Kapitel 8

Mittlerweile war es Advent geworden. Als Bruder Gregory von der Walbrook Street zur Thames Street trabte, blies ein so eisiger Wind vom Fluß herauf, daß es ihn in seinem alten Schaffellumhang fröstelte. Zwar hatte er das schmierige, verfilzte Fell gegen die Frostluft nach außen gewendet, was eigentlich besser wärmen sollte, doch dieser Winter versprach schon jetzt, ungewöhnlich hart zu werden. Zugegeben hätte er es nie, aber er freute sich auf Master Kendalls warme Diele, wo alles ordentlich war und man den Winter gebührend in Schach hielt. Als er dann aber zur Lesestunde hereingeführt wurde, fand er den Haushalt in ungewöhnlichem Aufruhr vor. Er stand einen Augenblick an der großen Feuerstelle still, wärmte sich auf und bekam dabei mit, was Gesinde und Gesellen aufgeregt besprachen; und auch ein, zwei Lehrlinge lauschten gespannt der hitzigen Diskussion.

» – und so streckt der Master einfach die Hand aus und wischt das Kreidezeichen über der Tür ab und sagt – kühler geht's wirklich nicht – zu dieser Bande von Gefolgsleuten – alle bis an die Zähne bewaffnet – ›Wenn Euer Herr Unterkunft sucht, so soll er das in einem unbewohnten Haus tun‹. Und ihr Hauptmann legt die Hand aufs Schwert, doch der Master sagt: ›Erschlagt einen freien Kaufmann von London auf seiner Schwelle, und Ihr hängt.‹ Inzwischen hatte ich die Jungen geholt, und Master Wengrave von nebenan war mit seinen dazugekommen, also steigen die Mistkerle wieder auf. ›Und holt Sir Ralphs Gepäck und seine Pferde auch aus dem Stall‹, spricht er. Ich kann Euch sagen, der Master Kendall, der hat Nerven aus Stahl –«

»Was mag da geschehen sein?« überlegte Bruder Gregory. Doch als er das Zimmer betrat, wo er gewöhnlich unterrichtete, traf er eine sorgenvolle Margaret an, die von Roger Kendall beschwichtigt werden mußte.

»Margaret, Margaret, reg dich doch nicht so auf. Merkst du denn nicht, daß alles vorbei ist? Das Gesetz ist auf unserer Seite. Nur weil der König sich in der Stadt aufhält, heißt das noch lange nicht, daß seine Gefolgsleute unser Haus beschlagnahmen können. Das mag anderswo üblich sein, doch in der City von London ist es schon lange Zeit verboten, und in den letzten zwanzig Jahren hat es auch niemand mehr versucht. Sie wollten nur einmal unseren festen Willen prüfen, und dabei haben wir uns als die Stärkeren erwiesen. Sie kommen nicht wieder, das kannst du mir glauben. Der König wird es nicht zulassen. Nun mach dir bitte keine Sorgen mehr.«

»Was hat das alles zu bedeuten?« unterbrach ihn Bruder Gregory.

»O, Bruder Gregory, ich bin im Augenblick viel zu durcheinander für Lesestunden.« Margarets Miene war ein Bild der Sorge. »Sir Ralph de Ayremynne hat versucht, unser Haus für seinen Aufenthalt in London zu beschlagnahmen, aber mein Mann hat sein Kreidezeichen über der Haustür weggewischt und seine Männer fortgeschickt. Und jetzt behauptet er, wir hätten nichts zu befürchten.«

»Und ich wiederhole es, mein Herz. Erschrick nicht vor Gespenstern.«

»A-aber, das Gesetz macht doch, was es will. Wenn man hochgestellt ist, hat man es immer auf seiner Seite. Auf das Gesetz ist überhaupt kein Verlaß. Ein Stück Papier ist nicht so stark wie das Schwert.« Margaret war immer noch durcheinander; das kam davon, daß sie zuviel dachte. Andere Frauen hätten sich mit den Worten ihres Mannes zufrieden gegeben.

»Unsinn, Liebes. Denk wie ich. Hinter dem Gesetz steht die Politik, und hinter der Politik das Geld. Darum behalten wir unser Haus.«

»Master Kendall, Ihr meßt dem Geld zuviel Macht zu. Im Himmel regiert Gottes heiliges Gesetz, auf der Erde das Schwert.« Bruder Gregory war ebensowenig imstande, Roger Kendalls Argumentation zu folgen.

»Bruder Gregory, Ihr macht einen Fehler. Die Engelsscharen Gottes arbeiten nicht für Geld. Er erschafft den Blitzstrahl und andere Waffen, ohne daß es ihn einen Penny kostet. Der König seinerseits kann ohne Geld kein Heer aufstellen. Wir in der City haben das Geld, und wenn er es haben will, darf er die City nicht vor den Kopf stoßen. Weil das Schwert ohne Geld in der Scheide bleibt, kommen beide, das Gesetz und das Schwert, erst hinter dem Geld.«

»Ein hübsches Argument, Master Kendall. Ich glaube zwar kein Wort davon, doch es schließt sich zu einem recht netten Kreis. Den Mann lob ich mir, der ein hübsch geformtes Argument zustande bringt. Das ist beinahe so gut, wie recht zu haben.«

»Ein Kreis? Ich sehe keinen.«

»Aber ja doch, ein Kreis. Denn Geld kann man nur verdienen, wenn der Frieden durch das Schwert gesichert wird. Ihr könntet also auch genauso gut sagen, daß Wohlstand hinter dem Gesetz kommt, und das Gesetz hinter dem Schwert – welches Euch zufolge hinter dem Wohlstand kommt.«

»Hmpf, ja. Ich merke, wir kommen nicht überein, weil wir uns nicht im gleichen Teil des Kreises befinden. Aber rutscht doch ein wenig zu meiner Seite herüber und sagt meiner Frau, daß wir nicht hinausgeworfen werden.«

»Mistress Kendall, Euer Mann hat recht. Ihr braucht nicht mit packen anzufangen. Wir sind beide der Meinung, daß Ihr überreizt seid und es viel zu gefühlsbetont nehmt.« Bruder Gregory blickte sie herablassend an, wie sie da auf den Kissen ihrer Fensternische neben ihrem Mann saß. Kendall hatte ihre Hände ergriffen, doch die waren immer noch klamm vor Angst.

»Ich bin überhaupt nicht gefühlsbetont; ich denke eben an wichtige Dinge wie das Haus, während ihr euch über Kreise streitet.« Margaret wurde langsam ärgerlich auf Bruder Gregory. Ärger war heilsam; darüber vergaß sie ihre Angst. Sie wurde aber noch ärgerlicher, als ihr aufging, daß Kendall entschlossen war, Bruder Gregory von seiner These zu überzeugen. Der wiederum verteidigte seine mit mehreren schlauen Beispielen, und schon bald stritten die beiden sich hitzig über Politik.

Sie brachten Margaret zur Verzweiflung: einen Augenblick dachte sie daran, sie einfach stehen zu lassen, doch dann fiel ihr ein, daß es nicht höflich war, wenn eine Unterrichtsstunde auf diese Weise ausfiel. So nervig Bruder Gregory auch zuweilen sein mochte, hatte er doch ihretwegen andere Arbeiten liegenlassen, und wenn er sein Honorar nicht bekam, dann vielleicht auch nichts zu essen. An derlei dachte Margaret immer, seit sie sich selbst in der gleichen Lage befunden hatte. Durch diese Rücksichtnahme unterschied sie sich gänzlich von den selbstsüchtigen reichen Frauen, die stets ein behütetes Leben geführt hatten und in einer gedrückten Stimmung bedenkenlos andere Leute vernichteten. So wartete sie denn, bis Kendall wieder einfiel, daß er an die Buchführung mußte, und versicherte ihm liebevoll, daß seine Beteuerungen ihr geholfen hätten, erst dann machte sie sich an die Arbeit. Es fiel ihr auch jetzt noch schwer, sich zu konzentrieren. Sie hatte ihren Schreck, daß ihre heile, stille, kleine Welt, die sie sich geschaffen hatte, in Gefahr war, noch nicht richtig verwunden. Als sie zu diktieren begann, war ihr Gesicht immer noch weiß, und ihre Hände zitterten zu sehr, als daß sie ihre Sticknadel hätten halten können.

Es war ein heller, kalter Herbstmorgen, als ich von meiner Arbeit aufblickte, denn ein lautes Klopfen an der Haustür hatte mich aufgeschreckt. Ich brauchte die Tür gar nicht erst aufzumachen, ich wußte schon, wer dort stand: einer der kleinen Lehrlinge des Schlachters mit weißem Gesicht und außer Atem. Bei gutem Wetter hatte ich es mir nämlich angewöhnt, die Tür offenzulassen, damit der Gestank aus Bruder Malachis Destille abziehen konnte. Die letzten Wochen war er dem Geheimnis der Umwandlung ›sehr nahegekommen‹. und so quoll denn ein eigentümlich übelriechender Rauch durchs Haus. Jetzt wetteiferte er – und dieses Mal erfolgreich – mit dem Gestank der Gasse, der normalerweise durch die geöffnete Tür drang.

»Margaret, Margaret – Türen und Fenster offenstehen zu lassen, ist eine schlechte Angewohnheit. Das ist ja direkt eine Einladung für Diebe und Halsabschneider«, hatte Bruder Malachi eingewendet.

»Aber hier gibt es doch nichts zu stehlen – keinen Penny und keine Wertgegenstände, welche die Mühe lohnen würden«, erwiderte ich ganz vernünftig, wie ich meinte.

»Keine Wertgegenstände, keine Wertgegenstände? Ei, da ist meine Apparatur – und ob die kostbar ist! –, es dauert allein schon Jahre, wenn ich sie nachbauen muß!«

»Aber wer will die denn haben – und wenn sie einer mitnähme, was nutzte sie ihm schon, da doch nur Ihr damit umzugehen wißt.«

»Kann doch sein, daß mir ein Feind meine Geheimnisse stehlen möchte«, brummte Bruder Malachi. »Aber bedenke eines«, und hier hellte sich seine Miene auf, »schon bald werden sich im Haus Gold und Silber nur so türmen. Was für eine Versuchung! Und Margaret mit ihren schlechten Angewohnheiten läßt einfach ein Fenster offen –« hier ahmte er einen finster um die Ecke schleichenden Dieb nach, der im dunkeln nach Geld grapscht. »Und so – kriecht – er herein und schneidet uns die Kehle durch!« Bruder Malachi sprang dramatisch hoch, seine Hände wurden zu Klauen, die Augen rollten wie bei einem Wahnsinnigen.

»O!« Ich erschrak und fuhr zurück. »Bruder Malachi, Ihr solltet Euch wieder Maistre Robert anschließen, Ihr seid zu dramatisch für mich!«

»Mein Theater will etwas besagen, liebes Kind. Du solltest nämlich vorsichtiger sein. Das hier ist nicht gerade die vornehmste Gegend.«

»Aber angenommen, wir ersticken, ehe man uns die Kehle durchschneidet? Was dann? Dann kommt Ihr nie hinter das Geheimnis. Und bedenkt außerdem, daß allein schon der Gestank jeden abschreckt, der hier nichts zu suchen hat.«

»Hmm. Ein Gedanke, ein Gedanke. Ich werde ihn mir durch den Kopf gehen lassen.«

Und so kam es, daß ich bei offener Tür drinnen an einer Flickarbeit saß und mich bemühte, mich gleichzeitig am Feuer zu wärmen und die frische Herbstluft zu atmen, was unter diesen Umständen schlicht unmöglich war. Gerade Bruder Malachis Kleider bedurften ständig der Ausbesserung, da fliegende Funken immer wieder Löcher hineinbrannten, denn er hatte seinen Verstand nicht beisammen, wenn er in eines seiner Experimente vertieft war. Als ich den Schlachtersjungen sah, legte ich mein Flickzeug beiseite.

»Was ist los? Kann ich helfen?« fragte ich.

