Kapitel 6
Als Bruder Gregory am darauf folgenden Freitag kam, um Leseunterricht zu geben, war Margaret in der Küche beschäftigt; sie schnupperte an Fisch herum, den man ihr vom Markt gebracht hatte.
»Der Junge hat gesagt, er ist fangfrisch von heute morgen«, versicherte ihr die Köchin.
»Gestern abend dürfte eher zutreffen.« Ihre Stimme klang argwöhnisch. Nicht etwa daß sie der Köchin oder dem Jungen mißtraut hätte, sie kannte nur gewisse Fischhändler von Billingsgate zu gut. Einigen war es zuzutrauen, daß sie ein Maß Fisch ›verschönten‹, indem sie frische auf die alten legten, und so mußte man den ganzen Korb sorgfältig durchgehen, wollte man sichergehen, daß man nicht das ganze Haus vergiftete.
»Dieser hier und der da unten im Korb müssen weg«, verkündete sie und legte die beanstandeten Fische beiseite. »Die anderen gehen, aber nur in einer pikanten Soße. Und ich weiß nicht einmal recht, ob die nun wirklich frisch sind. Ist das Korn aufgesetzt?« Sie spähte in einen Topf, in dem es siedete. Du liebe Zeit, dachte sie bei sich. Es hat just angefangen zu kochen, und dabei braucht es so lange, bis es platzt. Hoffentlich ist es rechtzeitig gar. Dann machte sie einen Bogen um die Köchin, deren breite Gestalt über das Hackbrett gebeugt stand, desgleichen um den kleinen Jungen, der die Messer schärfte, denn sie wollte die Gewürzkästchen auf dem Küchenregal aufschließen und deren Inhalt überprüfen. Als der beißende Duft von Pfeffer und Nelken sich mit den Gerüchen von den Hantierungen der Köchin vermischte, verspürte Margaret ein köstliches Kitzeln in der Nase, das ihr durch und durch ging. Hatte sie nicht Glück, war es nicht herrlich, wenn man eine Küche voll guter Dinge zum Essen hatte! Was für ein schöner Anblick, wenn alle lebenden menschlichen Wesen im Haus runde, rosige Gesichter hatten und sie niemals ein Zupfen am Rock spüren und in ein Paar hungrige Augen blicken mußte!
Jetzt fiel Margaret der süße, gewürzte Weizenbrei ein, den sie machen wollte, sobald der Weizen geplatzt war. Er gehörte zu den Lieblingsspeisen ihres Mannes und ihrer Mädchen. Schon malte sie sich aus, wie der würzige Duft aus dem Topf ihr ins Gesicht steigen würde, wenn sie den Brei umrührte. Master Kendall wollte einfach nicht begreifen, daß es einem schwerfallen kann, eine Arbeit anderen zu überlassen, auf die man sich wirklich gut versteht – und außerdem hatte sich die Köchin mittlerweile an ihre Macken gewöhnt. Und ihr Ale, das wußte er nun wirklich zu schätzen; niemand in der City verstand sich besser aufs Brauen, und alle lobten das Ale in Kendalls Haus.
Und niemand backte besseres Brot als sie. Dazu gehörte schon etwas Begabung, sonst ging das Brot nicht luftig und hoch auf, und die hat eben nicht jede. Einmal war sie am Backtag Kendall entgegengelaufen, um ihn zu begrüßen, und hatte noch die große Schürze umgebunden gehabt und Mehl bis zu den Ellenbogen und einen weißen Fleck auf der Nase, und er hatte sich an ihrem Anblick gefreut und gelacht. »Wenn du wüßtest, wie hübsch du so aussiehst, kleines Püppchen, du würdest jeden Tag mit einem weißen Fleck herumlaufen und damit bei Hof eine neue Mode einführen«, hatte er gemeint, und sie hatte nicht gewußt, ob er Spaß machte oder nicht. So ist das mit den Männern, dachte sie. Alles, was sie sagen, läßt sich drei- oder vierfach deuten.
Dann bemerkte Margaret, daß der Wasserbehälter in der Küche leer war und schickte die Küchenmagd hinaus, daß sie ihn auffüllte, sah nach, ob die Betten aufgeschüttelt und gelüftet waren, ob aus allen Feuerstellen die Asche ausgenommen, die Ecken gefegt und frischer Lavendel in die Wäschetruhen gelegt war. Hab ich ein Glück, hab ich ein Glück, dachte sie. Ich brauche nicht mehr selber Wasser zu holen. Sie war seit Tagesanbruch auf den Beinen und würde wahrscheinlich, mit Ausnahme der Mahlzeiten, vor Abend nicht zum Sitzen kommen. Sie ging auch immer als letzte zu Bett, denn zur Nacht läuft jede vernünftige Hausfrau von Zimmer zu Zimmer und überzeugt sich, daß alle Kerzen ausgeblasen und alle Feuer richtig abgedeckt sind. Wer so dumm war, sich vor dieser Arbeit zu drücken, lief Gefahr, eines Nachts einfach bei lebendigem Leib im Bett zu verbrennen. So geht es jetzt mit vielen Dingen, dachte sie. Ich muß sie nicht mehr selber machen, aber ich muß mich darum kümmern, daß sie richtig ausgeführt werden, und das ist eigentlich genauso viel Arbeit, nur eben anders.
Das Beste an ihrem neuen Leben war aber der Unterricht. Dabei konnte sie sich hinsetzen und ihren Kopf gebrauchen, ein Luxus, den ihres Wissens keine andere Frau genoß. Alles hatte damit angefangen, daß Master Kendall sie eines Abends in umgänglicher Stimmung fragte, was sie sich wohl wünschte. Sie war müde gewesen, der Mann mit dem Holz war nicht gekommen, die Mädchen hatten sich an jenem Tag gezankt, und sie hätte gern gesagt: »Zeit«, oder »Zeit nur für mich, zum Nachdenken«. Aber sie wußte, die konnte er ihr nicht geben, und da sie ihn nicht enttäuschen wollte, sagte sie stattdessen etwas, das ihr just durch den Kopf schoß:
»Ich möchte gern Französisch lernen, dann kann ich mich mit deinen Freunden unterhalten und du hättest mehr Freude an mir.«
»Ich habe immer Freude an dir, mein Schatz«, hatte er geantwortet. »Aber die Idee ist gar nicht so schlecht, nein, gar nicht so schlecht.« Und er hatte die in Not geratene Wittib eines Ritters angestellt, die kam nun beinahe jeden Tag ins Haus und parlierte mit ihr und den Mädchen Französisch. Und mittlerweile nannte selbst die kleine Alison ihr Kleid schon robe de chambre.
Das Beste von allem war jedoch ihr Buch. Darauf wäre sie im Traum nicht gekommen, wenn die Stimme nicht so gedrängelt hätte, und einer Stimme durfte man sich doch nicht verweigern, oder? Sie wußte nicht so recht, warum es so eine gute Idee war, und dabei war sie es wirklich. Dazu kam, daß ihr Buch das Einzige auf der weiten Welt war, das ihr ganz allein gehörte, nur ihr und niemand sonst. Und schön wurde es, all die vielen Seiten mit der säuberlichen, schwarzen Schrift! Hier und da konnte sie bereits ein, zwei Worte lesen, und das machte alles noch besser. Und wenn sie es sich laut vorlesen ließ, dann hörte es sich richtig an, ganz richtig. Vielleicht würde man es eines Tages lesen, und dann würde man verstehen, was sie sagen wollte und ihr keine Vorhaltungen machen, was sie eigentlich hätte sagen sollen. Und wenn das geschah, dann würde sich vielleicht etwas ändern. Oder vielleicht wäre es ja eine andere Welt. Eine Welt nämlich, in der die Menschen sich anhören wollen, was andere Menschen zu sagen haben, auch wenn sie keine Männer sind. Also wirklich, ja, dieses Mal hatte die Stimme aber eine sehr gute Idee gehabt.
Mittlerweile war Bruder Gregory das Warten und Grübeln auf der Bank in der Diele leid. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, die lange Nase vorgestreckt und witternd wie ein neugieriger Jagdhund, so strich er durch die Diele in Richtung Küche. Durch die offene Tür erhaschte er einen Blick auf eine Margaret mit großer Schürze, die eine Wanne voll eben abgeschnittener Kohlköpfe prüfte, welche dort im Wasser lagen, damit die Würmer herauskrochen. Margaret konnte Würmer in Äpfeln nicht ausstehen, biß auch nicht gern in bereits gekochte im Kohl, obwohl sich nicht alle Leute so anstellten. Sie hatte den Kopf schiefgelegt und klopfte ungeduldig mit dem Fuß, während sie zusah, wie die Würmer langsam zur Wasseroberfläche hochstiegen. Eklige Dinger, dachte sie. Warum geht ihr nicht in anderer Leute Kohl, wieso in meinen?
Da sieht man's wieder, dachte Bruder Gregory, gar nichts tut sie, sie will mich nur durch Warten reizbar machen. Doch als er über die Schwelle trat, krächzte eine heisere Stimme:
»Diebe! Diebe an der Butter!«
»Was um Himmels willen…?« entfuhr es Bruder Gregory unwillkürlich, und er blickte dorthin, woher die Stimme kam. Alle in der Küche sahen ihn an und grinsten.
»Seht ihr? Ist er nicht einmalig?« fragte die Köchin glücklich und stützte die Hände in die Hüften. In einem großen Weidenkorb, der außer Reichweite der Katze von der Decke herabhing, konnte Bruder Gregory ein Geflatter von schwarzen und weißen Federn sehen.
»Die Elster gehört unserer Köchin«, erklärte Margaret und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Bruder Gregory wirkte nicht mehr ganz so verstört. »Sie warnt unsere Köchin, wenn jemand sich in die Küche schleichen und Pasteten stehlen will, die sie zum Abkühlen hingestellt hat. Sie hat die Elster just von ihrer Schwester geschenkt bekommen, weil deren Mann sie nicht ausstehen konnte. Wir finden sie alle sehr klug.« Bruder Gregory musterte das Geschöpf kritisch. Der Vogel pfiff fröhlich, dann gab er ein gurgelndes Geräusch von sich, das sich wie Wasser anhörte. Widernatürlich, dachte Bruder Gregory.
Während Margaret aufräumte und die Schürze abband, starrte Bruder Gregory verdrießlich in die Wanne voll Kohl, die Margaret anscheinend so in Bann geschlagen hatte. Das Wasser wimmelte von schwimmenden Kohlwürmern. Noch widernatürlicher, dachte Bruder Gregory. Es schoß ihm durch den Kopf, daß Menschen, welche so banalen Sachen wie schlechtem Fisch oder Würmern im Kohl allen Ernstes Aufmerksamkeit schenkten, nicht zu ernstem Denken taugten. Es freute ihn, daß er endlich darauf gestoßen war, warum Frauen den Männern von Natur aus unterlegen sind. Das kam nämlich daher, daß sie an allem immer nur die Einzelheiten wahrnahmen und nicht das große Ganze sahen, zu dem eben diese Einzelheiten gehörten. Darum lag es auf der Hand, daß sie untauglich zu umfassenderem ethischen Empfinden und zu allgemeiner moralischer Entwicklung waren. Woraus wiederum folgte, daß sie um zu existieren, der Anleitung durch den Mann bedurften, wie ewige Kinder, nur eben gefährlicher, weil sie größer waren.
Während Bruder Gregory auf diesem Zipfel Erleuchtung herumgrübelte, heiterte sich seine Laune auf. Das vermochte eine interessante Einsicht bei ihm zu bewirken. Er gefiel sich so sehr in diesem Gedanken, daß er für den Rest des Tages vergaß, Margaret wegen ihrer empörenden Rechtschreibung anzublaffen, und nicht einmal dann etwas Sarkastisches sagte, als ihr Hund während des Unterrichts die Tür mit der Schnauze aufstieß und erwartungsvoll neben ihr stand, daß sie ihn streichelte, wozu sie aber keine Zeit hatte. Und dabei forderte Margarets Hund den Spott geradezu heraus, wie nach Bruder Gregorys Meinung jedes Geschöpf ohne erkennbare Augen, bei dem vorn und hinten mehr oder weniger vertauschbar waren. Bruder Gregorys Selbstzufriedenheit ließ sich daran ermessen, daß er nicht sofort eine bissige Bemerkung losließ, ein Vergnügen, für das Lion stets gut war.
Heute kam zuerst der Leseunterricht. Bruder Gregory begann damit, daß er zunehmend schwierigere Sätze auf das Täfelchen schrieb, und wenn Margaret sie gelesen hatte, ließ er sie Sätze nach Diktat schreiben. Bruder Gregory nahm seine Arbeit ernst. Er verwendete nur Lektionen mit erbaulichem Inhalt, denn in seinen Augen gehörte die moralische Unterweisung zu jedem ordentlichen Unterricht, und Margaret hatte es seiner Meinung nach wirklich nötig. Jetzt sah er mit selbstgefälligem, vergnügten Lächeln zu, wie Margaret sich über ihre Arbeit beugte und die Stirn kraus zog, so sehr war sie bei der Sache. Heute mußte sie eine Stelle aus der Bibel schreiben, die er ihr vorgelesen hatte und die davon handelte, daß eine Frau, die ihrer Familie Tag und Nacht dient und niemals rastet, wertvoller ist als alle Edelsteine. Während sie die Buchstaben langsam auf dem Wachs formte, biß sie sich unbewußt auf die Unterlippe. Klar, sie bewunderte die erhabenen Empfindungen und verlangte sehr danach sich zu bessern.
Doch in Wahrheit wartete Margaret nur darauf, daß die Reihe an ihr war. Wenn sie die Stelle mit der edelsteingleichen Frau, die ewig am Spinnen war, fertig hatte, konnte sie sich an den märchenhaften Abschattierungen von Verärgerung bis Entsetzen weiden, die über Bruder Gregorys Gesicht huschten, wenn er ihre Lebensgeschichte niederschrieb. Ein angemessener Lohn für soviel Fügsamkeit, dachte sie.
Monchensie war die erste Burg, die ich von innen kennenlernte, und ist hoffentlich auch die letzte gewesen. Im allgemeinen sind Burgen netter zum Anschauen als zum Bewohnen. Zum einen sind Steinmauern sehr kalt, und so roch es dort immer dumpfig und modrig. Die Ritter und die Damen trugen im Haus schwere, pelzgefütterte Gewänder, aber die armen Leute und Diener besaßen nichts dergleichen, es sei denn, man zählt ein Schafsfell hier und da mit. Der Winter war so kalt, daß das Wasser in der Küche in den Krügen gefror. Ich hatte zwar recht warme Kleidung, aber meine Hände und Füße waren ewig blau und kalt. Selbst eine Kate ist besser zu heizen als eine Burg. Vermutlich hinderte uns nur unsere Angst vor dem Ungewissen daran zu gehen, denn Hilde und ich wußten nicht, wohin wir uns wenden sollten. Wie wir dann doch noch fortkamen, das ist eine Geschichte, die das Erzählen verlohnt.
Normalerweise zogen Sir Raymond und sein Gefolge zwischen seinen drei größten Besitztümern hin und her, die jedoch in einiger Entfernung voneinander gelegen waren. Später habe ich gehört, daß die Lehensvergabe von verstreut liegenden Ländereien an die Barone zu den Vorsichtsmaßnahmen des Königs gehört, denn dadurch können diese sich nicht allzu lange an einem Ort aufhalten und Aufstände schüren. Und dann müssen diese großen Herren einfach umherziehen, weil sie einer Heuschreckenplage gleichen – sie fallen über einen Ort her, fressen alles kahl, und dann müssen sie weiter. Da es aber seine Frau bei der Geburt seines Erben so schwer gehabt hatte und sie dementsprechend schwach war, hatte Lord Raymond beschlossen, den Winter über lieber in Monchensie zu bleiben und dort auch mit seinem ganzen Haus Weihnachten zu feiern. An Festtagen war für Lord Raymond das Beste gerade genug. Und dieses Weihnachten, das erste nach der Geburt seines Sohnes, versprach ein großes Fest zu werden, wozu man für den Festschmaus meilenweit im Umkreis plünderte. Es sollte musiziert und getanzt werden, und dazu erhielten Sir Raymonds Musikanten Verstärkung durch Dudelsackpfeifer aus dem Dorf. Mir sagten die Lieder seiner Spielleute nicht sehr zu. Zum einen war Sir Raymond unmusikalisch, und das hatte sie lustlos gemacht. Während des Essens kratzten und zupften sie gleichgültig vor sich hin; das einzige, was Sir Raymond wirklich gern hörte, waren langschweifige und blutige Schlachtenballaden, die zur Handharfe gesungen wurden, vorzugsweise mit seinem Namen eingeflochten. Zur Geburt seines Erben hatten sie ein blumiges Lied verfaßt, doch leider mit zuviel Strophen, und Sir Raymond hatte gegähnt. Alles dachte schon, daß wohl nur die Dudelsackspieler unserem Weihnachtstanz aufhelfen würden. Doch das Schicksal wollte es anders und tat etwas zur beträchtlichen Verschönerung des Festes.
