Kapitel 9
Bruder Gregory schaute aus seinem kleinen Fenster unter der Traufe und überlegte, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Es war ein unvergleichlich schöner Morgen, wie man sie im Winter selten erlebt. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft und war dabei, das Eis auf den kahlen Zweigen des Baumes vor seinem Fenster zu schmelzen, so daß jeder Zweig von Wassertropfen glänzte. Über den steilen Ziegeldächern der City zeigten sich große Flecke von Blau, prächtig anzusehen zwischen den dahineilenden Wolken. Ein Windstoß fuhr klar und kalt durch sein Zimmer und die trocknenden Seiten auf dem Tisch. Er war schon vor dem Morgengrauen aufgestanden und hatte bereits allerhand geschafft, woraus folgte, daß er sehr zufrieden mit sich war. Er war zur Messe gewesen, hatte über die Sünde der Zornmütigkeit und die Tugend der Sanftmütigkeit meditiert und sich mit Brötchen vollstopft, die man ihm gestern bei Kendalls aufgedrängt hatte, da dort Backtag war. Dann war er mit dem Psalter ein gutes Stückchen vorangekommen, der nun fast fertig zum Binden war. Aber er hatte kaum noch Tinte – es wurde Zeit, neue einzukaufen. Das machte den Entschluß leicht. Er würde heute zu Nicholas gehen, das Binden absprechen und sich dabei auch neue Tinte holen.
So zog er denn etwas zögernd die Nase aus der frischen Luft, schloß den Laden und kehrte zum Tisch zurück. Säuberlich stapelte er die getrockneten Seiten, dann nahm er sein Tintenhorn und den Federkasten und hing sie an seinen Gürtel. Die Feder keß hinters Ohr gesteckt, sprang er die wackelige Außenstiege hinunter und summte dabei vor sich hin. Er war auf dem Weg nach Little Britain, jenem schmuddeligen Gewimmel von Gäßchen jenseits der Stadtmauer, wo sein Freund Nicholas seinen Laden hatte. Er war nicht das größte oder beste seiner Art, doch der Gedanke, bei jemand anders zu kaufen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen: Nicholas war der einzige Mensch, der ihm bei seiner Ankunft in der Stadt gern Kredit gewährt hatte, und er schuldete ihm mehr als nur Geld. Außerdem war er stets für eine anständige Unterhaltung gut. Man wußte nie, wer vorbeikommen und sich die Bücher anschauen oder Papier und Tinte kaufen würde; in der Regel wurde dort allerdings mehr disputiert als verkauft. Zuweilen ging es bei einem hitzig diskutierten Thema knapp an Tätlichkeiten vorbei, als es beispielsweise über die genaue Beschaffenheit der arianischen Häresie oder die Beziehung zwischen Vernunft und Notwendigkeit bei der Erschaffung der sichtbaren Welt ging, doch Nicholas mit seinem beschwichtigenden Naturell schien stets Blutvergießen abzuwenden zu können.
Wie Nicholas bei den mittellosen Kunden, die sein Geschäft frequentierten, auch noch eine verwitwete Schwester und drei heranwachsende Neffen unterstützen konnte, das wußte niemand recht zu sagen. Doch er genoß überall Achtung. Er war dabei, ein Traktat über die Philosophie zu schreiben, welches nach Beendigung die Beschaffenheit des Universums zur Gänze erklären würde. Aber bei all dem Buchbinden, Kaufen und Verkaufen und ein wenig Kopieren kam die Arbeit langsamer voran, als er gedacht hatte. So geht es immer, dachte Bruder Gregory: Frauen und ein Gewerbe – die hindern einen Mann am Leben des Geistes. Dennoch war es nur schwer vorstellbar, daß Nicholas anders wäre, als er war.
Leichtfüßig umging Bruder Gregory die Pfützen und erreichte fröhlich summend Aldersgate. Es war eine von den alten goliardi, welche sie immer in Paris gesungen hatten, er und seine Freunde, wenn sie sich nach einer ausnehmend kontroversen Vorlesung in irgendeine Schenke gedrängt hatten, um dort weiterzustreiten und zu trinken. Ein Jammer, daß alles so enden mußte, doch selbst als man seine Bücher verbrannte, hatte er nicht bedauert, daß er alles für das Leben eines fahrenden Scholaren weggeworfen hatte. Und dann waren den Behörden ja auch nie seine Gedichte in die Hände gefallen, ebenso wie sie nie herausgefunden hatten, von wem jene freche Abhandlung stammte, in der zwanzig bedeutsame Fehler in den theologischen Schriften des Bischofs von Paris aufgelistet wurden.
Und jetzt, jetzt hatte er die Kontemplation. Welch herrliche Aussichten auf ewige Erhabenheit sie ihm eröffnete! Nicht auszudenken, daß er vielleicht nie gemerkt hätte, daß die Kontemplation seine wahre Berufung war, wenn man damals nicht zur Unzeit mit etwas Schluß gemacht hätte, das er jetzt als gänzlich zu weltliche Leidenschaft für die Gelehrsamkeit erkannte. Was wieder einmal bewies, daß Gott am Ende doch alles zum Besten richtete. Schon bald würde er Gott leibhaftig sehen, und dann würde er zurückkehren, sein ganzes Leben der Kontemplation weihen und von all den Vertracktheiten befreit sein, mit denen das Leben ihm ein Bein stellte. Erstaunlich, in welche Ketten doch das Leben einen Mann schlug. Kein Geld, zuviel Geld, Besitz, Familie – verblüffend, wie das alles eine freie Seele knebelte. Im Grunde genommen verlohnen nur zwei Dinge im Leben, dachte Bruder Gregory glücklich – Freiheit und geistige Arbeit, die beiden sind das Beste von allem. Und damit merkte er, daß er am Ziel war, denn vor ihm, am Ende einer gewundenen Gasse, lag die Tür des kleinen Buchladens von Nicholas dem Buchhändler.
Nicholas begrüßte ihn auf jene stille, irgendwie humorvolle Art, die ihn auszeichnete, und nachdem sie das Binden abgesprochen hatten, verkaufte er ihm Tinte und ein Dutzend Rohrfedern.
»Wie ich sehe, hast du den Ovid schließlich doch noch verkauft«, bemerkte Bruder Gregory mit einen Blick auf die hohen, schiefen Regale, auf denen beinahe ein Dutzend Bücher unterschiedlicher Größe flach ausgelegt waren.
»Zu guter Letzt doch noch, und er hat einen schönen Preis erzielt, wenn man bedenkt, daß du ihn so oft durchgelesen hast, daß du ihn im Kopf haben müßtest«, erwiderte Nicholas. Er war ein schlanker Mann von mittlerem Wuchs, noch keine vierzig und mit schütteren, rötlich braunen Locken, einem kurz gestutzten Bart und intelligenten, spöttischen, grauen Augen.
»Ich glaube nicht, daß ich hier der schlimmste Missetäter bin«, gab Bruder Gregory zurück und schaute dabei zu zwei fadenscheinigen Schreibern hinüber, einer davon in einer Oxford-Robe, die Nicholas Waren prüften.
»Ich habe ein neues bekommen, das deinem heutigen Stil besser entspricht«, sagte Nicholas und nahm einen eher kleinen, schlicht gebundenen Band zur Hand.
»Ah, das Incendium Amoris – du führst mich in Versuchung, Nicholas, aber ich bemühe mich dieser Tage, keinen Besitz anzusammeln, da ich erneut der Welt entsagen will, wenn diese Arbeit abgeschlossen ist«, sagte Bruder Gregory selbstgefällig, nahm das Buch und machte sich daran, seinen Inhalt durchzusehen.
»Freude am Gebrauch eines Gegenstandes ist eine der Definitionen von Besitz«, rief ihm Nicholas ins Gedächtnis.
Bei diesen Worten blickte der erste Leser unwirsch über die Unterbrechung auf – dann erkannte er Bruder Gregory.
»Gregory? Ich hätte dich kaum wiedergekannt, du siehst so blühend aus. Dein Gesicht ist fetter.«
»Ach, Robert – was für eine Überraschung –, aber mein Gesicht ist nicht fett«, bemerkte Bruder Gregory friedfertig und blickte vom Buch auf.
»Das hab ich auch nicht gesagt, du altes Schlachtroß, ich sagte fetter. Früher konnte man dir das Vaterunser durch die Backen lesen.«
»Wenn du weiter meine Physiognomie beleidigst, Robert, wirst du heute allein speisen müssen«, gab Bruder Gregory gelassen zurück und blätterte um.
»Hoffentlich bildest du dir nicht ein, daß ich dir wieder eine Mahlzeit spendiere, du Bandwurm in Menschengestalt.«
»Ich bildete mir ein, ich könnte, wenn ich Nicholas und seine Brut ausführe, auch dich mitnehmen, Robert. Wie ich schon sagte, entledige ich mich dieser Tage meines Besitzes, und gestern habe ich Honorar bekommen.« Bruder Gregory blickte von dem Buch auf und wölbte eine Braue, während es in seinen braunen Augen vergnügt glitzerte.
»Herr im Himmel, hast du eine Goldmine gefunden? Oder betätigst du dich als Taschendieb?« fragte Robert. Der Scholar aus Oxford klappte das Buch zu und kam, ohne es hinzulegen, näher um zu lauschen. Er war entsetzlich dünn und ein wenig blaß um den Mund.
»Nein, ich gebe dieser Tage Leseunterricht. Und jedes Mal, wenn ich dort hinkomme, stopft man mich unanständig voll. Seit ich dort arbeite, mußte ich schon zwei neue Löcher in meinen Gürtel machen. Und du, Robert, kopierst du immer noch für diesen Kaufmann?«
»Nein, ich habe einen besseren Gönner gefunden – einen Grafensohn, der gern Oden auf sich schreiben läßt und etwas auf literarisch gebildete Saufkumpane hält.«
»Robert, in solchen Diensten sei auf der Hut vor den Fallstricken des Bösen; das vornehme Leben hat dich in Versuchung geführt«, sagte Bruder Gregory und drohte ihm spöttisch mit dem Finger – doch als Freund wußte Robert, daß es auch durchaus ernst gemeint war.
»Sei doch nicht so klösterlich freudlos, Gregory, sonst komme ich noch auf den Gedanken, du hältst dich an eine Regel und geißelst dich des Nachts, statt wie ein richtiger Kerl zu trinken.«
»Also, trinken möchte ich jetzt wohl, wenn Nicholas Beatrix und die Kinder ruft und den Laden dichtmacht.« Es gab Zeiten, da hätte Bruder Gregory Beatrix nie bemerkt. Sie war älter als Nicholas und gleichsam ein stummer Schatten, wenn Männer im Raum zugegen waren. Doch nach ein, zwei Monaten des Schreibens für Margaret hatte er sie eines Tages auf einmal angeschaut und diesen Blick in ihren Augen gesehen. Sie hat aufgegeben, ging es ihm plötzlich auf, und dann war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschossen, der ihm sonst fremd war: eine Vision von Wäschezubern und Wassereimern an der Schultertrage und Kochen und Aschehinausbringen und Schrubben von hartnäckigem und ewigem Schmutz und nie Ausgang, außer zum Markt und zur Kirche. Und danach war er nie wieder ganz der Alte. Die Vorstellung, daß ein Mensch so die Hoffnung aufgab, stimmte ihn traurig. Er selbst lebte von der Hoffnung; und sie allein hatte ihn nie im Stich gelassen. Er wollte sie ihr wiedergeben, allen, die sie irgendwie verloren hatten, und auf diese Weise sich selbst retten. Doch ihm wollte rein gar nichts dazu einfallen, außer daß er auch sie mitnahm, wenn er Nicholas einlud – und das wäre ihm früher nie in den Sinn gekommen.
»Ich habe noch einen Kunden«, erinnerte ihn Nicholas sanft. Bruder Gregory musterte den Scholaren. Seine blassen, dünnen Hände, die das Buch hielten, während er vorgab zu lesen, waren fast durchscheinend.
»Es wäre mir eine Ehre, wenn auch Ihr meine Einladung annehmen würdet«, sagte Bruder Gregory mit feierlicher Höflichkeit. Der Scholar blickte auf. Man konnte sehen, wie sein Kiefer zuckte. Er wollte ablehnen. Bruder Gregory wußte genau Bescheid. Der würde die kalten Hände in die geflickten Ärmel stecken und nach St. Paul's zurückgehen und darauf hoffen, daß sich dort etwas ergab. »Ihr macht mir den Eindruck, daß Ihr schreibt«, sagte Bruder Gregory, »ich würde gern etwas darüber hören.«
»Ja, wirklich, ich schreibe«, antwortete der Scholar, »woher wißt Ihr das? Ich arbeite gerade an einer Analyse von Aristoteles' Metaphysik.«
»Ich habe selbst ein wenig geschrieben, ehe ich mit dem Leseunterricht begonnen habe«, sagte Bruder Gregory mit einer gewissen Ironie in der Stimme. »Aber dann könnt Ihr ja Griechisch. Wie gern hätte ich das gelernt, denn es gibt da bei Plato mehrere Stellen, die sich für mich nur schwer mit der christlichen Lehre vereinbaren lassen, da ich den Text nicht gänzlich verstehe.« Die Miene des Scholaren heiterte sich auf. Und in Minutenschnelle saßen sie alle am zweitbesten Tisch im Boar Head, vor sich einen ganzen Spieß voller Geflügel und mehrere Krüge vom besten Ale des Hauses. Ein Glückszufall, daß der Tisch frei geworden war. Eine Gruppe dreister Matronen hatte ihn besetzt gehabt, welche die letzte Stunde mit Trinken und Tratschen zugebracht hatten. Plötzlich stand eine von ihnen auf und lachte: »Die Messe ist vorbei«, und daran hatten alle im Raum gemerkt, daß sie ihre Männer hinters Licht führten, indem sie ihnen weismachten, sie wären zur Kirche gegangen; stattdessen hatten sie sich hier heimlich getroffen, um etwas Spaß zu haben. Nun konnte man an diesem Tisch an Stelle einer lautstarken Diskussion darüber, wie unzureichend doch Ehemänner beschaffen waren, einen ebenso lauten Streit über die genaue Zusammensetzung der Seele hören, welcher solange vorhielt, bis alle satt vom Essen und von der Unterhaltung waren.