Der Schlachtersjunge rang nach Atem, damit er sprechen konnte. Ich kannte ihn; es war einer meiner Freunde von der Schlittschuhbahn.

»Ist die Wehmutter zu Haus, Margaret? Ich bin – ich bin den ganzen Weg gerannt. Meine Mistress hält die Schmerzen nicht mehr aus. Letzte Nacht ist ihre schwere Stunde gekommen, und es geht ihr sehr schlecht.«

»Mutter Hilde ist nicht da, aber ich komme mit. Ich will nur noch meinen Korb holen.«

»Du? Bist du denn auch eine Wehmutter? Du bist nicht alt genug dafür. Die Mistress will die alte, die auch ihr letztes Kind geholt hat.«

»Die ist die ganze Nacht fort, wacht bei einer Frau in den Wehen – aber ich komme mit. Ich bin fast genauso gut.«

»O, hoffentlich ist sie nicht böse. Es würde schon alles gutgehen, hat sie gesagt, denn sie hat schon acht Kinder gekriegt und vier begraben, warum sich also bei einem weiteren Sorgen machen? Mein Master wollte nicht dafür bezahlen, daß jemand die ganze Nacht bei ihr wacht. ›Laß deine Base kommen‹, hat er gesagt, ›und hol dir jemand, der dann die Nabelschnur durchschneidet. Das ist Frauensache.‹ Aber jetzt geht alles schief. Beeilt Euch, beeilt Euch!«

Und wie ich mich beeilte, denn es war ein langer Weg von unserem Haus bis zu den Shambles. Vergangene Nacht hatte es auch noch geregnet, so daß viele der Straßen, die nicht gepflastert waren, nur noch Schlamm waren, was uns natürlich aufhielt.

»Denk nur, wie schnell wir vorankommen würden, wenn es gefroren hätte und wir die Schlittschuhe nehmen könnten«, sagte ich, während ich auf meinen hölzernen Stelzenschuhen dahinstolperte. Er blickte betrübt auf seine Schuhe, die vollkommen durchnäßt waren. Er war bis an die Knie mit Dreck bespritzt.

»Ich kriege sicher einen Anpfiff, weil ich meine Schuhe versaut habe. Der Master behauptet, es gibt auf der ganzen Welt kein Balg, das mehr entzweimacht als ich.«

»Vielleicht weiß er dir ja dieses Mal Dank für deine Eile und bemerkt die Schuhe nicht.«

Als wir um die Ecke in die breite Straße einbogen, wo der Schlachter sein Haus hatte, kam uns ein kalter Windstoß entgegen, und wir wickelten uns fester in unsere Umhänge.

»Seid Ihr sicher, wirklich sicher, daß Ihr genug wißt?«

»Ich kenne alle Geheimnisse meiner Mistress«, sagte ich. Und, so dachte ich, was mir an Wissen fehlt, das mache ich mit einer Gabe wett. Natürlich kann ich sie retten.

»Aber, dann seid Ihr ja ein Lehrling wie ich!«

»Nicht richtig, aber so ähnlich. Sozusagen.«

»Barmherziger, wir kommen zu spät!« Der Junge verlangsamte den Schritt. Sein Kinn zitterte, denn der Priester betrat das Haus durch den Laden im Erdgeschoß, ein Knabe mit einer Kerze ging ihm voran. Als der Lehrling mich oben ins Schlafzimmer führte, ballte der Vater die Faust und erhob sie gegen uns.

»Ihr kommt zu spät, verdammt noch mal!« zischte er.

»Ruhe!« mahnte der Priester, denn er erteilte der kaum noch atmenden Frau die letzte Ölung. Am Kopfende des Bettes saß eine Frau, rang die Hände und weinte. Vier kleine, vollkommen aufgelöste Mädchen kauerten am Fußende des Bettes. Der Vater stand mit hängendem Kopf in seiner Lederschürze und mit seinem großen Messer am Gürtel daneben. Er hatte gearbeitet, bis es schiefging.

»Aber, ehrwürdiger Vater, mein Sohn –«

»Es ist Gottes Wille. Wenn du einen Sohn willst, so mußt du wieder heiraten.« Die Stimme des Priesters war kalt.

»So leicht gebe ich nicht auf!« Das brüllte er, und seine Augen blickten gänzlich irre. Schweiß strömte ihm über die Stirn. »Weg da, ich weiß, was ich zu tun habe!« Er schob den Priester fort, die kleinen Mädchen warf er vom Bett. Mit einer schroffen Geste schlug er den Rock der Toten zurück, den man ihr zu ihrem Lebewohl von dieser Welt schicklich übergelegt hatte. Sein scharfes Messer schimmerte über dem riesigen, glänzenden, weißen Leib.

»Nicht, Papa, nicht!« schrie ein dünnes Stimmchen ganz außer sich. Der Lehrling wich in eine Ecke zurück. Mit einem einzigen Schnitt öffnete der Schlachter den Bauch, als wollte er ein Schwein ausweiden. Das Blut spritzte, lief ihm über die Schürze und regnete in Tropfen auf alle im Zimmer herab. Aber, da, o du lieber Gott, welch unbeschreibliches Entsetzen! Als das Messer ins Fleisch schnitt, durchlief ein gräßliches Zucken die Gliedmaßen der toten Frau, und ein Auge schien sich zu öffnen und sich grausig in meine Richtung zu verdrehen. Sie war noch nicht ganz tot gewesen!

»Ein Junge! Bei Gott, ein Junge! So wurde Julius Caesar geboren!« Er hatte das schlaffe, blaue Kind aus dem geöffneten Schoß gehoben und hielt es blutig und triumphierend hoch, und die Nabelschnur hing herunter und verband es immer noch mit der Toten.

»Hergeben, gebt es mir!« rief ich und kam wieder zu mir. Mit einem Finger holte ich aus seinem Mund das faulige, dunkle Zeug, das Merkmal einer schlimmen Geburt, heraus und fing an, ihm sacht in den Mund zu atmen. Seine Brust hob sich und fiel mit meinem Atmen, aber der Leib blieb blau. Die Geburt war zu schwer gewesen; ich wußte, es lebte nicht mehr. Der Priester kam näher und sah interessiert zu.

»Weiteratmen«, sagte er. »Ich sehe, daß sich seine Brust bewegt; jetzt nicht aufhören.« Und dabei nahm er sein kleines Weihwassergefäß und besprenkelte das kleine Wesen dreimal.

»Gotteskind, ich taufe ich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

Ich blickte auf. Da kauerte er über mir, wo ich mit dem Kind im Arm auf dem Fußboden am Bett kniete. Seine Miene war ausdruckslos.

»Ich verliere nämlich keine Seele, die meiner Hut anvertraut ist«, sagte er und wirkte gänzlich gelassen.

»Er lebt, er lebt!« schrie der Schlachter.

»Nein, mein Sohn, er ist tot«, gab der Priester zurück.

Als ich mir das blutige Kind in meinem Arm anschaute, da sah ich auch den Grund dafür. Der Kopf war viel zu groß. Tatsächlich war er zweimal so groß wie ein normaler Kopf, und die Stirn war geschwollen, als hätte sie zwei rechte Winkel oder vorspringende Höcker über den Augenbrauen. Keine Menschenfrau hätte diesen Kopf gebären können. Stumm schnitt ich die Nabelschnur durch und windelte das Kind; dann legte ich es der Toten in den Arm, wobei ich die Augen von ihrem so furchtbar zugerichteten Leib abwandte. Der Priester blieb vermutlich noch wegen seines Honorars. Außerdem mußte man alles für ein Doppelbegräbnis richten. Ich ging still, ohne ein Wort. Der Lehrling folgte mir, und sein Gesicht war ein Bild des Jammers.

»Sie war so gut zu mir«, sagte er. »Habt Ihr gewußt, daß sie gut zu mir war?«

»Könntest du mir den Weg nach Hause zeigen?« bat ich. »Ich glaube nicht, daß ich mich noch an alle Abzweigungen erinnere.« Stumm ergriff er meine Hand und brachte mich nach Haus.

Bei unserer Heimkehr war es schon später Nachmittag. Die Flickarbeit für Bruder Malachi lag noch genau dort, wo ich sie liegengelassen hatte, doch im Stinkezimmer konnte ich zwei Leute jubeln hören.

»Margaret, bist du das? Bist du endlich fertig? Wir müssen alle zu Abend essen.« Bruder Malachis Stimme klang aufgekratzt.

»Ich bin wirklich fertig«, antwortete ich. Mein niedergeschlagener Ton entging ihm nicht, und so fragte er:

»Es ist nicht gut gegangen, wie? Na, mach mach dir keine Sorgen, wir sind alle reich, und heute abend wollen wir so richtig schmausen.«

»Dann habt Ihr vermutlich endlich das Geheimnis entdeckt?«

»Nein, nein, nicht ganz so gut.« Mutter Hilde kam geschäftig ins Zimmer geeilt. »Die Frau, die ich entbunden habe, hatte Zwillinge! Einen Jungen und ein Mädchen, beide mit schwarzem Haar. Wie die gebrüllt haben! Vor Freude hat der Mann nur so getanzt! ›Zwillinge!‹ hat er geschrien, ›Ihr bekommt eine Draufgabe!‹ ›Aber denkt dran‹, sagte ich, ›besorgt Eurer Frau eine Amme, falls sie nicht genug Milch hat, denn Ihr habt da ein paar fette, robuste Kinder, die eine Menge Nahrung brauchen werden!‹ Und so habe ich ein doppeltes Honorar und noch etwas mehr bekommen, weil ich die ganze Nacht bei ihr gewacht habe. Und außerdem hat er mit Geld bezahlt! Nicht etwa mit Gemüse, Margaret; nicht mit alten Kleidern! Also, wenn es uns in London nicht gut geht!«

Ich machte immer noch ein betrübtes Gesicht. Auf einmal sah mich Hilde aufmerksam und besorgt an.

»Ei, Margaret, was ist denn los? Du wirkst so bedrückt. Und auf deinem Kleid ist Blut. Wer ist dieser kleine Junge? Er ist auch so bedrückt. Was ist passiert?«

»Das ist Richard, der Schlachterlehrling, der mich nach Haus gebracht hat. O, Mutter Hilde, die Schlachtersfrau ist gestorben. Der Kopf, der Kopf des Kindes war zu groß.«

»Aber das Blut, mein Mädchen. Da ist doch noch mehr passiert.«

»Ja, stimmt. Er hat ihr den Bauch aufgeschnitten, um das Kind zu retten. Wie bei Julius Caesar, hat er gesagt.«

»Hmm, interessant. Hat das Kind gelebt?«

»Nein, Mutter Hilde. Ich glaube, es war schon vorher tot, aber der Priester nicht, der hat es getauft.«

»Ja, so geht es, so geht es. Aber gar keine so schlechte Idee, wenn es geklappt hätte.«

Ich war entsetzt. Der Junge fing schon wieder an zu weinen. Mutter Hilde sah ihn an und legte dabei den Kopf schief wie ein neugieriges Eichhörnchen. In ihren Augen unter dem weißen Kopftuch schimmerte etwas. Dann griff sie auf einmal nach ihm, nahm ihn in die Arme und barg seinen Kopf an ihrer üppigen, in graues Tuch gekleideten Brust.

»Mein Kleiner, wenn Soldaten in den Krieg ziehen, dann setzen sie doch ihr Leben aufs Spiel?«

»J-ja«, schluchzte er.

»Und für was kämpfen und setzen sie ihr Leben aufs Spiel?« fragte sie sanft.

»F-für Gott, f-für König und Vaterland.«

»Weißt du eigentlich, daß wir Frauen auch Soldaten sind?« Er sah sie verwundert an. »Auch wir setzen unser Leben aufs Spiel«, fuhr Mutter Hilde fort. »Und das jeden Tag. Nur daß wir für Gott, für das Leben und die menschliche Rasse kämpfen. Und das ist doch wichtig, oder?«

Der Kleine blickte sie an. Was für ein merkwürdiger Gedanke!