Eines Dezembernachmittags, just vor Maria Empfängnis, mühte sich eine merkwürdig aussehende Reisegesellschaft durchs Dorf und bat um Einlaß am Burgtor und um Gastfreundschaft auf der Burg. Ich lehnte mich gerade oben aus einem Fenster und sah sie den Burghof überqueren. Es schneite leise vor sich hin, und die Flocken blieben auf ihren Umhängen und dem Gepäck als weiße Tupfen liegen. Voran schritten drei Männer, die sich die eingehüllten Instrumente über den Rücken geworfen hatten; sie führten zwei schwer beladene Esel und vier kleine Hunde mit sich. Ihnen folgten ein paar Leute, die sich der Gruppe angeschlossen hatten, um nicht allein und daher auch sicherer zu reisen: ein Ablaßkrämer mit seinem seltsamen Hut, den Umhang mit Pilgermuscheln benäht und das Bündel auf dem Rücken, dazu ein berittener Kaufmann und seine Gefolgsleute mit ihren Packmaultieren.
Ich war jetzt mehr um Lady Blanche als üblich, denn sie meinte, daß mein Handauflegen die anfallsweisen, schweren Blutungen stillte, von denen sie nach der gefahrvollen Entbindung heimgesucht wurde. Als ich ihr erzählte, was ich gesehen hatte, schickte sie mich auf Erkundigungsgang, ich sollte ihr haarklein berichten, denn sie war noch immer bettlägrig.
In der Halle, wo Sir Raymond Bittsteller empfing und Pächter bestrafte, trat der Anführer der kleinen Gruppe vor, verneigte sich außergewöhnlich tief und übergab ein Einführungsschreiben. Es war Maistre Robert le Tambourer, Musikant des Königs von Navarra persönlich, und die beiden anderen gehörten zu ihm. Bei dem zu seiner Rechten, und damit machte er eine umfassende Handbewegung zu einer langen, knochigen Gestalt im Narrengewand hin, handelte es sich um Tom le Pyper, auch als der Lange Tom bekannt. Während der Lange Tom sich verbeugte, stellte Maistre Robert den kleinen, behenden Mann zu seiner Linken großspurig als den berühmten Parvus Willielmus, den Meister des Frohsinns vor. Sir Raymond rief seinen Kaplan, daß er ihm den Brief vorlas, bei welchem es sich um eine sehr blumige Lobpreisung der außerordentlichen musikalischen Fähigkeiten der Gruppe handelte und der um gastliche Aufnahme im Namen des Königs bei allen großen Herren bat, an welche sie sich wenden mochten. Vater Denys war beeindruckt. Er hob die Brauen und zeigte Sir Raymond das Dokument, welches dieser aber nur glasig anstarrte.
»Der König von Navarra, äh?« sagte er und beäugte es. »Ist das sein Siegel? Was ist das für ein rosa Fleck da?«
»Wein, Mylord, leider. Wir Musikanten müssen zuweilen an seltsamen Orten nächtigen, wenn wir auf Wanderschaft sind«, antwortete Maistre Robert.
»Lasterhöhlen, hmm? Gut, Ihr sollt hier Obdach finden, ihr seid willkommen. Die Musikanten eines Königs! Glück gehabt! Was für Neuigkeiten bringt Ihr uns aus Frankreich?«
Maistre Robert wußte mit Neuigkeiten aus dem Ausland und auch mit ein paar interessanten Geschehnissen in England aufzuwarten. Als Zugabe gab er noch ein paar Skandalgeschichten zum Besten, und als er sah, daß Sir Raymonds aufmerkte, da wußte er genau, wie er ihn anfassen mußte. Als Sir Raymond dann eine Probe seiner Fertigkeiten forderte, winkte er den Langen Tom und Parvus Willielmus zu. Der Lange Tom holte eine Trommel hervor, und die dröhnte so aufreizend, daß alle in der Halle aufmerksam wurden. Durch den Türspalt lugten Gesichter. Während die Trommel dröhnte, jonglierte der Kleinere erst mit drei, vier und dann mit fünf Bällen. Alsdann ließ Maistre Robert seine Geschichten los, und die beiden hörten mit Trommeln und Jonglieren auf und fielen ein. Es handelte sich um eine Unterhaltung, die aus einer flinken Aneinanderreihung außergewöhnlich unflätiger Geschichten bestand. Gelächter brauste durch die Halle. Sir Raymond mußte so lachen, daß er knallrot anlief und wollte schier ersticken.
»In Ordnung, Master Robert, wenn Ihr so gut musiziert wie Ihr redet, dann sehen wir fürwahr ein paar lustigen Abenden entgegen.« Die Lachtränen liefen ihm immer noch übers Gesicht.
»Hol mir diese Spielleute herauf«, sagte Lady Blanche zu mir, »ich möchte die Neuigkeiten auch hören.« Sie hatte sich zu ihrem Empfang im Bett aufgesetzt und fragte sie nach dem Hofleben im Ausland aus, welche Kleidung man trüge, und was dergleichen mehr ist. Danach holte Master Robert seine Handharfe hervor und sang ein Lied auf ihre Schönheit, welche, wie er sagte, in aller Munde sei.
»Ach, wirklich? Ich bin doch hier auf dem Lande begraben gewesen. Ich wußte gar nicht, daß meine Schönheit auch im Ausland bekannt ist?«
»O Mylady, man erzählt sich doch überall davon. Wer in diesem Königreich hätte wohl solch eine blasse Lilienhaut? Man munkelt, daß ein gewisser edler Ritter sich in Liebe zu Euch verzehrt, doch seinen Namen wollte niemand preisgeben.« Lady Blanche sah erfreut aus. Und auf diese Weise ging es weiter, und seine Freunde griffen zu Laute und Fidel und sangen noch ein Lied auf ihre Schönheit. Man konnte sehen, daß diese Spielleute hier ein Weilchen leben würden wie die Made im Speck.
Die fahrenden Sänger waren eine lustige Truppe. Sie gingen von der Halle in die Küche, in die Ställe und in die Garnison und machten überall gut Wetter für sich. Als die Kaufleute weiterzogen, schien den Gauklern und dem Ablaßkrämer die Umgebung so zuzusagen, daß sie blieben. Der Ablaßkrämer hatte sich doch wahrhaftig den Gauklern angeschlossen und konnte ebenso große Erfolge verbuchen, denn sein Handel mit Reliquien und Ablaßbriefen blühte, zu dieser Jahreszeit besteht nämlich eine große Nachfrage danach. Eines Tages vertrat er mir den Weg und sagte:
»Liebreizende Maid, ich finde, Ihr braucht so ein kleines Etwas, etwas, das Segen auf Euch herabregnet und Euch einen schmucken Ehemann beschert. Ich habe da ein Schnipselchen vom Fingernagel der Heiligen Katherina zu einem Preis, den ich eigens um Eurer hübschen Augen willen heruntersetzen will.« Ich betrachtete den Schnipsel vom Fingernagel. Er war in einem kleinen Beutel, den man um den Hals tragen konnte. Sehr klein sah er aus.
»Ich habe kein Geld, Sir«, sagte ich.
»Für Euch Bruder Sebastian, Engelsäuglein. Ich muß Euch jedoch vermahnen. Ihr laßt es an Gottesfürchtigkeit fehlen. Dergleichen tut mir Gott kund. Macht Euren Mangel dadurch wett, daß Ihr diese Devotionalie ersteht. Ich gehe jetzt, doch bedenkt bitte eines: es könnte doch sein, daß Gott Euch das Geld schickt – ich werde diese kostbare Reliquie jedenfalls für Euch vierzehn Tage zurücklegen, obschon etliche Mägdelein dafür Interesse gezeigt haben.« Damit ging er. Ich sah seiner gedrungenen, rundlichen Gestalt nach und dachte bei mir, wenn das nicht ein komischer Mensch ist. Ablaßkrämer sind zumeist grämlich und versuchen, einen mit Geschichten vom Fegefeuer so in Angst und Schrecken zu versetzen, daß man einen Ablaßbrief kauft. Der da sah aus, als ob er eher im Wirtshaus daheim wäre.
Doch nun weihnachtete es sehr, da blieb keine Zeit, weiter über den Ablaßkrämer nachzudenken. Es ging hoch her, auch das Gesinde und die Dorfleute nahmen an dem großen Fest in der Halle teil. Über dem Podest hatte man einen Baldachin angebracht, und dort empfing der Herr seine Leute so prächtig wie ein König. Die große Halle war mit grünen Zweigen ausgeschmückt, und die Grundfesten der Burg schienen beim Tanzen zu erzittern. Und da lernte ich Mutter Hilde plötzlich von einer ganz anderen Seite kennen. Sie war eine wunderbare Tänzerin. Erhitzt und außer Atem konnte sie einfach kein Ende finden, denn sie hatte viele Tänzer unter den Leuten aus dem Dorf. Aber am häufigsten tanzte sie mit dem Ablaßkrämer, der sich wie alle anderen voll der Weihnachtsfreude hingab.
Mehrere Tage lang wurde turniert, und dabei führten Ritter und Schildknappen ihre Geschicklichkeit vor. Die Waffenschmiede auf der Burg hatten mit dem Ausbessern der Beulen alle Hände voll zu tun, desgleichen auch der Bader, welcher außerhalb der Festzeiten fast nur Haare schnitt und Bärte rasierte. Abends versammelte man sich zu Kurzweil und einem weiteren Festmahl und Tanz. Vor dem Abendessen sang dann Master Robert wohl ein neues Lied von Heldentaten in der Schlacht, während des Essens tat sich seine Truppe mit den Spielleuten auf der Empore zusammen. Danach, doch noch vor dem Tanz, traten er und sein Partner mit einem ›Zwiegespräch‹ auf – einem komischen Dialog zwischen beispielsweise Wein und Wasser oder Winter und Sommer. Im Verlaufe des Abends arteten die Dinge dann aus, denn Robert le Tambourer war in der Tat ein ›Maistre‹, ein Meister der unzüchtigen und bissigen Posse. Seine ›Ware‹ bestand größtenteils aus lüsternen Witzen über ›Wandermönche‹, welche große Heiterkeit auslösten, außer bei Vater Denys. Wenn sich bei Tage alles zum Turnier versammelte, pflegten Maistre Robert und seine Truppe zu jonglieren, Geschichten zu erzählen und die kleinen Hunde Kunststücke vorführen zu lassen – das beste war in meinen Augen das mit dem Hund, der durch die Menge lief und mit einer Schüssel im Maul um Pennys bettelte.
Und so blühte der Weizen bei Gauklern und Ablaßkrämer gleichermaßen, bei Tag und auch bei Nacht. Ihr Weizen blühte jedoch noch auf einem Feld, worauf ich allerdings nie gekommen wäre. Eines Abends sagte Mutter Hilde verträumt:
»Würdest du nicht gern in so einer schönen, großen Stadt wie London leben?«
»Was um Himmels willen soll das heißen, Mutter Hilde?« gab ich zurück.
»Das soll heißen, wir müssen ohnehin von hier weg. Warum also schließen wir uns nicht diesem reizenden Ablaßkrämer und diesen bezaubernden Musikanten an, wenn sie aufbrechen? Der liebe Bruder Sebastian sagt, daß eine Frau von meiner Begabung und Geschicklichkeit in London durchaus ihr Glück machen kann.«
»Der liebe Bruder Sebastian? Seit wann ist er denn ein Lieber?« Von diesem glattzüngigen Schuft hatte meine Freundin das Schlimmste zu befürchten.
»Ach, Margaret. Du verkennst ihn ebenso wie alle anderen. Er ist doch so charmant, so aufrichtig und gelehrt.« Sie wirkte so zufrieden mit sich, daß ich erschrak.
»Auf was um Himmels willen hast du dich eingelassen?« fragte ich, doch Mutter Hilde starrte nur verträumt ins Leere.
»Er sagt, daß er zu einer Frau von meiner Intelligenz und meinem angeborenen leidenschaftlichen Wesen einfach in Liebe entbrennen muß. Ich habe meinen Mann geliebt und nie einen anderen gewollt – aber dieser Mann, ja, den liebe ich aus dem gleichen Grund. Margaret, du ahnst ja nicht, wie klug er ist, sonst würdest auch du ihn bewundern. Ich bin wieder glücklich.«
Wenn es etwas noch Aufreizenderes gibt als ein schmachtendes Mädchen, dann eine schmachtende Fünfzigjährige, dachte ich. Eines steht fest, der Mann legt sie herein. Wie kann ich sie nur trösten, wenn er sie sitzenläßt? Hilde beobachtete meine Miene. Sie ergriff meine Hand und sagte:
»Ich weiß, daß du mißtrauisch bist, liebes Mädchen – und du tust recht daran: Unterhalte dich mal mit ihm, du ahnst ja gar nicht, wie vortrefflich er ist. Und wie ungewöhnlich er sich ausdrückt! Hast du jemals einen Menschen so gewählt reden hören? Also, ich verstehe kaum ein Wort von dem, was er sagt! Das ganze Französisch und Latein, das er daruntermischt, just wie ein Herr, nur gekonnter! Und er ist so weitgereist, so debonair.«
»O Hilde, ich habe solche Angst, daß er dir wehtut. Machst du dir darüber denn keine Sorgen?«
»Kein bißchen, kein bißchen! Lern ihn kennen und dann urteile selbst. Ich möchte, daß du an meinem Glück teilhast. Wir ziehen alle nach London und werden reich.«
Und so ging ich denn am folgenden Tag in den Raum hinter dem Stall, wo sie wohnten; ich stand den Plänen meiner Freundin sehr ablehnend gegenüber, denn etwas Gutes schaute dabei gewiß nicht heraus. Mein Eintreten unterbrach sie in ihrer Beschäftigung. Sie saßen alle um Peter herum auf dem Boden und brachten ihm bei, wie man Steine auf einen Holzteller voller seltsamer Zeichen warf.
»Ah, immer herein, Margaret!« rief Master Robert so forsch, als kennte er mich bereits. »Wir unterweisen gerade Peter im Wahrsagen. Früher hat das einer der Hunde gemacht, aber mit einem Feenwechselbalg dürfte es viel besser laufen.«
»Margaret, meine Liebe, wir freuen uns sehr, daß du dich unserem frohgemuten Pilgerzug nach London anschließen willst, der uns durch die malerischen Flecken und Jahrmärkte unseres geliebten Königreiches führen soll«, sagte Bruder Sebastian freundlich. Ich musterte die Gesichter ringsum, die sich jetzt um mich drängten. Unheildrohend kamen sie mir nicht vor, aber besser, man gab Obacht, daß man nicht hereingelegt wurde.
»Wird Master Robert nun in London bleiben oder nach Navarra zurückkehren?« fragte ich mißtrauisch. Wer sagte mir denn, daß sie uns nicht an einem noch schlimmeren Ort als diesem sitzenließen.
»Nach Navarra? Eine lange, gefahrvolle Reise, mein Kind. Vornehmlich dann lang und gefahrvoll, wenn man noch nie dort gewesen ist«, sagte Bruder Sebastian mir vertraulich ins Ohr, so als wollte er mir damit die Angst nehmen.
»Da du nun zu uns gehörst, sollst du auch alles wissen.« Master Robert grinste fröhlich.
»Aber – Ihr habt doch so einen Brief?« stammelte ich.
