als ob die allein die Schuld daran trüge. Sein Gesicht wurde kalkweiß. Du sollst deinen Vater ehren! Er hatte Gottes Gebot verletzt, und diese Sünde würde unauslöschlich an ihm haften bleiben.
»Ha, ha, ha ha!« Der alte Mann rieb sich das Kinn und lachte. Gregory blickte erstaunt. »Vielleicht kriegst du ja noch Eingeweide, du blöder Sohn.« Gregory konnte ihn nur anstarren.
»Du willst die Frau wohl selber haben, was?« fragte sein Vater und wollte aufstehen.
»Du hast doch Margaret gehört. Sie möchte nicht verheiratet werden«, sagte Bruder Gregory steif. Sein Vater stand nun ganz auf und funkelte ihn böse an. Vielleicht hatte sich ja in seiner Kindheit etwas in seinem Gehirn gelockert – ein Sturz vom Pferd – oder so ähnlich. Das war die einzig mögliche Erklärung. Das Hirn dieses Knaben funktionierte nicht richtig.
»Möchte nicht? Was hat denn das damit zu tun?« Der alte Mann blickte Margaret an, die hinter Bruder Gregory stand, und sagte zu ihr:
»Hört auf mich, Weib, Ihr tut gut daran, einen Mann mit einem Schwert zu heiraten, und das bald, sonst endet Ihr noch als Leiche oder als Bettlerin in der Gosse. Diese Kerle da auf dem Fußboden sollten Euch einen guten Vorgeschmack gegeben haben, was eine Frau ohne Mann und mit zuviel Geld erwartet. Städterinnen – bah –, keine Spur Grips. Jede Ritterwittib hat mehr Verstand im kleinen Finger.«
Margaret sah erschrocken aus. Von dieser Seite hatte sie es noch gar nicht betrachtet. Der abscheuliche alte Mann hatte recht, auch wenn es ihr überhaupt nicht gefiel.
Bruder Gregory war fassungslos. Die ganze Zeit hatte er sich in vagen Träumen gewiegt, daß er Margaret retten könnte und dann alles wieder wie früher sein würde. Denn wie früher war es genau richtig, ja, recht bequem eingerichtet gewesen. Er hätte weiter seine Runde durch die Ale-Häuser machen, mit seinen Freunden disputieren und dann bei Margaret vorbeischauen können, wo das Essen immer gut und die Unterhaltung vergnüglich war. Und jemand anders scherte sich um das Dach, die Regenrinnen, das Holz, die Bälger und Margaret selbst. Irgendwie hatte er sich das während seiner Abwesenheit so vorgestellt: sie in der Küche beim Brotbacken, gutes Brot – und hatte sich ausgemalt, ihre Rettung bedeutete, daß alles wieder am angestammten Platz wäre, auch Margaret.
Jetzt dämmerte ihm Fürchterliches. Man konnte die Uhr nicht zurückdrehen. Er hatte sich verpflichtet, zurückzukehren und in einer kalten, weiß getünchten Zelle zusammen mit Gott und der Göttin der Erinnerung zu hocken, während Hugo, dieser unsägliche Barbar, sich mit jenen vortrefflichen Wecken vollstopfte, Kinder machte, Margaret schikanierte und mit dem Alten überall herumhurte. Abends würden die beiden sich wahrscheinlich betrinken und sich gegenseitig beglückwünschen, daß sie ihr Glück am Schlafittchen gepackt hatten und ihn vielleicht in absentia hochleben lassen, weil er ihnen das alles verschafft hatte. Und Margaret würde weinend oben auf dem Söller dahinsiechen wie seine Mutter, und die Mädchen würden an ihrem elften Geburtstag dem Meistbietenden zugesprochen und anverlobt werden…
»Vater, das ist nicht recht, dazu hast du kein Recht. Sie würde Hugo jedenfalls nicht mögen –«
»Mögen? Was soll mir das? Deine Mutter hat mich auch nicht gemocht! Wir sind prächtig miteinander ausgekommen. Sie hat die Frauensachen gemacht, ich bin in den Krieg gezogen, und mit ihrer Mitgift habe ich den Turm wieder aufgebaut. Mögen ist bei einer Ehe völlig unwichtig. Geld und Familie, das zählt. Hast du nicht gesagt, sie ist eine Base? Doch wohl nicht zu nahe verwandt, wie?«
»Keine Spur von nahe.« Bruder Gregory seufzte tief. Ein Jammer, denn das hätte das Problem gelöst. Nicht einmal Vater würde die erforderlichen Gebühren und Beziehungen, beschaffen können, damit die Kirche ein Auge bei der Heirat innerhalb des siebten Verwandtschaftsgrades zudrückte.