»Wir Wehmütter sind wie Generäle. Wir sind ständig im Feld. Hier –« sie klopfte auf meinen Korb, »sind unsere Wurfmaschinen und die Belagerungswerkzeuge. Die Frauen sind die Ritter: sie kämpfen wie die Wilden, um Leben zu schenken, und zuweilen sterben sie auf dem Schlachtfeld. Leuchtet dir das ein? Der Kampf ums Leben ist edler als der Kampf um den Tod, und deine gute Herrin ißt heute im Himmel zu Abend. Dort wird sie höher geehrt als jene, die im Leben Tod ausgeteilt haben. Die Engel singen für sie. Der süße Jesus begrüßt sie. Die Jungfrau Maria hat ihr schon die Tränen getrocknet – und du mußt deine auch trocknen.« Sie wischte ihm die Augen mit dem Saum ihres Ärmels, und er machte einen Laut, als wollte er ersticken.

»Und husten tust du auch? Ich habe nämlich eine gute Arznei gegen Husten. Die wirst du mögen – sie schmeckt gar nicht scheußlich. Ich mache sie aus Minze und Honig. Das forme ich zu kleinen Kügelchen. Komm mal mit.« Er folgte ihr stumm. Ich wußte, jetzt nahm sie einen Krug vom Regal mit ihren Arzneien und konnte hören, wie sie ihm die Süßigkeiten in die Hand zählte, dann schloß sie seine Finger darüber. Stumm folgte er ihr zurück ins Vorderzimmer, wobei er sorgsam die Hand geschlossen hielt, so als hütete er etwas sehr Ungewöhnliches.

»Und jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Wir haben hier alle viel zu tun. Sim treibt sich draußen herum und spielt, und Peter ist zu einfältig, als daß man ihn mit etwas Wichtigem betrauen könnte. Ich möchte, daß du Margaret zu der netten, kleinen Garküche in Cheapside begleitest – die, welche abends noch lange aufhat –, Margaret, du holst uns Fleischkuchen und was du sonst noch an Gutem hierfür bekommst – und dann bleibst du zum Abendessen. Möchtest du? Und wenn du husten mußt, nimmst du deine Medizin.«

»Das ist aber eine nette, alte Lady, was?« fragte er, als wir durch die gewundenen Gassen zur Garküche gingen.

»Sehr nett. Sie hat mir nämlich das Leben gerettet.«

»Beim Kinderkriegen?«

»Nein, bei der Pest.«

Er schauderte. »Die überlebt keiner.«

»Nicht viele, aber ich schon. Sie ist sehr klug.«

»Dann ist es ja kein Wunder, daß Ihr bei ihr Lehrling sein wollt. Eines Tages seid Ihr dann auch weise.«

»Vermutlich. Aber das dauert lange. Länger als ich gedacht habe.« Der Schlachtersjunge steckte sich eine von Mutter Hildes Süßigkeiten in den Mund und dachte ein Weilchen darüber nach.

Die Garküchen Londons haben mir immer gefallen. Derlei gibt es auf dem Lande nun wirklich nicht. Was für ein Festtag, wenn man mit Geld in der Tasche heimkommt und eine fertige Mahlzeit einkaufen kann. Und wer unvermutet Gäste hat, kann dort eilends und kurzfristig etwas Köstliches erstehen. Auf der Thames Street gibt es einige teure Garküchen, welche den ganzen Tag und auch die ganze Nacht über geöffnet sind, damit es ihre Kunden auch bequem haben. Und wer nur ein kleines Zimmer hat und nicht recht kochen kann, muß trotzdem nicht auf gutes Essen verzichten. Es gibt sogar Leute, die wohnen einfach in Schenken und Garküchen, wenn es ihnen zuhause nicht mehr gefällt. Das Leben in der Stadt ist eben ganz anders.

Die Garküche, zu der wir gingen, wurde seit kurzem von Mutter Hilde bevorzugt. Sie hatte nämlich die Frau des Besitzers von einem Kind entbunden, und deswegen bekam sie dort alles ein wenig preiswerter. Wir stießen die schwere Eingangstür auf; die Luft drinnen war warm und stickig, es roch nach Zwiebeln, Gewürzen und bratendem Fleisch. Die Herdfeuer spendeten mehr Licht als die Unschlittkerzen an den rauchgeschwärzten Wänden. Auf langen Spießen sah man Reihen von Bratenstücken und Geflügel brutzeln. Über einem großen Feuer wurde bedächtig sogar eine ganze Hammelhälfte gedreht. Ein Schweinekopf mit eingesunkenen Augen briet vor sich hin. Irgendwie mochte ich die Augen nicht. Auch der Hammel hatte noch ein Auge. Ein grausiges Auge, wie das Auge der Toten, das sich heute morgen zu mir gedreht hatte. Ein widerliches, gekochtes Auge. Auf einmal war mir klar, daß ich nichts von dem gebratenen Fleisch dort würde essen können. Ich hatte das Gefühl, als ob all diese Augen – Gänse-, Schweine-, Kapaunen-, Schwanen- und Hammelaugen – mich anblickten und sich rachsüchtig zu mir drehten. Mutter Hildes Freundin kam zu uns und begrüßte uns, eine gestandene, rotgesichtige Frau mit Kopftuch und großer, fettbespritzter Schürze. Sie zeigte uns den allerbesten ihrer Fleischkuchen, und den erstand ich dann, doch mir wollte sich dabei der Magen umdrehen. Darum kaufte ich auch noch einen grünen, frischen Käse und ein paar andere gute, fleischlose Dinge ein. Ich merkte, wie sich die Stimmung meines kleinen Begleiters hob. Das ist gut, dachte ich, wenn er erst einmal gegessen hat, geht es ihm noch besser.

Doch daheim saß ich niedergeschlagen vor meinem Abendessen. Jubelnd war der Fleischkuchen in Stücke geschnitten worden, und Bruder Malachi brachte eine Art blumiges Tischgebet zuwege, das seiner Meinung nach der Größe des Ereignisses entsprach. Jeder außer mir griff freudig zu, doch ich brachte einfach nichts herunter.

»Was fehlt dir, liebes Kind, warum nimmst du nicht an diesem herrlichen Festschmaus teil?« fragte Bruder Malachi mit vollem Mund.

»Ich kann einfach nicht – ich bekomme Magenschmerzen davon.«

»Na, mach schon, liebe Margaret, du mußt essen und fröhlich sein, denn wer weiß, was morgen ist.« Mutter Hilde legte mir die Hand auf die Schulter.

»Ich bin doch fröhlich, es ist bloß – bloß –«

»Bloß was, mein Kind?«

»Ich kann nichts mit Augen essen!« jammerte ich.

»Aber Pastete hat doch keine Augen«, argumentierte Bruder Malachi, und das durchaus vernünftig.

»Aber sie hatte doch mal Augen!« protestierte ich verstört.

»Sie meint, das Schaf hatte welche, ehe man daraus Pastete gemacht hat, lieber Malachi.«

Peter gab die Grunzlaute von sich, die er gewöhnlich beim Essen macht.

»Käse hat keine Augen, Margaret. Versuche es mal damit«, drängte Mutter Hilde. Ich probierte ein kleines Stückchen. Es ging. Ich langte noch einmal zu.

»Hurra!« rief Bruder Malachi.

»Wenn Ihr Euer Stück Pastete nicht wollt, kann ich es dann haben?« Der Schlachtersjunge erholte sich zusehends.

»Frag erst mal, ob Bruder Malachi es nicht will – vielleicht mußt du teilen«, antwortete ich.

»Durch drei, Margaret«, setzte Sim hinzu.

Und so teilte ich denn durch drei, doch seit dieser Zeit habe ich mir zur Gewohnheit gemacht, nichts zu essen, was Augen hat. Ich weiß nicht einmal richtig warum. Mir tut davon einfach der Magen weh. Komisch, manchmal falle ich auf ein reich verziertes Gericht herein, aber immer habe ich hinterher Magenschmerzen. Und wer ißt schon freiwillig etwas, wovon ihm der Magen wehtut? Es scheint mir auch nicht zu schaden, obwohl viele sagen, ich würde dahinsiechen und sterben. Das größte Problem sind allerdings Menschen, die glauben, daß ich besonders heilig sein will und eine große Heuchlerin bin, weil bei mir das ganze Jahr über Fastenzeit ist. Aber in Wirklichkeit ist es viel einfacher. Ich halte bloß nichts von Schmerzen.

Wir schickten Sim mit dem Schlachtersjungen zurück, und Sim mußte den ganzen Rückweg rennen, damit er vor dem Abendläuten daheim war. Aber in dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Es ging beim besten Willen nicht. Immer wieder sah ich vor mir diesen großen Kopf, der geboren werden wollte, und stellte mir vor, man könnte ihn herausziehen. So ging es auch die nächste Nacht, nur daß mir jetzt träumte, meine Finger wären sehr lang, lang und dünn und stark. Zusammen mit einer kräftigen Wehe schob ich sie in den Schoß und zog den Kopf heraus. Im Traum blieb das Kind in jener Nacht am Leben.

Am nächsten Morgen war ich sehr angeschlagen. Bruder Malachi war so taktlos, es nicht zu übersehen, als wir uns die Reste des kalten Essens vom letzten Abend zum Frühstück teilten.

»Margaret, lüg mich nicht an! Ich besitze das Allsehende Auge! Ich weiß, daß du nicht schläfst.«

»O, Bruder Malachi, braucht man denn das Allsehende Auge, um die dunklen Ringe unter meinen Augen zu bemerken?«

»Was hält dich wach? Wieder einmal Geister? Etwas Scheußliches, das unter dem Haus begraben liegt und stöhnt, man möge es ausgraben? Ich segne solange herum, bis es dich nicht mehr belästigt.«

»Das nun auch wieder nicht. Es ist nur ein Traum. Ein Traum, der mich beunruhigt. Ich muß etwas herausfinden, aber es entzieht sich mir immer noch.«

»Nur mit der Ruhe – das ist ganz und gar kein Problem. Dafür habe ich genau das Richtige.«

»Wieder so Heiligenknöchelchen?«

»Du hartherziges Kind, du – nein. Etwas viel Wirksameres.« Er kramte in seinem Beutel, den er immer an seinem alten Ledergürtel trug und brummelte beim Suchen vor sich hin.

»Er muß doch da sein – irgendwo – aha!« Und damit hielt er einen seltsamen achteckigen Stein zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Er war hellblau und durchsichtig, aber er glänzte nicht.

»Was ist das, und wie habt Ihr das gemacht?« fragte ich.

»Den habe nicht ich gemacht – man trifft ihn so in der Natur an.«

»Und das ist –« bohrte ich weiter.

»Ein Traumkristall, Margaret. Der letzte, der noch übrig ist. Die anderen habe ich an hochgeborene Damen verkauft, damit sie vom Antlitz ihres Liebsten träumen können.«

»Ich brauche keinen Liebsten, Bruder Malachi.«

»Das, meine liebe Margaret, versteht sich doch. Aber du brauchst deinen Traum. Dieser herrliche Stein wird – ehem – ihn für dich verdichten, ihn manifest machen, so daß du klar erkennen kannst, wovon du träumen wolltest.«

»O Bruder Malachi, ich weiß, Ihr seid überaus klug – aber Traumkristalle? Das ist doch wie jenes Stückchen vom Wahren Kreuz, das Ihr aus Bauholz angefertigt und diesem Idioten in Fly angedreht habt.«

»Ganz und gar nicht, Margaret. Dieses eine Mal solltest du mir ein wenig Glauben schenken, ja?« So schwatzte er auf mich ein und hielt mir den Kristall in der offenen Hand hin. Der sah wirklich hübsch aus und verlockte zum Anfassen.

»Leg ihn nur heute abend unter dein Kopfkissen. Dann schläfst du wie ein Wiegenkind und erinnerst dich morgens an deinen Traum.«

»Danke, Versuch macht klug. Nett von Euch, daß Ihr Euch um mich sorgt.« Schaden konnte er wohl kaum?