»Natürlich haben wir einen Brief. Wir haben auch noch mehr davon. Bruder Sebastian weiß sehr geschickt mit der Feder umzugehen«, sagte Master Robert mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Du gehörst nun zu uns, also laßt uns Pläne schmieden«, sagte Bruder Sebastian. »Kannst du vielleicht ein Instrument spielen? Purzelbäume und Brücken schlagen?« Ich schüttelte betrübt den Kopf. »Aha! Ich hab's! Du kannst Sachen verkaufen! Diese Unschuldsmiene – diese tumben, ehrlichen Augen (Verzeihung, aber wahr bleibt wahr, oder?) – ja, das ist genau das Richtige! Margaret, du bist die geborene Marktfrau.«
»Aber ich habe doch gar nichts zu verkaufen«, begehrte ich auf.
»Immer mit der Ruhe. Mein Kleinod, meine kluge Hilde stellt Kräutertees für uns her – und ihre berühmte Brandsalbe beispielsweise.«
»Doch nicht etwa dieses stinkige Zeug aus Gänseschmalz und Talg?«
»Genau das. Richtig verpackt, dank meiner Fähigkeiten auf diesem Gebiet, und von einem solch bezaubernden Kind wie dir verkauft, dürfte sie ein Renner werden. Ich glaube, ich nenne sie – hmm – einen seltenen Balsam aus – aus – Arabien. Ja, das paßt gut. Arabien. Wahrhaftig, das klingt hübsch.«
»Arabien, äh?« fiel Parvus Willielmus ein, was eigentlich nur der Kleine William hieß, aber in der Öffentlichkeit schmückte er sich gern mit lateinischen Federn. »Ich kenne da einen sehr guten Witz über einen Wandermönch, der nach Arabien reiste und in den Harem des Sultans kam, weil er sich als –«
»Genug!« Bruder Sebastian hob die Hand. »Wie oft muß ich euch noch sagen, daß eure vulgären Späße meine zarten Empfindungen verletzen. Habt ihr denn keine Achtung vor dem geistlichen Stand?«
»Ach, hör doch auf, dem Abt von St. Dunstan hat das letzte Michaelis recht gut gefallen. Natürlich hatte der einen in der Krone, und ich hatte aus dem Mönch einen Dominikaner gemacht.«
»Ihr erzählt also derlei abscheuliche Witze in einem Kloster?« entschlüpfte es mir.
»Natürlich. Auch Mönche wollen lachen. Ein paar zumindest. Sie tun so, als ob die Vorführung für ihre Pächter ist, aber sie nehmen auch teil. Einige dieser Abteien sind sehr streng, aber nicht viele. Flagellanten und Eremiten, naja, die finden rein gar nichts lustig.«
»Aber Ihr sagt so furchtbare Sachen. Ihr macht Euch über Hochgestellte lustig. Ihr ahmt sie in Euren Dialogen nach. Früher oder später landet Ihr noch im Stock.«
»Im Stock? Der ist für gewöhnliche Sterbliche«, sagte der Kleine William. »Für einen Schenkenbesitzer etwa, der einen Ratsherren beleidigt, oder für einen Bauern, der den Sheriff schlechtgemacht hat. Wir fahrenden Sänger werden nie bestraft, was wir auch immer sagen. Das kommt daher, daß wir bereits verdammt sind; das jedenfalls behauptet die Kirche. Darum lachen sie immer und lassen uns laufen. Hm – fast immer. Unser Robert hier hatte einen Freund, der dem König zu frech kam, und der ließ ihm die Augen ausstechen. Aber ich? Ich habe Herzöge, Grafen und Bischöfe beleidigt – ach, wen eigentlich nicht? Und bin immer noch da!«
»Ist er nicht ein Fürst unter den Spielleuten, unser Kleiner William hier?« singsangte Bruder Sebastian. »So, das wäre abgemacht, was, Margaret?« setzte er hinzu. »Du begleitest mein gerade entdecktes, strahlenäugiges Kleinod –« (an dieser Stelle lächelte Hilde dümmlich) » – wie auch diese munteren Kumpane hier nach London –« (er machte eine umfassende Handbewegung) » – und machst dein Glück!« Erstaunlich, wie gefühlsduselig Leute werden, wenn sie verliebt sind. Hilde befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Aber wenn ich mir überlegte, welche Möglichkeiten mir sonst offenstanden, so waren die noch unangenehmer, als mit diesen Leuten nach London zu ziehen.
»Also abgemacht«, sagte ich. Alle jubelten und fielen mir um den Hals, was mich sehr verlegen machte. Aber mir saß noch etwas verquer, und so fragte ich:
»Eine Sache ist mir immer noch nicht klar. Wenn Ihr niemals in Navarra gewesen seid, woher stammen dann die ganzen Neuigkeiten aus dem Ausland?«
»Aus dem Untergrund, Margaret«, antwortete Maistre Robert. »Die Verbreitung von Nachrichten gehört zum Gewerbe des fahrenden Sängers, und wir kommen ja auch überall hin. Wenn wir uns also begegnen, tauschen wir Geschichten aus. Was wir nicht wissen, erfinden wir. Sünden von ausländischen Königen, schmachtende, ausländische Liebhaber, na, du weißt schon. Das mag jeder, man muß nur die Namen auswechseln.« Maistre Robert sah mich an, als ob er nicht glauben mochte, daß ich derart einfältig war.
»Wollt Ihr damit sagen, daß die ganzen Sachen, die Lady Blanche so gefallen –?«
»Du kleine Hinterwäldlerin, fast all unsere Lieder und auch ein Teil unserer Neuigkeiten gleichen den Ablaßbriefen unseres Padre da. Sie haben eine freie Stelle, wo wir je nachdem den Namen einsetzen – dann schwarze Augen anstatt blaue, Spanien statt Frankreich, diesen Helden für jenen. Das hebt das Geschäft.«
Irgendwie ist es immer eine Enttäuschung, wenn man erfährt, wie etwas in Wirklichkeit gemacht wird. Die Illusion erscheint soviel hübscher, wenn man nicht Bescheid weiß. Aber auf eines verstanden sie sich ohne Zweifel, nämlich wie man sich angenehm macht. Sie blieben, bis das Wetter umschlug und man sich getrost wieder auf Wanderschaft begeben konnte. Sir Raymond wollte sie nicht ziehen lassen, ehe er nicht ihren ganzen Witzevorrat mehrere Male gehört hatte, und Lady Blanche hielt uns fest, bis es ihr besser ging – eine Genesung, die Maistre Robert mit Augenrollen und schmeichelhaften Liedern beschleunigte.
Wir nahmen Abschied und zogen bei leichtem Frühlingsregen gut entlohnt durch das Haupttor, über die Zugbrücke und dann die aufgeweichte Landstraße entlang. Unser nächstes Ziel war Bedford, eine kleine Stadt mit einer anständigen Herberge und einer gelangweilten Bevölkerung. Unsere Aussichten erschienen uns rosig.
Wenn ich mir eingebildet hatte, wir würden geradewegs nach London gehen, um dort unser Glück zu machen, so wurde ich schon bald eines Besseren belehrt, denn wir machten außerordentlich viele Umwege, zogen zunächst durch die Midlands und dann nach Süden. Städte, Abteien und Burgen, alle öffneten uns ihre Tore. Besonders willkommen waren wir an Festtagen, denn wie hoch und heilig sie auch immer sein mögen, die Menschen wollen nun einmal ihren Spaß haben. An jedem Ort begannen wir auf die gleiche Weise: die Trommel lockte die Leute an, das Jonglieren hielt sie bei der Stange, und dann fingen wir mit den komischen Sachen an – Witze und Geschichten, welche wir an den spannendsten Stellen unterbrachen, um kleine Münzen einzusammeln, darunter leider viele, die arg mitgenommen waren. Die Hunde sprangen durch Reifen, gingen auf den Hinterpfoten und erbettelten Geld, wobei sie sich hinterher immer verbeugten. Handelte es sich um eine Schenke, dann war danach Peter an der Reihe mit Weissagen. Er verdiente besser als Mutter Hilde, und die verdiente besser als ich, denn mir dämmerte schon bald, daß ich nicht zur Marktfrau taugte und keinen Penny einnehmen würde.
Bruder Sebastian baute seinen Stand gesondert von uns auf, weil er seiner Arbeit einen heiligen Anstrich geben mußte und sich allerhand Entschuldigungen hätte einfallen lassen müssen, warum er in unserer Gesellschaft reiste. Seine Geschäfte liefen in der Fastenzeit, vor Ostern besonders gut. Auf der Landstraße war jetzt viel Betrieb, denn so mancher wird zur Strafe für seine Sünden auf eine Pilgerreise geschickt. So ist die Heimat solche Menschen zwar ein Weilchen los, doch das Reisen gewinnt dadurch nicht gerade. Einmal begegneten wir einem Mann im Unterhemd, der ein großes Kreuz schleppte. Er war dabei, das Land für immer zu verlassen, denn er hatte im Streit um eine Frau einen Mann erschlagen. Als seine Freistatt in der Pfarrkirche abgelaufen war, hatte er ziehen müssen. Er schien sich nach munterer Gesellschaft zu sehnen, und als er die Stadt weit genug hinter sich gelassen hatte, warf er das Kreuz in den Graben und schloß sich den dortigen Geächteten an.
Die Lustpilger, wie ich sie einmal nennen möchte, warten besseres Wetter ab, ehe sie sich auf die Wanderschaft begeben. Jetzt blühen die Geschäfte der fahrenden Sänger, denn derlei Pilgergruppen haben auf Reisen gern Unterhaltung und bezahlen auch dafür. Wenn das Wetter gut ist, kann man außerdem noch das Lager unter freiem Himmel aufschlagen und sich das bezahlte Nachtlager in der Herberge sparen. Legt man die Route richtig, so kann man auf der ganzen Reise Geld verdienen, indem man von Sommermarkt zu Sommermarkt zieht. Aber Master Robert klagte, daß man sich jetzt schwerer täte als vor der Pest, da so viele Dörfer entlang unseres Weges halb oder ganz entvölkert waren. Etliche, einst bewohnte Ortschaften, waren erneut zur Wildnis geworden. Wölfe wagten sich wieder an die Städte in der Nähe von Wäldern heran, da hieß es, sehr vorsichtig sein. Und manch eine Menschenseele, von der sich meine Freunde gastliche Aufnahme und ein gutes Mahl erhofft hatten, war gestorben.
»Aber«, so sagte Bruder Sebastian, als wir an einem sternklaren Abend um das offene Feuer herumsaßen, »denkt immer daran, daß die Kehrseite der Katastrophe die Gunst der Stunde ist. Betrachtet es einmal unter diesem Gesichtspunkt: Wenn eine Stadt abbrennt, muß man Leute dafür bezahlen, daß sie dieselbe wieder aufbauen; ist das Wasser vergiftet, ist gutes Geld mit dem Verkauf von Wein zu verdienen; und wenn die Pest zuschlägt, ist man eher geneigt, Arzneien zu kaufen, ebenso wie Rückversicherungen für die Seele.« (Und hier klopfte er auf seine Tasche.) »Wer dieses Prinzip durchschaut, grämt sich nie, sondern macht gute Geschäfte. Das ist der Lauf der Welt. Alles im Leben hat seine zwei Seiten, auch die Katastrophe.«
»Ach, Bruder Sebastian, es ist doch immer ein Genuß, der feinsinnigen Unterhaltung eines Philosophen zu lauschen«, seufzte Mutter Hilde entzückt.
»Philosoph? Ich kenne da einen guten über einen Philosophen«, sagte Tom le Pyper, der Knochige. Wenn der Kleine William sich ein Kopftuch umband und die Frau in ›Der habgierige Prälat‹ spielte, dann war Tom der gehörnte Ehemann und Robert der gerissene Priester. »Es gab da einmal einen alten, häßlichen Philosophen, der dem Teufel seine Seele für Jugend und gutes Aussehen verkaufte, denn er wollte ein hübsches, kleines Mägdelein verführen, welches nebenan wohnte, und der –«
»Halt! Den haben wir alle schon gehört, und er geht böse aus –« wehrte Bruder Sebastian ab.
»Nur für den Philosophen«, grinste Tom.
»Schlimm genug, wenn du mich fragst«, gab Bruder Sebastian leichthin zurück. »Ich erzähle euch lieber von einem fahrenden Sänger, der starb und geradewegs zur Hölle fuhr, wie es das Los all dieser Burschen ist. Er war ein so gemeiner Kerl, daß der Teufel ihm anläßlich einer Geschäftsreise zur Erde die Aufsicht über das Höllentor anvertraute. Was soll ich sagen, ihr kennt ja fahrende Sänger – lange hält die nichts bei der Stange. Als also der Heilige Petrus zu einem anständigen Würfelspiel auf Besuch kam, da zögerte der fahrende Sänger keinen Augenblick. Zuerst setzte er seine Laute und verlor sie. Dann setzte er seine Unterhose, ›denn hier ist es ohne sie eh warm genug‹ sagte er – und der Heilige Petrus gewann auch die. Da er nun nichts mehr zu setzen hatte und auch nicht aufhören konnte (zugegebenermaßen eine weitere Eigenart der fahrenden Sänger), setzte er ein paar Seelen hinter dem Höllentor. Geschickt, wie fahrende Sänger nun mal sind, verlor er. Sie spielten den ganzen Nachmittag, bis die Hölle halbleer war. Als der Teufel zurückkam und sah, was geschehen war, da stampfte wütend er mit dem Pferdefuß auf. ›Hier kommt mir nie wieder ein fahrender Sänger rein!‹ schwor er, und so ist das bis auf den heutigen Tag. Fahrende Sänger sind weder hier noch da willkommen.« Wir mußten herzlich lachen.
»Ho, Bruder Sebastian, falls du mal fahrender Sänger werden möchtest, dann gib uns Bescheid, denn du bist ein begabter Geschichtenerzähler«, lachte Master Robert.
»Wenn ich auf Zehenspitzen balancieren und dazu den Dudelsack blasen kann, ist es eine Überlegung wert«, sagte Bruder Sebastian und tat so als hohnlachte er. Das Bild von Bruder Sebastian mit seiner rundlichen Gestalt, der balancierte wie ein Akrobat, brachte alle schon wieder zum Lachen.
In Abingdon, wo wir haltmachten, hatten wir einen sehr guten Tag, doch am zweiten hatte sich Master Robert die Stadt gut angesehen und änderte ›Der habgierige Prälat‹ ab. Er übernahm die Rolle des gehörnten Ehemannes und spielte ihn genau so gespreizt, wie sich der Bürgermeister dieser Stadt gebarte. Alle Anwesenden bogen sich vor Lachen, und wir sammelten weit mehr Geld ein als sonst. Der nächste Morgen brach hell und klar an, und wir zogen fröhlich zum Stadttor hinaus; wir lachten, als Master Robert eine erstaunliche Klatschgeschichte über die Bürgermeistersfrau zum Besten gab, die er in der Schenke aufgeschnappt hatte. Doch wer zuviel lacht, paßt nicht auf; zu spät hörten wir das wilde Hufgeklapper, das uns auf der Straße nachsetzte. Ehe wir wußten, wie uns geschah, waren wir von einem Trupp Berittener umringt, und als wir mit großen Augen dastanden und uns fragten, was das zu bedeuten haben mochte, zeigte der Anführer wortlos mit der Pferdepeitsche auf Maistre Robert und winkte seinen Henkersknechten. Während die anderen uns mit der Schwertspitze in Schach hielten, stiegen zwei von ihnen ab und ergriffen Master Robert bei den Armen. Dann stieg auch der Anführer ab und schlenderte zu Master Robert hinüber, und auf einmal war mir entsetzlich klar, was geschehen würde, und ich wandte das Gesicht ab, während ich stumm vor Schreck betete, daß sie seine Augen verschonten. Ich verbarg zwar das Gesicht in den Händen, aber den dumpfen, monotonen Laut der Pferdepeitsche und die furchtbaren Schreie meines einst so fröhlichen Freundes konnte ich nicht aussperren. Als die Peitsche aufhörte, sah ich, wie er sich im Staub wand, sein auffälliger, farbenprächtiger Mantel war zerfetzt und er selber darinnen auch. Der Anführer versetzte ihm einen Tritt, der ihn auf den Rücken warf, überprüfte das Werk seiner Hände mit einem befriedigten Lächeln, und der Trupp saß auf und ritt davon wie der Wind. Blut stürzte Robert aus der Nase und lief aus Kopfwunden, ein Auge war zugeschwollen, doch das andere bekam er auf und blickte damit seine Freunde, die ihn umringten, jämmerlich an. Sie wollten ihn aufheben, doch er wehrte ab, bewegte die blutenden Lippen und sagte:
»Nicht anfassen. Es tut alles so weh. Laßt mich hier sterben. Spielmannslos: man verreckt im Straßengraben.«
Hilde und ich knieten uns neben ihn hin. Er blickte mich an und sagte gebrochen:
»Sieh mich nicht so an, Margaret. Ich möchte nicht, daß du mich so – gänzlich zerschlagen – in Erinnerung behältst. Wenn ich tot bin, erinnere dich an einen lachenden Robert.«
»Aber Ihr sterbt doch nicht, Master Robert. Ihr blutet nur sehr stark, und Ihr habt Wunden am Kopf. Aber von Tod ist nichts um Euch.«
»Woher willst du das wissen?« sagte der Kleine William.