Als Bruder Gregory später am Nachmittag mit Tinte und Federn zurückging, teilte er seine Aufmerksamkeit zwischen dem, was er in dem Buch gesehen hatte und Überlegungen darüber, wie gänzlich zureichend doch das Essen beschaffen gewesen war. Der Scholar hatte sich als guter Tischgenosse erwiesen, wirklich ein wahrer Fund, und Gregory hatte doch tatsächlich einige neue und interessante Dinge erfahren. Da war zum Beispiel die Frage, wie man sich der Gottheit korrekt näherte. Rolle schien im Incendium die Meinung zu vertreten, daß Sitzen dem prosterniert auf dem Boden liegen oder der Andachtshaltung vorzuziehen sei. Aber wieso eigentlich? Und wie vortrefflich er sich der Sünde der Zornmütigkeit enthalten hatte, welche beinahe alles verdorben hätte, als nämlich ein fetter Priester mit einer Dirne am Arm hereingekommen war.
Als der Mann feststellte, daß alle Vögel am Spieß verkauft waren, war er am Tisch vorbeigegangen und hatte eine häßliche Bemerkung über Schreiber und Hungerleider losgelassen. Gregory war in Wut geraten, rot angelaufen und hatte zu der Stelle gegriffen, wo sich sein Schwertgriff befinden sollte – und hatte stattdessen seinen Federkasten zutage gefördert. Nicholas hatte gelacht und die Hand ausgestreckt, um ihn zu zügeln. Die Rache überließ man wohl lieber Gott – Nicholas kannte die Frau und sagte ganz richtig voraus, daß sie den Priester seines Geldes und seiner Kleider berauben und dann verschwinden würde, wenn sie ihr ursprüngliches Geschäft im Hinterzimmer zum Abschluß gebracht hätten. Ehe die fröhliche Gesellschaft noch aufbrach, hörte sie zu ihrer Befriedigung Geschrei aus dem Hinterzimmer, und so war man denn vergnügt über diesen Tumult voneinander geschieden.
Doch just als er die klapprige Stiege zu seinem Zimmer hinaufsteigen wollte, kam sein Vermieter mit einem Brief, der während seiner Abwesenheit abgegeben worden war. Bruder Gregory öffnete ihn, überflog ihn, und seine Miene verdüsterte sich. Von Vater. Jemand war ihm offensichtlich bei der Abfassung behilflich gewesen, denn neben den üblichen väterlichen Androhungen von schwerer Körperverletzung fanden sich dunklere Andeutungen, ein großes Aufgebot nämlich von außerordentlich unangenehmen Dingen, die einen pflichtvergessenen Sohn erwarteten: Fluch auf Erden und Höllenfeuer danach, um nur ein Beispiel zu nennen.
»Ich würde ja durchaus kommen, wenn er mich höflich einladen würde«, brummte Bruder Gregory und zerknüllte unwirsch den Brief. Jetzt würde er über Weihnachten nach Haus gehen müssen und es absolut kristallklar machen, daß er der Welt entsagen wollte. Ein Jammer, daß er Gott noch nicht gesehen hatte – es wäre zu schön, wenn er Vater das entgegenhalten könnte. Und wie er dabei dann ganz von einem undeutbaren Leuchten durchdrungen wäre und der alte Mann endlich einsehen müßte, daß er keinen Anspruch mehr auf seinen Sohn hatte. Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken – in der Aura ständiger Gereiztheit, die seinen Vater umgab, sah wirklich kein Mensch Gott; und so hieß es, die eigenen Pläne zurückzustellen, bis er sich mit Vater auseinandergesetzt hatte. Und es hieß auch baldigen Abschied von der Stadt. Er mußte Margaret sagen, daß dies sein letzter Besuch im hohen Haus in der Thames Street war, und sie würde Schereien machen, weil ihr Buch noch nicht fettig war.
»Es geht auf dieser Welt eben nicht gerecht zu«, knurrte Bruder Gregory.
Als man ihn an jenem Nachmittag zu Margaret führte, daß er für sie schriebe, da bemerkte sie, daß er mit seinen Gedanken woanders war. Er blickte sich im Zimmer um, als ob er versuchte, sich alles einzuprägen, dann zog er die Brauen zusammen und sah aus, als ob er etwas sagen wollte, was ihm schwerfiel. Doch er kam nie damit heraus. Stattdessen beschäftigte er sich mit Federanspitzen und übereifrigem Wegwischen der kleinen Schnipsel, ehe er das Papier zurechtlegte.
Daß es Frühling wird, merken wir Wehmütter in der Stadt an anderen Anzeichen als die Leute auf dem Lande. Zum einen gehen die Geschäfte besser, denn alles, was weiblich ist, bekommt Nachwuchs. Noch ehe die ersten Knospen sprossen, hatte allein schon in unserem Haus die Katze am Herd gejungt und die alte Moll ein Fohlen bekommen. Hilde und ich waren ständig in der Stadt unterwegs, so daß sich am Ende Bruder Malachi über das Essen beschwerte, denn wie er sagte: »Gekaufte Gerichte stärken das Herz längst nicht so wie zuhause Gekochtes.« Das zweite Anzeichen sieht so aus: die Menschen, welche den ganzen Winter im Haus eingesperrt waren, drehen schier durch bei der Vorstellung, wieder im Freien sein zu können.
Als erster verfiel Bruder Malachi dem Frühlingswahn. Er verkündete, das Geheimnis, welches sich ihm den ganzen Winter über entzogen hätte, könne auch ruhig noch ein, zwei Monate warten, während er Geld verdiente.
»Es ist eine Schande, sich von Frauen aushalten zu lassen«, sagte er, während er sich im jetzt stillgelegten Stinkezimmer über Pergamenten abmühte. Selbst Sim hatte Frühlingsfieber; er blies den Blasebalg nicht mehr, sondern strolchte umher und verweigerte alle Botengänge, nur um sich auf der Straße herumtreiben zu können.
»Was um Himmels willen tut Ihr da?« fragte ich, als Bruder Malachi Wachs erhitzte.
»Ich bereite mich einmal wieder auf die Wanderschaft vor, Kind. Ich glaube, dieses Mal ziehe ich gen Norden: Boston, King's Lynn, York. Dort habe ich mich ein Weilchen nicht blicken lassen. Dieses Geschäft kann ich in London nicht mehr betreiben, ich bin zu berühmt.«
»Dann wollt Ihr dort also auch Eure alchimistischen Geräte verkaufen?«
»Nein, du Dummchen, mit denen reist es sich nicht gut, gar nicht gut. Das hier jedoch ist leicht.« Sein altes Bündel lag auf dem Boden ausgebreitet, und er schien genau zu überlegen, was wohl alles hineinpaßte.
»Was ist das, das ganze Geschreibsel?« Ich meinte es zu wissen, doch da ich nicht lesen konnte, mußte ich nachfragen.
»Meine Liebe, kannst du schweigen?«
»Wie ein Grab. Das gehört nämlich zu meinem Beruf.« Es gefiel mir sehr, daß ich jetzt eine erfolgreiche Wehmutter war. Mittlerweile kannte ich viele Geheimnisse, denn als Wehmutter ist man beinahe ein Beichtvater. Wir bekommen aber auch allerhand zu sehen: welches Kind dem Vater nicht ähnlich sieht, wer abgetrieben hat, wer sich ein Kind durch Zauberei verschafft hat – und was dergleichen mehr ist.
»Gut, kleine Geschäftsfrau, unter uns Könnern sei dir verraten, woraus meine Ware besteht. Siehst du dieses hübsche Ding hier?« Er hielt mir ein Metallsiegel hin, darauf war ein Mann mit hohem Hut gleichsam wie ein Ei und noch etliches mehr zu sehen.
»Wer ist das wohl, was meinst du?«
»Ein großer König«, erwiderte ich.
»Der größte. Der Papst leibhaftig. Das da ist das päpstliche Siegel.« Er hielt es hoch, daß ich es im Licht bewundern konnte.
»Wirklich und wahrhaftig? Darf ich es anfassen?« Man tut immer gut daran, auf Bruder Malachis Grillen einzugehen; was sein Gewerbe angeht, kann er empfindlich sein, und dann ist er auch sehr wetterwendisch.
»Beinahe wirklich und wahrhaftig. Es ist genau so, wie es sich der Papst gewünscht hätte, wenn er es kennen würde. Ich habe es mir in Paris machen lassen. Paris ist gar nicht so weit von Avignon entfernt, und so stammt es sozusagen aus dem richtigen Land. Dazu sehr hübsch gearbeitet. Hier bekäme man schwerlich etwas so Schönes angefertigt.« Er wandte es hin und her und lächelte in sich hinein. Dann machte er sich daran, die Papiere, welche er geschrieben hatte, mit dem heißen Wachs zu siegeln.
»Das da«, sagte er befriedigt, »ist mein neuer Vorrat an Ablaßbriefen, alle ordentlich in Latein. Die leere Stelle hier ist für den Namen des Käufers gedacht. Bei mir bekommt man etwas fürs Geld. Ich berechne weniger als meine Konkurrenten und vergebe viel, viel mehr.«
»O, Bruder Malachi, schon wieder eine von Euren abscheulichen Gaunereien!«
»Ei, du liebes, kleines Dummchen, ich habe doch eine Konzession für den Vertrieb. Es gibt so manches habgierige Kloster, das diese Art von Papier ohne die geringste Konzession verkauft Denk doch nur, wie ehrbar ich dagegen bin und schäme dich! Da schau mal! Das hier ist die päpstliche Bulle!« Und er zauberte aus einer Innenfalte seines Gewandes ein abgegriffenes Pergament hervor.
»Siehst du, wieviele Siegel sie hat! Sieh hin und erzittre und bitte um Vergebung für solch eine gemütsrohe Unterstellung!«
Ich sah näher hin. Das größte Siegel war das gleiche wie auf den Ablaßbriefen. O je, gewiß werden wir ihn verlieren, grämte ich mich still. Er kommt nie zurück, wenn sie ihn einmal erwischt haben. Doch um ihm zu gefallen, täuschte ich albernes Entzücken vor und bat, das Dokument küssen zu dürfen, genau wie die dummen Bauern, die den größten Teil seiner Abnehmer ausmachten.
»Ah, ah! Nicht ohne zu zahlen. Nicht einmal dir, liebes Kind, kann ich aus meinem Vorrat einfach so abgeben!« Und er machte sich pfeifend wieder an seine Arbeit.
Hilde hörte ihn und steckte den Kopf zur Tür des Stinkezimmers herein.
»Lieber Malachi, wie lange willst du uns denn verlassen?«
»Ein, zwei Monate, meine Lieben, doch grämt euch nicht. Hob kann jetzt ja aushelfen.«
Hob zählte auch zu den Frühlingsanzeichen. Er war ein dürrer, trauriger Mensch unbestimmbaren Alters, der von einem Landsitz in Kent ausgerückt war. Eines Tages war er ans Haus gekommen und hatte um Arbeit gebettelt, wobei er vorgab, ein freier Arbeiter zu sein. Man mußte kein Zauberer sein um zu sehen, daß es sich um einen entlaufenen Leibeigenen handelte, denn er war schon einmal gebrandmarkt worden. Wie er den Streifen seines Herrn entgangen war, weiß ich nicht zu sagen, denn er redete nie. Aber nun brauchte er sich nur noch zehn weitere Monate in der Stadt aufzuhalten, und dann hatte niemand mehr Anspruch auf ihn, er war frei. Viele Leute wissen, daß wir für eine Mahlzeit gut sind, und das mußte Hob irgendwo zu Ohren gekommen sein, denn er stellte sich genau zur Essenszeit ein. Hildes und meine Geschäfte gingen gut, und so brauchten wir einen Mann zur Aushilfe, und zum Helfen bekommt man dieser Tage schwerlich jemand. Und Malachi war noch mehr als nutzlos, denn die Suche nach der universellen Wahrheit beanspruchte seine ganze Zeit. Also blieb Hob. Er aß nicht viel. Auf diese Weise schienen bei uns alle ins Haus zu kommen: man spazierte einfach hinein.
Wir hatten also Hob, und Malachi begab sich auf seine Frühlingswanderschaft. Wie er sagte: »Leichter Fuß und leichter Sinn. Dann hat dich Gott lieb. Zu Ehren dieses Hauses finde ich, ich sollte mich – hmm – Bruder, umm, Peter nennen. Ja, dieses Mal bin ich Peter.« Und so verschwand er den Sommer über, die Passe seines wieder ausgepackten langen, schwarzen Ablaßkrämergewandes durchfeuchtet von Hildes ungestümen Tränen und auf dem Rücken einen ganzen Sackvoll von seinem ›Warenbestand‹. Er packte seine alchimistischen Geräte fort, damit kein ›Kretin mit ungeschickten Fingern‹ sie ihm während seiner Abwesenheit zerstörte. Wie es sich dann herausstellte, war das ein Glück, denn als er fort war, sah es bei uns nach einem Kräuterladen aus und nicht mehr wie ein Ort, wo man Schwarze Magie betreibt und wo überall Beweisstücke für Ruchlosigkeiten herumliegen.