In jener Nacht schlief ich unruhig. Ich wachte mehrfach auf, und mein Bett war feucht von Schweiß. Der Traum kehrte zurück, zwei-, dreimal, und jedes Mal, wenn ich das Kind gerettet hatte, wachte ich auf. Dann aber schlief ich tief, ganz tief. Als ich morgens wieder durchkam, sah ich den Traum erneut vor mir. Nur als ich dieses Mal den Kopf des Kindes herauszog, blickte ich dabei auf meine Hände, die das kostbare Wesen hielten. Meine Finger waren aus Stahl.

»Stahlfinger!« rief ich aus und setzte mich auf. »Ich habe von Stahlfingern geträumt!«

»Ach, sei still, Margaret.« Sim drehte sich um. Peter machte im Schlaf Ferkelgeräusche. Der Hund kam hoch und trapste mit den Pfoten laut über den Holzfußboden.

»Ruhe da draußen!« rief die schläfrige Stimme Bruder Malachis aus dem vorderen Schlafzimmer.

Und so saß ich denn stumm da und wiegte mich in Träumen von Stahlfingern. Es mußte etwas sein wie – etwas wie die Zangen, mit denen man Heißes aus dem Topf holt, aber mit rundgebogenen Stahlfingern am Ende, dann könnte ich den Kopf wie in meinem Traum herausziehen. Nein, keine Finger – die könnten sich hineinbohren. Könnten ein Loch machen. Der Kopf eines Säuglings ist weich. Hmm. Oder vielleicht tat es ein Rand um die Finger herum?

Später frühstückten wir zusammen. Bruder Malachi spülte das altbackene Brot mit einem riesigen Krug Bier hinunter, als er jäh innehielt und mich anblickte. Sein Stoppelgesicht zuckte unwirsch.

»Jetzt entsinne ich mich. Ja, mir fällt alles wieder ein. Irgendein Trottel hat mich zu nachtschlafender Zeit mit seinem Geschrei aufgeweckt. Könnte es sich dabei um dich gehandelt haben, Margaret?«

»Das kann nicht sein, Malachi«, legte Mutter Hilde ein gutes Wort für mich ein. »Ich habe geschlafen wie ein satter Säugling – ich habe auch nicht das mindeste Geschrei gehört.«

»Du ganz gewiß nicht. Ich, ich bin in diesem Hause die empfindsame Seele. Und ich bin erschöpft. Gestern abend war ich dem Geheimnis äußerst nahegekommen, wenn ich nicht darüber eingeschlafen wäre. Nur ein, zwei Stündchen, dachte ich, auch mein armes, ermattetes Hirn bedarf der Ruhe, und dann ist das Geheimnis endlich mein. Aber nein, Fortuna wollte es anders. Meine Sterne, meine grausamen Sterne haben mich verraten! Meine erbärmliche kleine Ruhestunde wurde von rauhem Gelärme unterbrochen.«

»Es tut mir wirklich leid, Bruder Malachi, aber daran war doch nur der Traumkristall schuld«, entschuldigte ich mich.

»Ach ja, der Traumkristall«, sagte er und tat erschöpft. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Etwas für blöde, liebeskranke Frauen. Nichts für einen wahren Sucher.«

»Aber Ihr selbst habt ihn mir doch gegeben.«

»Nur um dich zu besänftigen und um mein empfindsames Gewissen zu beruhigen. Habe ich dir schon erzählt, daß das Hirn einer zarten Pflanze gleicht? In einer rauhen, lärmenden Umgebung nimmt es leicht Schaden.«

»Aber wollt Ihr denn nicht hören, was ich geträumt habe?«

»Daran geht wohl kein Weg vorbei, aber nur damit du nachher Ruhe gibst.«

»Ich habe von etwas wie einer Küchenzange geträumt, aber mit langen Stahlfingern auf jeder Seite – gerundet, etwa so.« Und ich hielt meine Hände hoch, um es ihm anschaulich zu machen.

»Dann hast also doch du mich aufgeweckt. Und das für sowas? Träume lieber von einem Liebsten wie die anderen.«

»Nein, einen Augenblick, Malachi. Wofür war das Ding gut, Margaret?« unterbrach ihn Mutter Hilde.

»Du weißt doch, wenn der Kopf des Kindes festsitzt und die Wehen ihn nicht austreiben können. Die Stahlfinger könnte man hineinschieben, den Kopf damit umfassen und ihn dann herausziehen. Genau wie eine Hand müßten sie sein, nur dünner, so, siehst du, denn der Kopf muß hineinpassen.« Jetzt hatte es auch Hilde gepackt.

»Man muß es aber richtig anstellen, sonst zerdrückt man den Kopf. Und wie stündest du dann da?« fragte sie. Dann überlegte sie einen Augenblick. Sie bewegte die Hände, als ob sie einen Kinderkopf umfaßte. »Hmm«, sinnierte sie. »Hier mußt du sie ansetzen, und nirgendwo sonst. Direkt über den Wangenknochen, wo die härteste Stelle ist.«

»Frauen! Ewig der Beruf! Ich gehe jetzt und entreiße dem Universum seine Geheimnisse! Sim, komm mit – ich brauche dich am Blasebalg. Für meinen nächsten Versuch muß das Feuer ganz heiß sein.«

»Wartet, wartet, Bruder Malachi – könntet Ihr mir ein Modell davon machen?« fragte ich.

»Mein liebes Mädchen, du brauchst nicht mich – du brauchst einen Mann, der mit feinem Stahl umgehen kann. Beispielsweise einen Waffenschmied.«

»Einen Waffenschmied? Was für einen Waffenschmied?«

»Den besten, mein Kind, den besten. Du willst doch wohl keinen tolpatschigen Hufschmied darauf ansetzen. Der arbeitet viel zu grob und nimmt schlechtes Material.« Malachi wollte in seinem Stinkezimmer verschwinden.

»Aber ich kenne keinen Waffenschmied.«

»Ich aber – frag nach John von Leicestershire –, ich habe einstmals seinen Bruder gekannt – er wohnt draußen in Smithfield wie die meisten guten Waffenschmiede.« Und damit war er fort.

»Margaret, ich setze großes Vertrauen in deine Träume«, sagte Hilde. »Viele hast du ja nicht, aber wenn, dann sind sie brauchbar. Vielleicht sollten wir es versuchen.«

»O Hilde, Waffenschmiede machen doch nichts umsonst. Dazu langen unsere Mittel bei weitem nicht.«

»Es ist doch nichts Großes. Ganz schlicht und einfach. Es muß stark und leicht sein. Wie könnte das wohl viel kosten? Ich habe den größeren Teil von meinem Zwillingshonorar noch. Versuch es, Margaret.«

»Aber wie soll das Ding aussehen?«

»Du hast doch davon geträumt, hast du es da nicht gesehen?«

»Im Traum war alles ganz einfach, aber wenn ich es mir jetzt überlege, so ist doch jeder Säuglingskopf verschieden groß und liegt anders. Die Form muß aber genau stimmen – vielleicht müßte man sie irgendwie anpassen können.« Wir kamen wieder auf die Küchenzange zurück. Vielleicht, wenn man sie auseinandernahm und sie dann auf diese Weise wieder zusammenfügte – Hilde nahm die Hände, und ich nahm meine, und wir ahmten die erforderliche Bewegung nach. Nachdem wir die Form festgelegt hatten, legten wir die Küchenzange in meinen Korb, falls wir noch einmal darauf zurückkommen mußten, und Hilde holte ihr Geld. Alsdann machten wir uns nach der Giltspur Street in Smithfield auf, die draußen vor der Stadtmauer und jenseits des Aldergate-Tores gelegen ist, wo die Waffenschmiede ihr Geschäft betreiben. Es gibt Waffenschmiede, bei denen es nicht zum Meister einer großen Werkstatt langt, die arbeiten dann in den Zunftwerkstätten der City, andere für große Herren. Doch in Smithfield werden die größten Turniere abgehalten, und deshalb gehen dort auch die Geschäfte am besten. Dahin gingen wir also, um John von Leicestershire aufzusuchen.

Die große Werkstatt des Waffenschmiedes war das reinste Bienenhaus. Dutzende von Lehrlingen und Gesellen waren bei der Arbeit, sie hämmerten und formten und bearbeiteten Stücke von riesiger bis hin zu kaum noch vorstellbar winziger Größe. In Gestellen waren Schwerter, Dolche und Messer jeder Ausführung zum Verkauf ausgestellt. Fertige und unfertige Stücke hingen überall an den Wänden neben den arbeitenden Männern: große Brustharnische für Pferde, Rüstungen für Hunde, zierlich gezogene Turnierrüstungen baumelten dort wie Teile von entkörperten Leibern, dazu Kettenpanzer, die mir wie Wäsche auf der Leine vorkamen. Ein Mann setzte winzige kleine Stückchen zusammen, die Fingergelenken glichen. Neben ihm an der Werkbank vollendete ein anderer Mann ein seltsames Gebilde, das an Drachenflügel denken ließ, jedoch von der Größe meines Handtellers. Für welchen Körperteil mag das wohl gedacht sein, überlegte ich.

»Ihr wollt den Meister sprechen?« fragte ein Geselle vor einer der Essen in dem großen Raum aus Stein und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Alles drehte sich um und starrte uns an. Hier waren Frauen fehl am Platz. Etliche Männer arbeiteten in der Hitze halbnackt, und die Luft schwirrte von kräftigen Flüchen. Man hörte das ›Kuschkusch‹, mit dem ein mächtiger Blasebalg getreten wurde, und lautes Hämmern.

»He, John, wollen die etwa eine Schuld eintreiben?« rief ein Spaßvogel.

»Nein, das ist eine Lieferung frei Haus. Master John hat es gern bequem.« Rauhes Gelächter. John arbeitete vor der größten Esse mitten in der Schmiede, er formte ein riesiges, zweischneidiges Schwert, so groß wie ich lang bin.

»Maul halten, ihr Gesocks, ich kann mich jetzt nicht um euer Gequassel kümmern«, knurrte John. Er war ein Hüne von einem Mann mit schütterem Haar und einem gewaltigen, rotbraunen Bart. Er arbeitete ohne Hemd, nur eine umfangreiche Lederschürze schützte seinen Leib.

»Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht, Margaret, wir sollten lieber gehen.« Hilde zupfte mich ängstlich am Kleid. Aber ich stand fasziniert und wie angenagelt da. John hatte das riesige, kirschrot glühende Schwert genommen und es ins Härtebad geworfen, wo es so furchtbar ›hsssssssss!‹ machte wie sonst wohl nur die Teufel in der Hölle. Solch ein sagenhaftes Geschick müßte man auch haben! Er rief einen Gesellen herbei:

»Mach weiter, ich habe Besuch«, sagte er.

Damit drehte er sich um und blickte von seiner riesigen Höhe auf uns herab. Seine Lederschürze und seine muskelbepackten Arme glänzten im Schein des Schmiedefeuers.

»Ich brauche nichts«, brummte er.

»Bitte, Sir, wir wollen Euch nichts verkaufen; wir wollen etwas kaufen.« Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen.

Er warf den Kopf zurück und lachte. »Und was wollt Ihr hier kaufen? Ei, Frauen wie Ihr brauchen doch keine Turnierrüstung.«

»Wir sind Wehmütter. Wir möchten etwas angefertigt haben«, brachte Hilde schüchtern heraus.

»Was, etwa einen kleinen, runden Schild oder einen Helm zum Schutz vor unzufriedenen Kundinnen?«

»Nein, Sir«, gab ich zurück. »Es ist eher eine Waffe. Eine Waffe im Kampf um das Leben.« Jetzt merkte er auf.

»Ihr seid mir vielleicht eine liebe, kleine Närrin. Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr meine Preise nicht zahlen könnt? Bei mir stehen selbst Herzöge in der Kreide.«

»Wir haben Geld gespart, und es ist auch sehr klein, das Ding, das wir haben wollen. Es muß nur vollendet gemacht werden – leicht und stark und glatt. Bruder Malachi hat gesagt, wir sollten es bei einem Waffenschmied versuchen, beim besten, den es gibt. Er hat gesagt, das wäret Ihr.«

»Dieser schurkische Schwindler, dieser sogenannte Bruder Malachi ist also wieder im Lande? Nach allem, was er meinem Bruder angetan hat? Bei den Gebeinen Gottes, das ist stark!« Hilde und ich blickten uns an.