»Ich spüre nichts Schwarzes, Saugendes rings um ihn. Daher.«
»Wir können ihn doch nicht aufheben, und er kann nicht laufen, und im Krug von Abingdon heißt man uns gewiß nicht willkommen, wenn wir zurückkehren, welchen Unterschied macht es also? Die Wunden da werden eitern, und daran stirbt er uns hier draußen. Das ist der Nachteil des freien Lebens, Margaret. Man kann nicht nach Haus, wenn man krank wird.«
»Laßt Margaret helfen«, schlug Mutter Hilde vor, »sie versteht sich auf derlei.«
»Margaret? Nützlich? Erstaunlich!« sagte Bruder Sebastian.
»Holt mir Wasser, denn zunächst müssen wir ihn ganz säubern«, sagte ich. Sanft wusch ich ihm das Blut und den Dreck ab, wobei mich manches schaudern ließ, dann legte ich ihm der Reihe nach die Hände auf die Wunden. Ich schloß die Augen und versetzte meinen Geist in jene besondere Verfassung, welche alles und nichts zugleich ist, bis ich spürte, wie mir die Wärme in die Hände stieg und sich mein Rückgrat von oben bis unten wie ein heißer, stählerner Stab anfühlte. Zuerst den Schädel mit dem kurzgeschnittenen Haar, dann das blaue Auge, den zerschmetterten Kiefer, den zerschlagenen Leib…
»Was zum Teufel tust du da, Margaret?« wollte Master Robert wissen. »Die Stellen, wo du die Hände aufgelegt hast, tun nicht mehr so weh.«
»Sch! Sch! Laßt sie zu Ende machen«, flüsterte Mutter Hilde.
»Seht euch das an, er blutet nicht mehr. Die Wunde da sieht aus, als wäre sie schon fast verheilt«, sagte der Kleine William. Geschafft. Eine furchtbare Mattigkeit überkam mich, so als wäre meine Kraft auf Master Robert übergegangen.
Der setzte sich auf und betastete sich behutsam. Er war noch nicht wieder ganz der Alte, doch die frischen Beulen sahen so grün aus, als wären sie schon eine Woche alt, und auch die anderen Wunden wirkten, als ob er schon viele Tage zur Genesung das Bett gehütet hätte.
»Es steht wohl nicht zu hoffen, daß du dich auf Mäntel ebenso gut verstehst, wie?« fragte er erwartungsvoll, rieb sich das Kinn und betrachtete gleichzeitig voller Bedauern seinen zerfetzten Ärmel.
»Nein«, erwiderte ich. »Bei Mänteln hilft es nicht. Bei Menschen aber auch nicht immer.«
»Du siehst ja ganz blaß aus, Margaret. Was hast du eigentlich mit mir angestellt?«
»Das weiß ich nicht so recht. Das hat vor einer Weile einfach so angefangen. Es kommt von irgendwoher, geht durch mich hindurch und hilft den Menschen, sich selbst zu heilen.«
»Ei, unsere Margaret eine Gesundbeterin! Wer hätte das gedacht?« freute sich Bruder Sebastian. »Denk nur, Margaret, du wirst reich! In der nächsten Stadt schlagen wir die Trommel, und dann kannst du Leute heilen. Krüppel werden aufschreien und ihre Krücken fortwerfen! Kleine, hübsche, blinde Mädchen, das Kleinod ihrer Eltern, werden rufen ›Ich kann sehen! Ich kann sehen!‹ Alles weint und schreit, und wir sammeln Geld, Geld, Geld ein!«
»Das läuft nicht, Bruder Sebastian; das läuft ganz und gar nicht.« Ich war furchtbar erschöpft.
»Lieber Sebastian, sie kann das so nicht machen – je schlimmer nämlich die Verletzung ist, desto mehr Kräfte raubt sie ihr. Ein, zwei Tage Gesundbeten würden sie umbringen. Außerdem habe ich noch nie gesehen, daß sie derlei öffentlich gemacht hätte. Es könnte sich verflüchtigen, wenn sie damit auftritt.«
»Und damit auch unser erstes Vermögen«, seufzte Bruder Sebastian wehmütig. »Hätte ich mir ja denken können; es war zu schön, um wahr zu sein.«
»Und wen tragen wir nun?« unterbrach ihn Tom. »Robert oder Margaret?«
»Keinen von uns«, sagten wir beide einstimmig.
Maistre Robert stand auf und klopfte sich äußerst würdevoll den Dreck ab, hob seinen kurzen Mantel auf und warf ihn sich schwungvoll um. Dann verneigte er sich und deutete zum Sattelknopf von Mollys Packsattel. »Après vous, Madame«, sagte er. Ich legte ihr die Hand auf den Rist und stützte mich auf sie. Er ging auf der anderen Seite und lehnte sich auf das Gepäck, denn er humpelte immer noch. Als wir uns zusammen in Bewegung setzten, konnten wir hören, wie Bruder Sebastian immer noch vor sich hinbrummelte:
»Und ich sage es noch mal, wir verpassen eine großartige Gelegenheit. Einen Trompeter hätten wir anstellen und eine große Fahne anfertigen lassen können. Ei, was hätten wir nicht alles tun können – Könige, Fürsten, Orte im Ausland… Ganz zu schweigen davon, welchen Aufschwung mein Handel mit Reliquien genommen hätte…«
Wir kamen nur langsam voran. Das nächste Dorf lag verlassen, und nach langer Zeit erst fanden wir einen Gasthof und etwas zu essen. Danach ging es weiter, bis wir in die Nähe des Rockingham-Waldes kamen. Alle waren der Meinung, das Lager lieber in gebührender Entfernung vom Wald aufzuschlagen, als zu riskieren, die Nacht dicht davor oder darin zu verbringen – ein gewagtes Unterfangen zu wilden Zeitläuften mit Wegelagerern und entlaufenen Leibeigenen.
»Die Bänkelsängerei ist auch nicht mehr das, was sie einmal war«, knurrte Master Robert an jenem Abend am Feuer. »All die vielen Toten sind schlecht fürs Geschäft. Es gibt doch nur noch Sauertöpfe, religiöse Fanatiker, Bürgermeister, die keinen Spaß vertragen – England ist einfach nicht mehr wie früher. Es ist nicht mehr fröhlich. Ihr könnt mir glauben, die alten Zeiten waren besser.«
»Die alten Zeiten sind immer besser«, gab Bruder Sebastian zurück. »Und je älter sie werden, desto besser werden sie. Das kommt daher, daß man sich nicht mehr so gut daran erinnert. Doch wenn man erst dahinterkommt, daß die Kehrseite der Katastrophe die Gunst der Stunde ist, etwas, worauf ich früher schon hingewiesen habe, dann erkennt man, daß die Zukunft mehr zu bieten hat als die Vergangenheit. Heutzutage hat man schier unbegrenzte Möglichkeiten, gemessen an der Katastrophe, die uns bereits ereilt hat.«
»Bruder Sebastian, nehmt es mir bitte nicht übel, aber Ihr seid komplett verrückt. Je weiter wir in die Zukunft reisen, desto mehr nähern wir uns doch dem Ende der Welt. Ich für meinen Teil bin nicht erpicht darauf, vor dem Jüngsten Gericht zu stehen. Ich befürchte, ich schneide dabei noch schlechter ab als bei den Henkersknechten des Bürgermeisters«, erwiderte Master Robert.
»Ach was«, sagte ich. »Wie wollt Ihr das wohl beweisen?«
»Margaret, du bist ein liebes, kleines Dummerchen vom Lande, sonst würdest du das nicht sagen. Ich verdiene mir den Lebensunterhalt mit Lügen und Unzucht. Selbst die Kirche sagt, daß ich der ewigen Verdammnis anheimfalle.«
»Kann sein, ich bin dumm, Master Robert, aber mir scheint, daß auf Eurer Liste noch Mord fehlt. Damit steht Ihr weitaus besser da, als die meisten dieser Tage. Und wer weiß, vielleicht rechnet Gott Euch auch an, daß Ihr viele Leute zum Lachen gebracht habt.«
»Margaret«, antwortete er, und ein Abglanz seines früheren Lächelns huschte über sein Gesicht, »du nimmst alles viel zu ernst. Das tut nicht gut. Damit handelst du dir noch lange vor dem Jüngsten Gericht Ärger ein.«
»Ja, wirklich, Margaret«, vermahnte mich Bruder Sebastian. »Das tut ganz entschieden nicht gut. Es führt dazu, daß du dein Herz an Dinge hängst, die du zu gern haben möchtest. Und Festhalten bedeutet Ärger. Du kennst ja meinen Spruch: ›Leichter Fuß und leichter Sinn‹. Halte nie zu sehr fest und dich nie zu lange auf. Sonst gerätst du noch schlimm in die Tinte.« Und er tat so, als wollte er mir mit dem Finger drohen.
Und ob wir in die Tinte gerieten! Vielleicht kann man zuweilen gar nicht leichtfüßig genug sein. Jedenfalls hatten wir uns an jenem Abend kaum in unsere Decken eingewickelt, als wir auch schon rüde hochgeschreckt wurden; man fragte nach unseren Wertsachen. Wir setzten uns alle auf und sahen im hellen Mondenschein, daß wir von einen Dutzend übel aussehender, mit Langbögen bewaffneter Männer umringt waren. Master Robert, einer der kaltblütigsten Menschen, den ich meiner Lebtage gesehen habe, befreite sich aus seiner Decke und verneigte sich, wie um seine Spielleute einzuführen.
»Erlaubt, daß ich mich vorstelle. Ich bin Maistre Robert le Tambourer, und diese guten Leutchen da sind meine Spielleute. Viel Lieder und ein frohgemutes Herz könnt Ihr bei uns erwarten, doch leider keine weltlichen Güter.« Er machte eine umfassende Handbewegung. Sein Mantel hing ihm in Fetzen von den Schultern; wir hatten alle in den Kleidern geschlafen.
»Mein Gott. Blöde fahrende Sänger. Ein zerlumpteres Pack ist mir kaum untergekommen«, sagte einer, welcher der Anführer der Bande zu sein schien.
»Schneiden wir ihnen einfach die Kehle durch. Lösegeld schlägt man aus denen nicht heraus«, schlug ein anderer vor.
»Einen Augenblick – sie haben ein Mädchen dabei. Die will ich zuerst haben. Danach können wir ihnen die Kehle durchschneiden«, knurrte ein dritter.
»Wie kommst du darauf, daß du sie zuerst kriegst? Ich will sie zuerst.«
»Ihr kennt alle die Spielregel«, sagte der Anführer. »Zuerst ist der Hauptmann an der Reihe. Kein Gegrapsche also. Ihr kriegt sie schon noch früh genug. Schneidet den anderen einfach die Kehle durch.«
»Meine lieben Herren«, kam ihnen Master Robert dazwischen. »Ihr verpaßt eine einmalige Gelegenheit. Bedenkt, daß ich einst erster Spielmann beim König von Navarra persönlich war und nur wegen eines peinlichen Vorfalls meinen Abschied nehmen mußte, doch davon ein andermal. Wir haben Könige unterhalten, gewiß könnten wir auch dem König der Banditen königliche Kurzweil bieten.«
»Du machst mir eher den Eindruck, als könntest du nicht einmal einen Floh unterhalten, Master Schäbig.« Die anderen Räuber lachten leise und beifällig zu den Witzeleien ihres Anführers.
»Dann habt Ihr offenbar noch nie die Geschichte von dem Wandermönch und der Müllersfrau gehört.« Der Kleine William kam auf die Füße, wickelte sich die Decke wie ein Kleid um und nahm eine übertrieben weibliche Pose ein.
»O, wirklich, Hochwürden, ich trau mich nicht«, piepste er im hohen Falsett.
Master Robert setzte mechanisch mit dem geilen Mönch ein. Nie wieder habe ich ihn den besser spielen sehen. Der Lange Tom sprang auf und jagte als gehörnter Ehemann hinter ihm her. Es war so richtig schön unflätig. Die Wegelagerer mußten unwillkürlich lächeln. Dann prusteten sie vor Lachen.
»Seht Ihr?« keuchte Master Robert, während der rachsüchtige Eheherr ihn zu Boden drückte. »Wie dürftet Ihr Euren Hauptmann um solch einen Spaß bringen? Ei, erst kommt doch wohl die Kurzweil, denn mit durchschnittener Kehle singt es sich schlecht.«
»Hmm. Wohl wahr. Und mehr schlägt man ohnedies nicht aus euch heraus. Wir feiern im Lager.« Und auf ging es, alle miteinander; wir waren sehr niedergeschlagen, aber wir vertrauten auf unser Glück und Master Roberts Witz, vielleicht wandte sich ja doch noch alles zum Guten.
Warum bleiben Räuber nur immer so lange auf? Man sollte meinen, sie würden gern frühmorgens zur Arbeit gehen wie andere Leute, um mehr Geld zu verdienen. Aber nein, immer schlafen sie lange und bleiben nachts auf, zechen und erzählen Lügenmärchen. So wenigstens war das bei allen Räubern, die ich kennengelernt habe. Und darum schlief denn auch der Räuberhauptmann natürlich noch nicht. Er saß auf dem Ehrenplatz unter den Räubern, die sich um ein loderndes Feuer scharten, zechten und Lügenmärchen erzählten.
»Was ist denn das, eine neue Kurzweil?« rief ihnen der Hauptmann entgegen. »Frauen«, schrie der Mann, der unsere Gruppe anführte. »Und ein paar Spielleute, die allerlei schmutzige Witze auf Lager haben.«
»Auf dann, auf zur Kurzweil. Ich will die Hübsche da zuerst«, rief er.
»Das dachten wir uns schon, darum haben wir sie aufgespart. Aber danach wollen wir sie.«
Der Räuberhauptmann war groß und blond. Er hatte einen rötlichen Rauschebart und Hände wie Schaufeln. Eine Narbe zog sich im Zickzack über sein Gesicht, quer über den Nasenrücken und entstellte eine Wange. Er trat in den Feuerschein und ergriff mit der Hand mein Kinn, um mein Gesicht zu mustern. Ich schnappte nach Luft. Selbst mit der Narbe wußte ich, wer er war.
»Bruder Will!«
»Margaret? Wieso zum Teufel lebst du noch?«
»Das gleiche könnte ich dich fragen. Wieso bist du nicht mehr beim Heer?«
»Also, Jungs, hat sich was mit Kurzweil – das ist meine lang verlorene Schwester.« Man konnte die Männer knurren hören. »Und morgen lade ich euch alle zur Dicken Martha ein.«
Noch mehr Geknurre.
»Aber Bruder…«
»Kein aber jetzt, Schwester – Erklärung später. Siehst du denn nicht, daß ich mit diesem Haufen alle Hände voll zu tun hab'? Räuberhauptmann ist nämlich keine Sinekure.«
»Und wir«, eilte Master Robert ihm gewandt zu Hilfe, »wir spielen jetzt die Geschichte von dem Wandermönch und der Händlerstochter. Gebt mir bitte die Trommel, ja? Sie befindet sich ganz oben auf dem Esel dort drüben.« Und als die Trommel einsetzte, da wußten wir, daß wir den nächsten Morgen wahrscheinlich noch heil und ganz erleben würden.
Spät in der Nacht, als wir uns alle in Decken gewickelt um das Feuer der Räuber gelagert hatten, stupste mich Bruder Sebastian an.
»Margaret, schläfst du?« raunte er.