Ich lüftete gut durch und schrubbte das Hinterzimmer, und danach war es gar nicht so übel. Nachdem der schwarze Rauch abgezogen war, tünchten wir die beiden unteren Zimmer. Jetzt sah es bei uns direkt wohlhabend aus: im Vorderzimmer hatten wir einen Tisch, ein paar Hocker und eine Bank. Unser frisch gefegtes Herdfeuer zierten zwei große Töpfe und etliche kleine Gefäße. Wir hatten einen prachtvollen Holzstoß und weiteres Holz im Schuppen, außerdem eine hübsche Lade und ein paar Körbe. Bruder Malachi hatte in einer Anwandlung von Großzügigkeit in beiden Zimmern besondere Regale einbauen lassen, und dort lagerten wir die Kräuter in luftigen Körben, dazu noch andere Arzneien in kleinen Kästchen und Tonkrügen. In einem Winkel hängte Hilde wie gewohnt große Kräuterbündel zum Trocknen an der Decke auf, doch nicht überall wie früher. Auf dem Fußboden lagen keine Binsen, doch da dieser aus richtigen Fliesen gemacht war, nicht etwa aus festgetretenem Lehm, hatten wir ihn gebohnert, bis er glänzte. Weil das Stinkezimmer nicht mehr in Betrieb war, konnte man den beißenden Duft der Wildkräuter riechen. Es war zwar immer noch dunkel drinnen, doch abstoßend konnte man es nicht mehr nennen, und das war ein großer Fortschritt.
Aber Hilde weinte und weinte, denn Bruder Malachi fehlte ihr in dem großen Bett, und sie machte sich Sorgen, daß er nie wiederkommen würde. Ich versicherte ihr, er würde zurückkehren, denn seine Destille würde er nie und nimmer im Stich lassen, und da hörte sie auf, um ihn zu trauern, denn es war ja doch die reine Wahrheit. Tatsächlich kam er einige Zeit später mit der Tasche voller Geld und einer Reihe von merkwürdigen Dingen zurück, dazu aufgeblasener denn je. Aber das ist eine andere Geschichte.
Hilde fühlte sich immer einsamer und regte sich auf, daß das Haus ›nicht richtig‹ wäre. Ihre Arbeit machte ihr keinen Spaß, obwohl sie alle Hände voll zu tun hatte. Draußen war der Frühlingswahn ausgebrochen. Als das Wetter nicht mehr so rauh war, kam eine Schar Leute auf der Straße vorbei, die sich bis zur Mitte entblößt hatten, Männer wie Frauen, und sich mit stachligen Peitschenschnüren geißelten, bis ihnen der Rücken blutete. Sie schrien, während sie in Richtung Kirche zogen, jeder solle bereuen, denn das Ende der Welt sei nahe herangekommen. Wer sich nicht versteckte, der bereute weiß Gott. Er bereute, daß er sie erblickt hatte, denn sie schnappten sich jeden, den sie zu fassen bekamen und zwangen ihn mitzuziehen und sich mit ihnen zu geißeln. Es ist immer besser, die Läden fest zu schließen, wenn sich dergleichen Volk herumtreibt.
In jenem Frühling gab es fast nur ein Thema: das Ende der Welt. Ich sah in Cornhill einen Mann im Stock; er hatte behauptet, daß die Sündhaftigkeit von Bürgermeister und Stadtältesten das Ende der Welt über uns brächten. Vielleicht wäre es ihm nicht so übel ergangen, wenn er keine näheren Angaben zu den in Frage kommenden Sünden gemacht hätte. Es tut nie gut, Leute und Orte zu benennen.
Wenn ich das Haus verließ, ging ich immer geradewegs und ohne mich aufzuhalten zu meiner Kundschaft, das Brennende Kreuz lag wohlbehalten unter meinem Überkleid verborgen, denn dort konnte es niemand sehen. Warum sollte ich auch Wegelagerer oder Verrückte anlocken? Aber ich konnte noch so vorsichtig sein, Ärger gab es trotzdem. Als ich eines Tages zu einer schmutzigen, kleinen Gasse nicht weit von Fenchurch kam und eben dort einbiegen wollte, da wurde ich beinahe von einem großen, zahnlosen Mann über den Haufen gerannt, der ganz außer sich, ich weiß nicht wohin zu laufen schien.
»Weg da! Ich muß ihn anfassen!« schrie er. Vor mir versperrten drei Frauen, die sich untergefaßt hatten, den Weg in die Gasse und schoben sich um die Ecke.
»Einmal ansehen genügt, und man ist errettet!« Ich konnte andere Stimmen hören, und als ich die Gasse entlangblickte, wimmelte sie von Menschen. Alles war in wildem Aufruhr.
»Ein Wunder!«
»Ich will ihn auch sehen! Haltet ihn hoch!«
»O, mein Gott, wie wird mir!«
»Ein Zeichen!«
»Ja, das Ende der Welt ist nahe herangekommen!« Schon wieder das Ende der Welt! Ich stellte mich in einem Torweg, damit man mich nicht niedertrampelte, denn das Menschenrinnsal war zum Strom geworden. Krüppel auf Krücken, Kinder, die blinde Bettler führten, abgerissene Arbeiter mit zerfledderten Beinlingen, alte Frauen in formlosen, grauen Kleidern und arme Trottel – alles drängelte und schrie.
»Gute Frau, was ist denn hier los?« rief ich und zupfte eine Vorübergehende, die mir ehrlich aussah, am Ärmel.
»Ei, habt Ihr das denn nicht gehört? Eine wundertätige Manifestation! Eine Gevatterin wollte Haferpfannkuchen backen und dabei verbrannte ihr einer. Als sie ihn aufhob und wegwerfen wollte, da formten sich die angebrannten Stellen zum Antlitz unseres Heilands! Das zeigt, daß Gott die Niedrigen liebt. Jeder, der den Pfannkuchen gesehen hat, ist errettet. O, ich muß mich beeilen, sonst ist er noch weg!« Und schon stürmte sie mit der Menge die dunkle Gasse entlang.
Wahrlich, alles deutete auf einen bösen Frühling hin. So früh schon wundertätige Pfannkuchen? Und dabei war es noch nicht einmal Ostern. Ich sah nach, wie ich vielleicht wohlbehalten aus dem Torweg herausschlüpfen könnte, als ich eine bekannte Stimme hörte.
»Ei, da ist ja Margaret, die kleine Wehmutter! Seid Ihr auch wegen der wundertätigen Manifestation gekommen!«
»O, Vater Edmund, ich wollte bloß nach Haus, ohne niedergetrampelt zu werden. Aber was führt Euch hierher?«
»Mein Beruf, und deshalb muß ich Euch jetzt auch verlassen.« Er stürzte sich in die Menge, und ich konnte ihn rufen hören:
»Laßt mich durch, Ihr guten Leute!«
»Ei, wenn das nicht ein Priester ist!«
»Laßt ihn durch, er will ihn auch anbeten!«
»Nein, der will ihn bloß für sich haben.«
»Aber nicht mitgehen lassen!«
»Laßt mich durch!« Vater Edmunds Stimme klang dringlicher.
»Laßt ihn nicht durch, er stiehlt ihn!«
»Ich will ihn nicht stehlen, ganz gewiß nicht!«
»Dann wartet, bis Ihr an der Reihe seid, wieso solltet Ihr wohl vor uns errettet werden? Wir warten schon länger.«
»Das Wunder muß auf seine Echtheit geprüft werden, versteht Ihr denn nicht? Später wird man Sorge dafür tragen, daß es jeder zu sehen bekommt.«
»Hab ich nicht gesagt, daß er ihn mitgehen lassen will.«
»Ihr wollt ihn stehlen, damit Ihr Geld nehmen könnt, wenn man ihn ansehen will, so ist das. Der Pfaffe hier haßt die Armen, der Blutsauger, der.«
»Aber ich will ihn ganz und gar nicht stehlen.«
»Das sagt ihr alle.«
»Ihr wollt bloß nicht, daß die Armen errettet werden. Eher macht Ihr die Manifestation kaputt.«
»Ei, sie sind sich alle gleich. Priester sind gemeine Mistkerle!«
»Er will ihn kaputtmachen! Haltet ihn zurück!«
Schrecklicher Aufruhr, man konnte Gebrüll hören und wie miteinander gekämpft wurde. Jetzt bewegte sich die Menge in die andere Richtung. Sie jagte hinter Vater Edmund her und die Gasse entlang.
Man hatte sich in eine Pro- und eine Anti-Priester-Partei gespalten, und jetzt wurden auch Fäuste, Kunkeln und Kochlöffel eingesetzt. Als ein abscheulicher Gegenstand, den jemand aus der Gosse gefischt hatte, an meinem Torweg vorbeigeflogen kam, sah ich Vater Edmund aus der Menge auftauchen. Sein Gewand war zerrissen und beschmutzt, und er humpelte. Über einem Auge bildete sich ein blauer Fleck, und aus dem Mundwinkel rann ihm Blut. Als er dachte, er hätte es geschafft, stellte ihm jemand ein Bein, und er fiel der Länge nach hin.
»Laßt ihn in Ruhe!« schrillte meine Stimme, und ich trat aus meinem schützenden Torweg heraus. »Er stiehlt überhaupt nichts. Wie sollte er auch, wo ihr ihn zusammengeschlagen habt.« Ich hatte mich zu voller Größe aufgerichtet, soweit mir das möglich ist, und blickte die Menge wütend an. Die wich ein wenig zurück. »Schämt ihr euch denn nicht?« Und ich fuhr fort: »Gott liebt euch sicher mehr, wenn ihr, um Seine Gnade zu erlangen, nicht über Seinen Diener wegtrampelt! Und weil ihr so durch die Gegend gerannt seid, ist jetzt euer Platz futsch. Den hat inzwischen schon jemand anders, da, seht nur!« Ein großer Mann in der vordersten Reihe drehte sich erschrocken um.
»Ich warte schon so lange! Die da sind gerade gekommen und drängen sich einfach vor! Weg da!« Und schon wollte er sich wieder in die Gasse zurückdrängeln.
»Nein, weg mit dir, du Bauerlümmel!«
»Ich war vor dir da!«
»Laß mich durch!«
Und die Menge schob sich wieder in Richtung des wundertätigen Pfannkuchens. Vater Edmund stand auf und klopfte sich den Dreck ab.
»Das hatte ich nicht im Sinn, als ich mein Leben Gott weihte«, sagte er. Dann blickte er mich an.
»Danke, Margaret. Anscheinend wißt Ihr mit solchen Leuten umzugehen.«
»Nicht wirklich. Aber Ihr seht elend aus. Wir wohnen nicht weit von hier. Kommt mit und erholt Euch ein wenig, ehe Ihr heimkehrt. Wohin wollt Ihr?«
»Nach St. Paul's.«
»Ein weiter Weg. Da müßt Ihr zuerst bei uns einkehren. Wir haben ein gutes Ale gebraut, und etwas zu essen findet sich vielleicht auch.«
»Ich komme mit, nur essen kann ich nicht«, sagte er matt. »Ich glaube, sämtliche Zähne sitzen locker.«
»Laßt mich sehen«, sagte ich.
»Nicht hier; das schickt sich nicht.«
»Na gut, dann gehen wir eben. Ob Ihr Euch auf meine Schulter stützen mögt.« Er fuhr zurück.
»Das schickt sich genauso wenig«, sagte er. Doch nach ein paar Schritten wurde er blaß um die Nase.
»Vielleicht brauche ich Eure Hilfe doch.«
»Manchmal brauchen wir alle Hilfe; aber Geben ist nun mal seliger als Nehmen.«
»Ihr redet wie eine alte Frau«, sagte er und stützte sich dabei auf meine Schulter.
»Wie eine alte Frau, wie ein Mann; niemand findet, daß ich wie ich rede – einfach wie Margaret. Was das angeht, ist es schon eine merkwürdige Stadt.« Jetzt gingen wir von Bishopsgate in Richtung Cornhill. Viel weiter war es nicht, und das war auch gut so. Er sah nicht so aus, als ob er noch viel weiter hätte gehen können.
»Ihr seid nicht aus London?« fragte er.
»Nein, ich bin vom Lande.«
»Das hätte ich mir denken können. Für ein Stadtmädchen seid Ihr zu einfältig.«
»O, bitte, so einfältig nun auch wieder nicht.«
»Nein, das nehme ich zurück. So einfältig nun auch wieder nicht. Biegen wir hier ab?« Wir waren mittlerweile in unserer schmalen Gasse angelangt und mußten uns vorsehen, daß wir nicht in Unsägliches im Rinnstein traten. Als wir vor der Haustür standen, machte Peter auf. Vater Edmund sah erschrocken aus, während Peter vor Freude auf- und abhüpfte und grunzte und grinste.
»Bekommt keinen Schreck, Vater Edmund, er will guten Tag sagen. Er freut sich, Euch zu sehen.«
»Wer oder was ist das?«
»Tut ihm nicht weh. Das ist Peter, Mutter Hildes letztes, verbleibendes Kind. Er ist nie ganz richtig im Kopf gewesen, aber sie ist gut zu ihm. Er tut niemand etwas zuleide.«
»Ist er ein Christ?« Vater Edmund sah noch immer entgeistert aus.
»O Vater Edmund, er ist zu einfältig, um dergleichen zu verstehen. Aber er liebt Christus – er küßt das Kreuz, seht Ihr?« Ich hielt Peter mein Kreuz hin, und er bückte sich unbeholfen darüber. Vater Edmund lächelte matt, so gut es eben mit seinem schmerzenden Mund ging.
»Das ist also das Los des berühmten Brennenden Kreuzes? Eine arme Wehmutter vom Lande trägt es in London spazieren, und ein sabbernder Idiot küßt es.«
Das brachte mich in Harnisch, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich setzte ihn ans Feuer, denn wo die Sonne nicht hinkam, war es kühl, und schenkte ihm Ale ein. Er trank ein Schlückchen und verzog das Gesicht. Ich bemerkte, wie seine Blicke ununterbrochen durchs Zimmer schweiften, auch wenn er seinem Bein zuliebe stillsaß. Wie gut, daß wir just gestern blitzblank saubergemacht hatten. Die Katze kam mit einem Kätzchen im Maul an ihm vorbei und verschwand hinter dem Holzstoß. Dann tauchte sie ohne Kätzchen wieder auf, ging an ihm vorbei und kam mit dem nächsten Kätzchen daherstolziert.