»Eure Miene besagt, daß Ihr seine Tricks kennt.«

»War's sehr schlimm, was er getan hat?« fragte ich.

»Schlimm oder gut, das kommt auf den Standpunkt an. Schimpflich war's, wenn Ihr mich fragt. Mein Bruder war krank, und dieser verdammte Quacksalber hat ihm ein Stückchen vom Knöchel des Heiligen Dunstan angedreht. Mein Bruder wird gesund. ›Gelobt sei die heilige Reliquie‹, ruft er. ›Laß mal sehen‹, sag ich. ›Ei, das ist doch nichts als ein Stückchen von der Schweinshaxe.‹ ›Vonwegen‹, brüllt mein Bruder, und schon zieht er mir eins übers Ohr. Bis auf den heutigen Tag trägt er den Schweineknochen um den Hals und redet kaum noch mit mir. Bruder Malachi, ha!« schnaubte John und spuckte angewidert ins Feuer.

»Dann hat Bruder Malachi also unrecht?« sagte ich schüchtern.

»Unrecht, womit? Mit Schweinshaxen?« brüllte er.

»Unrecht damit, daß Ihr der beste Waffenschmied in London seid.«

»Der Beste in London? Ja, da täuscht er sich. Ich bin der Beste in ganz England!«

»Das können wir uns nicht leisten, Margaret. Laß uns gehen, liebes Kind. Ich geniere mich hier so.« Hilde wandte sich zum Gehen.

»Erst kommen und dann mir nichts dir nichts wieder gehen! Ihr stört mich mitten in der Arbeit. Ihr vergeudet meine Zeit. Ihr erzürnt mich mit dem Namen dieses bodenlosen Betrügers. Und jetzt geht Ihr ohne eine Erklärung? Frauen! Uff!« John verschränkte die mächtigen Arme.

»Weg von hier«, sagte ich. »Er weiß es eben nicht zu machen. Es ist zu schwierig.«

»Hiergeblieben, kleine Frau«, knurrte er und verstellte mir mit seinem riesigen Fuß den Weg. »Es gibt wirklich nichts, was ich nicht machen könnte.«

»Streitäxte und Pferderüstungen, ja, das wohl und obendrein sehr gut – aber das hier erfordert Feinarbeit. Da gehe ich lieber woanders hin«, sagte ich von oben herab.

»Feinarbeit, sagt Ihr? Feinarbeit? Ich, ich könnte eine Mäuserüstung anfertigen, wenn ich wollte; ich könnte einer Mücke eine Rüstung machen – und obendrein noch jedes Stück in Gold punzen«, brüllte er.

»Ich weiß nicht, ob Ihr das hier schafft; es handelt sich nämlich um ein Frauengerät.«

»Ich habe drei Keuschheitsgürtel gemacht, aus solidem Stahl, alle gepunzt und mit Juwelen besetzt, und keiner hat auch nur einen blauen Fleck hinterlassen.«

»Einfach abscheulich. Das hier ist etwas ganz anderes.«

»Und was also?«

»Ein Werkzeug. Eins, das noch niemand hat. Es soll den Kopf eines Kindes aus dem Schoß herausziehen. Ist Euch bekannt, daß so ein Kopf manchmal zu groß ist? Der bleibt dann gewissermaßen –«

»Stecken?« fragte er. »Gibt es das?«

»Ja. Und dann stirbt die Mutter. Und das Kind auch.«

»Mit diesem Instrument könnten wir nämlich an dem Kind ziehen«, fügte Mutter Hilde hinzu.

»Wie sollte es Eurer Meinung nach aussehen?« fragte er, denn nun war sein Interesse geweckt.

»Irgendwie so«, sagte ich und holte die Zange heraus. »Aber das Gelenk muß sich anders zusammenfügen, damit man es verstellen kann. Und der Teil, mit dem man zupackt, muß auch anders sein. Flach und gebogen, damit er sich dem Kopf eines Säuglings anpaßt.« Ich machte es mit den Händen vor. »Als mir die Idee kam, habe ich mir Stahlfinger vorgestellt, vielleicht mit einem Rand drumherum, so etwa.«

»Ach, so geht das nicht«, sagte er, »die Form ist ganz falsch. Zu klein, meiner Meinung nach.«

»Zu klein? O nein. Ein Kinderkopf ist bei seiner Geburt kaum mehr als ein großer Apfel. Aber der Kopf ist weich, ist eher ein Bratapfel, und man darf ihn nicht beschädigen. Die Knochen sind nämlich teilweise noch nicht hart und lassen sich leicht eindrücken.«

»Dann ist die Form ganz falsch. Ich habe schon für so manchen Kopf eine Rüstung gemacht, und ich habe schon so manche Zange gehalten. Eure da ist zu kompliziert, so kann man nicht mit ihr arbeiten. Ihr braucht eine fließendere Form, etwa so.« Und damit nahm er einen Stock und ritzte sie in den festgetretenen Lehmboden der Waffenschmiede.

»Ich sehe, was Ihr meint. Aber sollte sich der eine Löffel hier nicht wölben, so?« Auch ich zeichnete.

»Warum, für die Kopfform?«

»Nein, zum Ziehen – er muß diese Form haben und gut festhalten können.« Er überarbeitete die Zeichnung. Jetzt war sie einfach, ein gewölbter Löffel, der im richtigen Winkel auf einen anderen abgeflachten, gewölbten Löffel traf.

»Das sieht genau richtig aus. An Euch ist ein Mann verlorengegangen. Ihr hätte einen guten Waffenschmied abgegeben.« Er blickte mich durchdringend an.

»Und damit rettet man Leben, behauptet Ihr?«

»Ja«, antwortete ich.

»Dann mache ich diese Arbeit um Christi willen. Viele meiner Werkstücke dienen dazu, Leben zu nehmen, und nur sehr wenige retten es. Ich brauche gute Taten, die mir im Himmel angerechnet werden.« Dann ergriff er meine Hand.

»Ich werde die Griffe klein halten, damit sie in eine kleine Hand passen«, sagte er. »Betet für meine Arbeit, ja, kleine Wehmutter.«

»Ja, und auch für Eure Gesundheit und Euer Glück.«

Als wir am Wochenende wiederkamen, war das Ding fertig. Sim hatte mich begleitet, um es abzuholen, und ich dankte dem Waffenschmied und lobte ihn nach besten Kräften. Aber der wollte nur wissen, wie ich damit zurechtkam.

»Gebt mir Nachricht, wenn Ihr erfolgreich damit gearbeitet habt, denn ich höre immer gern, wie sich meine Arbeit in der Welt macht«, sagte er. Und das versprach ich. Wie ich das Versprechen einlöste, werdet Ihr bald erfahren.

Hilde scheute sich, mit dem neuen Instrument zu arbeiten, denn sie hatte Angst, Schaden damit anzurichten; andererseits aber setzte sie volles Vertrauen darauf, daß mein Traum mir alles gezeigt hatte. Das war nicht der Fall, aber ich dachte Tag und Nacht darüber nach, wie ich es am besten ausprobieren könnte. So nahmen wir es denn immer mit, wenn wir zusammen zu einer Entbindung gingen, denn wir wußten, früher oder später würde der Notfall eintreten. Dann wären wir bereit und könnten das Ding ausprobieren. Und so kam es denn auch bald, und unter dem Geschrei der Frau öffnete ich meinen Korb und holte die Stahlfinger heraus, die mir unten am Boden entgegenschimmerten. Behutsam, ach, so behutsam paßte ich die Löffel dem Köpfchen an, dann fügte ich sie zusammen, so daß ich die harte Knochenstelle über den Wangenknochen fest und stählern gepackt hielt. Die Griffe fügten sich genau in meine Hand. Ich zog vorsichtig, behutsam, und noch ein wenig kräftiger im Rhythmus mit einer Wehe. Und dann gab es statt einer Tragödie ein freudiges Ereignis, das mich stets aufs Neue an die Geburt unseres Heilands erinnert. An jenem Tag windelten wir ein lebendigs Kind, statt ein totes in ein Leichentuch zu schlagen. Bei unserer Heimkehr säuberte ich das wunderbare Instrument mit Bruder Malachis Weingeist, dann ölte ich es sorgfältig ein. Ich wollte nicht, daß sich je Rost auf seiner schimmernden Oberfläche festsetzte. Alsdann löste ich mein Versprechen ein.

»Sim«, rief ich, »geh zu John von Leicestershire und sag ihm, die kleine Wehmutter läßt ihm ausrichten, er hätte an diesem Tag zwei Leben gerettet.« Sim sauste mit einem Freudenschrei davon, denn er hatte es satt, in dem Zimmer der üblen Gerüche den Blasebalg zu bedienen.

Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Am Abend von Epiphanias – die Gassen erstickten im Schnee, und auf dem festgetretenen Eismatsch der Straßen schlidderte man dahin – lag der ganze Haushalt hinter fest verschlossenen Fensterläden in tiefem Schlaf. Plötzlich donnerte es ganz fürchterlich an die Haustür. Ich hörte, wie Bruder Malachi aufstöhnte, als Mutter Hilde die Läden öffnete und den Kopf zum Fenster hinausstreckte.

»Ist das hier das Haus der Wehmütter? Weckt die kleine Wehmutter und sagt ihr, daß John von Leicestershire sie dringend braucht.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und zog mich so rasch an, daß ich kaum Zeit fand, mir ein Kopftuch über die Zöpfe zu binden, dann eilte ich nach unten. Zwei große, junge Männer standen vor der Tür, wo das erste Stockwerk auskragte, sie waren schwer bewaffnet und trugen Laternen. Der eine hielt zwei gute Pferde. Unter den halb geöffneten Umhängen schimmerten im Dämmerschein der Laterne ihre Helme und ihre Brustharnische. Ihr Atem kam beim Sprechen in kleinen Rauchwölkchen.

»Ihr seid also die kleine Wehmutter? John von Leicestershire braucht Euch ungesäumt und sehr dringend. Er sagt, Ihr sollt das Werkzeug gegen den Tod mitbringen, das er für Euch geschmiedet hat. Wir sind gekommen, um Euch zu seinem Haus zu bringen.«

»Ich komme, wie er es wünscht. Ich hole nur eben das Erforderliche.« Da stand mein Korb, der immer fertig gepackt war. Ich prüfte den Inhalt: Salben zum Massieren, Duftwässer zur Wiederbelebung, das kleine Kästchen mit dem unheimlichen, schwarzen Pulver, das die Wehen wieder in Gang oder Tod bringt, und ganz unten, in feine Leinwand geschlagen, John von Leicestershires mächtige Waffe.

Ich wickelte mich in meinen großen, warmen Umhang, den mir Lady Blanche überlassen hatte, und trat nach draußen zu den Gewappneten. In einem erkannte ich einen von John von Leicestershires Gesellen. Wer wäre wohl auch gut bewaffnet, wenn nicht ein Waffenschmied? Er hob mich mit einem einzigen Schwung auf das Sattelkissen des zweiten Pferdes. Er war ungeheuer stark, wie alle, die in der Schmiede arbeiten. Seine Miene war grimmig. Sein Kumpan stieg auf, und schon ging es aus der Gasse hinaus und Cornhill entlang, quer durch den dunklen und vereisten Cheap gen Aldersgate Street, so schnell das auf dem festgetretenen und glitschigen Schnee möglich war.