»Also, Gilbert, geh mir aus dem Weg, ehe ich diese Männer da auf dich loslasse, daß sie dir jeden Knochen im Leib brechen. Diese Frau wird entführt; dir hängen doch nur die Trauben zu hoch, wie bei dem gottverlassenen Fuchs in dieser Geschichte da. Und das ist weiß Gott nichts Neues, du hirnrissiger, undankbarer Sohn.«
Bruder Gregory blickte Margaret an. Er wußte, daß er geschlagen war. Margaret blickte ihn an, dann die Gesichter ringsum im Zimmer. Es gab keinen Ausweg.
»Gut, freut mich zu sehen, daß Ihr Vernunft annehmt.« Sir Hubert regelte jetzt alles geschäftsmäßig. »Damien, geh nach oben und hol ihr den Umhang – draußen ist es kalt. Robert, du gehst –«
»Vater«, unterbrach ihn Gregory. Sein Vater drehte sich um und blickte ihn an. Gilbert wirkte sehr aufgeregt. Vielleicht war bei diesem unbrauchbaren Welpen doch noch nicht Hopfen und Malz verloren. »Vater, ich muß mit Margaret reden –« Hier wurde er von Getrappel und Geheule unterbrochen, als nämlich Damien und Robert mit einem Armvoll Winterkleidung, zwei tränenüberströmten, kleinen Mädchen und einer aufgebrachten, wutentbrannten Kinderfrau zurückkehrten.
»Mylord, was soll mit denen da geschehen? Sie hatte die beiden oben in einen Kleiderschrank eingesperrt.«
»In dieser Stadt hat man aber merkwürdige Methoden in der Kindererziehung«, bemerkte Sir Hubert. Die Mädchen hatten sich in die Röcke ihrer Mutter geflüchtet und heulten nur noch lauter. »Holt sie weg und setzt sie dort drüben hin«, sagte Sir Hubert. »Ich will sie mir anschauen.« Sir Hubert starrte sie ein paar lange und stumme Minuten an, strich sich den Bart und dachte nach. Die Mädchen starrten zurück. Sie wirkten fast wie Zwillinge und sahen genauso aus wie ihre Mutter, abgesehen von dem roten Haar. »Bringt nur Mädchen zuwege«, sagte der alte Mann bei sich. »Eine verdammte, hitzköpfige Stute, die nur Mädchen zuwege bringt.« Er schritt hin und her und brummelte in seinen Bart: »Viel besser für einen zweiten Sohn.«
»Madame, gehört die Kinderfrau zu Euren Leuten oder zu denen da?« fragte er Margaret, die sehr, sehr aufgebracht wirkte.
»Man hat sie dafür bezahlt – sie gehört zu denen da. Meine Leute sind alle im Keller eingesperrt; er hat die Schlüssel an sich genommen.« Margaret deutete auf ihr Schlüsselbund an Lionels kopflosem Rumpf.
»Mich dünkt, sie sollten die Plätze tauschen. Robert, bring die Frau da nach unten und laß die anderen heraus. Hier muß gründlich aufgeräumt werden. Rede ihnen gut zu – wir werden ihr Zeugnis noch brauchen, falls es zu einer Untersuchung kommt. Was, Gilbert, wolltest du gerade sagen –?«
»Ich muß mit Margaret reden.«
»Schieß los – was hindert dich daran?«
»Ich meine allein. Sie sagt, daß sie nichts in einem Zimmer mit Leichen drin bereden will.«
»Gut, aber in der Diele liegen auch Leichen herum. Sie liegen mehr oder weniger überall herum, außer womöglich in der Küche. John, Will –« und damit winkte er zwei Stallburschen » – begleitet sie dorthin, bleibt an der Tür und laßt sie nicht aus den Augen.«
Bruder Gregory führte die kleine Gruppe durch die Diele und in die Küche. Man konnte sehen, daß hier erst kürzlich noch Lionels und Thomas' Zechkumpanen gehaust hatten. Das Feuer war erloschen, die verschlossenen Gewürzkästchen waren geplündert, und in den glitschigen Ale-Lachen auf dem Fußboden lagen die Scherben von zerbrochenen Küchengefäßen. Mitten auf dem Boden gähnte ein Vogelkäfig aus Weidengeflecht, den man vom Balken abgeschnitten hatte.