»Was hat denn die vor?«
»Sie zieht mit ihren Kleinen um. Das macht sie von Zeit zu Zeit. Irgendwann mag sie ihr Lager nicht mehr und zieht um.«
»Und was ist das für ein Geschöpf, das Euch an der Tür begrüßt hat? Und welches Ende ist der Kopf?«
»Das ist Lion; er ist ein Hund, und ich zeige Euch auch seinen Kopf. Hierher, Lion.« Lion kam von seinem Platz zu meinen Füßen hoch.
»Mach hübsch, Lion.« Der Hund machte Männchen. »Da«, sagte ich, »das ist sein Kopf.« Die rosige Zunge hing Lion aus dem Maul, und seine braunen Augen funkelten tief verborgen im Fell. Er sah aus, als lachte er. Ich nahm ihn auf den Schoß, wo er auf der Stelle einschlief.
»Was für ein seltsamer Hund. Irgendwie sieht alles in diesem Haus seltsam aus.«
»Ich bin nicht seltsam.«
»Da bin ich mir gar nicht so sicher, Margaret. Macht Ihr das eigentlich immer noch? Das, was ich in jener Nacht gesehen habe? Mir ist da ein selbstsüchtiger Gedanke gekommen. Es geht um meine Schmerzen, die ich eingedenk von Christi Leidensweg eigentlich ertragen sollte.«
»Wenn Ihr sie ertragen wollt, ich werde Euch nicht daran hindern. Aber wenn nicht, dann helfe ich Euch.« Vater Edmunds Gesicht sieht ehrlich aus, dachte ich. So als ob er alles in den richtigen Hals kriegt, wenn Ihr wißt, was ich meine. »Dieser Tage mache ich es ohnedies viel.«
»Viel? Was soll das heißen?« Er sah erschrocken aus.
»Naja, es hat in den Wochenstuben angefangen. Hier und da habe ich gesehen, daß ich helfen konnte und das dann auch getan. Die Leute sind wiedergekommen, bloß weil sie eine Arznei brauchten oder gesundgebetet werden wollten, und dann haben sie ihre Freunde geschickt. Ich bekomme jetzt viele Leute aus der Gegend hier zu sehen – vornehmlich Frauen, aber meistens ist es Kleinkram. Mit dem tue ich mich nämlich leichter. Ich habe schreckliche Angst vor dem Tod. Es könnte mich glatt hineinziehen. Es gibt Dinge, die kann ich nicht heilen: sie sind zu groß oder zu schrecklich für mich, und solche Kraft habe ich eben nicht. Das merke ich gewöhnlich und sage es demjenigen auch. Am besten wirkt es allerdings bei Warzen.«
»Bei Warzen?«
»Ja – bei Warzen, Grützbeuteln, Kleinkram eben. Manchmal heile ich auch Brüche, aber erst, wenn der Chirurg sie eingerichtet hat.«
»Soll ich das so verstehen, daß Ihr eine göttliche Gabe zur Entfernung von Warzen empfangen habt?« Er saß da auf der Bank, hatte das schlimme Bein hochgelegt und hielt sich das Knie. Er sah fassungslos aus.
»Ich habe nicht gesagt, daß ich eine Gabe habe, aber da Ihr das meint, will ich es auch nicht leugnen. Wie groß sie ist, weiß ich nicht, aber wohl nicht sehr groß, weil ich nicht groß bin. Warzen – Kleinkram –, zuweilen ein Fieber, das ist so meine Größenordnung.«
»Also, ich habe meine Wahl getroffen, ich möchte ohne Schmerzen leben. Die Zähne könnten mir ausfallen, und mit dem Knie da kann ich nicht mehr knien, bei einem Priester eine sehr böse Sache.«
»Dann will ich helfen, doch Ihr müßt Euch hinlegen. Es gibt an Euch viele Stellen, denen ich die Hand auflegen muß.« Ich setzte Lion an der Feuerstelle ab.
Er stöhnte, als er hochkam und sich auf der langen Bank am Tisch ausstreckte, und ich kniete, bis das Zimmer sanft orangefarben leuchtete und sich meine Hände warm anfühlten. Ich spürte, wie seine durchdringenden Augen mich mißtrauisch anstarrten, aber ich sah nicht hin, denn dann wäre ich nicht mehr ganz bei der Sache gewesen. Ich legte die Hand der Reihe nach auf jede Prellung und hörte mit dem geschwollenen Knie auf.
»Jetzt ein Weilchen nicht bewegen. Man muß ihnen ein wenig Ruhe gönnen, damit sie ganz ausheilen können. Mit dem Knie müssen wir es ein paar Mal versuchen. Es ist drinnen durcheinander geraten – irgendwie gerissen oder gebrochen.«
»Ich weiß.«
»Tut es noch an Stellen weh, die ich nicht sehen kann.«
»Hier an meiner Seite.« Ich befühlte sie behutsam durch die Falten seines Gewandes.
»Die Rippe ist gebrochen«, verkündigte ich.
»Woher wollt Ihr das wissen, wo ich es doch nicht einmal selber weiß?«
»Ich kann rings um den Leib so eine Art Schatten spüren. Wenn er sich schartig anfühlt, dann ist inwendig etwas gebrochen. Früher habe ich das nicht so gewußt, aber ich lerne unentwegt dazu.«
»Beim Himmel, es geht mir schon viel besser.« Er setzte sich auf und stellte die Füße auf die Erde, wobei er sich das Kinn rieb.
»Ich habe Euer Gesicht strahlen sehen, Margaret. Wie ist das über Euch gekommen? Habt Ihr es durch Gebet, durch Kontemplation oder durch göttliche Fügung erworben?« Er sprach in überraschend umgänglichem Ton.
»Es ist von selbst gekommen, und das zu einer Zeit, als ich alle Hoffnung aufgegeben hatte. Diese Gabe ist eine Art Überbleibsel einer Vision, die ich einst hatte. Eine Vision von Licht.«
»Was habt Ihr getan, als es über Euch kam? Habt Ihr gerade gebetet? Ist es plötzlich gekommen?« Merkwürdig, daß sich jemand für die Vision interessierte. Irgendwie war es eine Erleichterung, daß ich darüber reden konnte, auch wenn ich nicht so recht wußte, wie. Manchmal ist es hilfreich, wenn man etwas in Worte fassen muß.
»Nein, Vater Edmund, ich betete gerade nicht. Ich wollte wohl, aber es ging nicht. Ich habe an nichts gedacht. Und genau das habe ich eben auch getan. Ich habe meinen Geist auf das Nichts gerichtet. Nicht das, was Ihr mit ›nichts Besonderes‹ meint, sondern ein echtes Nichts, was sehr groß ist. Versteht Ihr, was ich damit sagen will? Ich weiß nicht so recht, ob ich es richtig ausdrücke.«
»Ihr drückt es völlig richtig aus, und ich verstehe vollkommen. Das haben schon andere vor Euch getan, doch nicht auf diese sonderbare, rückständige Art wie Ihr.« Er blickte mich an und schüttelte den Kopf. »Und sie laufen damit auch nicht in der Stadt herum und heilen Warzen! Auf diesen Einfall kann auch nur ein Mädchen vom Lande kommen. Ihr solltet mit Gott sprechen, wenn es über euch kommt. Über Erhabenes, versteht Ihr, auf einer höheren Ebene. Fürwahr, Ihr seid wirklich unmöglich.«
»Tut mir leid, daß ich unmöglich bin. Ich versuche doch nur, das Beste daraus zu machen. Ich glaube, Gott möchte, daß die Menschen gesund sind – darum läßt er mich dabei helfen, daß sie sich selbst heilen. Ich hätte gern mehr gelernt, damit ich alles so tun könnte, wie es sich geziemt, doch das ging nicht. Aber ich gebe mir alle Mühe, ich beobachte und denke nach.« Ich sprach demütig, denn es ist sehr unklug, einen Priester vor den Kopf zu stoßen – selbst einen, der nett wirkt.
Er trank einen ganzen Krug Ale und noch einen, darauf aß er Brot und Käse. Er sah wirklich viel, viel besser aus.
»Was berechnet Ihr für diese – äh – Hilfe zur Heilung?«
»Gar nichts, wirklich, aber sonst bekomme ich Sachen, je nachdem was die Menschen von meiner Hilfe halten. Meistens Gemüse, oder ein Hühnchen. Kleider, solche Sachen eben. In anderen Stadtteilen zuweilen auch Geld. Aber hier sind die meisten arm.«
»Das habe ich bemerkt. Fürchtet Ihr Euch nicht in dieser Gegend? Sicher ist es hier nämlich nicht.«
»Früher schon, aber seitdem ich hier jedermann kenne, ist es nicht mehr so schlimm. Die Menschen sind sich überall gleich. Vor den großen Herren fürchte ich mich mehr. Ich habe mal einen kennengelernt, der konnte einem wirklich Angst einjagen. Wild und grausam war er, weil er tun und lassen konnte, was er wollte.«
»Ihr fühlt Euch hier also wohl?« Er blickte sich um, aber ich merkte, daß er einen gewissen Abscheu verbarg.
»O, unser Geschäft geht gut. Hilde und ich bekommen die Geburtshilfe recht anständig bezahlt. Manchmal wenden sich Menschen auf der Straße oder in der Kirche an mich und geben mir Geld, damit ich für sie bete. Das habe ich alles gespart, und davon haben wir das Dach ausbessern lassen. Dachziegel sind nämlich furchtbar teuer. Vergangenen Winter hat es böse durchgeregnet, und weil wir nicht immer Feuerholz hatten, mußten wir schrecklich frieren. Jetzt geht es uns besser, viel besser.«
»Hilde ist Eure Lehrherrin? Die, von der Ihr gesprochen habt?«
»O, Ihr vergeßt aber auch gar nichts! Aber ich bin auch neugierig. Ich möchte nämlich wissen, warum Ihr in der Stadt hinter wundertätigen Pfannkuchen her seid, anstatt die Messe zu lesen.«
»Ich bin Theologe. Wißt Ihr, was das ist?«
»Ein Mann, der Religion studiert – alles über Gott. Seid Ihr Magister oder Doktor?«
»Oho! Ihr wißt mehr, als Ihr vorgebt, Margaret. Woher weiß ein Mädchen vom Lande derlei?«
»Ich habe einen Bruder, der Theologie studiert. Er war so furchtbar klug, daß ihn Abt Odo von St. Matthew's auf seine Kosten nach Oxford geschickt hat. Ich weiß es also von meinem Bruder.«
»Ja, das ist natürlich etwas anderes! Seht Ihr Euren Bruder oft?«
Mir war auf einmal traurig zumute. »Nie«, sagte ich. »Ich habe ihn verloren und weiß nicht, wo er ist. Ich habe alles verloren, was mein war, außer die Menschen in diesem Haus hier.«
»So ist das also. Habt Ihr sie vor der Vision verloren?« Jetzt klang er brüsk und berufsmäßig.
»Ja, natürlich«, gab ich zurück.
»Hmm. Ich glaube, es gibt einen Namen für Eure Gabe. Einen lateinischen, darum würdet Ihr ihn nicht verstehen. Habt Ihr nach Eurer Vision das Gefühl eines Einsseins mit dem Universum gehabt?«
»Ich glaube, so hat es sich angefühlt. Ist das schlimm?«
»Im großen und ganzen ist es gut. Doch ist es selten, und wer sich in der Kunst der Kontemplation übt, begehrt es innigst. Ja, ich bin selber etwas neidisch auf Euch, weil ich es auch angestrebt habe. Aber Gott hat mir dieses Gefühl vorenthalten. Und ich möchte gewißlich keine Frau und unwissend sein, nur um es zu erlangen! Nehmt Euch in acht, Margaret, denn wenn Ihr mehr tut, als arme Leute zu heilen, weckt Ihr Neid. Großen Neid höheren Ortes, und das tut nicht gut. Doch jetzt muß ich gehen.«
Er stand auf und wollte sich verabschieden, aber er humpelte immer noch leicht.
»Nächste Woche nehme ich mir Euer Knie noch einmal vor, wenn Ihr wollt.«
»Ja, gern. Ich komme wieder. Außerdem wird hier im Haus ein gutes Ale gebraut.«
»Das sollte es auch. Meine Mutter war Brauerin.«
»Brauerin? Ha! Brauerin. Natürlich. Warum auch nicht?« Und er trat aus der Tür, ging die Straße entlang und summte dabei etwas Seltsames vor sich hin.
Ein paar Tage später stand ein kleiner Page in prächtiger Livree vor unserer Tür. Seine Herrin wollte ihre Haut behandelt haben und meinte, sie könne es mit mir versuchen, da die Ärzte sie im Stich gelassen hätten. Ich dachte, sie hat durch Vater Edmund von mir gehört, denn in so hohen Kreisen verkehre ich nicht. Die Dame war Ausländerin, und ich verstand sie nicht, aber eine ihrer Gesellschafterinnen, ein schönes, erlesen gekleidetes, dunkelhaariges Mädchen, übersetzte mir, was ihr fehlte. Madame hatte sich von der Welt zurückgezogen und ihr Gesicht verschleiert, damit man es nicht sah. Es bestand nur noch aus offenen Schwären und Pusteln. Man hatte sie zur Ader gelassen, geschröpft, sie hatte ausgefallene Arzneien aus gestampftem Gold und Quecksilber eingenommen. Nichts hatte angeschlagen. Ihr entnervter Arzt hatte ihr am Ende gesagt, jetzt hülfe nur noch Beten, und so hatte sie nach einem Priester von der St. Paul's Kathedrale geschickt.