Mehrmals kamen die Pferde ins Stolpern, und ich klammerte mich fest an den Reiter vor mir. Das Tor von Aldersgate war zur Nacht fest verschlossen, doch Johns Berittene besaßen einen Passierschein vom Bürgermeister. Wir stiegen ab, und der zweite Reiter schlug an die Tür des Torwächters, daß er ihn aufweckte und er uns das Pförtchen in dem großen Tor öffnete, durch das man nur zu Fuß gehen kann. Während wir warteten, fragte ich den Mann, auf dessen Pferd ich mitgeritten war, worum es eigentlich ginge, denn ich wollte vor meiner Ankunft soviel wie möglich in Erfahrung bringen. Der Geselle blickte auf mich herunter, und die Muskeln an seinem Kinn zuckten und verkrampften sich.

»Mistress Wehmutter, John hat eine Tochter, die erst vergangenes Jahr verheiratet wurde und nun sein erstes Kindeskind trägt. Sie ist jetzt in seinem Haus, wohin sie kam, damit ihre Mutter ihr in ihrer schweren Stunde beistehen konnte. Sie liegt schon den ganzen gestrigen Tag und die Nacht davor in den Wehen. Die Wehmütter haben sie heute Abend aufgegeben, und der gelehrte, ausländische Arzt, den er rufen ließ, sagt, er könne nun auch nicht helfen. Der Priester hat ihr schon die letzte Ölung erteilt, doch irgendwie lebt sie immer noch. Und so sagte denn mein Meister zu mir ›eines können wir noch versuchen. Einst habe ich um Christi willen eine Waffe gegen den Tod geschmiedet. Holt mir die kleine Wehmutter, die in der Diebesgasse wohnt, und bringt sie hierher.‹

Es ist bitter für meinen Meister. Wir kennen Isabel doch alle. Es ist noch gar nicht so lange her, da war sie ein niedliches, kleines Mädchen und spielte an der Esse. Er hat sie mehr geliebt, als das auf dieser bösen Welt guttut. Kinder leben doch nur, um wie Gras dahingemäht zu werden, und man sollte sich hüten, sie allzu zärtlich zu lieben!« Er seufzte tief und blickte mich an. Ich wußte nur eine Antwort:

»Und ist es dennoch nicht besser zu lieben und Gram in Kauf zu nehmen, als im Herzen zu frieren?«

»Nicht, wenn der Kummer gewiß ist, finde ich«, gab er zurück.

Mittlerweile hatte der Torwächter das Türchen mit seinem riesigen Schlüssel geöffnet. Er war unwirsch, daß man ihn geweckt hatte, und machte einen ziemlichen Wirbel, aber einen Passierschein vom Bürgermeister muß man respektieren. Ein Glück, dachte ich, daß Master John so berühmt ist und so gute Beziehungen hat, sonst hätte er seine Männer nicht so kurzfristig nach diesem Dokument ausschicken können. Die Tür öffnete sich mit einem vereisten Knarren, wir führten die Pferde zu Fuß hindurch und stiegen auf der anderen Seite wieder auf, um unseren Weg fortzusetzen. Die Luft war totenstill, es gab nur den dumpfen Aufschlag der Hufe und das Knirschen der Geschirre, während sich die Pferde auf der eisglatten Landstraße fortbewegten. Im Dämmerschein der Laternen konnten wir in der Dunkelheit nur ein paar Ellen weit sehen – ein Stück ausgefahrene Straße, die Atemwolken, welche die Pferde ausstießen, und unsere eigenen. Nie hätte ich gedacht, daß der Ritt so lange dauern könnte. Als wir Johns Haus erreichten, war ich bis aufs Mark durchgefroren.

Das Haus war sowohl über als auch neben die große Waffenschmiede gebaut, so als hätte man es im Nachhinein dort angeklebt. Das Erdgeschoß gehörte noch zum steinernen Schmiedegebäude, wohl als Brandschutz und als Zeichen der Wohlhabenheit des Meisters gedacht, doch im ersten Stock, unter dem hohen, ziegelgedeckten Dach, wechselten Holz und Stein ab. Sie bildeten ein kaum wahrnehmbares Schattenmuster über der hohen, reich geschnitzten Holztür des Anwesens. Durch die Ritzen sämtlicher Läden im Wohnteil des Hauses drang Licht, als wir die Außentreppe zum ersten Stock hochstiegen. Auf das Klopfen der Männer entriegelte man die Tür; diese bliesen die Kerzen in den Laternen aus, als wir zusammen das Unglückshaus betraten. Einer Frau, wohl die Mutter, hatte der Gram die Sinne geraubt, die Wehmutter machte sich um sie zu schaffen. Der Arzt saß mit dem Waffenschmied am Feuer und erläuterte etwas auf Latein – oder vielleicht auch auf Französisch –, ich wußte es nicht.

Das Mädchen lag schon wie ein Leichnam auf einem Bett in einer Wandnische am anderen Ende des Zimmers aufgebahrt. Man hatte ihr die Decken über den gewölbten Leib und bis zum Hals hochgezogen, und auf einem Tischchen neben dem Bett brannten Kerzen. Der Priester hielt die bläuliche und stille Hand des sterbenden Mädchens, und doch war mir, als ob sich die Decken noch unter leisen Atemzügen hoben. Ihr junger Ehemann kauerte neben ihr und barg den Kopf in den Bettlaken. Master John stand schwerfällig auf und reichte mir matt die große Hand.

»Das da ist mein einziger Schatz«, sagte er schlicht. Niemand schien sich etwas aus meiner Ankunft zu machen; alle waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Sanft schob ich die Männer vom Bett fort zur anderen Seite des großen Zimmers hin; dann schlug ich die Bettdecken zurück und tastete und untersuchte. Der Kopf war noch gar nicht geboren; der Muttermund schien sich nicht genügend geöffnet zu haben.

»Schon wieder eine Wehmutter?« Der Ehemann hatte sich umgedreht und sah mir mit rotgeränderten Augen bei der Arbeit zu. »Ich habe genug von Wehmüttern und dem ganzen Gerede von Kindern. Wenn ich sie nie berührt hätte, dann wäre sie noch mein«, sagte er, als ihn der Priester am Ellenbogen fortzog.

»Fügt Euch in Gottes Willen«, sagte dieser nicht eben unfreundlich.

Noch einmal bedeutete ich ihnen, der Schicklichkeit halber fortzugehen, denn ich finde, es gehört sich nicht, daß Männer bei einer Geburt zugegen sind. Dann öffnete ich den Korb und legte die in feine Leinwand eingeschlagene Waffe aufs Bett. Zärtlich wickelte ich sie aus dem Tuch und behutsam, o, ganz, ganz behutsam legte ich die Löffel um das Köpfchen. Ich mußte sie viel tiefer als gewohnt hineinschieben; wenn ich nur keinen Schaden anrichtete! Sehr, sehr vorsichtig nahm ich die Griffe in die Hand. Nur John wandte kurz den Kopf, um meine – oder besser seine Arbeit – zu prüfen, und ehe er den Blick wieder abwandte, sah ich das unmerkliche, anerkennende Nicken des Fachmanns, denn er sah wohl, wie vollendet das Werkzeug für meine Hand gefertigt war. Ich zog – und der Kopf folgte. Sowie die Schultern geboren wurden, ließ ich die Zange los und gebrauchte für den Rest die Hände. Erst kam der Rumpf – es war ein kleines Mädchen – und dann die Füße. Ich spürte, wie Augen auf mir ruhten, doch ich achtete nicht darauf.

»Das Kind lebt!« entfuhr es der Wehmutter, und sie nahm es mir ab und belebte es kundig. Man konnte sehen, sie verstand sich auf ihr Gewerbe. Für einen Mann wie Master John gab es nur das Beste; wer sonst hätte wohl so teure Fachleute ans Wochenbett einer Frau gerufen? Die Menschen im Raum drängten sich alle um die Wehmutter und wollten das Kind ansehen. Die Mutter war verloren, das Kind aber gerettet. Der Vater sah enttäuscht aus, er hatte mit der Ehefrau für eine Tochter gezahlt – und sich dabei zweifellos einen ganzen Sack voll Sorgen eingehandelt, wenn er versuchen wollte, die Tochter ohne Mutter aufzuziehen.

Aber John hatte nur Augen für seine Tochter, die grauweiß auf dem Bett in der dämmrigen Nische lag. Sie mußte einmal hübsch gewesen sein und wäre es immer noch, wenn sie lebendig und rosig gewesen wäre. Dunkle Locken klebten ihr schweißfeucht am Kopf, und ihre Haut war rein und makellos, auch wenn sie jetzt totenbleich war. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht fünfzehn – sie sah ein wenig jünger aus als ich, vielleicht ein, zwei Jahre. Eine Träne rann John übers Gesicht und lief in seinen Bart.

»Kleine Wehmutter, die Waffe hat einen gerettet, aber mein Kind ist verloren.«

»Noch nicht ganz verloren.« Ich legte den Kopf auf ihre Brust und vermeinte einen leisen Herzschlag zu spüren. Und dann überwand ich diesem trefflichen Mann zuliebe meine Furcht und Schüchternheit und sagte: »Ich will noch etwas versuchen – nur eines noch.« Wieso eigentlich Furcht und Schüchternheit? Schüchternheit, weil ich verlegen war, ja, mich sogar schämte, wenn Fremde die Gabe womöglich sahen. Vermutlich war ich insgeheim stolz darauf, daß ich sie erhalten hatte, aber insgeheim glaubte ich auch, daß ich ihrer vielleicht nicht wert sei oder daß sie sich im Beisein unfreundlicher Zuschauer nicht einstellen würde. Gut, daß die anderen sich in diesem Augenblick um die Wiege drängten, sonst wäre ich vor dem Versuch zurückgeschreckt. Außerdem hatte ich furchtbar Angst vor dem Tod. Als ich meinen Geist öffnete, daß die Gabe hindurchgehen möge, da spürte ich das schwarze, saugende Todesgefühl, das mich mit ins Grab ziehen wollte. Der Tod machte mir entsetzlich Angst, ich wollte nicht durch einen anderen Menschen hineingerissen werden, dem Retter gleich, welcher von einem Ertrinkenden mit nach unten gezogen wird.

Aber ich redete mir zu: »Nur Mut. Bist du barfuß durch die Flammen gegangen, so kannst du auch diesem Mädchen helfen, denn es wird mehr geliebt, als du es jemals wurdest – oder wirst.« Und ich fiel auf die Knie und betete um Kraft, dann bekreuzigte ich mich und versetzte mich in jene Geistesverfassung, die nichts von Angst und Leidenschaft weiß und nichts im Raum duldet als das Licht. Und zur gleichen Zeit, als ich es sacht orangefarben in den Winkeln leuchten fühlte, da spürte ich auch wie aus der Ferne den ersten, sanften, schattenhaften Sog des Todes rings um die Frau. Sie atmete noch, doch kaum. Ich schob alle Gedanken beiseite und richtete meinen Geist noch fester auf eine vollkommene Leere. Das Licht im Raum leuchtete jetzt heller. Ich hörte einen Laut, der kein Laut war, sondern eher ein Summen in meinem Kopf. Die Kraft lief von dort in meine Hände, welche ein wenig zitterten. Die Handteller fühlten sich rotglühend an. Ich umfaßte ihr eiskaltes Gesicht mit beiden Händen. Das schwarze Etwas zerrte an mir, bis ich dachte, auch ich wäre tot, aber ich hielt meinen Geist wie mit einer Stahlrute weiter fest auf die Leere gerichtet – genauso wie damals, als ich über die glühenden Kohlen ging.

Und dann konnte ich mich irgendwie nicht mehr halten – es war, als verlöre ich an einer hochgelegenen Stelle das Gleichgewicht, mein Geist wollte nicht länger standhalten. Ich stürzte ab, mitgerissen vom Sog des Todes, und fiel mit einem leisen Schrei aufs Bett. Ich war verloren. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag. Ich erinnere mich nur noch, daß John meine Hände mit seinen großen Pranken vom Gesicht seiner Tochter fortriß, mich hochzog und mir ins Gesicht schlug, daß ich wieder zu mir käme. Meine Augen waren aufgerissen, starrten groß und glasig, aber ich war gänzlich blind. Ich konnte fühlen, wie er mich schüttelte und ein anderes Händepaar – wessen Hände? – nach meinen griff. Nach und nach konnte ich über mir Johns großen Bart ausmachen, dann seine wilde, verzerrte Miene, die Wut oder Freude bedeuten konnte.