»O! Der Vogel unserer Köchin! Das bricht ihr das Herz. Hoffentlich haben sie ihn nicht aufgegessen!«
Mißmutig musterte Bruder Gregory den Schaden. Das sah einer Frau ähnlich, sich in einer derartigen Situation um einen Vogel zu grämen. Aber er kletterte hoch und spähte aus dem hohen Küchenfenster, und die Stallburschen rückten näher, damit er ihnen nicht etwa entwischte. Hoch droben im winterkahlen Baum draußen vor dem Fenster konnte er schwarzweißes Federgeflatter ausmachen. Der Vogel machte eine Pause, hockte da auf einem schwankenden Zweig und legte den Kopf schief, um Bruder Gregory mit einem glänzenden Auge zu mustern.
»Dem Vogel geht's gut, Margaret. Er ist gleich hier, draußen auf dem Baum«, verkündete er und zog die Nase ein. Auch die Männer zogen sich zurück. Frauen – kaum ein Unterschied zu Vögeln. Ein flatterhaftes Hirn, und nie lange genug auf einer Stelle, als daß sie richtig denken könnten. Wer weiß, mit welcher Albernheit sie jetzt ankam?
»Margaret –« hob Bruder Gregory an.
»Euer Vater ist ein Unmensch«, sagte Margaret. Bruder Gregory nickte beifällig.
»Etwas anderes habe ich auch nie behauptet.« Bruder Gregory war entsetzlich traurig zumute. Er spürte, wie Gott ihm entglitt und sich all seine Pläne und Träume in Nebel auflösten. Wie kam es nur, daß Vater ihm das immer wieder antun konnte? Er vermochte kaum zu sprechen. Aber Margaret saß immer noch bis zum Hals in der Tinte, auch wenn sie nicht genügend Verstand hatte, das einzusehen. Er selbst hatte ihr das eingebrockt, und nun war er es ihr schuldig, daß er sie auch wieder herausholte.
»Ich – ich glaube nicht, daß Ihr Hugo sehr mögt«, fing Gregory an.
»Meiner Lebtage habe ich keinen übleren Kerl gesehen.«
Genau das, was auch Bruder Gregory seit Jahren von ihm gehalten hatte. Jetzt ging es ihm schon besser. Für eine Frau war Margaret sehr scharfsichtig.
»Ich – wir –« wollte er sagen. Margaret blickte ihn erwartungsvoll an. Er sah furchtbar aus. Sein abgetragenes, altes Gewand war zerfetzt und blutbespritzt. Den leichten Helm hielt er unter den Arm geklemmt, und seine Kapuze hatte er zurückgeworfen. Sie konnte die dunklen Ringe unter seinen Augen und eine böse Prellung an seiner Schläfe sehen, wo ihm dieser gräßliche alte Mann wahrscheinlich eins übergezogen hatte. In den letzten Monaten hatte Margaret ihn besser kennengelernt, als er ahnte, und sie wußte auch ohne Worte, was er sagen wollte. Sie wußte auch, was es ihn kostete. Und so wartete sie. Die Stallburschen an der Tür traten vor Langeweile von einem Fuß auf den anderen.
»Margaret – ich habe es nicht sehr weit gebracht. Die Sachen, die ich machen wollte, alles nichts draus geworden. Schreiben, Lehren und jetzt auch noch die Kontemplation. Und dann wollte ich Euch helfen, und auch daraus ist nichts geworden. Schaut Euch doch nur den Schlamassel an, den ich angerichtet habe. Soweit ist es mit mir gekommen –«
»Der Schlamassel ist nicht neu. Kendalls Söhne sind Teil von seinem Schlamassel, nicht von Eurem. Und Ihr habt mir wirklich geholfen. Woher hättet Ihr wissen sollen, was Euer Vater vorhatte.«
»Ich habe ihn über die Jahre beobachtet. Ich hätte es wissen müssen. Er nimmt sich immer, was er kriegen kann und schert sich nicht darum, wer dabei zu Schaden kommt. Und jetzt kommt Ihr zu Schaden, Margaret, und ich bin daran schuld.«
»Ihr kommt dabei leider auch zu Schaden«, antwortete sie.