Man führte mich in einen Raum, der um vieles luxuriöser war, als ich diesseits von Eden erwartet hatte. Es war wunderbar warm, doch kein Rauch vom Herdfeuer störte. Das Feuer war in der Wand eingelassen, und sein Rauch zog durch einen sinnreich erdachten Schornstein ab, der über einem reich gemeißelten Kaminsims emporstieg. Die Wände über den geschnitzten Paneelen waren ein einziger Wandteppich aus gold-durchwirkter Seide. Das Licht konnte in breiten Strahlen hereinfallen, ohne daß zugleich Frostluft eindrang, denn die Fenster waren aus kleinen, durchsichtigen Glaskreisen gemacht und fast so schön, wie man sie in der Kirche zu sehen bekommt. Man hatte sie mit Blei gefaßt und zu Scheiben zusammengesetzt. Sie ruhte auf dem Bett, einem großen, vergoldeten und mit Brokat verhüllten Ding, und hatte sich den Schleier übers Gesicht gezogen. Neben dem Bett, in der Nähe eines runden, mit einem kunstvoll gewebten Damasttuch bedeckten Tischchens, saß noch eine ausländische Gesellschafterin, schöner gekleidet als eine Königin, und las ihr aus einem Stundenbuch vor. Ach, war das ein prächtiges Buch! Der Einband mit Juwelen besetzt und innen lauter merkwürdige, bunte Bilder und Vergoldungen. Frauen, die lesen konnte! O, von ganzem Herzen wünschte ich mir, ich dürfte das Buch anfassen und seine wunderschönen Seiten betrachten.
Auf dem Tisch stand eine Messingschale mit den ersten Frühlingsblumen und daneben ein Rauchgefäß, aus dem es noch lieblicher duftete als Weihrauch in der Kirche. Aber ich habe Euch noch nicht erzählt, was das Beste an dem Zimmer war. Um den harten Steinfußboden weicher und wärmer zu machen, lagen dort keine verfilzten, schmutzigen Binsen ausgebreitet. Stattdessen war er peinlichst sauber gefegt und mit einem riesigen, dicken Teppich mit einem eingewebten Muster aus märchenhaften Ungeheuern und Pflanzen bedeckt. »Wenn ich reich wäre«, dachte ich bei mir, »ich würde nie wieder Binsen nehmen – bloß noch Teppiche wie der da.«
Aber ich muß Euch von der Dame erzählen. Ihr Arzt stand neben ihr, ein Ausländer in einem langen, dunklen Gewand und einer komischen, schwarzen Kappe, mit schwarzem Haar und einem gesträubten, schwarzen Schnurrbart. Wortlos hob sie den Schleier. Die dunklen Augen der Dame waren hübsch, aber das war auch alles. Das Gesicht hätte einem aussätzigen Bettler auf der Straße gehören können. Ich fuhr ein wenig zurück.
»Hat sie den Aussatz?« fragte ich ihren Arzt.
»Nein, keinen Aussatz, aber etwas anderes.« Er sprach mit einem starken Akzent. Dann redete er Latein. Das tun sie alle. Ich ließ mir heißes Wasser bringen und machte einen Aufguß aus lieblich duftenden Kräutern, wrang ein Tuch darin aus und tat es ihr aufs Gesicht. Alsdann versetzte ich mich schweigend in die bewußte Geistesverfassung und legte meine Hände auf das Tuch. Vielleicht klappte es schneller ohne das Tuch, aber wie ich schon gesagt habe, ich bin feige und fasse nicht gern eklige Sachen an, wenn es sich vermeiden läßt. Wir nahmen das Tuch ab. Die Pusteln schwärten nicht mehr, und die Haut sah auch nicht mehr so entzündet aus. Die Dame meinte, es täte nicht mehr so weh. Ihre Gesellschafterin hielt ihr einen polierten Bronzespiegel vors Gesicht. Sie wirkte mitgenommen, aber beglückt. Die Gesellschafterin sagte:
»Sie findet, es sieht schon besser aus. Ob Ihr es noch einmal versucht?«
»Sagt ihr, heute noch einmal und dann nächste Woche wieder. Es braucht seine Zeit, bis alles abgeheilt ist. Sie muß den Schleier ablegen, damit Luft daran kann, und sie muß das Gesicht einmal am Tag – nur einmal! – mit einem sauberen, in Rosenwasser getränkten Leinentuch waschen.« Die Dame nickte. Der Arzt legte den Kopf schief.
»Ihr verwendet nur Kräuter? Keine Metalle?«
»Ich bin eine einfache Frau, Sir, und verwende einfache Dinge. Ich glaube, wenn Gott gewollt hätte, daß wir Metalle essen, hätte er uns statt eines Magens einen Schmelztiegel gegeben.«
»Gesprochen wie ein Mann! Seid ihr eine Bauerndirne?«
»Nein, ich bin eine Freigeborene, und ich denke wie ich.«
»Das merkt man.« Er schwieg vor sich hin, und seine dunklen Augen beobachteten mich wie die einer Katze, als ich alles noch einmal wiederholte. Das Gesicht sah schon viel besser aus. Die Poren wurden kleiner, und hier und da leuchtete ein Stückchen weiße Haut.
Der Arzt untersuchte ihre Haut und blickte mich dann etwas widerwillig bewundernd an.
»Ich sehe, auch Ihr seid zum Arzt berufen«, sagte er mit seinem starken Akzent. »Erlaubt, daß ich mich vorstelle. Ich bin Dottore Matteo di Bologna. Und Ihr seid –?« Seine forschen, ausländischen Manieren machten mir irgendwie Angst, ich überlegte, ob er mir gefährlich werden könnte. Hatte Vater Edmund mich nicht davor gewarnt, Neidgefühle zu wecken? Aber es war zu spät. Ich durfte nicht unhöflich sein: das würde nur verdächtig wirken.
»Ich bin Margaret von Ashbury«, antwortete ich schlicht und fuhr mit der Arbeit fort.
Auf einmal starrte mich die Frau an und riß die Augen auf.
Die Worte stürzten nur so aus ihr heraus, und ich merkte, daß sie dabei das Kreuz anblickte, das auf meiner Brust glänzte.
»Madame sagt, es ist kein Wunder, daß Ihr die Kraft zum Heilen besitzt. Ihr tragt das Brennende Kreuz.« Schon wieder! Aber wieso sollte ausgerechnet ich ihr den Glauben nehmen?
»Sie sagt, sie hätte sich schon immer gefragt, wo es geblieben wäre. Ihr Onkel besaß es, und es verschmorte ihn bis auf die Knochen. Danach wollte er es loswerden. Er hat es irgendeinem Kleinkrämer angedreht, der ihm wegen einer Schuld zusetzte.«
Es geht schon sonderbar zu auf der Welt. Doch manchmal geschehen zu viele Dinge auf einmal.
»Madame sagt, das hier ist Euer Honorar. Sie gibt Euch Gold statt Silber, denn sie möchte, daß Ihr für sie betet. Kommt nächste Woche wieder.«
Als man mich zur Tür brachte, folgte mir der ausländische Doktor.
»Was Ihr sagt und Ihr tut, erscheint durchaus vernünftig. Ich hatte in Bologna einst einen Lehrer, der bei den Sarazenen studiert hatte. Der sagte auch so Sachen wie Ihr. Habt Ihr mit diesen Methoden viel Erfolg?«
»Wenn ich sie ausprobiere, ja. Aber normalerweise behandle ich keine Krankheiten. Ich bin Wehmutter.«
»Wehmutter! Ach ja! Darunter gibt es einige, die sind gar nicht so dumm.« Er sah erleichtert aus und ließ mich allein auf die Straße gehen.
Als ich nach Haus kam, rief ich:
»Hilde, Hilde! Bist du zuhause? Wir sind reich!«
»Gut, daß wir reich sind, denn ich habe heute nicht einen Penny verdient. Taucht da doch ein Mann auf, der etwas haben will, wovon seine Geliebte ihr Kind loswird. ›Solche Arzneien verkaufen wir nicht‹, sage ich, ›denn das ist gegen die Gesetze der heiligen Mutter Kirche.‹ ›Aber Ihr kennt Euch damit aus?‹ fragt er und zeigt mir das Gold in seiner Börse. ›Nein‹, sage ich, ›von derlei habe ich noch nie gehört.‹ ›Dann seid Ihr eine schlechte Wehmutter‹, sagt er. ›Nein‹, sage ich, ›ich bin eine gute, ich hole nämlich lebendige Kinder auf die Welt.‹ Damit ging er. Na, wie findest du das?«
»Weiß ich nicht, aber ich finde, wir sollten zu Abend essen. Ist Sim da? Er kann uns etwas holen.« Sim spielte, aber in der Nähe, so daß man ihn herbeirufen konnte, und dann sauste er nur zu gern zur Garküche.
In dem Augenblick hörten wir jemand an der Tür und machten auf. Da stand eine alte, tränenüberströmte Frau. Sie trug ein rostfarbenes Kleid, das schlichte, graue Überkleid einer Frau vom Lande, das wie eine große Schürze geschnitten ist, und ein grobes, weißes Kopftuch. Sie sah eigentlich harmlos aus, doch irgend etwas an ihr wollte mir nicht gefallen.
»Erbarmen, was ist denn passiert?« sagte Mutter Hilde. »Kommt herein und setzt Euch.«
»O, o, o«, weinte die alte Frau, »mein süßes Töchterchen ist schwanger, und ihr Liebster will sie nicht heiraten.«
»Das ist sehr traurig. Braucht sie eine Wehmutter?« fragte Mutter Hilde sanft.
»Noch nicht. Was sie braucht, ist eine Hochzeit. Ihr verkauft doch Arzneien. Könnt Ihr nicht einen Liebestrank für sie zubereiten, daß ihr herzloser Liebster um ihre Hand anhält?«
»Ach, liebe Frau«, erklärte ich geduldig, »das ist Schwarze Kunst und für Quacksalber, die sich mit Magie abgeben. Wir wissen nicht, wie man das macht. Wir bereiten Tees für Halsschmerzen zu.«
»Ach, natürlich könnt Ihr das, ich brauche ihn doch so dringend. Da. Ich habe euch die Ersparnisse meines ganzen Lebens mitgebracht.« Sie öffnete eine Börse, in der es golden schimmerte. Sehr merkwürdig bei einer armen, alten Frau, dachte ich.
»Gut, meine Lieben«, sagte sie und wischte sich die Augen, »wenn Ihr ganz und gar nicht wollt – ach, o weh, wo ist Euer Abtritt? Ich bin so alt, meine Blase tut es nicht mehr richtig.«
»Den zeige ich Euch gern«, sagte ich und führte sie durch das Hinterzimmer zu dem kleinen Raum hinten am Haus, der sich in eine Grube im Garten entleerte. Als wir durch Bruder Malachis Stinkezimmer gingen, sah sie sich gründlich um. Es sah wie ein gewöhnliches Zimmer aus.
»O, was ist denn in dem Krug da?« fragte sie mit unschuldig klingender Stimme.
»Honigbonbons für Kinder, die Husten haben. Sie mögen nämlich nichts, was schlecht schmeckt.«
»Darf ich einen?« Als ich ihr den Bonbon holte, sah sie sich die anderen Krüge an und roch daran. Dann steckte sie sich das Stückchen in den Mund und verrichtete ihr Geschäft. Ich wartete in Bruder Malachis Zimmer auf sie und führte sie dann zur Tür.
»Schon wieder so jemand!« rief Mutter Hilde aus. »Zuerst wollen sie ein Pulver zum Abtreiben und dann einen Liebestrank! Als nächstes fragen sie noch nach Kerzen aus Menschenfett und Händen von ungetauften Kindern! Was hat das alles zu bedeuten? Hoffentlich kommen wir nicht in einen schlechten Ruf! Kaum zu glauben, aber da scheint jemand zu meinen, daß wir uns hier mit Schwarzer Magie befassen.«
Ich dachte sehr, sehr gründlich nach. Es reimte sich alles zusammen.
»Hilde, ich glaube, es steht sehr schlecht. Jemand versucht, Beweise gegen uns zu sammeln. Beweise für Hexerei.«
Aber die Tage gingen ins Land, und nichts geschah. Da verscheuchte ich meine Sorgen. Das Geschäft lief immer besser. Seit ich die reiche Dame behandelt hatte, war ich nicht nur bei werdenden Müttern bekannt, sondern auch bei Leuten von Welt. Mittlerweile hatte ich mehrere wohlhabende Patienten, denen ich die Hand auflegen mußte. Aber natürlich ist man mit einer Glückssträhne nie zufrieden. Ich beklagte mich bei Hilde:
»O Hilde, alles gut und schön, daß man von alten, häßlichen Leuten hohe Honorare bekommt, aber lieber würde ich schönen, rosigen Kindern auf die Welt helfen.«
»Man soll sein Glück nie bereden, Margaret, liebes Mädchen«, sagte die alte Frau, ohne auch nur von ihrer Flickarbeit aufzublicken. »Du könntest es verjagen.«
Doch Fortuna machte keine Miene, uns zu verlassen. Eher hatten wir noch mehr Glück, als nämlich ein gut gekleideter kleiner Lehrling auftauchte und bat, ich möge seinen Herrn in seinem großen Haus am Fluß behandeln. Und so zählte denn schon bald ein alter Kaufmann zu meinen regelmäßigen Patienten, der so reich war, daß allein von seinen Honoraren der ganze Haushalt leben konnte. Er gehörte zu jener Sorte von Nörglern, welche Ärzte schätzen, denn sie werden nie gesund und sterben auch nicht – und müssen ständig behandelt werden. Dieser nun hatte Gicht. Die Anfälle machten ihn beinahe zum Krüppel, aber vernünftig leben, damit sie aufhörten, das wollte er nun auch wieder nicht. Stattdessen schickte er nach mir, damit ich ihn von den Schmerzen befreite, und verfiel alsbald wieder in seine schlechten Gewohnheiten. Da lag er dann wohl wie ein Frosch, hatte sich die Kissen auf seinem großen Himmelbett in den Rücken gestopft und seinen elenden, geschwollenen Fuß auf einem gestickten Polster hochgebettet.