»Seht nur! Seht!« sagte er und hielt meinen Kopf hoch, daß ich schauen konnte. »Seht Ihr es denn nicht? Sie lebt! Sie ist rosig, sie hat wieder Farbe, und sie atmet tief, so als schliefe sie! Seht nur, seht, was Ihr getan habt!«

Ich konnte nicht sprechen. Ich war vollkommen erschöpft und so weiß wie ein Laken. Irgendwie hatte sie mir von meiner eigenen Lebenskraft soviel ausgesogen, daß sie wieder lebte. Wie um alles auf der Welt war das geschehen? Ich wußte es nicht. Doch der Wunder Gottes sind viele.

Wild wanderten meine Blicke umher, und da merkte ich auch, wer meine schlaffen Hände hielt. Es war der Priester, Vater Edmund.

»Wie habt Ihr das gemacht, meine Tochter?« fragte Vater Edmund sanft.

»Ich weiß es nicht. Mit Gebet, glaube ich.«

»Mit Gebet? Wie betet Ihr? Zu welchen Heiligen?«

»Ich weiß es nicht. Ich bete zu Gott durch Jesus oder die Muttergottes. Jedenfalls glaube ich, daß ich das mache.«

»Woher kennt Ihr Gott? Habt Ihr studiert? Geht Ihr regelmäßig zur Kirche?«

»Ich weiß es nicht, Vater. Ich bin bloß eine arme Frau, ich kann nicht lesen und habe nie studiert. Ich gehe aber immer zur Messe, naja, wenn ich kann, denn ich verdiene mir den Lebensunterhalt als Wehmutter zu seltsamen Tageszeiten.«

»Laßt Euch von dieser kleinen Wehmutter nicht hinters Licht führen, Vater. Sie hat das Hirn eines Mannes und den Mut einer ganzen Legion! Ei, ich selber habe zu ihr gesagt, sie würde einen guten Waffenschmied abgeben, wenn sie nicht mit dem falschen Geschlecht auf die Welt gekommen wäre.« Master Johns kräftige Stimme brachte mich vollends wieder zu sich. Auf einmal fiel mir meine furchtbare Feuerprobe in Sturbridge wieder ein, und schon wollte die Angst wieder nach mir greifen, als ich das schwarze Gewand des Priesters sah. Aber sein Gesicht wirkte durchaus freundlich, wenn auch zutiefst verwundert.

»Kleine Wehmutter, was Ihr in dieser Nacht getan habt, das macht Euch zu einer reichen Frau«, sagte John und zog mich vom Bett, auf dem ich zusammengebrochen war, wieder auf die Knie, während er selbst sich auch erhob.

»Nein, John von Leicestershire, ich habe es nur um Christi willen getan, so wie Ihr einst die Waffe gegen den Tod geschmiedet habt.« Die Waffe! Wo war sie? Ich kam hoch, wollte nach ihr suchen. Da lag sie auf dem Bett und schimmerte in den Falten der blutigen Leintücher. Hastig schlug ich sie ein und legte sie in meinen Korb, denn ich hatte Angst, ich könnte sie verlieren. Morgen würde ich sie säubern. Der Priester sah mir mit fragendem Blick zu. Nachdem der Arzt viele lateinische Worte über den Säugling gesagt und eine gefährlich aussehende Medizin zu seiner Stärkung hervorgeholt hatte, gesellte er sich zu uns.

»Ah! Eine bemerkenswerte Wendung!« Er befühlte den Kopf der Frau im Bett und redete dann Latein mit dem Priester. Letzterer antwortete mit noch mehr Latein. Der Arzt wartete schweigend neben John, bis diesem aufging, daß es an der Zeit war, die Rechnung zu begleichen. John zählte ihm Münzen in die Hand, und als der Mann gegangen war, brummte er:

»Allerhand Geld für Blutegel, blödes Latein und bittere Arzneien. Da lob ich mir Bruder Malachi. Seine Quacksalberei richtet zumindest keinen Schaden an.« Dann fiel ihm bei meinem Anblick wieder ein, was er gerade hatte tun wollen.

»Da Ihr kein Honorar wollt, kleine Wehmutter, so werdet Ihr doch wenigstens etwas von mir annehmen, das für mich keinerlei Wert hat, vielleicht aber für Euch.« Er ging mir mit einer Kerze voraus, und ich folgte ihm mit dem Priester dicht hinter mir. Er führte uns zu einer eisenbeschlagenen Lade in seinem eigenen Schlafzimmer, welche er mit einem Schlüssel öffnete.

Er ging in die Knie und hob ein prachtvoll geschnitztes, kleines Elfenbeinkästchen heraus.

»Das hier habe ich einst für eine ungedeckte Schuld erhalten. Es hat große Macht – zuviel Macht, als daß man es tragen könnte. Es ist sehr alt und kommt von jenseits des Meeres. Keine Schweinshaxe, meiner Treu!« Er öffnete das Kästchen und holte ein Kreuz von einer seltsamen, schlichten, jedoch erlesenen Machart heraus. Hell glänzte es im Kerzenschein, denn es war aus sattem, rötlichem Gold gefertigt. Er hob es behutsam heraus und berührte dabei weder Kreuz noch Kette, sondern faßte es mit dem Seidentuch an, in das man es eingeschlagen und in die Schachtel gelegt hatte.

»Seht Ihr, wie ich es halte? Behutsamer nämlich als rotglühendes Metall aus der Esse. Ich habe es ein Mal berührt, und das ging mir durch und durch! Man bekommt Brandblasen auf der Haut, wenn man es trägt, es sei denn, man wandelt im Herrn. So sagte man mir jedenfalls. Und darum ist es, wie Ihr seht, für mich wertlos, wertlos für den Vorbesitzer, vermutlich wertlos für fast alle Menschen. Einmal nur habe ich es versucht, aber – also, ich bin nicht immer ein guter Mensch gewesen. Faßt es ruhig an! Wenn Ihr es berühren könnt, dann könnt Ihr es tragen, und wenn Ihr es tragt, verleiht es Euch gewißlich große Macht.«

Ich streckte einen Finger der linken Hand aus – einen, den ich am ehesten entbehren konnte – und berührte das Kreuz sehr vorsichtig, so als wäre es heiß. Ich verspürte kein Brennen, und so faßte ich es bedächtig noch einmal an. Immer noch kein Brennen. Ich nahm es in die Hand.

»Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte John und war recht zufrieden mit sich. »Als ich Euch dort neben Isabel knien sah, und Euer Gesicht leuchtete wie ein Dutzend Kerzen, da sagte ich zu mir, ›die kann das Kreuz tragen, das ich schon solange habe‹. Mögt Ihr es auch berühren, Vater?« Der Priester lehnte mit einem Kopfschütteln ab. John ergriff das Kreuz behutsam an der Kette, doch immer noch im Tuch, und legte sie mir über den Kopf. Beide wichen zurück, als erwarteten sie, daß es zischte, wenn es meine Haut berührte. Es zischte keineswegs. Meiner Lebtage hatte ich nichts Schöneres gesehen. Da hing es nun um meinen Hals und war das Lösegeld für einen Fürsten wert.

»Zieht mit meinen Gebeten und meinem Dank«, sagte John. »Doch wartet – Ihr seht immer noch schwach aus. Möchtet Ihr etwas zu trinken? Zu essen? Ich schicke Euch mit einem Jungen zu Pferd zurück – Ihr macht mir nicht den Eindruck, als könntet Ihr schon wieder weit laufen.«

»Ich möchte schon etwas – Brot vielleicht und Ale, wenn Ihr das habt.«

»Wißt Ihr nicht, mit wem Ihr es zu tun habt, Weib?« brüllte Master John, und war wieder beinahe der Alte. »Wein sollt Ihr haben – und wir andern auch.«

Er ging uns voran in die Wohnstube, wo alle anderen schon den gleichen Gedanken gehabt zu haben schienen. Man hatte die flackernden Kerzen durch neue ersetzt und eine Art zweites Abendessen aufgetragen. Kaltes Geflügel, Pasteten und Ale standen dort, und ein Gericht aus Weizenbrot, das man in Wein eingeweicht hatte, für die junge Mutter, die sich im Bett aufgesetzt hatte. Ihre eigene Mutter versuchte, sie zum Essen zu bewegen. Das Kind war säuberlich gewindelt, und die Wickelbänder waren fest angezogen. Es schlief friedlich, nur eine leichte Spitzigkeit des Kopfes und ein großer, blauer Fleck auf den Wangenknochen deuteten noch darauf hin, daß es dem Tod um Haaresbreite entkommen war. Die Leinentücher waren gewechselt worden und sauber, und die von der Geburt stark mitgenommene Strohmatratze hatte man entfernt, sie sollte verbrannt werden. Alles im Zimmer zeugte von Freude. Einen Augenblick gab es mir einen Stich, es war der Neid auf diese glückliche Familie. Ach, wenn doch solche Geborgenheit auch mein eigen wäre!

Doch sie war es, denn John sorgte sehr gut für mich. Und als er einen Augenblick einmal nicht seine Tochter und dann die neue Großtochter pries, rief er nach Wein – echtem Wein, nicht etwa Spülicht. Als die Morgenröte durch die Läden drang, frühstückten wir königlich. Aber während ich noch den Mund voll Brot hatte und schon danach lechzte, es mit weiterem Wein hinunterzuspülen, da richtete der Priester, der mir still zugesehen hatte, das Wort an mich:

»Sagt mir, Margaret – Ihr nehmt nicht vom Geflügel, und doch ist nicht Fastenzeit. Habt Ihr ein Gelübde getan?«

»O nein, Vater Edmund, ich kann bloß nichts essen, was einmal Augen gehabt hat. Davon bekomme ich Magenschmerzen.« Ich versuchte zu schlucken, denn ich wollte nicht mit vollem Mund reden und unmanierlich wirken.

»Wenn es also nicht mit einem Gelübde zu tun hat, versucht Ihr dann nicht etwa, übertrieben fromm zu sein? Wie eine Heuchlerin?«

»O nein, Vater. Ich bin keine Heilige. Ich liebe die Heiligen.« Und dann setzte ich eiligst hinzu: »Ich liebe sie wirklich, aber so gut wie sie werde ich nie sein. Ich bin feige. Und gefräßig.« Und ich trank noch einen großen Schluck. Wie oft bekommt man schon richtigen Wein aus Deutschland vorgesetzt?

Er bewegte die Hand sehr langsam zwischen der Kerze und meinem Gesicht hin und her und sah gut dabei zu. »Und doch«, sagte er ruhig, »wirft meine Hand keinen Schatten, denn Euer Kopf und Eure Schultern strahlen ihr eigenes, schwaches Licht aus. Es war noch heller, gerade eben – ehe Euch die Sinne schwanden.«

»Das Licht hier spielt uns einen Streich«, sagte ich immer noch mit vollem Mund. »Merkt Ihr denn nicht, das Tageslicht dringt schon herein.«

»Mmmm – mag sein, aber ich wüßte zu gern, ob Ihr nun Gott oder dem Teufel dient.«

Das verstörte mich. Das Mahl neigte sich dem Ende zu. Vater Edmund sagte zu unserem Gastgeber:

»Ihr braucht keinen Jungen mitzuschicken; ich begleite die Wehmutter nach Haus.« Und so ließ John Vater Edmunds grauen Zelter aus dem Stall holen und ein anderes Pferd für mich satteln, und nach manch dankbarem Lebewohl machte sich unser kleiner Trupp im rosigen Morgenlicht auf den Weg.