»Nein, Bruder Sebastian, ich betrachte die Sterne und überlege, wie lange ich die wohl noch sehen werde.«
»Das sind unnütze Überlegungen, Margaret. Entweder das eine oder das andere. Sag mir lieber: wie um Himmels willen bist du zu so einem Bruder gekommen?« Sein Geflüster war eine Mischung aus Neugier und Entsetzen.
»Er ist ein Stiefbruder. Wir sind nicht blutsverwandt.«
»Ach, daher also. Ihr seht euch auch nicht sehr ähnlich.«
Am nächsten Abend spielten und sangen die fahrenden Sänger wie vor einem hohen Herrn. Bruder Will hatte mich auf den Ehrenplatz neben sich gesetzt, und als die Musik und die Getränke alle heiter gestimmt hatten, beugte ich mich vor und fragte ihn:
»Bruder, hast du denn gar keine Angst vor dem Sheriff hier? Du scheinst kaum Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, ich fürchte für deinen Kopf.« Den warf er jetzt zurück und lachte schallend.
»Vor dem Sheriff? Vor dem? Ei, wir arbeiten doch für Sir Giles höchstpersönlich! Warum sollten wir uns da Sorgen machen?«
»Ihr arbeitet für ihn?«
»Natürlich, Schwester. Er kriegt Prozente. Davon kann er sein Herrenhaus laufend instandsetzen.« Und als Reaktion auf meine entgeisterte Miene setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß du das begreifst, Schwester, Du bist immer so weltfremd und tugendsam gewesen. Räuberei ist dieser Tage Mode. Die besten Leute halten sich Räuber. Ja, sogar Klöster wie Rufford und Kirkstall unterhalten eigene Banden. Heutzutage müssen viele Dächer instandgesetzt werden, Margaret, und gute Ziegel kommen teuer.« Dann lachte er wieder über meine Miene.
»Aber, Bruder, ich dachte, du wärst in Frankreich und ein Held. Wie bist du denn in dieses Gewerbe geraten?« fragte ich ihn.
»Ach, Margaret, ich war doch ein Held, denn der Krieg gefällt mir noch besser als Hundekämpfe. Man hat uns Bogenschützen in die Schlacht geworfen, und wir sind über die französischen Edlen hergefallen! Schossen die Pferde unter ihnen weg, wateten dann hinein und schnitten ihnen die Kehle durch, wo sie heruntergefallen waren. Du hast ja keine Ahnung, was für ein Spaß das ist, über so einem großen Herrn zu stehen, den seine schwere Rüstung in Matsch zieht, der auf dem Rücken liegt und um sein Leben fleht! Dann schiebt man einfach das Messer durch den Spalt in seiner Rüstung und schneidet ihm die Kehle durch. Wie sie kreischen! Und das Blut überall!« Bei dem Gedanken daran bekam er ganz verträumte Augen.
»Aber anscheinend hab ich ein paar Kehlen zuviel durchgeschnitten. ›Heda, Bogenschütze, aus dem Mann wollte ich Lösegeld schlagen! Hast du denn nicht gehört, wie er dir gesagt hat, daß er ein großer Mann ist?‹ sagt Mylord. ›Tut mir leid, Sir, ich kann nicht parlee wu; ich hab gedacht, ich soll sie alle umbringen.‹ So hab ich mir Ärger eingehandelt und es fast nicht mehr nach Haus geschafft. Bin mit Rob zurück – war das öde, öde. Keiner mehr zu Haus. Die Hälfte gestorben. Der Rest nach St. Matthew's gezogen. Vater tot, Mutter geht's gut. Rob bleibt also. Heiratet diese blöde Schlingpflanze Mary, die jetzt alles erbt, was ihre Familie hat – aber ich, ich hab's nicht ausgehalten. Fürwahr, das Dorfleben ist ein Gefängnis! Und hier bin ich nun, genau wie Robin Hood und seine fröhlichen Männer – nur daß wir auf der Seite des Sheriffs sind. Und jetzt sag mir, wieso du nicht tot bist, wo doch alle gesagt haben, daß du's bist.«
»Mein Mann hat mich während der Pest für tot liegengelassen, aber die Frau da, Mutter Hilde, hat mich gefunden und gerettet. Ich weiß immer noch nicht, warum ich noch am Leben bin, und so begleite ich sie und die anderen da, um in London mein Glück zu machen.«
»London, äh? Eine sehr schöne Stadt. Bin dagewesen. Nicht so schön wie Paris, aber sehr schön. Doch du mußt dich besser in acht nehmen. Die Straßen wimmeln von Räubern, und deine Reisegesellschaft ist klein. Ich sag dir was: bleibt ein Weilchen hier, bis wir alle schmutzigen Lieder gehört haben, die Master Robert auf Lager hat, und den nächsten fünf, sechs Leutchen, die wir ausrauben, schneiden wir zur Abwechslung mal nicht die Kehle durch. Wir geben sie euch einfach als Begleitschutz mit.«
Master Robert hatte alles mitangehört, machte einen tiefen Bückling und sagte zu Will:
»Hochverehrtester Herr Räuberhauptmann und Bruder von Margaret, wir sind der Meinung, wir sollten unsere Reise nach London einstweilig zugunsten des Marktes in Sturbridge aufschieben. Wir brauchen dringend Bargeld, ehe wir uns in einer so geldgierigen Stadt wie London niederlassen. Dorthin müßte man uns also begleiten.«
»Gut, wohin auch immer. Aber ich will euch auch richtig auf den Weg bringen. Es wird bloß länger dauern, bis ich Reisende gefunden habe, die in eure Richtung ziehen.«
Und so blieben wir denn bei den Räubern, und mir gefiel es eigentlich gar nicht so schlecht bei ihnen. Master Robert sang allerlei schmeichelhafte Lieder über große Räuber aus alten Zeiten und flocht Namen unserer Räuber in eine Neuauflage von ›Die Heldentaten Robin Hoods‹ ein. Das gefiel ihnen ebenso gut wie allen blutrünstigen großen Herren sonst. Doch anders als im Lied, gibt es in einem Lager voller Räuber viel zu tun, auch wenn sie nicht richtig Haushalt führen wie gewöhnliche Menschen. Sie hatten einen Koch, der immerzu die Viecher briet, die sie wilderten, hatten Warenlager und andere Dinge, um die man sich kümmern mußte. Und sie hatten weyves, weibliche Vogelfreie, die allerhand langweilige Hausarbeit verrichteten, während die Männer im Kehlendurchschneiden unterwegs waren; und diese Frauen fanden den grünen, grünen Wald gar nicht soviel besser als die Gerechtigkeit, vor der sie geflohen waren. Als Will ihnen mitteilte, daß ich ein gutes Ale brauen könnte, da war mir das nur recht, denn ihres war dünn und sauer. Es gibt eben Leute, die haben in dieser Hinsicht wenig Begabung. Des Abends legten die drei Gaukler ihre Masken an und spielten ›Reineke Fuchs‹; die Hunde führten Kunststücke vor, kurzum, es unterschied sich hier in nichts von den übrigen Burgen und Städten.
Fast vierzehn Tage vergingen, bis sie ein halbes Dutzend mißmutige Seelen, ihrer Pferde und ihres Gepäcks beraubt, als Begleitmannschaft zusammengestellt hatten. Will tat ihnen kund, warum er ihr Leben verschont hatte, ließ sie auf das Kreuz schwören und gab sie dann auf der Landstraße zusammen mit uns frei, wobei er uns ihre Waffen und etwas Bargeld zum neuerlichen Austeilen gab, während er und seine Männer im Wald verschwanden.
Natürlich sind Menschen für rein gar nichts dankbar. Kaum hatten sich die Räuber davongemacht, da ging auch schon das Gezänk los:
»Sage mir einer, wie soll ich dieses Kurzschwert befestigen, wo er mir doch meinen Gürtel genommen hat?«
»Euer ganzes Fett mitzuschleppen, scheint Euch nichts auszumachen; ich wüßte allein schon zwei unaussprechliche Stellen, wo Ihr das Schwert tragen könntet.«
»Wenigstens hat er Euch nicht den Umhang weggenommen. Aber natürlich, jetzt, wo ich ihn sehe, weiß ich auch warum – der Schnitt ist ja gänzlich bäurisch.«
»Ich und bäurisch? So wie Ihr den Bart gestutzt tragt, habe ich schon schmuckere Eremiten gesehen.«
Wir trotten schweigend dahin und lauschten den Beschwerden unserer neuen Reisegenossen, die nicht gut zu Fuß waren.
»Freunde«, sagte Maistre Robert fröhlich, »wir sollten uns lieber freuen, daß wir noch am Leben sind. So sagte auch der Hase nach einem Besuch im Fuchsbau. Aber da war auch mal eine alte Fuchsmutter…« Und so zogen wir frohgemut auf unser Ziel zu.
Bruder Gregory hielt inne und streckte sich. Nachdem er die letzten Seiten zum Trocknen ausgebreitet hatte, stand er auf und wollte gehen, doch sehr vorsichtig, denn Margarets alberner Hund war unter dem Tisch gefährlich nahe an seinen Füßen eingeschlafen. Eigentlich hatte er es eilig fortzukommen, doch das wollte er nicht zeigen. Er hatte noch etwas am anderen Ende der Stadt zu beschicken und sorgte sich, Margaret könnte ihn in eine nicht banale Unterhaltung verstricken und aufhalten. Margaret hatte beim Sprechen Garn aufgewickelt, und mit einem halbleeren Korb mit Docken auf der einen und einem vollen Garnknäuel auf der anderen Seite wirkte sie hier richtig zuhause. Zu Bruder Gregorys Erleichterung kam eine der Küchenmägde herein, die sich mit Margaret beraten wollte.
»Mistress Margaret, der Kesselflicker ist an der Hintertür und sagt, daß Ihr nach ihm geschickt habt, er soll die Töpfe heilmachen. Sollen wir ihn hereinlassen?«
»Welcher Kesselflicker denn – etwa Hudd der Kesselflicker? Dieser schreckliche, alte Schurke? Nach dem habe ich nun wirklich nicht geschickt. Der versucht doch nur, ins Haus zu kommen und uns Ärger zu machen…« Margaret entschuldigte sich hastig und verschwand, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, und Bruder Gregory schlenderte fröhlich auf der Thames Street in Richtung der Kathedrale davon.
Mittags lief immer eine kleine Menge um die Kathedrale zusammen, die sich dann nach dem letzten Glockenschlag auflöste. Denn die Uhr der Kathedrale, die man erst vor einem Jahrzehnt angebracht hatte, war eine Sehenswürdigkeit für die Besucher der City. Eine leuchtend bemalte Engelsfigur zeigte die Stunden an, und zu Mittag bewirkten Hebel und Gewichte, daß Männergestalten, ›Pauls Kerls‹ geheißen, mit Eisenhämmern zwölfmal die Stunde schlugen. Es war zum Staunen, und wenn es sich dabei nicht um eine Kirche gehandelt hätte, man hätte die Uhr für Ketzerei halten können, eine hoffartige Erfindung des Menschen, mit der man Gottes ureigensten Zeitmesser, die Sonne, ersetzen wollte.
Inmitten einer sich verlaufenden Menge von Landfrauen, niederen Rittern und Händlern aus der Provinz konnte man eine hochgewachsene Gestalt in lebhafter Diskussion mit einer Gruppe von Schreibern erblicken. Eine gedrungenere Gestalt fuchtelte mit den Armen und rief:
»Wie könnt Ihr nur einen Mann wie William von Ockham preisen? Er ist ein Nominalist, wohingegen die Realität der Dinge, so wie sie von Gott erschaffen wurde…« Das klang nach einem interessanten Disput und lockte einen deutschen Pilger in muschelbesetztem Umhang an, der sich in barbarisch betontem Latein in die Auseinandersetzung einmischte. Zwei graue Mönche, die keinem stürmisch klingenden Disput widerstehen konnten, wurden ebenso in das Knäuel schnatternder Stimmen hineingezogen. Bruder Gregory lief an diesem Nachmittag zu voller Größe auf. Nachdem er die grauen Mönche mit einem ungemein passenden Bibelzitat abgeschmettert hatte, wollte er sich mit dem Deutschen auf ein aristotelisches Streitgespräch einlassen, doch der gab es ihm Schlag um Schlag zurück. Beim Streiten geriet die kleine Gruppe zwangsläufig in Richtung des nördlichen Querschiffs der Kathedrale.
Und hier, am Portal dieses Querschiffs, stießen sie auf eine Gruppe, die noch lauter schnatterte als ihre. Ein paar ältere Chorknaben, ein Hilfsdiakon und ein paar Priester der Votivkapellen betrachteten ein Stück Papier, das man inmitten von Ankündigungen leerer Pfründe am Portal angebracht hatte. Man konnte hören, wie sich die Stimmen immer mehr ereiferten.
»›Quis enim non vicas abundat tristibus obscaenis?‹ Ha! Das ist sehr gut. Erinnert mich an Juvenal.«
»Glaubt ihr wirklich, die haben das alles getan?«
»Die Stelle über Simonie ist noch untertrieben, wenn überhaupt, und das ist Beweis für den Rest.« Die Gruppe der Schreiber gesellte sich zur Gruppe vor der Tür, um den Gegenstand des Interesses in Augenschein zu nehmen. Es handelte sich um eine Reihe witziger, satirischer Verse in Latein, in welchen etliche wirklich staunenswerte Sünden von gewissen Chorherren und Priestern der Kathedrale aufgelistet waren. Merkwürdig an diesem kunstsinnigen Machwerk berührten nur die großen, zittrigen Buchstaben, in denen es geschrieben war. Jetzt entbrannte der Disput noch hitziger: es ging nun um die genauen Abschattierungen der Sünde, welche der jeweiligen Spielart von Unzucht zuzuordnen war. Just als eine äußerst interessante Bemerkung über eine Art Sünde gemacht wurde, welche eher in Klöstern als in Kathedralen anzutreffen ist, rauschten hinter der Gruppe unwirsch Gewänder, und die Hand eines wütenden, rotgesichtigen Priesters riß die anstößigen Verse von der Tür.
»Weg da, alle miteinander, auf der Stelle!« schrie er und zerriß dabei das Papier in tausend Schnipsel. Die Chorknaben spritzten auseinander. Doch zu spät. Schon hatte jemand die Verse heimlich auf ein Wachstäfelchen kopiert und sie wohlbehalten im bauschigen Ärmel einer Hilfsdiakonsrobe verborgen. Und bereits am Abend wurden sie zu einer skandalös weltlichen Melodie in allen Klerikerschwemmen Londons gesungen. Und dank einer Universalsprache sollten sie innerhalb weniger Wochen durch halb Europa gehen. Als man sich von der Tür verzog, lag auf Bruder Gregorys Gesicht ein entrückter Ausdruck.
»Wer das auch immer war, seinen Juvenal kennt er«, bemerkte Robert der Schreiber, jener, welcher sich für den Realismus und gegen den Nominalismus stark gemacht hatte.
»Damit kommt die Hälfte aller Schreiber Londons in Frage«, antwortete Simon der Kopist.
»Eine häßliche Handschrift hat der Kerl«, bemerkte Bruder Gregory ruhig.
»Aber ausgezeichnetes Latein, und darin liegt das Paradoxon«, stellte der Deutsche fest.
»Das Paradoxon läßt sich lösen, wenn man davon ausgeht, daß es jemand mit ausgezeichneten Lateinkenntnissen ist, der Juvenal gut kennt und absichtlich in großen, zittrigen Buchstaben geschrieben hat«, bemerkte Robert der Schreiber und warf dabei Bruder Gregory einen Blick zu.
»Damit kommt immer noch die Hälfte aller Schreiber Londons in Frage«, erwiderte Simon.
»Doch gerade die Machart der Verse beweist mir eines«, sagte der Deutsche.
»Und was genau wäre das?« fragte Bruder Gregory und wölbte eine Augenbraue.
»Daß die Engländer eine ungestüme Rasse sind und nicht das Zeug zu höherer spiritueller Disziplin haben«, antwortete der Deutsche und verdrehte die Augen gen Himmel, als wollte er seine persönliche, überlegene Eignung zu diesen Dingen zur Schau stellen. Mit dem seidigen, hellblonden Haar, das ihm um die kleine, runde Mönchstonsur wuchs, und der ausnehmenden Blässe seiner Haut hatte der Deutsche sich jene Art von milchigem, durchscheinenden Aussehen zugelegt, das für äußerste Spiritualität zu zeugen schien. An der gedämpften, einstudiert verzückten Stimme war deutlich zu erkennen, daß es sich um einen Sucher handelte, einen wahren Sucher. Bruder Gregory beneidete ihn um seine Blässe und überlegte, ob er es zustandebrächte, es ihm im Aussehen gleichzutun. Schwieriger war da die Stimme, doch vielleicht ergab sich die nach einer wirklich überragenden Vision ganz von selbst.