»Ja, aber das war noch nie anders. So ist es mir immer ergangen. Darüber wollte ich ja ein Wörtchen mit Gott reden, doch damit ist es wohl vorbei.« Margaret sah sein verquältes Gesicht und legte ihm die Hand auf den Ärmel.
»Glaubt Ihr etwa, daß Gott das nicht sieht? Gott ist überall.«
Gregorys Miene hellte sich auf.
»Also, der Gedanke war mir auch schon vor gar nicht langer Zeit gekommen. Ob Gott wohl etwas dagegen hat, wenn wir heiraten?«
Margaret wollte lachen.
»Gregory, Ihr seid verrückt. Ist das etwa ein Heiratsantrag?«
Gregory blickte erstaunt, dann sah er sich im Raum um, als ob er nicht wüßte, woher ihm die Idee gekommen war, und als ob er vielleicht ein unsichtbares Loch in der Luft über seinem Kopf entdecken könnte, durch das sie herabgefallen sein mochte.
»Ei, ja, es sieht so aus – ich hätte nie gedacht, daß ich es herausbringen würde.«
»Ich auch nicht.«
»Also, Margaret, eigentlich bin ich nicht mehr Gregory – nur schlicht Gilbert. Den Namen hatte ich mir aufgespart für – für meine Rückkehr.«
»Gilbert? Der paßt aber nicht sehr gut zu Euch – könnt Ihr den anderen Namen nicht noch ein wenig länger beibehalten?«
»Den habe ich leider schon länger behalten, als schicklich ist.«
»Ehrlich, Gregory, Ihr seid schlimmer als Bruder Malachi.«
»Margaret, wir sitzen aber immer noch in der Klemme. Ihr habt Vater gehört. Wir werden ein Weilchen bei ihm wohnen müssen, und dann hackt er Tag und Nacht auf uns herum. Mich macht das verrückt. Soll ich Euch nicht doch lieber zum Fenster hinausheben, daß Ihr zu den Nachbarn laufen könnt?«
»Ich glaube, deswegen hat Euer Vater uns die beiden Männer da mitgegeben«, sagte Margaret und deutete auf sie. »Außerdem hat er recht, auch wenn er ein Ungeheuer ist. Das hieße nur, das Problem vor sich herschieben, und wer weiß, was noch auf uns zukommt.«
»Dann würde es Euch also nichts ausmachen –?«
»Nein, sehr lieb, daß Ihr mich fragt. Ihr fragt wenigstens noch, statt einfach anzuordnen. Außerdem glaube ich – ich glaube, ich möchte schon, Gregory.«
»Alles abgemacht da drinnen?« dröhnte Sir Huberts Stimme, »oder muß ich etwa noch nachhelfen?«
»Abgemacht«, sagte Bruder Gregory und kam mit Margaret heraus, die bewaffneten Stallburschen folgten ihnen.
»Teilweise abgemacht«, sagte sein Vater und musterte ihn grimmig von oben bis unten. »Jetzt will ich wissen, ob du in diesem elendigen Orden heiliger Schwachköpfe, bei dem du dich rumgedrückt hast, irgendwelche Gelübde abgelegt hast.«
»Nichts Endgültiges, Vater«, sagte Bruder Gregory kurzangebunden. Vater brachte ihn schon wieder in Harnisch.
»Gut – spart mir einen Scheffel Geld, wenn ich dich bei denen nicht loskaufen muß. Kaum zu glauben, daß du soviel Grips gehabt hast.« Er durchmaß das Zimmer mit großen Schritten und musterte seinen wirrköpfigen Sohn, während er weiter nachdachte. »Und früher? Als du dich ins Ausland abgesetzt hattest?«
»Niedere Weihen, Vater, gehören zu einem Universitätsexamen dazu«, sagte Bruder Gregory in einem Ton, als wollte er einem Einfaltspinsel etwas erklären, was jeder wissen dürfte. Er spürte, wie die Wut in ihm hochstieg, obwohl er sich Mühe gab, nicht außer sich zu geraten.