Als ich von dem Trittblock an der Stalltür aufgestiegen war, band Vater Edmund das Halfter meiner mausgrauen, kleinen Stute an seinem Zwiesel fest und ließ so nebenbei fallen:

»Was für ein prächtiger Umhang; meines Wissens verdienen Wehmütter nicht so gut, daß sie sich Pelzfutter in ihrer Kleidung leisten können.« Dazumal wurde ich bei derlei Bemerkungen noch nicht recht mißtrauisch, und so antwortete ich:

»Er ist die Teilzahlung für eine Entbindung, bei der ich einst geholfen habe. Bei einer großen Dame, Lady Blanche de Monchensie.«

»Von der habe ich gehört«, sagte er und stieg auf. Das Geschirr seines Pferdes knirschte, als er das Gewicht verlagerte.

»Habt Ihr dabei mit Eurem Trick gearbeitet?« Er gab dem Zelter die Sporen, führte meine Stute vom Trittblock fort und aus der Stallgasse hinaus auf die Giltspur Street. Die Waffenschmiede hatten schon offen, und im Vorbeireiten konnten wir das Gelärme von Hammer auf Amboß hören.

»Es war die erste Geburt, bei der ich dabeigewesen bin. Ich habe meiner Lehrherrin geholfen. Wir arbeiten nie mit Tricks, nur mit gesundem Menschenverstand und Gebet«, antwortete ich ihm. Inzwischen waren wir in die Aldersgate Street eingebogen und näherten uns dem Stadttor.

»Und ich glaube, Ihr arbeitet mit Tricks«, sagte er. »Seid Ihr eine Heilige?«

»Nein, ich bin keine Heilige. Ich versuche, gut zu sein, aber manchmal will das nicht ganz gelingen. So geht es wohl den meisten Menschen. Wie gut, daß Gott Erbarmen mit uns hat.« Seit dem Morgengrauen war das Stadttor geöffnet. Wir passierten es hinter zwei großen Karren und einer Gruppe Landfrauen, die frische Eier verkaufen wollten, alle fein säuberlich in Körben zwischen Farnkraut verpackt, welche sie auf einen Esel geladen hatten. Auf dem Cheap rührte es sich schon, die Ladenfenster waren geöffnet und die Waren ausgelegt, so daß Kauflustige sie prüfen konnten. Schon priesen die ersten Marktfrauen ihre Erzeugnisse an, während Hausmütter mit dem Korb am Arm sich durch die auf Tüchern am Boden ausgebreiteten Waren schlängelten. Ich bemerkte, wie Vater Edmund mich im Dahinreiten eingehend musterte.

»Und dennoch – dennoch könnt Ihr das Brennende Kreuz tragen«, sagte er in nachdenklichem Ton mehr zu sich selbst.

»Ist es berühmt?« sagte ich. »Ich habe noch nie davon gehört.«

»Es ist berühmt. Ich selber würde nicht wagen, es anzufassen«, erwiderte er.

»Ich vielleicht auch nicht, wenn ich davon gewußt hätte.«

»Ihr glaubt also, daß Euch Unwissenheit gerettet hat?«

»Nein, Beobachtung. Meine Lehrherrin hält viel von Beobachtung. Sie sagt ›Beobachte und behalte es im Kopf‹. Seid Ihr beispielsweise nicht darauf gekommen, das Brennende Kreuz könnte vor langer Zeit in Gift getaucht worden sein? Das hätte im Laufe der Zeit abgehen oder seine Kraft verlieren können.« Er ritt eine Weile schweigend dahin. Wir durchquerten Cornhill und bogen schließlich in unsere Gasse ein. Vater Edmund schüttelte den Kopf, drehte sich um und blickte das Brennende Kreuz an. »Hmm. So viele Möglichkeiten, aber auf die bin ich nie gekommen«, sagte er bei sich. Vor unserer Haustür stieg er elegant ab, und ich rutschte von meiner mausgrauen Stute.

»Wenn Ihr das überprüfen wollt, warum berührt Ihr es dann nicht?« Ich nahm das Kreuz in die Hand und hielt es ihm hin, behielt die Kette aber um den Hals. Er wirkte erschrocken, streckte aber vorsichtig einen Finger aus, stupste es an und nahm es dann in die Hand.

»Seht Ihr?« sagte ich, als wir vor meiner Tür standen.

»Es kommt aus Byzanz. Das kann man am Muster erkennen. Es ist sehr alt«, sagte er, wobei er es immer noch in der Hand hielt und hin- und herwandte, um es eingehender zu prüfen.

»Byzanz? Ist das weit weg? Davon habe ich noch nie gehört.«

»Es scheint allerlei zu geben, wovon Ihr noch nie gehört habt. In Byzanz hielt man sehr viel von Gift. Kann sein, Ihr seid eine ausnehmend gescheite Frau.«

»Entweder das, oder Ihr ein ausnehmend heiliger Mann.«

Er lächelte beifällig.

»Vielleicht möchte ich ja lieber ein ausnehmend heiliger Mann sein. Lebt wohl, Margaret. Und wenn ich von einer schweren Geburt höre, dann werde ich nach der kleinen Wehmutter in der Diebesgasse schicken.«

Bruder Gregory setzte die Feder ab und blickte zu Margaret hoch, die jetzt neben ihm stand und ihm beim Schreiben zusah.

»Ich wußte gar nicht, daß Ihr John von Leicestershire kennt«, sagte er.

»Ich kenne eine Menge Leute. Wehmütter kommen viel herum.«

»Anscheinend. Und doch finde ich, eine anständige Frau läßt sich nicht in einer Waffenschmiede blicken.«

»Hängt das nicht davon ab, was anständig ist? Vielleicht stimmen ja nur unsere Vorstellungen von anständig nicht überein, Bruder Gregory.« Sie unterhielt sich mit seinem Nacken, da er sich damit beschäftigte, das Tintenhorn zu verschließen, während noch die letzte Seite trocknete.

»Hab ich mir schon gedacht, daß Ihr das sagen würdet, Margaret«, bemerkte er friedfertig. »Ich wollte Euch nur aushorchen. Ich glaube, daß Ihr, die Ihr soviel gesehen habt, mittlerweile die weibliche Tugend der Bescheidenheit zu schätzen wißt. Wenn Ihr Eure Vorwitzigkeit nicht im Zaum haltet, handelt Ihr Euch nichts als Ärger ein.«

Ganz unerwartet machte Margaret ein langes Gesicht und sah sehr betrübt aus. Bruder Gregory bemerkte den Blick.

»Ich will Euch damit nicht wehtun, Margaret, ehrlich nicht«, entschuldigte er sich. »Ich weiß, daß ich zuweilen bissig bin. Aber Ihr – und auch Kendall, wandert auf einem schmalen Grat. Ihr wollt frei sein, und er denkt, daß Heiden wie Brahmanen tugendhaft sind. Damit könnt Ihr nämlich Leute vor den Kopf stoßen. Einflußreiche Leute.«

»Lieber Bruder Gregory«, sagte Margaret und legte eine weiße Hand auf seine große, tintenbekleckste. »Niemand weiß das besser als ich.« Etwas am Ton ihrer Stimme rührte Bruder Gregory so sehr, daß er sogar vergaß, seine Hand wegzuziehen. Er blickte sie ernst an. Sie wußte zuviel; sie verbarg etwas Schmerzliches, und er wollte nicht in sie dringen. So wechselte er taktvoll das Thema und sagte:

»Dann ist also das Kreuz, welches Ihr tragt, das berühmte Brennende Kreuz? Ich habe schon davon gehört, doch ich wußte nicht, wie es aussah. Eine mystische Hand soll es sich ja geholt haben, sie manifestierte sich aus der Luft, als klar wurde, daß niemand tugendhaft genug war, um es tragen zu können.«

»Eine Hand? Ach, das ist doch zu albern. John der Waffenschmied hat es sich für eine ungedeckte Schuld geholt, und ich trage es ständig. Ich mag es sehr gern.« Margaret war zur Tür gegangen, um ihren Hund hereinzulassen, der vor der Tür jaulte und kratzte. Sie befahl ihm, sie nicht mehr anzuspringen und sich zu setzen und wandte sich dann wieder Bruder Gregory zu, der mit dem Leseunterricht beginnen wollte. Er warf einen Blick auf das Kreuz, und dann huschte etwas – etwa ein Anflug von Röte? – über sein Gesicht.

»Also – ich – ich hätte da einen Wunsch«, sagte er und blickte auf einmal seine Zehen an.

»Ihr wollt es auch anfassen?« Margaret lachte. Wenn sie lachte, sah sie gleich ganz anders aus. Wie ein kleines Mädchen, das nie erwachsen werden würde.

»Macht nur! Los! Es beißt nicht.« Sie streckte es ihm hin, doch die Kette behielt sie um den Hals wie bei Vater Edmund an jenem Epiphaniasmorgen vor langer Zeit.

Gregory öffnete die linke Hand und schloß die Finger um das Kreuz, daß es beinahe in seiner großen, grobknochigen Faust verschwand.

»Ich spüre überhaupt nichts.« Sein Gesicht trug einen Ausdruck selbstgerechter Freude.

»Gut, dann seid auch Ihr ein tugendhafter Mann«, sagte Margaret mit einem Lächeln.

»Seid Ihr jetzt zu müde für Euren Leseunterricht?« fragte Bruder Gregory, und seine Befriedigung wurde zur Besorgnis.

»Dafür bin ich nie zu müde. Ich lerne doch so gern. Habt Ihr mich schon einmal Französisch sprechen hören? Madame sagt, ich habe es bald geschafft. Je parle correctement presque tout le temps, maintenant

»Ei, das ist aber sehr gescheit«, antwortete Bruder Gregory auf Französisch. »Doch wofür wollt Ihr es denn schaffen?«

»Wir geben ein großes Essen mit vielen bedeutenden Gästen. Dabei möchte ich es zum ersten Mal ausprobieren. Findet Ihr, daß ich mich wie eine Dame anhöre?« Margarets Französisch hatte die modische, nasale Aussprache einer reichen Klosterschule. So langsam und genau wie sie es artikulierte, konnte man ihm einen gewissen Reiz und Charme nicht absprechen.

Gregory sagte auf Englisch. »Euer Mann hat eine gute Lehrerin gewählt. Ihr habt einen netten Akzent. Ich finde, Ihr könnt sehr gut nachahmen.« Vor Freude wurde Margaret ganz rot.

»Wir beginnen mit dem Diktat«, sagte Gregory brüsk und tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. »Nehmt Euer Täfelchen und schreibt als erstes ›Die Frauen seien Untertan ihrer Männer‹.«

Margaret schnitt ein Gesicht, ritzte aber alles sorgsam mit dem Griffel ein. Bruder Gregory ging im Zimmer auf und ab, kratzte sich geistesabwesend die Hand und überlegte sich den nächsten Satz. Margaret blickte von ihrem Platz am Fenster zu ihm auf.

»O, Bruder Gregory, was ist mit Eurer Hand?«

»Ich muß mich kratzen; es juckt.«

»Ach, wirklich, ist sie etwa rot?«

»Nein, es ist nur ein Stich. Ihr habt mir einen Floh geschenkt.«

»Ich habe keine Flöhe, Bruder Gregory«, beharrte Margaret.

»Jeder hat Flöhe, Margaret. Das gehört zu Gottes Plan.«

»Ich nicht. Ich wasche sie ab.«

»Margaret, wo bleibt denn Euer Verstand? Sie hüpfen einfach zurück. Ihr könnt Euch gar nicht soviel waschen, daß Ihr keine hättet.«

»Doch.«

»Habt Ihr denn keine Angst, daß Ihr Euch die Haut abwascht? Das könnte nämlich passieren. Und das ist viel ärger als Flöhe.« Bruder Gregory sprach im Ton absoluter Gewißheit.

»Das sagt mir jeder. Sie ist aber noch nicht abgewaschen.«

»Margaret, Ihr seid dickköpfig, und das tut nicht gut. Als nächsten Satz schreibt Ihr mir: ›Einen Floh kann man nicht abwaschen.‹«

»Ist es so richtig?« Sie hielt ihm das Täfelchen hin, und Bruder Gregory schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf.

»Ihr könnt einen zur Verzweiflung bringen, Margaret, ›Floh‹ schreibt man nicht mit einem ›o‹, sondern mit zwei.«