»Seht Ihr denn nicht ein, daß die Anfälle aufhören würden, sowie Ihr Euch nicht mehr mit all dem üppigen Essen vollstopft und Wein trinkt«, sagte ich dann wohl.
»Aufhören? Es war ein hartes Stück Arbeit, bis ich so reich war, daß ich mir all diese Annehmlichkeiten leisten konnte. Ei, als ich jung war, bin ich viele Male hungrig zu Bett gegangen, und das habe ich nie wieder vor.«
»Zumindest aber«, beschwerte ich mich, »solltet Ihr nicht essen und trinken, während ich Eurem Fuß die Hände auflege, Master Kendall.«
»Was? Nicht essen und trinken? Legt einfach Eure hübsche, kleine Hand dorthin, meine Liebe«, (und er deutete mit einem Lammkottelett) »genau dort, wo es am meisten wehtut.«
Kinder zu entbinden ist viel leichter, als störrische, alte Männer von ihren Lastern zu befreien!
So ging es eine Zeitlang, denn bei Master Kendall versagte ich als Heilerin, bis Fortuna, die nur den richtigen Augenblick abgewartet hatte, vernichtend zuschlug.
Es war ein unvergleichlicher Morgen, Pfingsten lag noch nicht lange zurück, als ich von einer Nachtwache bei einer Frau in der Watling Street nach Haus kam. Der Himmel war ganz rosig und lieblich und ich fröhlich wie ein Vogel, als ich bei unserer Haustür anlangte, denn es war alles gut gegangen, und in der Börse an meinem Gürtel trug ich ein Honorar. Zu meiner Überraschung sah ich Vater Edmund um diese merkwürdige Stunde einem schwarzen Schatten gleich vor der Haustür stehen und klopfen.
»Vater Edmund, was macht denn Ihr hier?« Er drehte sich erschrocken um und sah schuldbewußt aus.
»O, Margaret, da seid Ihr ja! Ich kann niemand im Haus wachbekommen.«
»Weil niemand zu Haus ist, Vater Edmund, aber jetzt bin ich ja da.«
»Euch wollte ich auch aufsuchen, Margaret. Ich bin hier, um Euch zu warnen.« Wieder blickte er verstohlen die Gasse entlang und zur Straße hin.
»Mich zu warnen? Wovor?« fragte ich erschrocken.
»Kommt hinein«, sagte er und lud mich in mein eigenes Haus ein. Als wir dann am abgedeckten Feuer saßen, sagte er etwas sehr Seltsames.
»Margaret, was wißt Ihr von Eurem Katechismus?«
»Ja, das was jedermann weiß, daß Gott Himmel und Erde geschaffen –«
»Nein, nein, ich meine von den Sakramenten.«
»Ja, durch die Worte des Priesters verwandelt sich die Hostie in den wahren Leib Christi –«
»Das reicht – aber was ist mit der Würdigkeit des Priesters?«
»Es ist nicht wichtig, ob er würdig oder unwürdig ist, wenn nur die Worte richtig gesagt –«
»Auch gut.« Und so ging es fort und fort, er berichtigte und fragte, und seine Augen blickten verzweifelt.
»Was um Himmels willen stimmt nicht, Vater Edmund? Ich bin eine gute Christin«, sagte ich ängstlich.
»Daran zweifle ich keinen Augenblick, Margaret, andere jedoch. Ihr habt den Neid geweckt, von dem ich sprach, und jemand, wer, das weiß ich nicht, hat Euch beim Bischof angezeigt. Ihr könnt noch von Glück sagen, daß der König die Inquisition in England nicht frei walten läßt.«
»Inquisition? Was ist das?«
»Mehr darf ich nicht erklären. Ich habe schon zuviel gesagt. Ich habe alles aufs Spiel gesetzt. Wenn Ihr mich wiederseht, dann tut um Christi willen so, als ob Ihr mich nicht kennt.« Er ergriff meine Hände und sah mich durchdringend an. »Ich sorge dafür, daß Ihr gerettet werdet, falls es Gottes Wille ist. Ich weiß, daß Ihr eine christliche Frau seid und vielleicht sogar noch mehr.« Damit schlüpfte er verstohlen aus der Tür und hastete in eine andere Richtung davon, damit er nur ja nicht gesehen wurde.
Ich war sehr durcheinander und beunruhigt. Ich hatte keiner Seele etwas zuleide getan. Ich bemühte mich, Gutes zu tun und die Wahrheit zu sagen. Warum brachte das wohl Vater Edmund so außer sich? Lange mußte ich mich nicht beunruhigen, denn kaum hatte ich das Feuer entfacht und einen Topf aufgesetzt, da klopfte es auch schon an die Tür. Mit dem Klopfen hat es etwas Eigenartiges auf sich. Manch eines ist fröhlich. Manches ängstlich. Dieses war unheilverkündend. Wenn doch nur jemand – jemand sehr Starkes, vielleicht ein Hüne mit einem riesigen Knüppel – hinter mir gestanden und mir geholfen hätte, als ich die Tür aufmachte. Vor Angst drehte sich mir der Magen um, als ich den Riegel wegschob. Ein Gerichtsbote und zwei Büttel standen im Frühlicht vor der Tür. Freundlich sahen sie nicht gerade aus.
»Seid Ihr die Frau, die sich Margaret von Ashbury oder Margaret die Wehmutter nennt?« Ich wußte, was sie hergeführt hatte. Die Knie fingen mir an zu zittern. Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte mich erbrochen. Mein Mund war ganz trocken, als ich zu sprechen versuchte.
»Die bin ich.«
»Dann seid Ihr die Richtige. Kommt mit.« Sie packten mich bei der Schulter und zerrten mich grob von der Tür weg. Ich zitterte wie Espenlaub, als sie mir Handschellen anlegten.
»I-ich laufe schon nicht weg. D-das m-müßt Ihr nicht tun«, stammelte ich.
»Ihr seid eine gefährliche Frau. Es könnte Euch ja jemand entführen wollen. Wir sind gewarnt, uns führt Ihr nicht hinters Licht.« Einer der Büttel klopfte auf das Heft des Kurzschwertes, das er trug.
Ich wagte kaum, den Blick zu heben, so sehr schämte ich mich, als sie mich abführten. Die Tür stand noch offen. Wir waren keine drei Schritt gegangen, als Sim zusammen mit Lion angesprungen kam und rief:
»He, sie nehmen unsere Margaret mit!«
»Margaret?« Ein Kopf lugte aus dem Fenster. Wir in der Diebesgasse sind Frühaufsteher. Ein paar Männer kamen uns nachgelaufen.
»He, wohin bringt Ihr Margaret? Wir brauchen sie hier.«
»Zurück, oder Ihr seid des Todes«, sagte der Gerichtsbote. »Sie gehört jetzt dem Bischof.« Die Büttel zogen drohend die Schwerter, während der Gerichtsbote mich am Arm gepackt hielt. Meine Nachbarn wichen zurück. Ich konnte mich nicht umdrehen, aber ich spürte, daß hinter mir noch mehr Menschen zusammengelaufen waren, eine große Schar Männer und Frauen, die schweigend dastanden und zusahen.
»Gott steh dir bei, kleine Wehmutter!« hörte ich eine Frau schluchzen. Vor Tränen konnte ich nichts sehen, während sie mich wie eine Blinde abführten.
Es war ein langer Weg, kann sein, der längste meines Lebens, ehe wir unser Ziel erreichten: das Domkapitel der Kathedrale. Das ist ein Gebäude, welches Menschen wie ich in der Regel nie zu sehen bekommen, es sei denn, sie haben sehr viel Pech. Dort kommen Dechant und Kanoniker zu Beratungen zusammen, doch es dient auch anderen Zwecken. In einem Winkel zwischen dem Hauptschiff und dem südlichen Querschiff der Kathedrale gelegen, ist es ein achteckiges Gebäude inmitten eines einstöckigen Klosters. Im Nachhinein meine ich, wenn ich bloß eine alte Frau gewesen wäre, die ein paar alberne Liedchen gesungen oder einen Liebestrank verkauft hätte, wahrscheinlich hätte man mir eine Geldbuße auferlegt oder mich ein paar Tage eingesperrt. Wäre ich ein mächtiger, ketzerischer Theologe gewesen, man hätte mich wohl mit großem Aufwand in der Kathedrale selbst angeklagt, damit die Mächtigen beim Anblick der feierlichen Verurteilung und des Scheiterhaufens erzitterten. Stattdessen wußten sie nicht so recht, was ich nun war. Wieso auch nicht, schließlich wußte ich es selber nicht, woher also sie? Und so waren dazumal die Zeiten beschaffen, daß sie einen Aufstand des Pöbels befürchten mußten, wenn sie das Verfahren nicht geheimhielten, denn mittlerweile war ich in allen ärmeren Stadtvierteln wohlbekannt.
Der Gerichtsbote führte mich in einen kleinen Vorraum, der nichts enthielt außer ein paar harten Bänken und an der Wand einen eisernen Ständer für die Pechfackeln. Dann führte er mich einer Art Haushofmeister vor, und der Haushofmeister schickte nach dem Gefängnisaufseher, denn die Kathedrale hat auf ihrem Gelände ein eigenes Gefängnis für Vergehen gegen die Kirchengesetze, so wie die Stadtgefängnisse für Vergehen gegen die weltlichen Gesetze gedacht sind.
»Ist das die Frau?« sagte der Haushofmeister. »Sie ist jünger, als ich dachte. Ich nahm an, sie wäre ein altes Weib.« Seine Stimme klang hart. »Sperre sie ein, Aufseher.« Das lüsterne Grinsen auf seinem Gesicht, als er das sagte, gefiel mir gar nicht.
»Verzeihung, Sir«, unterbrach ihn der Aufseher. »Ich habe augenblicklich nur Männer im Gefängnis. Ich kann für ihre Sicherheit nicht gradestehen.«
»Eine Frau wie die da muß man nicht verhätscheln.« Er kam näher und versuchte, seinen Leib an meinen zu drücken. Ich wich zurück.
»Ach, stell dich nicht an, wer läßt sich wohl einen Trunk aus einem angezapften Faß entgehen?« Er versuchte, mir die Hand in den Ausschnitt zu schieben, aber ich war zu flink für ihn.
Der Aufseher griff ein, denn er war ein anständiger Mensch.
»Ich bin dafür verantwortlich, daß ich sie in dem gleichen Zustand abliefere, wie ich sie übernommen habe, Sir. Sie sollte nicht ins Gefängnis. Ich nehme sie mit nach Haus. Ich glaube nicht, daß sie flieht.«
»Es gilt dein Leben, wenn sie dir abhanden kommt«, knurrte der Haushofmeister.
»Darauf lege ich einen Eid ab; und ich bringe sie genauso zurück, wie sie jetzt ist. Das würde auch der Bischof wollen.«
»Der Bischof, der Bischof. Kann sein, Ihr habt recht, sonst möchte die Vernehmung schlecht auslaufen.« Er knirschte vor Ärger mit den Zähnen.
»Ich habe ein Gewahrsam. Da sperre ich sie ein. Niemand kommt in ihre Nähe, ich schwöre es. Das ist besser so, weil das Gefängnis nicht sicher ist, und wir bekommen womöglich Ärger, wenn wir sie dort verlieren.«
Der Haushofmeister sah wütend aus, weil man ihm seine Beute entriß. Als der Aufseher mich abführte, versuchte ich, ihm zu danken.
»Vergeltet es mir nicht böse«, sagte er barsch. »Erinnert Ihr Euch an die Base meiner Frau? Die Frau des Fischhändlers? Meine Frau sagt, Ihr habt ihr das Leben mit so einem komischen Instrument gerettet, das Ihr mit Euch führt. Sie hat gesagt, ich hätte kein ruhiges Minütchen mehr, wenn Euch im Gefängnis etwas zustoßen sollte. Keine Frau kommt da heil heraus, das könnt Ihr mir glauben.« Als wir bei seinem Haus ankamen – es war nahe gelegen, gehörte es doch zum Gefängnisgelände –, da führte er mich hinein, stellte mich seiner Frau vor, die bereits eine Strohschütte in ihren abschließbaren Vorratsraum gelegt hatte.
»Wehe, du sprichst mit ihr«, sagte er zu seiner Frau. »Hoffentlich bist du jetzt zufrieden. Und den Schlüssel behalte ich lieber.« Er nahm den Schlüssel von ihrem Haushaltsbund ab und befestigte ihn an seinem eigenen Gürtel. Dann sperrte er mich in den kleinen, dunklen Raum unter der Erde. Nur ein stark vergittertes Fensterchen oben an der Decke ließ Licht herein, und auch das nicht eben viel. Da saß ich nun inmitten von Fässern und Kornsäcken und war sehr niedergeschlagen. Und dann merkte ich, daß ich sehr müde und hungrig war. Ich blickte mich um. Nichts zu essen oder zu trinken. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und lugte aus dem Fenster. Es ging auf einen gepflasterten Innenhof. Ich konnte einen Fuß sehen. Er ging fort. Keine rosigen Aussichten.
Da saß ich nun und hätte gern geschlafen, als ich ein ›Psst!‹ vom Fenster her hörte. Die Stimme einer Frau. Ich blickte hoch. Dieses Mal waren zwei Füße zu sehen. Die Füße einer Frau: es war die Frau des Gefängnisaufsehers.
»Was kann ich für Euch tun?« raunte sie.