»Habt Ihr Visionen gehabt?«
»Entrückende. Äußerst ekstatische Visionen, welche über mich kommen, wenn ich ganze Nächte hindurch an heiligen Stätten bete, treiben mich weiter, von Schrein zu Schrein. So ist mir beispielsweise in Compostela der Heilige Santiago persönlich erschienen; er trug ein schönes, grünes, juwelenbesetztes Samtgewand und war umflossen von ewigem Licht und Engelsgesang. Die vier Evangelisten habe ich auch gesehen, sie wurden von einer Engelschar auf vier ganz gleichen goldenen Sänften getragen und jeder hielt in der Hand ein Buch des Evangeliums in Flammenschrift.« Als er sah, daß die Gruppe aufmerkte, fuhr der Deutsche fort:
»Nachdem ich der Milch der Jungfrau Maria, dem Blut des Heiligen Paulus und dem Haar von Maria Magdalena und dem Messer unseres Heilands in der Kathedrale hier meine Ehrerbietung erwiesen habe, gehe ich nun unbeschreiblichen Offenbarungen entgegen, wenn ich meine Pilgerfahrt beim Schrein des Heiligen Thomas in Canterbury beende. Lediglich meine heilige Armut hat mich aufgehalten, und mit einer kleinen zusätzlichen finanziellen Unterstützung könnte ich aufbrechen…«
Die Schreiber blickten einander an. Dann blickten sie zum Kirchenportal. Gerade war ein Ritter herausgekommen, doch der wirkte nicht vielversprechend. Dann war eine ältere Dame in Gesellschaft ihrer Tochter und Dienerinnen zu sehen, welche sich beim Verlassen der Kathedrale die Augen mit dem Ärmel betupfte. Die Schreiber traten beiseite, damit der Deutsche besser zur Geltung käme. Der lehnte sich auf seinen Pilgerstab und streckte ihr die Hand hin, als sie vorbeiging.
»Bete für mich, Pilger«, sagte sie mit einem bekümmerten Blick auf sein Gesicht und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, ehe sie weiterging. Der Deutsche prüfte ihre Echtheit, dann tat er sie in seine Börse, wo sie sich mit einem satten ›klick‹ zu den schon vorhandenen gesellten.
»Wie schon gesagt, wenn ich am Schrein des Heiligen Thomas bete…«
»Dann habt Ihr das Mysterium aller Mysterien bislang noch nicht gesehen?« erkundigte sich Bruder Gregory.
»Ach«, sagte der Pilger, »dazu reicht wohl auch ein ganzes Leben der Suche dieses niederen Erdenwurmes nicht aus, der weniger ist als Staub. Doch jene allerletzte Vision, die Vision, auf die ich mich zurüste, erwartet mich zweifellos am Ende eines Erdenwandels in Kasteiung und Selbstverleugnung. Ich spürte Gottes Schatten – wahrlich, ich spürte ihn über mir, und Er wird diesem demütigsten seiner niederen Diener nicht auf ewig das blendende und herrliche Licht Seiner Gegenwart vorenthalten.«
»Mir ist offenbart worden, daß wir noch nicht gegessen haben«, sagte Robert und klopfte sich auf den Bauch. Bruder Gregory schnitt ein Gesicht und grinste. Alle außer dem Pilger sahen in ihren Börsen nach, ob sie gemeinsam genug Geld zusammenbrachten.
»Schreiberkost heute«, verkündete Simon, »das heißt, auf zu Mutter Martha.« Und gemeinsam ging man die Paternoster Row entlang zu der Garküche, wo man mit einem beträchtlichen Preisnachlaß altbackene Fleischkuchen kaufen konnte. Doch erst als es ans Bezahlen ging, bemerkte man, daß sich der Pilger aus dem Staub gemacht hatte.
Bruder Gregory war ein wenig hohläugig, als er sich beim nächsten Mal bei Margaret ans Schreiben machte. Zwei Tage zuvor, kurz nachdem er die Eitelkeiten anderer so fein säuberlich mit seiner bissigen Feder aufgespießt hatte, war er auf einmal von Reue über seine eigene, daraus resultierende Eitelkeit übermannt worden. Denn als der dritte oder vierte ihm schadenfroh die anonymen Verse vom Portal der Kathedrale zitierte, da hatte er so ein Gefühl, als ob seine schwer erworbene Demut dahinzuschwinden begänne. Außerdem ging es um die Frage, ob man mit Beten die ganze Nacht hindurch, wofür sich der deutsche Pilger so überaus stark gemacht hatte, wirklich soviel erreichen konnte. Und so hatte er sich an jenem Abend wortlos von seinen Freunden getrennt und war hingegangen und hatte die ganze Nacht vor dem Schrein des Heiligen Mellitus gewacht. Doch sehr spät nachts, kurz vor Vigil und just nachdem zwei andere Pilger vor dem Schrein darauf gekommen waren, wie es sich auf Knien in aufrechter Haltung schlafen ließ, da hatte Bruder Gregory im dunklen Schatten über einer einzigen, flackernden Kerze eine unerwartete und außerordentlich unangenehme Erscheinung gehabt. Es war das Gesicht seines Vaters, ganz von dem wirren, weißen Bart umgeben und mit der wohlbekannten Zornesmiene, die er für gewöhnlich bei Bruder Gregorys Anblick aufsetzte. Bruder Gregory hatte beinahe eine Stunde gebraucht, bis er wieder zu einer gebührenden meditativen Verfassung zurückgefunden hatte, ganz zu schweigen von vielen bitterlichen Beschwerden, daß sein Vater wieder einmal seinen Aufenthaltsort herausgefunden hatte.
»Ihr seid doch nicht etwa hungrig, oder?« unterbrach ihn Margarets besorgte Stimme beim Schreiben. Bruder Gregorys Blässe und die dunklen Ringe unter seinen Augen waren ihrem scharfen Blick nicht entgangen.
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Bruder Gregory und setzte die Feder einen Augenblick ab. Seine asketischen Anfälle behielt er lieber für sich.
Diese Antwort beunruhigte Margaret noch mehr. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wuchs in ihr die Überzeugung, daß etwas schiefgegangen war. Hoffentlich betrifft das nicht mich, dachte sie bei sich. Doch aus der Sorge wurde nach und nach Verärgerung, welche allemal heilsamer ist, als nämlich Bruder Gregory ihren Stil allein auf der nächsten Seite gleich ein halbes Dutzend Mal scharf rügte.
Der große Jahrmarkt von Sturbridge glich einem Wunderland. Hier versammeln sich im September drei Wochen lang Kaufleute aus ganz England, ja, sogar aus Orten im Ausland, und bieten seltene und kostbare Schätze von den vier Enden der Erde feil. Und Unterhaltung muß auch sein. Gaukler, Tanzbären, fahrende Sänger und Quacksalber aller Gattungen fallen zahllos wie die Heuschrecken ein. Desgleichen Taschendiebe und Besessene, doch von denen soll hier nicht die Rede sein. Man konnte tagelang umherwandern und die Dinge dort bestaunen, aber wir hatten keine Zeit für Besichtigungen. Mutter Hilde baute sich am Rande des Marktes auf, wo sie unsere angebundenen Esel im Auge behalten und ihre Waren auf ihrem Umhang ausbreiten konnte. Schon bald machte sie gute Umsätze. Bruder Sebastian zog los, um mit Peter Geschäfte zu machen, welcher sich an derlei Orten immer großer Beliebtheit erfreute, während Master Robert und seine Freunde sich eine geeignete Stelle suchten, wo es nicht zuviel rivalisierende Gruppen gab, und mit Trommeln und Jonglieren begannen.
Mir überließ man die sechs Kästchen mit der stinkenden Salbe, eben die sechs Kästchen, die ich schon den ganzen Sommer mitgeschleppt hatte. Sie verkauften sich nicht gut – genauer gesagt, sie verkauften sich überhaupt nicht und stanken von Tag zu Tag ärger. Da Bruder Sebastian annahm, es läge an meinem Geschick als Verkäuferin, hatte er mich noch einmal instruiert, ehe er verschwunden war:
»Denk daran, Margaret, als Brandsalbe ist sie nicht gut gelaufen – empfiehl sie also für Falten, Entzündungen und Pockennarben, die alle bei dir verschwunden sind, nachdem du eine ausreichende Menge Salbe verwendet hast. Empfiehl Leuten mit schlimmen Pockennarben zwei Kästchen. Und höre um Himmels willen auf, den Leuten zu erzählen, was drin ist! Sag einfach, es ist ein seltener Balsam aus Arabien, den dir ein Seemann aus Genua in Bristol verkauft hat.« Ich ließ den Kopf hängen und protestierte:
»Aber Bruder Sebastian, ich kann nun einmal nicht lügen. Und in Bristol bin ich auch nie gewesen. Außerdem riecht sie nicht gut.«
»Mein Gott, liebe Margaret, ein abstoßender Geruch bedeutet doch einfach, daß sie noch besser wirkt. Nun mach mal Gebrauch von deinem Kopf.« Und schon war er in der Menge untergetaucht. Wie blöde ich mir vorkam! Ich wanderte umher, besah mir die Buden, die Pferde, die Hunde, die Menschen – nur diese ekligen Dinger wurde ich nicht los. Ich bestaunte gerade ein paar wirklich schöne venezianische Gläser, als ich darin das verzerrte Spiegelbild eines Mannes erblickte. Wie merkwürdig vertraut mir das doch vorkam. Ich fuhr herum, sah aber nur noch die enteilende Gestalt eines wohlhabenden Kaufmanns mit seiner stämmigen, juwelenbehängten Frau. Seltsam, aber irgend etwas am Gang des Mannes und an den gleichmäßigen Locken auf seinem Rücken erinnerte mich an Lewis Small.
»O Margaret, jetzt siehst du auch noch Gespenster«, sagte ich zu mir. »Nun aber an die Arbeit.« Ich hielt eines von diesen widerlichen Kästchen hoch und versuchte, es auszurufen, doch meine Zunge war nicht imstande, den seltenen Balsam aus Arabien anzupreisen. So trug ich ihn einfach in der Hand spazieren. Wenn er sich doch bloß von allein verflüchtigen würde. Ein Weilchen wanderte ich so umher, wünschte, das Frühstück wäre ausgiebiger gewesen und ich jemand anders – jemand, der nicht sechs Kästchen mit stinkender Salbe in der Hand trug. So staunte ich nicht schlecht, als eine große, reich gekleidete Frau mich anhielt und fragte, was ich da in der Hand hätte.
»Salbe gegen Falten«, erwiderte ich. »Sie hilft sehr gut bei Verbrennungen, sie soll auch gut für Pockennarben sein, und sie besteht aus –«
»Ich möchte eines«, sagte die Frau, und sie zahlte mit einem Silberpenny dafür. Das machte mir Mut, ich dachte, vielleicht kann man die anderen einfach loswerden. Gesagt, getan, und warum sollte ich mir nun eigentlich nicht die Ringkämpfe ansehen? Nicht schnell, o nein – langsam ließ ich mich in der Menge dahintreiben, wobei ich so tat, als verkaufte ich Salbe. Und als ich dann einen Tanzbären anstaunte und immer noch ein Kästchen aus meinem elendigen Vorrat in der Hand hielt, da wurde ich von zwei Bütteln angesprochen.
»Seid ihr die Frau, welche Salbe verkauft?« fragte der eine.
»Sie hat sie doch in der Hand, siehst du das denn nicht?« sagte der andere und blickte das Kästchen erschrocken an. Ich blickte es auch an. Roch es wirklich so arg? Mittlerweile drang der Gestank wohl schon unter dem Deckel hervor.
»Ihr seid es also. Kommt mit. Man erwartet Euch vor dem Marktgericht.« Gänzlich verwirrt folgte ich ihnen schweigend. Niemand nahm von uns Notiz, als wir durch die Menge schlüpften.
»Was will man denn von mir?« fragte ich schüchtern.
»Als ob Ihr das nicht wüßtet«, antwortete der eine der Männer mit angeekelter Miene. Sie hielten mich immer noch am Arm gepackt, als wir den Rand des Marktes erreichten, wo ständig ein Gericht tagte, um die Nichtigkeiten abzuhandeln, welche entstehen, wenn Einheimische, Fremde und Geld zusammenkommen.
An jenem Tag hatte das Marktgericht wenig zu tun. Ein Mann, welcher Wolltuch gedehnt hatte, damit es länger aussah, lag im Stock. Ein paar Menschen waren zusammengelaufen, um sich anzusehen, wie ein Verkäufer von schlechtem Wein gezwungen wurde, eine Gallone seiner eigenen Ware zu trinken, ehe man ihn in den Stock legte und den Rest über ihm ausgoß. Das machte fast genauso viel Spaß wie Bärenpiesacken; man jubelte begeistert. Ein Büttel zog mich am Ellenbogen zum Sheriff hin, der dem Gericht vorsaß.
»Das ist die Frau«, sagte er.
»Bist du überzeugt, daß es die Richtige ist? Sie sieht mir zu jung aus.« Man sah dem Sheriff seine Zweifel an.
»Das ist sie – sie ist genauso, wie sie beschrieben wurde.«
»Weib, du bist der Zauberei beschuldigt worden – handelst du mit Schwarzer Magie?« Der Sheriff musterte mich prüfend, während er auf meine Antwort wartete. Ich blickte ihm fest in die Augen. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Er saß umgeben von mehreren Männern auf einer Bank unter einem Baum. Rings um ihn wirbelte das Menschengewimmel viel Staub auf. Damit ihm die Kehle nicht zu trocken wurde, hatte er einen großen Krug Ale dabei. Ich merkte, daß er etwas Angst hatte. Marktgerichte sind eigentlich nicht für Hexenprozesse gedacht. Dafür braucht es Fachleute.
»Ich habe nichts dergleichen getan«, sagte ich ernst. »Ich bin eine gute Christin und verabscheue den Teufel und seine Werke.« Schulterzuckend sagte er zu seinem Beisitzer:
»Da habt ihr's. Sie streitet es ab. Sie sieht ehrlich aus. Viel zu jung, finde ich.«
»Aber Mylord Sheriff, der Mann, welcher sie beschuldigt hat, war felsenfest davon überzeugt. Und schließlich haben wir Beweise.«
»Weib, du bist der Zauberei beschuldigt worden, weil du eine Salbe verkaufst, die übermenschliche Kräfte verleiht – eine Salbe, die aus dem ausgelassenen Fett ungetaufter Säuglinge gemacht worden ist.« Er hielt ein kleines Kästchen hoch. Das elendige, einzige Stück, das ich an die wohlhabende Frau losgeworden war. Ein sehr merkwürdiger Ausdruck muß über mein Gesicht gehuscht sein.
»Und was soll nun hier drin sein?« Er öffnete es und hielt es mir unter die Nase. Ich ließ den Kopf hängen und wurde knallrot.
»Gänsefett, Talg und Kräuter«, sagte ich und schämte mich.
»Und verleiht das übermenschliche Kräfte? Kann man fliegen und hat man das Alles-Sehende-Auge?« Ich war am Boden zerstört. Das kommt davon, wenn man windige Geschäfte betreibt.
»Und wenn Ihr Euch überall damit einreibt, Ihr bekommt davon nur einen übermenschlichen Geruch«, sagte ich. »Ich habe aber nie etwas anderes behauptet, als daß sie gut gegen Brandwunden hilft.«
»Dann habt Ihr sie verkauft?«
»Ja, zu meinem Leidwesen.« Er unterdrückte ein Zucken um die Mundwinkel.