»Ja – was?« sprudelte der alte Mann hervor, während sein Gesicht knallrot anlief. »Ei, du Riesenblödian! Du und eine Wittib heiraten? Von der Anklage wegen Bigamie werde ich dich freikaufen müssen! Käme mich verdammt nochmal einen Batzen billiger, wenn ich Hugo an eine Wittib verheiratete, das kann ich dir sagen. Und Hugo würde sich gewißlich nicht so albern aufführen wie du!« Nun lief auch Bruder Gregory rot an, und die Adern an seinen Schläfen pochten. Er brüllte:
»Also, in dem Fall kannst du gleich –«
Genau in diesem Augenblick mahnte so etwas wie eine Stimme im Kopf des alten Mannes: »Vorsicht, Vorsicht! Wann bist du deinem Herzenswunsch je so nahe gewesen? Man fängt kein weidendes Pferd, wenn man ihm das Zaumzeug zeigt. Jetzt darf er dir nicht mehr entwischen – zeig ihm den Hafereimer, nicht die Peitsche.« Und Sir Hubert unterbrach seinen Sohn jählings mitten im Satz und sagte in ungewohnt heiterem und versöhnlichen Ton:
»Ach, laß doch, Gilbert, mir ist da ein Gedanke gekommen. Reg dich ab – das soll uns jetzt nicht bekümmern. Ich beleihe ihre Erbschaft und rechne dann später mit dir ab. Unser Bischof ist ein entgegenkommender Bursche – hast du eigentlich gewußt, daß er auch ein Vetter ist? Dritten Grades, mütterliche Linie. Sie kriegen von mir noch gratis einen Schrein dazu, wenn du möchtest – etwas in Namen deiner Mutter wäre wohl angebracht, meinst du nicht auch?«
Damit überrumpelte er Bruder Gregory derart, daß dem die Worte fehlten und seine Adern wieder abschwollen.
»Na? Sagt dir das Ganze jetzt besser zu? Gut. Nach Haus also und auf in die Kapelle«, sagte sein Vater.
Sie gingen zusammen zur Haustür, Margaret zwischen sich, wo die kleinen Mädchen schon in Umhang und mit Handschuhen warteten, auf ihre Mutter zuliefen und sich hinter ihren Röcken versteckten.
»Die Kleinkinder nehmen wir mit«, sagte Sir Hubert und winkte in ihre Richtung. »Ohne sie blasen Frauen bloß Trübsal. Aber mit Kindern tun sie's zweifellos auch, Weiberart eben«, setzte er hinzu.
Alles ging durcheinander, wie immer in letzter Minute vor einem Aufbruch, und Sir Hubert erteilte seinen Männern und Margarets Verwalter Befehle. Der wiederum wartete Margarets stummes Nicken ab, daß er sich entfernen durfte. Die Straße lag verlassen da, als sie aufsaßen, doch Margaret konnte hinter den halb geschlossenen Läden der Nachbarhäuser Gesichter hervorlugen sehen. Ein einziger Schrei, und sie würden bewaffnet auf die Straße gelaufen kommen. Bruder Gregory setzte sie hinter sich auf den Sattel seiner braunen Stute, und Margaret drehte sich um, wollte einen letzten Blick auf ihre eigene Haustür werfen. Sie spürte, daß ihr die Tränen in die Augen stiegen, als rauhes Geschrei sie von ihrem Kummer ablenkte.
»Diebe! Diebe!« schallte es vom Dachfirst. Sie blickte hoch und mußte unwillkürlich lächeln. Manchmal sehen Vögel klarer als Menschen.
»Was ist das?« brüllte Sir Hubert und drehte sich im Sattel um, während seine Hand zum Schwertknauf fuhr.
Hoch oben auf dem First hatte die Elster der Köchin mittlerweile damit aufgehört, sich das Gefieder zu putzen, jetzt hüpfte sie herum und spähte zu den Reitern unten auf der Straße herab.
»Nur der Vogel der Köchin«, sagte Bruder Gregory.
Hinten im Haus konnte man eine Stimme locken hören.
»Komm, mein kleiner Liebling. Mamas Schätzchen. Da sieh, sieh mal, was ich dir aufs Fensterbrett gelegt habe…« Sir Hubert beruhigte sich.
»Widernatürlich«, sagte der alte Ritter und gab das Zeichen zum Aufbruch. Und als sie losritten und hinter sich immer noch die Köchin locken hörten, da verkündete er: »Weiß Gott, die Albernheit der Weiber kennt keine Grenzen.«
»Kann man wohl sagen«, lachte Hugo.
»Stimmt, stimmt«, nickten die Stallburschen beifällig.
Doch Gregory schwieg.