»Ich bin so hungrig und durstig, und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«
»Habt Ihr bei einer Geburt gewacht?«
»Ja.«
»Ist alles gut gegangen?«
»Ja.«
»So geht es meistens bei Euch. Wir haben alle von Euch gehört.«
»Es hat mir nicht viel Glück gebracht, oder?«
»Aber ich habe schon viel früher von Euch gehört als andere, vonwegen meiner Base. Sie behauptet, Ihr könnt irgendwie den Schmerz wegmachen. Ich habe nämlich einen sehr schlimmen Rücken, genau da –«
»Ich kann nichts sehen, bloß Eure Füße.«
»Es sitzt aber ganz am untersten Ende, nicht etwa oben.«
»Ist es schlimmer, wenn Ihr etwas hebt?«
»Viel schlimmer.«
»Dann bückt Euch nicht mehr, weder im Sitzen noch im Stehen. Hebt ein Weilchen auch nichts Schweres. Laßt eine Magd den Wäschekorb und den Kochtopf heben. Und wenn Ihr leichte Sachen hebt, dann bückt Euch nicht danach. Es braucht seine Zeit, bis es wieder gut ist.«
»Wenn Ihr es berühren würdet, wäre alles gut.«
»Ich komme nicht ran«, sagte ich zu den Füßen.
»Ach, dieser verdammte Mann aber auch! Wenn ich schon mal die Gelegenheit habe, meinen Rücken kuriert zu kriegen –«
»Gevatterin«, flehte ich, »ich bin sehr durstig, könnt Ihr mir nicht wenigstens etwas zu trinken holen?«
»Mein Mann bringt mich um«, flüsterte sie.
»Bloß Wasser, mir ist alles recht«, bat ich.
»Also gut, ich hole was. Aber versteckt mir den Becher. Wenn er ihn findet, bin ich eine tote Frau. Ich soll doch nicht mit Euch reden.«
Ich versprach ihr, den Becher zu verstecken, und die Füße entfernten sich. Dann schob eine Hand einen Becher Ale und einen halben Laib Brot durch das Fenster. Als ich fertig war, versteckte ich den Becher und schlief ein.
Wie gut, daß wir miteinander geredet hatten, denn eine weitere Gelegenheit bot sich nicht, und der Raum wurde erst am Morgen des dritten Tages wieder aufgesperrt. Als der Gefängnisaufseher mich hochbrachte, da merkte ich, daß ich sehr abgerissen und schlampig aussehen mußte. Ich war schier verdurstet und trank fast einen ganzen Eimer Wasser aus, ehe er mir Einhalt gebot aus Angst, ich könnte platzen. Als man mich in den Hauptraum des Domkapitels führte, wo das Verhör stattfinden sollte, da wünschte ich mir aus tiefster Seele, ich hätte wenigstens Gelegenheit gehabt, mir das Gesicht zu waschen. Es fällt schwer, wohlgenährten, gutgekleideten hohen Herren ungekämmt und ungewaschen gegenüberzutreten. Mir war so schwach und hungrig und scheußlich zumute. Aber ich nehme an, das machen sie mit Absicht, damit man schon verunsichert ist, ehe sie mit der Befragung beginnen.
Der Sitzungssaal des Domkapitels ist sehr hoch und wie die Außenwände geformt, das heißt, er hatte acht gleich lange Seiten. An jeder der acht Wände ließ ein hohes, teilweise bunt verglastes Fenster einen langen Lichtstrahl herein, der auf dem Steinfußboden und den Gesichtern der versammelten Würdenträger spielte. Die Decke war hoch und dämmrig, hier und da konnte man Gesichter aus Stein und gemeißelte Verzierungen erkennen, die sich in den verschatteten Ecken, wo Decke und Wand aufeinanderstießen, wie unter dem Scheitelpunkt des Daches verbargen. Zwei Wachen führten mich hinein und ließen mich allein und angstschlotternd mitten im Raum stehen. Dort, vor mir befand sich ein Podest, auf dem stand ein großer, geschwungener, mit einem Tuch verhangener Tisch, an welchem meine Inquisitoren saßen. In der Mitte, auf dem höchsten, am prächtigsten verzierten Stuhl saß der Bischof persönlich, ein alter, ungesund aussehender Mann in Lagen von besticktem Scharlachrot und weißer Seide, die üppig mit feinstem Grauwerk gefüttert war. Er hatte eine lange, normannische Nase und abwesende, arrogante Augen in einem schlaffen Gesicht mit geplatzten Äderchen. Er trug ein großes, goldenes Kruzifix, viel größer und kunstvoller ziseliert als irgendein anderes im Raum. Als ich es sah, ging mir die Erleichterung durch und durch, daß ich das Brennende Kreuz wohlbehalten unter meinem Überkleid verborgen trug. Man kennt ja diese großen Kirchenmänner – sie geraten in Zorn, wenn ein gewöhnlicher Sterblicher ein Kreuz besitzt, das ihrem gleichkommt.
Mein Blick richtete sich auf den Tisch. An einem Ende saß ein furchteinflößender Dominikaner in seiner schwarzen Kutte mit Kapuze und tiefliegenden, fanatischen Augen; am anderen Ende ein Schreiber, der die Dokumente vorlesen und den Verlauf protokollieren würde, ein einfacher Priester in schwarzer Soutane mit weißem Chorhemd. Dazwischen saßen die Doctores der Theologie; an ihren Händen glitzerte das Gold, wenn sie diese auf den Tisch legten, da konnten nur noch die schweren Goldketten mithalten, die sie um den Hals trugen, etliche davon mit einem Kruzifix und manche davon so märchenhaft gestaltet, daß sie eine heilige Reliquie aufnehmen konnten. Rings um sie bauschten sich ihre schweren Seiden- und Samtroben in tiefen, schimmernden Falten; so prächtig waren sie anzusehen, daß ich mir so schwach und gering vorkam wie meiner Lebtage nicht. Ach, wenn doch bloß mein Gesicht nicht schmutzig wäre!
Als ich ihnen in die selbstgefälligen, wohlgenährten Gesichter schaute, da schien unter der Oberfläche etwas so Hartherziges und Verderbtes zu lauern, daß sich mir das Herz zusammenzog. Und in diesem Augenblick ging mir auf, daß ich eines von diesen harten Gesichtern kannte. In der prächtigen Robe eines Doktors der Theologie, ganz anders, als ich ihn sonst kannte, saß dort Vater Edmund. Das Kinn hatte er verbissen vorgereckt, und seine Augen blickten so grausam wie die des Dominikaners. Ich wandte den Blick ab, denn jetzt hatte ich das Schlimmste zu befürchten. Ich konnte mein Herz hämmern hören, während ich so aufrecht wie möglich dastand und die erste Frage beantwortete.
»Seid Ihr die Frau, die sich selbst Margaret von Ashbury und auch Margaret Small, oder auch Margaret die Wehmutter nennt?« fragte der Schreiber.
»Die bin ich«, antwortete ich mit zittriger Stimme. Die Männer am Tisch nickten sich unmerklich zu; auf dem Gesicht des Dominikaners lag ein wissendes Grinsen, und die anderen schienen nur noch verbissener auszusehen. Was um alles mochte an der Antwort auf diese Frage falsch sein? Oder machten sie das nur, um mich durcheinander zu bringen?
»Wißt Ihr, daß man Euch der Ketzerei beschuldigt hat?«
»Das ist eine falsche Beschuldigung. Ich bin eine treue Christin. Wo sind die Ankläger, daß ich ihnen antworte?«
»Beantwortet lediglich unsere Fragen, Weib, das sich selbst Margaret von Ashbury nennt, und maßt Euch in Eurer Hoffart nicht an, Fragen an einen von uns zu richten«, sagte einer der gelehrten Doctores. Dann begannen sie, mich zu befragen, wie es um meinem christlichen Glauben bestellt war. Sie fingen mit einfachen Fragen an, die ich so klar wie möglich zu beantworten versuchte, denn ich hatte Angst, sie könnten mich zu einer falschen Antwort verleiten. Bald wurde ich beherzter, denn ich sah, daß sie nickten, wenn ich antwortete.
»Und wie versteht Ihr das Sakrament der Kommunion?« fragte einer. Ich antwortete unerschrocken. Diese Fragen glichen genau denen Vater Edmunds! Vielleicht winkte ja doch noch Rettung, wenn sie keinen Fehl an mir fanden. Aber dann wurden die Fragen schwieriger und waren mit lateinischen Wörtern gespickt, und ich mußte eingestehen, daß ich nichts verstand. Wieder tauschten sie die wissenden Blicke und hörten mit dieser Art von Befragung auf. Dann wandte sich das Verhör zum Schlechteren, als nämlich der Mann neben dem Dominikaner den Mund aufmachte. Der Mann konnte einem Angst einjagen; sein knallig buntes Gewand verstärkte noch das Graubleiche seines hohlwangigen Gesichtes – Grabesgeruch umwehte ihn.
»Für mich ist das ohne Zweifel die frechste schamloseste Dienerin des Teufels, die hier versuchen möchte, sich Gottes Gerechtigkeit zu entziehen. Es ist wahr, die Frau ist die Pforte zur Hölle. Und diese da versteckt sich hinter heiligen Worten und vorgetäuschter Schlichtheit, um so besser Seelen für ihren Schwarzen Herrn fangen zu können.« Darauf beugte er sich über den Tisch, blickte mir in die Augen und sagte:
»Leugnet Ihr etwa, daß Ihr ein Gerät, das sich ›Teufelshörner‹ nennt, dazu benutzt habt, um Kindlein zu ersticken und aus dem Schoß zu ziehen und daß Ihr Eure Seele Satanas verkauft habt, um dieses Gerät zu bekommen?«
Jetzt dämmerte mir etwas Entsetzliches. Mein Untergang war nicht allein meine Sache. Wenn ich nicht geschickt antwortete, würde ich andere, ehrbare Menschen mit hineinziehen. Niemand durfte erfahren, wer mir die Stahlfinger angefertigt oder wen ich damit gerettet hatte. Gott, steh mir bei, betete ich stumm.
»Das leugne ich. Nie und nimmer habe ich meine Seele dem Teufel verkauft. Das Instrument ist wie die Zange geformt, mit dem man heiße Sachen aus dem Topf holt. Damit zieht man das Kind aus dem Schoß, wenn es festsitzt. Es raubt nicht Leben, es schenkt Leben. Ich liebe Kinder, nie würde ich ihnen ein Leid antun.«
»Sieht das Instrument etwa so aus?« Und plötzlich fuchtelte er drohend mit etwas Glänzendem herum. Für einen Augenblick spiegelte sich ein Sonnenstrahl auf den leuchtenden Löffeln der Waffe und bewegte sich als Lichtfleck auf der gegenüberliegenden Wand. Heiliger Jesus! Wie waren sie nur daran gekommen? Ich fuhr zusammen und riß die Augen auf. Der Inquisitor beugte sich vor und fragte mit einem lüsternen Grinsen:
»Dann gehört das hier also Euch. Das wollt Ihr doch wohl nicht leugnen.«
»Es gehört mir. Ich bin auf ehrliche Weise dazu gekommen. Es ist eine Waffe gegen den Tod.«
»Eine Waffe gegen den Tod?« Er hohnlächelte. »Wird sie Euch etwa das Leben retten, wenn wir sie zu Euren Füßen zwischen die brennenden Reisigbündel des Scheiterhaufens legen?«
»Nein, das wird sie nicht«, erwiderte ich unerschrocken. »Sie besitzt nämlich keine magischen oder teuflischen Kräfte. Es ist nur ein schlichtes Werkzeug, das auf Grund von Beobachtung angefertigt wurde. Es bewahrt doch nur vor Tod, Gram und Schmerzen im Wochenbett. Vor dem Scheiterhaufen aber kann es mich nicht retten.«
»Bewahrt vor Gram und Schmerzen? Weib, ist Euch klar, was Ihr da sagt?« fragte mein Inquisitor, und in seinen Augen glitzerte es vor geheimer Freude. Ich sah, wie Vater Edmund zusammenzuckte. Sein Gesicht verfiel und wurde bleich.
»Wollt Ihr etwa leugnen, daß Eva die Ursünde über die Welt brachte?«
»N-nein«, stammelte ich.
»Und wie machte sie das?«
»Sie ließ sich von der Schlange den Apfel geben.«
»Und was geschah dann?«
»Adam aß ihn, und Gott vertrieb sie aus dem Paradies.«
»Und was war Adams Strafe für seine Sünde?«
»Daß er arbeiten mußte.« Auf einmal merkte ich, wohin die Befragung steuerte, und der Magen drehte sich mir um. Einer Falle war ich ausgewichen, dafür trat ich jetzt in eine andere. Vorbei, aus, ich war verloren. Seine Stimme traf mich wie ein Schlag:
»Und was verfügte Gott als Strafe für Eva?« Ich zögerte. Er wiederholte seine Frage mit einem hämischen Grinsen und wollte wissen, ob ich plötzlich dumm geworden sei oder das Gedächtnis verloren hätte. Zögernd und mit hängendem Kopf antwortete ich mit kaum hörbarer Stimme.
»Gott verfügte, daß Eva und ihre Töchter unter Schmerzen Kinder gebären sollten.«
»Gram und Schmerzen, das waren doch Eure Worte?« fragte er und gab sie mir zurück.
»Ja.« Ich meinte, an dem Wort ersticken zu müssen.
»Weib, da steht Ihr nun und habt Euch selbst das Urteil gesprochen«, sagte er mit dem Anflug eines wölfischen Lächelns auf den blutleeren Lippen. Meine Knie gaben nach, doch niemand eilte mir zu Hilfe. Ich kam wieder hoch, so gut es eben ging, und kniete auf dem harten Steinfußboden, die Hände in den Handschellen hielt ich hoch, als wollte ich beten.