»Zauberei ist eine ernste Angelegenheit. Nur mit Ableugnen kommt Ihr mir nicht davon. Ihr müßt es auch beweisen.«
»Beweisen?«
»Aber ja doch. Wir sind hier zwar nicht richtig dafür ausgestattet, aber ich kann mir auch keinen Fehler leisten. Eine Hexe entwischen zu lassen? Das könnte das Ende meiner Laufbahn bedeuten. Das müßt Ihr verstehen. Also, was sagt Euch mehr zu –« er deutete zum Fluß hin » – Wasser? Oder Feuer?« Er musterte eingehend mein Gesicht. Feuer, dachte ich, Herre Jesus, steh mir bei! Meine Augen müssen meine jähe Furcht verraten haben.
»Aha, sieht mir ganz nach Feuer aus, oder?« Er wandte sich an seine Helfer. »Wir brauchen ein richtig großes – gleich da drüben. Heute nachmittag dürfte es heiß genug sein, was meint Ihr? Holt den Gemeindepfarrer, er soll kommen, wenn's fertig ist. Ich bitte um Entschuldigung für den Aufschub, meine Liebe, aber wir werden Euch noch ein Weilchen hierbehalten müssen.«
Mir kam das alles sehr unwirklich vor. Der entschuldigte sich doch tatsächlich, weil ich darauf warten mußte, daß man mich zu Asche verbrannte?
»Ihr wollt mich also verbrennen – ohne Gerichtsverfahren?« wagte ich schüchtern zu fragen.
»Das ist das Gerichtsverfahren. Wir tun die glühendheißen Kohlen da drüben hin, Ihr lauft ein Weilchen darauf herum – barfuß natürlich – und dann verbindet der Priester Euch die Füße. Nach einer Woche nimmt er den Verband ab, und wenn die Brandwunden an Euren Füßen geheilt sind, seid Ihr frei. Wenn sie eitern, verbrennen wir auch noch den Rest. Das dürfte gerecht sein, einen Fehler kann ich mir nämlich nicht erlauben. Es liegt jetzt alles bei Gott, Weib. Ihr tätet besser daran, zu bereuen und zu beten.« Er goß sich Ale in den Mund. Schließlich war es sehr staubig.
An jenem Tag hatte ich allerhand unter Staub und Durst und auch unter Hunger zu leiden, während ich in der heißen Sonne wartete, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und ihm zusah, wie er im Schatten saß, aß und trank und Recht sprach. Das muß ein Traum sein, nicht wahr, daß meine Füße gegen Abend bis auf den Knochen verbrannt sind und man mich schreiend ins Gefängnis trägt, wo ich dann vor meiner Hinrichtung eine Woche lang liege? Sowas stößt anderen Leuten zu, doch nicht mir – nicht einem so netten Menschen wie mir. Wenn das nicht ungerecht ist! Was hat man schon davon, wenn man das Licht sieht und meint, daß man von Gott einen besonderen Auftrag erhalten hat und dann feststellen muß, daß alles, was einen erwartet, nur ein entwürdigender und schmerzhafter Tod ist? Meine Freunde hatten sich offenbar eiligst aus dem Staub gemacht. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Wahrscheinlich hätte ich ebenso gehandelt.
Aber wer hatte mir das angetan und warum? Ich dachte an die reiche Dame, so fett und aufgeblasen, sah sie im Geist mit ihren Ringen und Ketten funkeln – halt! Hatte ich sie nicht schon einmal gesehen? Wie sie – wie sie mit ihrem Mann dahinschlenderte, der Mann, welcher wie Lewis Small aussah? Das mußte es sein. Es war Lewis Small! So konnte nur einer denken, nur einer handeln. Wenn er wieder geheiratet hatte, mußte er mich für tot gehalten haben. Jetzt war er ein Bigamist und mußte den Beweis dafür loswerden. Wie einfach. Er dachte so vollendet, so erbarmungslos logisch. Nie würde ich ihm entkommen, nie. Wenn ich doch weinen könnte, es hätte mir gutgetan. Aber für mich war alles vorbei, Lewis Small hatte mich gefunden und ein zweites Mal umgebracht. Dieses Mal endgültig. Ich kannte ihn gut: er würde zum Gottesurteil kommen. Er weidete sich doch an den Qualen anderer. Beim ersten Mal habe ich ihn vermutlich etwas um seinen Spaß betrogen, dachte ich bitter bei mir.
Mittlerweile war das Feuer zu einem Bett aus rotglühenden Kohlen herabgebrannt. Eine Menschenmenge hatte sich zusammengefunden, denn das hier versprach die beste Kurzweil des ganzen Marktes. Ich bekam mit, was so alles geredet wurde.
»Laßt das Schubsen, ich war zuerst da!«
»Macht Platz, macht Platz, daß sich die Kinder vorn hinsetzen können.«
»Jung, was? Diese Hexen werden auch alle Tage jünger – ich sage euch, die Jugend kennt keinen Respekt mehr.«
»Das will ich meinen – he, Ihr versperrt mir ja die ganze Aussicht.«
»Wieso heult die denn nicht?«
»Hexen können doch keine Tränen vergießen, du Dussel.«
Und so weiter, und so weiter quasselten und schubsten und glotzten sie. An einem anderen Ort hätte ich mich zu Tränen geschämt und geweint. Aber das hier war anders.
Mir war scheußlich zumute, aber irgendwie auch sehr seltsam. Wie gemein von Gott, dachte ich, mir erst all das Licht zu senden und es dann aufhören zu lassen. Mir war, als hätte er mir einen bösen Streich gespielt. Hatte nicht Hilde gesagt, Gottes herausragende Eigenschaft sei sein Sinn für Ironie? Und doch war das Licht ein wunderbares Gefühl. Ich kam mir dabei immer so viel größer und besser vor, als ich in Wirklichkeit war. Wenn nun für mich alles vorbei sein soll, dann laß mich dem Licht Lebewohl sagen, laß es mich ringsum spüren. Aber man riß mich roh aus meinen Gedanken. Die Kohlen warteten, und der Priester sprenkelte etwas drum herum, so wie sie es immer tun, und betete. Sie nahmen mir die Schuhe und die Bruch ab, dann das Kleid und den Gürtel. Da stand ich nun im Unterhemd und mit herabhängenden Zöpfen.
Warum muß man sowas immer im Unterhemd machen? Meines war gottseidank hübsch, ein Überbleibsel meiner früheren Ehe. Es war ein loses Hemd aus weißem Leinen, hübsch genäht und um den Hals herum mit weißer Stickerei verziert. Es hatte lange Ärmel und reichte mir, adrett gesäumt, bis auf die Waden. Ich hatte es erst kürzlich gewaschen, so war es sauber – was man nicht von jedem Unterhemd behaupten kann, soweit überhaupt eines vorhanden ist. Bußetun und Um-Vergebung-bitten – für sowas braucht man immer ein anständiges Unterhemd und tüchtige Schwielen unter den Füßen. Ich glaube, derlei ist für die Schaulustigen und als Erniedrigung gedacht. Und wenn es dabei Winter ist und man davon eine Lungenentzündung bekommt, dann sagen sie, Gott hat gerichtet. Früher habe ich mich oft gefragt, ob Gott wohl ein Unterhemd trägt, aber heute weiß ich, Gott ist dafür zu groß.
Ich suchte nicht in den Gesichtern der Menge, als man mich zu den Kohlen führte: auf einmal überwältigte mich die Angst. Sie schnitten das Seil an meinen Handgelenken durch, und ein Büttel hielt mich an den Ellenbogen fest, während man ein Stückchen Zunder auf die Kohlen warf, um festzustellen, ob sie heiß genug waren. Kirschrot glühten sie unter einer dünnen, weißen Ascheschicht. Ein Wölkchen puffte hoch, und aus dem Zunder wurde ein glühender Funkenregen, der auch schon wieder verschwunden war. Ein paar Männer mit Spießen standen neben dem Feuer, um mich zurückzustoßen, falls ich zu fliehen versuchte.
Es ist ein eigen Ding um die Angst; sie packt einen wie eine große Faust und schüttelt einen entsetzlich durch, und danach kommt man sich ganz anders vor als normalerweise. Meine Knie wollten mir nicht gehorchen. Sie zitterten und gaben nach, als wären sie aus Sülze. Ich sackte zusammen, und sie mußten mich an den Armen hochziehen. Die Brust kam mir vor, als würde sie von schweren Gewichten zusammengedrückt. Gesicht, Hände und Füße, alles fühlte sich an wie Eis.
»Bitte«, flüsterte ich, »einen Augenblick nur, bis ich stehen kann. Dann gehe ich schon von allein.« Die große Faust der Angst schien ihren Griff ein wenig zu lockern. Ich stand ohne Hilfe da und zitterte am ganzen Leib. Ich konnte nichts hören, nicht einmal ihre Antwort – nur ein brausendes Geräusch in den Ohren.
»Mach, daß alles gleich ist«, dachte ich bei mir, »das Licht und das Feuer.« Ich wandte den Geist von Angst und Schmach ab und versetzte ihn ins Nichts, das still rings um mich vibrierte. Als ich die Augen schloß, spürte ich, wie eine Art summendes Leuchten durch meinen Geist lief, der nicht mehr Ich war, sondern Teil von etwas anderem. Ich, das heißt mein kleines Alltagsich, war nicht mehr da. Dann merkte ich, wie etwas Seltsames mir das Rückgrat hochlief. Etwas Glühendes und Geräuschvolles, gleichsam ein Knistern, das auch Stimme war. Die Stimme war tief, und zur gleichen Zeit drinnen in und draußen um meinen Kopf. Die Stimme aber sagte:
»Es gibt keine Angst. Es gibt kein Feuer. Blick nicht nach unten. Stell dir vor, du trittst auf kühle Steine im Wasser eines Flusses. Richte die Augen auf nichts als das Licht.«
Ich schlug die Augen auf, aber ich konnte nichts sehen. Statt der Schwärze hinter den geschlossenen Lidern erblickte ich nur vibrierende Abstufungen von Licht, die durch mich hindurchzugehen schienen. Ich war ganz blind. Meine Augen starrten glasig, als ich auf die glühenden Kohlen trat und sie wie eine Furt durchquerte. Weil ich nichts sehen konnte, zog auf dem glühenden Kohlebett einen Halbkreis und kam beinahe dort wieder herabgestolpert, wo ich angefangen hatte. Ich konnte mein Herz hören. Es machte ein dumpfes Geräusch, von dem das ganze Universum zu erzittern schien. Jemand zog mich am Arm, mir wurde schwindlig, ich fiel hin.
Und immer noch konnte ich nichts sehen. Ich spürte, wie die Menge sich näherdrängelte.
»Da, sie kann nichts sehen!«
»Sie ist blind.«
»Wir wollen ihre Füße sehen, wir wollen sie sehen.«
Meine Füße! Während ich auf der Erde saß, kehrte mein Augenlicht nach und nach zurück. Eine Gestalt in Schwarz beugte sich über mich, sie hielt Verbandszeug in der Hand. Wieso konnte ich meine Füße nicht spüren? Waren sie weggebrannt? Spürt man das denn nicht?
»Ei, seht euch das an, ihre Füße sind vollkommen heil. Ganz entschieden ein Wunder!« sagte der erstaunte Priester und hielt einen meiner Füße hoch, damit jeder ihn sehen konnte. Was um Himmels willen war geschehen? Ich verspürte immer noch ein leises, sonderbares Knistern im Rückgrat.
»Ein Wunder! Ein Wunder!« murmelte die Menge und wich zurück. Ich konnte sehen, wie sich Leute bekreuzigten.
»Man hat sie zu Unrecht beschuldigt!« rief eine Stimme.
»Aber sie sieht ja auch unschuldig aus. Ich hab's doch gleich gesagt«, meinte eine andere.
»Wo ist der Ankläger?« schrie ein großer Mann. Ich blickte mich um. Am entgegengesetzten Ende des Kohlebetts versuchte ein reichgekleideter Mann in grüner Bruch und dunkel scharlachrotem Gewand verstohlen durch die Menge zu schlüpfen. Ich starrte ihm nach, bemühte mich, ihn zu erkennen. Zwar war es Sommer, aber sein Gewand war dennoch pelzverbrämt, Pelzwerk auch auf seinem Überrock – es mußte Lewis Small sein. Er wandte den Kopf, und ich erblickte das ebenmäßige Gesicht, das mir so lange Alpträume bereitet hatte. Die Locken – vollendet wie immer, doch jetzt mit ein wenig Grau darin. Und er hatte sich einen kleinen Bart stehen lassen. Vermutlich weil ihm jemand erzählt hatte, daß Bärte in Mode seien.
»Das ist er, der reiche Teufel da!« rief eine Stimme. War es einer der Büttel? Die Menge versperrte Small den Weg. »Laßt mich durch, ihr Pack, könnt Ihr nicht sehen, daß ich ein Mann von Stand bin? Ihr täuscht euch!« Doch der Anflug von Furcht in seiner Stimme verriet ihn.
»Wir haben ihn gesehen, wir haben ihn gesehen, er ist es«, schrie eine alte Frau, und die Menge drang auf ihn ein, so daß ich gerade noch einen wild fuchtelnden pelzverbrämten Ärmel von ihm sehen konnte. Ich hörte, wie seine Stimme schriller wurde, während er versuchte, sich durch das Gewühl der Leiber zu drängen. In einiger Entfernung konnte ich seine Frau sehen, sie hatte die Augen angstvoll aufgerissen, ehe sie sich in der Menge versteckte. Dann erhaschte ich einen Blick auf sie, wie sie mit verrutschter Haube entfloh und sich in entgegengesetzter Richtung einen Weg durch das Gedränge erfocht.
»Das ist er! Das ist er! Reißt ihn in Stücke!« Das Menschengewimmel sah nach Aufruhr aus.
»Wir wollen sehen, wie er das macht. Der steht doch selber mit dem Teufel im Bund!« Eine rauhe Hand packte Lewis Small am pelzverbrämten Überrock, und entweder strauchelte er oder wurde gestoßen, jedenfalls befand er sich auf den glühenden Kohlen. Er fiel hin und schrie auf, als er sich die Hand verbrannt hatte, kam auf die Füße und versuchte verzweifelt zu entkommen. Seine goldenen Ketten klirrten und glitzerten. Seinen steifen Filzhut mit der Feder hatte er verloren, der schwelte jetzt auf den Kohlen, ehe er jäh aufflammte. Es war ein häßlicher Hut, ein scheußliches, dunkles Ding mit einem Edelstein und einer schmalen Krempe. Soviel Zeit, und immer noch kein Geschmack.
Die Menge um ihn wich und wankte jetzt nicht mehr, und jemand stieß ihn mit einem Knüppel zurück auf die Kohlen. Außer sich vor Schmerz kam er hoch, seine Augen blickten irre. Dieses Mal schwelte seine Kleidung und ging dann in Flammen auf. Es stank entsetzlich nach versengter Katze, und ich konnte sehen, wie er sich die verbrannten Hände hielt, und die Ringe glitzerten auf dem blasigen Fleisch. Als die Flammen ihm den Rücken hochkrochen, fing er gräßlich an zu kreischen und zu laufen. Die Menge wich vor ihm zurück, als sein Haar aufflammte und sich in eine Art infernalischen Heiligenschein verwandelte. Das Laufen fachte die Flammen an, und die Menge machte ihm viel Platz, als aus dem trockenen Stoff seines Gewandes Funken sprühten. Jetzt krallte er nach Gesicht und Kopf, als könnte er den Brand damit löschen, und das angesengte Fleisch und der Aschebart knisterten und platzten auf, daß ihm das Blut unter den Fingerstümpfen hervorquoll.
Die Menge sah mit einer Art faszinierter Ehrfurcht zu, wie die fast nicht mehr zu erkennende, doch immer noch kreischende menschliche Fackel in wahnsinnigen, exzentrischen Kreisen um die Kohlen rannte. Blindlings lief sie in einen Baum hinter der Richterbank hinein und fiel auf den Rücken. Irgendwie arbeiteten Arme und Beine immer noch, zuckten sinnlos wie bei einem sterbenden Insekt. Rings um ihn verstreut lagen verbrannte, schwärzliche Kleiderfetzen, und ich konnte ihn bis auf die weißen Knochen sehen. Stumm sah die Menge zu, wie die Flammen auf der angeschwärzten Masse erstarben, die sich immer noch auf der Erde wand und stöhnte, während fettiger Rauch von ihr aufstieg. Ich vermochte es nicht, die Augen abzuwenden. Ich konnte mich nicht einmal bewegen. Mein Gott, wie der Mann brannte! Ich dachte, gleich steigt er aus den Flammen empor wie ein Teufel und lächelt sein grausiges Lächeln. Nur das nicht, nur das nicht, dachte ich voller Entsetzen. Aber das Gesicht – das war nicht mehr da. Diese schwärzliche Kruste konnte nie wieder jenes gräßliche Lächeln lächeln. Das Gestöhn – klang das etwa wie mein Name? O nein, lieber Gott, o nein! Dann ging ein Zucken durch die Masse, und ich sah, wie eine vollkommen rissige und schwarze Hand, gleichsam eine verbrannte Klaue, in meine Richtung deutete, o, wie entsetzlich! Tot, tot. Gern hätte ich mit einem Stock nach ihm gestochert, um sicherzugehen.
»Schnell weg, solange sie nicht hinsehen«, drängte Bruder Sebastians Stimme hinter mir, während er mir meinen Umhang umwarf und mich hochzog. Er legte mir den Arm um den Rücken und trieb mich zum Laufen an. Mutter Hilde und die anderen warteten in diskreter Entfernung, sie hatten gepackt und waren reisefertig.
»Zieh deine Schuhe an, Kind. Aber halte dich nicht mit dem Rest auf. Wir haben deine Sachen, du kannst sie später anziehen. Sag mir, wie kommt es, daß deine Füße nicht verbrannt sind?« Mutter Hilde reichte mir meine Schuhe, welche ich ohne die Bruch anzog.
»Ich weiß es wirklich nicht. Mir tun die Füße nur von den Steinen weh, über die wir eben gelaufen sind.«
»Ei, Ihr werdet doch nicht etwa ein absolut gutes Wunder in Zweifel ziehen«, hob Bruder Sebastian an. »Und nun nichts wie weg. Wie ich immer sage –«
»Leichter Fuß und leichter Sinn!« fielen die anderen ein.
Als dann gut eine Meile zwischen uns und Sturbridge lag, hielten wir an, damit ich mich ganz anziehen konnte. Ich legte den Umhang ab, denn es war ein warmer Tag. Ich mußte meine Füße vorzeigen, die zwar zerschrammt und nicht eben sauber waren, doch gewißlich ohne Brandwunden, und das munterte alle gewaltig auf.
»Wir sind geblieben, weil wir sehen wollten, ob wir dich entführen könnten, Margaret«, sagte Hilde. »Aber wir haben gedacht, bestenfalls könnten wir dich aufladen und verstecken, bis deine Füße wieder heil wären. Und schlimmstenfalls – ach, daran wollen wir lieber nicht mehr denken.«
»Ihr seid meinetwegen geblieben? Nur meinetwegen? Danke, danke, ihr seid wahre Freunde.« Ich setzte mich hin und weinte, weil ich einfach nicht glauben konnte, daß sie so gut an mir gehandelt hatten. Sie wiederum fielen mir um den Hals und sagten, sie hätten viel eher erwartet, daß ich Bruder Sebastian zur Flucht verhelfen müßte und daß ich ihnen bei der nächsten Schwierigkeit alles vergelten könne.
»Und jetzt«, sagte Bruder Sebastian und schwenkte die Arme, »ein Lied, auf daß wir frohgemut und schnell dahinziehen.« Tom und der Kleine William stimmten an:
»Jungman, sag ich, sei auf der hüt
daz man dich niht einfangen tut
dem mane get es wol niht gut
so eine hex zum wibe hat.
Bruder Sebastian und die anderen fielen ein:
In einem netze huoc ich drin
daz ich wol ganz gefangen bin
in arger not der man mag sin
so eine hex zum wibe hat.«
Dann hoben sie mit einem Lied über den Frühling an, das mir besser gefiel. So gingen etliche Meilen fröhlich dahin, bis wir zum Abendessen im Ale-Ausschank eines am Wegesrand gelegenen Dorfes anhielten. Da es dort recht voll war, konnten wir von Glück sagen, daß wir alle zusammen einen Platz in der Ecke fanden. Es war ein Kommen und Gehen von Händlern und Reisenden aus Sturbridge, bei welchem die Geschäfte des Besitzers blühten. Es ließ sich nicht vermeiden, daß wir die hitzige Diskussion am Nachbartisch mit anhören mußten.
»Und Peter Taylor sagt, er hat gesehen, wie eine Engelsschar ihren Leib an den Armen leibhaftig über die Flammengrube gehoben hat!« – »Ein echtes Wunder! Gott hat ein Zeichen gesetzt!«
»Ja, daß alle Jungfrauen errettet werden sollen.«
»Nein, ich glaube es bedeutet, das Ende der Welt steht nahe bevor.«
»Wieviel Engel habt Ihr gesagt?«
»Mindestens zwanzig, alle mit goldenen Flügeln. Einer hatte eine metallene Trompete dabei.«
»Ja, die Trompete bedeutet das Ende der Welt, ganz entschieden.« Ich verkroch mich in der Ecke. Wenn mich nun jemand erkannte? Aber ich hätte mich nicht sorgen müssen.
»Eine Jungfrau, sagst du?«
»Ja, eine heilige Jungfrau, die zu Unrecht beschuldigt wurde. Gekleidet war sie in weiße, golddurchwirkte Gewänder mit goldenen Borten. Sie hatte langes, goldenes Haar, das ihr bis auf die Knöchel fiel. Die Engel haben sie geradewegs in den Himmel getragen, denn sie ist spurlos verschwunden.«
»Du liebe Zeit, das ist ja erstaunlich.«
»Das Beste daran war, was dem Ankläger zustieß. Teufel stiegen aus der Erde empor, ergriffen ihn und zogen ihn in die Flammengrube, welche sich öffnete und wieder um sie schloß. Sie ließen nichts als einen harten, schwarzen Stein zurück, denn den hatte er statt eines Herzens.«
»Mmpf«, wisperte Hilde mit vollem Mund. »Als ob ich es nicht immer geahnt hätte – das mit dem Herzen, meine ich.« Bruder Sebastian sah erfreut aus.
»Alles in allem ein äußerst zufriedenstellendes, erstklassiges Wunder, Margaret, findest du nicht?« freute er sich diebisch und mit leiser Stimme.
»Schsch!« mahnte ich. Die anderen kicherten hinter der vorgehaltenen Hand. Wir bezahlten und schlüpften still hinaus, denn es war wohl das Klügste, diese Nacht im Freien und außer Reichweite der Lästerzungen zu verbringen, statt drinnen ein Obdach zu suchen.
Am nächsten Morgen beriet sich die Gesellschaft. Die Gaukler wollten die Reise fortsetzen, statt geradewegs nach London zu ziehen. Anscheinend hatte Tom Schwierigkeiten mit einem wichtigen Mann in der Londoner Sattlerzunft, wovon er leider zuvor niemandem erzählt hatte. Er mußte abwarten, bis sich die Aufregung gelegt hatte, ehe er in die Stadt zurückkehren konnte, und seiner Meinung nach hatte sich der Kerl noch nicht richtig abgekühlt. Ich blickte auf meine Zehen und sagte:
»Ich möchte für ein Weilchen einfach nicht mehr auf Märkte gehen. Ihr könnt euch wohl denken, wie mir zumute ist.«
»Margaret, du bist bald wieder die Alte. Vielleicht solltest du nächstes Mal Hunde dressieren. Verkaufen kannst du jedenfalls nicht«, tröstete mich Master Robert.
»Still, still, ihr lieben Kinderlein«, hob Bruder Sebastian an. »Ich für meinen Teil fühle mich magnetisch von diesem veritablen Nabel des Universums angezogen, ich meine, wenn man Jerusalem, Paris und Rom nicht mitrechnet – das heißt, von der mächtigen Metropole London. Dort habe ich mein Wintergeschäft, und dem kann es nicht schaden, wenn wir früh aufbrechen. Und so schlage ich vor, daß wir diese entzückende Reisegruppe auflösen und daß wir vier unseres Weges nach London ziehen, wo ihr zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu uns stoßen mögt, wenn es euch beliebt.«
»Auflösen? Das ist wirklich zu arg. Wir haben mit Peter so gute Geschäfte gemacht – das heißt, mit dem Weissagen –, was für ein Jammer, schon so bald damit aufzuhören.«
»Ein großer Jammer, und uns wird eure treffliche Gesellschaft fehlen. Doch in London sind die Straßen mit Gold gepflastert. Es lockt, versteht ihr.«
»Aber wie sollen wir Euch finden?« fragte Parvus Willielmus.
»Fragt im Hause von Sebastian dem Apotheker in Walbrook nach dem Verbleib von Bruder Malachi – ihr seid stets willkommen.«
»Bruder Malachi, mein lieber Sebastian, wer ist denn das?« wollte Hilde wissen.
»Ei, ich natürlich. Das ist mein Londoner Name. Den Sebastian habe ich mir für die Wanderschaft ausgeborgt. Er hat mir zwar nicht die Erlaubnis erteilt, doch das hätte er gewißlich, wenn er davon gewußt hätte.«
»O, lieber Sebastian – ich meine Malachi –, was seid Ihr doch für ein vielseitiger Mann«, murmelte Hilde zärtlich.
»Ich lebe das Leben eines Kosmopoliten, meine Liebe, und es wird mir eine Freude sein, selbiges mit dir zu teilen.«
»Ihr laßt mich doch nicht zurück?« fragte ich ängstlich.
»Aber, Margaret«, sagte er schlicht, »würden wir etwa Peter verlassen? Oder Moll? Du gehörst zum Haushalt, solange du möchtest.« Ich war furchtbar erleichtert. Ohne Freunde würde ich auf der Stelle Hungers sterben. Ich war einfach nicht kundig genug, um mich allein durchzuschlagen.
Und so schieden wir unter vielen Umarmungen und Tränen von unseren Reisegenossen und versprachen, uns eines Tages wieder zu treffen. Sie wandten das Gesicht gen Westen und wir gen London. Wir waren voller Hoffnung.
»Wie ist denn London, lieber Malachi? Ich hab' meiner Lebtage nicht in einer Stadt gewohnt«, sagte Mutter Hilde.
»Es erstreckt sich, soweit das Auge reicht«, sagte Bruder Malachi und breitete dabei die Arme aus. »Jede Annehmlichkeit, jede Bequemlichkeit, die man sich nur vorstellen kann, ist dort zu finden, und das mal sieben. Innerhalb der Stadtmauer gibt es beinahe zweihundert Kirchen und über dreißigtausend Seelen – das heißt, wenn die kürzliche Pestilenz ihre Zahl nicht betrüblich verringert hat. Ihr könnt euch das brausende Geläut der Glocken nicht vorstellen – nicht etwa nur eine einzige erbärmliche Kirchenglocke, nein, hundert über hundert, deren Klang wie Wellen über die Stadt hinwegrauscht! Ausländer reisen rastlos und unaufhörlich heran, um exotische Gewürze und Luxusartikel an ihre Tür zu bringen. Eine ständige Folge von Lustbarkeiten – Paraden, Spiele und Festlichkeiten der erlesensten Art – verzücken und entzücken ihre Bewohner. All das, liebe Hilde, lege ich dir zu Füßen.« Und er verneigte sich, als ob er ihr ein Geschenk zu Füßen legte. Sie lachte. Ich mochte es, wenn Hilde lachte. Sie hat alles Glück verdient, dessen sie habhaft werden kann, dachte ich.
Margaret warf Bruder Gregory von ihrem Platz auf den Kissen in der Fensternische einen schiefen Blick zu; ihre Hände lagen im Schoß, ihre Flickarbeit ruhte. Sie wollte nämlich Bruder Gregorys wachsende Verärgerung mitbekommen und genießen, während er zu Ende schrieb. Es gibt doch nichts Schöneres, als heimlich jemanden zu reizen, der zu jener Art von Wichtigtuerei neigt, wie sie Bruder Gregory in Sachen Religion an den Tag legte. Mittlerweile kannte Margaret ihr Opfer gut. Gerade lief sein Nacken rot an. Er drehte sich jäh um, stand auf und knurrte mit gereizter Stimme auf sie herab:
»Ich nehme an, Madame, Ihr versucht, mir weiszumachen, daß Ihr und die ›Heilige von Sturbridge‹ ein und dasselbe Geschöpf seid.«
»Ich erzähle Euch nur, was ich gesehen und gehört habe. Ich finde, man sollte sich um Genauigkeit bemühen«, erwiderte sie honigsüß.
Bruder Gregory kochte, während er mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf- und ablief.
»Ihr seid ein Schandfleck durch und durch. Vermutlich seid Ihr prozentual am Reliquienhandel beteiligt.«
»O, keineswegs, das seid versichert. Natürlich habe ich Bruder Malachi später dabei ertappt, wie er Asche aus dem Kamin in Reliquiengefäße abfüllte. Er sagte, die Idee sei ihm gekommen, als er einmal sah, wie man erloschene Kohle zusammenkehrte, um sie als Heilmittel gegen Gehirnlähmung zu verkaufen. Ein Weilchen lief das sehr gut. Das war, bevor er dazu überging, Zähne feilzubieten.«
»Schweigt still, ich will nichts mehr hören!« Bruder Gregory preßte den Mund zu einer dünnen Linie zusammen.
»Ein Tag, wie er im Buche steht«, dachte Margaret. »Ich habe einen großen Teil der Geschichte fertig und obendrein noch Bruder Gregory geärgert. Nun muß ich wohl wieder an meine Arbeit gehen.« Heute machten sie Seife, das war an sich kein schwieriges Unterfangen, aber doch überwachte Margaret es gern selbst, denn nur so ging sie sicher, daß die Seife nicht zu scharf wurde. Seife, die dem Benutzer die Haut vom Leibe ätzt, hat etwas sehr Häßliches an sich. Später sollte dann der Schneider kommen, um für ein neues Kleid nebst Überkleid Maß zu nehmen, die Kendall für sie bestellt hatte. Er hatte beschlossen, Margaret und die Mädchen müßten für die Weihnachtszeit neu herausgeputzt werden.
»Ich habe da ein Stück dunkelgrünen Samt, der deine Augen zum Leuchten bringt, mein Schatz«, hatte er gesagt und ihr dabei den Arm um die Schulter gelegt. Margaret machte sich zwar nie viel Gedanken über Kleider und konnte es nicht leiden, wenn sie für den Schneider stillstehen mußte, doch wie durfte sie dem Mann, der sie so sehr schätzte, ein so gut gemeintes Angebot abschlagen? Kendall kleidete auch noch seinen ganzen Haushalt neu ein, und Margaret fiel es zu, das Ganze in die Wege zu leiten. Und dann natürlich das Abendessen wie üblich. Das in einem großen Haushalt aufzutragen, ist eine Arbeit für einen Feldmarschall. Widerstrebend schob Margaret den Gedanken an ihr Buch beiseite, noch bevor Bruder Gregory ganz gegangen war, und als er Lebewohl sagte, blickte sie ihn ein wenig geistesabwesend an, ehe ihr einfiel, daß sie ihm auf das, was er anscheinend gesagt hatte, noch eine Antwort schuldete.
»Ich sagte gerade, daß ich zwei Wochen lang geschäftlich außerhalb von London zu tun habe«, wiederholte er übertrieben geduldig.
»O! Nun ja, ist in Ordnung. In der Zwischenzeit kann ich ja üben«, sagte sie, so als hätte sie immer noch nicht ganz begriffen, was er da sagte. Dann ging ihr jäh auf, was los war, und sie fragte, jetzt aber mit einem Unterton von Besorgnis:
»Ihr wollt fort? O du liebe Zeit, hoffentlich nicht lange?«
»Zwei Wochen, wie ich schon sagte.«
»Ihr kommt aber wieder und helft mir mit dem Buch, ja?« Ich bin zu weit gegangen, und jetzt habe ich ihn wirklich erzürnt. Wie komme ich nur zurecht, wenn er wirklich nicht wiederkommen will? Der Gedanke ging ihr durch und durch.
»Ja, natürlich. Meine auswärtigen Geschäfte dürften nicht zu langwierig sein. Es sind lediglich familiäre Dinge. Dazu benötige ich zwei Wochen.«
»O, ja, zwei Wochen. Das ist nicht lange.« Sie hörte sich erleichtert an.
»Genau«, sagte Bruder Gregory, wobei er das Wort trocken und präzise aussprach. Man kann sich im Umgang mit Personen von angeborener Begriffsstutzigkeit doch nicht genug vorsehen.