»Bitte, vergebt mir meine Missetat. Ich dachte doch nur, ich täte Gutes.« Meine Stimme kam mir sehr jämmerlich vor. Im Raum war es totenstill, abgesehen von dem kratzenden Geräusch, das die Feder des Schreibers machte, während er jedes Wort mitschrieb. Die Miene des Bischofs war verkniffen, so als ob sich für ihn etwas bestätigt hätte, das er bereits wußte. Er blickte mich an, als wäre ich Ungeziefer – lästiges Ungeziefer, das man zerquetschen mußte. Der Mann zu seiner Rechten, ein Mensch mit gewaltigen Hängebacken und Schweinsäuglein sagte mit harter Stimme:
»Weib, Ihr erhebt Euch selbst, wenn Ihr meint, Ihr könntet angesichts von Gottes Willen beurteilen, was gut ist.« Eine andere Stimme fuhr dazwischen:
»Und in Eurer Hoffart geht ihr von Kindbett zu Kindbett, zischelt den Frauen ins Ohr wie eine Viper und verlockt sie, der Kirche zu trotzen und sich gegen ihre Eheherren zu erheben.«
»Sowas habe ich niemals getan, nie und nimmer«, antwortete ich.
»So leugnet Ihr vermutlich auch, daß Ihr Euch in den ärmeren Stadtteilen herumtreibt und es wagt, vom Willen Gottes zu künden und zu sprechen.«
»Das mache ich nicht, nein, ich schwöre es, ehrlich nicht. Wenn an meinen Worten etwas Falsches war, dann muß man mir sagen, was. Darf man denn den Namen Gottes nicht aussprechen? Ich schwöre, mehr habe ich nicht getan. Ich wollte wirklich nichts anderes, als Gutes tun, bitte, ich schwöre es.« Ich war verzweifelt. Wie sollte ich denn um mein Leben flehen, wenn ich nicht begriff, was ich verbrochen hatte?
»Wie wagt Ihr zu schwören, daß Ihr die Wahrheit sagt, wenn Ihr in allen uns vorliegenden Dingen der Lüge überführt seid, außer daß Ihr Euch noch nicht schuldig bekannt habt?« unterbrach mich ein anderer. Was um alles auf der Welt meinten sie damit? Als Antwort darauf, fuhr ein anderer dazwischen:
»Weib, wißt Ihr denn nicht, was auf Meineid vor diesem Kollegium steht? Ihr werdet Euch noch wünschen, Ihr wäret nie geboren.«
»Meineid, was heißt das?« fragte ich außer mir. Der Mann, der gesprochen hatte, nickte dem Dominikaner verhalten zu; dessen Augen schimmerten im Licht wie nasse Steine, und ein wissendes Lächeln verzog seine Lippen.
»Das heißt lügen, Ihr scheinheiliges Dummerchen«, antwortete mein Inquisitor, »lügen, so wie Ihr es jetzt tut.«
»Aber ich lüge doch nicht, sagt mir um Gottes willen, was ich getan habe.«
»Bei Gott, diese Frau ist eine Schlange. Ihre Verstocktheit übertrifft alle Vorstellungen«, sagte er zu Vater Edmund.
Während ich auf den nächsten Schlag wartete, fiel Vater Edmunds Stimme in den Chor der Angreifer ein; sie war so hart und grausam wie ein Peitschenhieb.
»Und worin, elendes Weib, besteht Eurer Meinung nach dieses Gute? Wie seid Ihr zu Eurer Auffassung von gut gekommen, mit der Ihr Euch so schamlos angesichts Gottes gerechtem Plan brüstet?« Diese Frage war noch schlauer als die anderen. Sie war einfach nicht richtig zu beantworten, ohne daß ich mich noch tiefer verstrickte. Wie konnte er mir das antun? Und ich hatte geglaubt, er würde mir helfen. Mein Blick umflorte sich, als ich ihm antwortete:
»I-ich habe gedacht, Gutsein heißt, daß man Gottes Gebote und das Beispiel und die Lehren unseres Herrn und Heilands, Jesus Christus befolgt.«
»Woher kennt Ihr diese Lehren?« beharrte er.
»D-durch Zuhören in der Kirche.«
»Hört Ihr getreulich zu?«
»Ja, ich gehe oft zur Messe.« Die anderen rutschten auf ihren Stühlen hin und her.
»Und von wem erfahrt Ihr dort, was gut ist?«
»V-von dem Priester.«
»Und woher weiß der, wie das Gute aussieht?«
»Weil er in der Heiligen Schrift liest und weil – er zum Priester geweiht wurde«, antwortete ich.
»Und welche Gebete kennt Ihr?«
»Das Vaterunser und das Ave.«
»Auch das Glaubensbekenntnis?«
»Nicht ganz.« Worauf wollte er hinaus?
»Könnt Ihr die Heilige Schrift lesen?«
»Ich kann überhaupt nicht lesen.«
»Wenn Ihr die Heilige Schrift nicht lesen könnt und nach so vielen Jahren des Zuhörens so wenig wißt, wie kommt Ihr dann dazu, Euch einzubilden, Ihr könntet selber erkennen, was gut ist? Seid Ihr nicht bei weitem zu dumm, Weib, als daß Ihr derlei überhaupt allein herausfinden könntet? Wie verblendet und eitel müßt Ihr doch sein, daß Ihr wähntet, ein so gemeines, unwissendes Geschöpf wie Ihr könnte Gottes Wort ohne Anleitung verstehen?« Jetzt merkte ich, worauf das hinauslief. Er wollte seine eigene Haut retten, weil er mich gekannt hatte, indem er mich zwang, meinem Schuldbekenntnis noch etwas hinzuzufügen – nämlich das Eingeständnis meiner Unwürdigkeit. Es soll ja reichen, wenn man im Staub vor ihnen kriecht und alles bereut, dann erdrosseln sie einen, ehe sie den Scheiterhaufen in Brand stecken. Doch ich war soweit, daß mich derlei Spitzfindigkeiten nicht mehr kümmerten. Ich wußte nur, daß ich von einem Mann verraten wurde, dem ich vertraut hatte, weil ich fand, er hatte ein nettes Gesicht. Das Herz wollte mir brechen, und ich mußte weinen.
»Antwortet!« Seine Stimme war brutal. Tränen strömten mir übers Gesicht, und ich kam ins Stammeln, als ich antwortete:
»Es – es ist wahr – ich bin unwissend – ich kann nicht lesen – ich bin bloß eine Frau –«
»Eine dumme Frau?« half seine harte Stimme nach.
»Eine – eine – dumme Frau«, schluchzte ich.
»Und doch habt Ihr es gewagt, Euch über die Priester zu erheben?« Noch einer, der zusammen mit Vater Edmund über mich herfiel.
»Ich – ich habe es nicht – ich konnte nicht –«Ich wischte mir das Gesicht mit dem Ärmel. Ihre Stimmen schienen zu verschmelzen, während sie mich lautstark schmähten.
»Bleibt nur noch ein Punkt zu bekennen«, unterbrach der Bischof. »Schreiber, lest das Dokument vor, welches dieses falsche Weib verdammt.«
Der Schreiber las mit lauter Stimme von einem Papier ab:
»Im Jahre des Herrn eintausenddreihundertundneunundvierzig hat Lewis Small, Kaufmann in der Stadt Northampton, erklärt, daß seine Ehefrau Margaret von Ashbury an der Pest gestorben sei, und hat ihren Tod ins Kirchenbuch eintragen lassen, wobei er drei Seelenmessen für sie bezahlte.«
»Und nun«, sagte der Dominikaner, und seine Augen glitzerten unter der dunklen Kapuze, »nun sagt uns, wer Ihr in Wahrheit seid.«
Mein Gott! Da griff doch Lewis Smalls ekelhafte Hand noch aus dem Grab nach mir und verurteilte mich! Das übertraf alles. Die Heuchelei dieser drei mickrigen Seelenmessen erboste mich über alle Maßen. Ich konnte ihn direkt vor mir sehen, wie er süß lächelnd die Augen gen Himmel verdrehte und eine Träne verdrückte, nur damit er freie Bahn für eine Wiederheirat hatte. Lewis Small sollte nicht das letzte Wort haben, nie und nimmer. Trotzig warf ich den Kopf zurück und sagte:
»Ich bin Margaret von Ashbury, und ich lüge nicht. Wer hier lügt, ist Lewis Small. Er hat mich zu Unrecht für tot erklären lassen, nur damit er wieder heiraten konnte.«
»Leugnet Ihr etwa, mit ihm verheiratet zu sein?« sagte der Dominikaner glattzüngig.
»Ich war mit ihm verheiratet.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er ist tot.«
»Wie bequem«, hohnlachte er.
»Wer seid Ihr also?« fuhr Vater Edmunds Stimme dazwischen.
»Ich bin Margaret –«
»Wer, hab ich gesagt?«
»Ich wurde im Dorfe Ashbury von unserem Gemeindepfarrer, Vater Ambrose von St. Pancras, im Jahre eintausenddreihundertundzweiunddreißig auf den Namen Margaret getauft.«
»Schon besser«, sagte Vater Edmund.
»Der Punkt stimmt«, sagte der Schreiber, nachdem er die Urkunde befragt hatte.
»Gibt es hier irgendjemand, der Euch identifizieren könnte?« fragte Vater Edmund.
»Ich kenne hier niemand.«
»Könnte Euer Bruder, David von Ashbury, auch David der Schreiber genannt, Euch identifizieren?«
»Ja, das könnte er, wenn er noch lebt.«
»Ihr wißt also nicht, ob er noch lebt?«
»Wir wurden im Jahre meiner Verheiratung getrennt, und ich habe ihn nie wiedergesehen.« Ich spürte, wie mir schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, Tränen der Scham, weil ich meinem guten Bruder David Schande machte und ihn nie wiedersehen würde. Die Nase lief mir, und ich mußte sie abwischen. Mittlerweile war mein Ärmel schon sehr naß und schmutzig. Vermutlich hätte ich mich in einem so furchtbaren Augenblick nicht an einer Nichtigkeit wie einem schmutzigen Ärmel stören sollen, aber so ist der Mensch nun mal.
»Mylord Bischof, ich schlage untertänigst vor, daß man Euren Sekretär, David von Ashbury, als Zeugen aufruft«, sagte Vater Edmund glattzüngig.
David! David hier! Dann kam mir inmitten meiner jäh aufflammenden Hoffnung ein furchtbarer Gedanke. Angenommen, David wurde, statt mich zu retten, von mir mit hineingerissen? Jetzt begriff ich endlich, welch gefährliches Spiel Vater Edmund spielte. Er hatte David ausfindig gemacht, hatte die Befragung in eine Sackgasse manövriert, fort aus der gefährlichsten Ecke, wo mir in meiner Unwissenheit womöglich ein Wort entschlüpfte, das mich ins Verderben riß. Wenn er es nicht schaffte, dann wartete an diesem Abend vielleicht nicht nur auf einen, sondern auf drei Menschen Gefängnis, öffentliche Schande und der Scheiterhaufen. In meinen Ohren summte es schrecklich, und ich meinte, das Herz müßte mir in tausend Stücke zerspringen. Aufregung und Geschäftigkeit, als der Bischof den jüngsten seiner Sekretäre rufen ließ. Ich fand, David sah gut aus, als er den Raum betrat. So unverändert, so jung und schlank und ernst in seinem einfachen Priestergewand. Als er Auge in Auge mit dem Schreiber stand, hörte sich seine ehrliche Stimme so schlicht an, als er den Eid darauf ablegte, daß er nichts als die Wahrheit sagen würde.
»David, David von Ashbury, wißt Ihr irgend etwas über diesen Fall?«
»Nichts, Mylord. Ich habe die Unterlagen dafür nicht vorbereitet.«
»Wer ist jene Frau, die dort kniet?« fragte der Bischof.
»Ich weiß nicht – wartet –« Er musterte mich genauer und verdrehte ein wenig den Kopf, damit er mir ins geneigte Gesicht blicken konnte. »Das ist meine Schwester Margaret, Mylord«, sagte er zum Bischof. »Margaret«, meinte er und wandte sich dabei wieder mir zu, »du siehst schrecklich aus. Fast hätte ich dich nicht erkannt.«
»Das reicht«, sagte der Bischof. »Wieviele Schwestern habt Ihr?«
»Nur diese eine«, erwiderte er. »Ein Jahr älter als ich. Margaret. Das ist sie. Ich habe sie seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gesehen. Sie hat sich seither verändert.«
»Ihr würdet sie überall wiedererkennen?«
»Ja, Mylord, das würde ich. Sie ist es, ganz ohne Zweifel.«
»Ich finde, Ihr habt Euch die Schwester schlecht ausgesucht. Ihr dürft gehen.« David verneigte sich tief und war verschwunden. Dann seufzte der Bischof und rutschte auf seinem Sitz hin und her.
»Dieser Punkt der Anklage entfällt – sie ist keine Hochstaplerin. Was ist nun mit den anderen?«
»Mylord Bischof«, sagte Vater Edmund ruhig, »nach meiner untertänigsten Meinung hat die Frau dort vor Euch unter schärfster Befragung weder einen Meineid geschworen noch gezeigt, daß sie häretischen Überzeugungen anhängt oder eigensinnig auf ihrem Irrglauben beharrt –«
»Sie hat jedoch gestanden, daß sie sich vorsätzlich über Gottes Wort hinweggesetzt hat«, unterbrach der Dominikaner. Der Bischof hob die Hand und gebot dem Dominikaner Schweigen, so daß Vater Edmund ausreden konnte.
»Ja, es ist wahr, sie hat es gestanden, doch ich glaube, der Tatbestand der Vorsätzlichkeit ist nicht hinlänglich bewiesen, und so dürfte ihre Überzeugung eher einem Irrglauben zuzurechnen zu sein als der Häresie. Seht doch nur, wie unwissend und einfältig sie ist! Meiner Meinung nach mußte der verfehlte und anstößige Lebenswandel, dem sie in dieser Stadt anheimfiel, schon von sich aus zu Irrglauben und falschem Stolz verleiten.«
»Niemand, wie Ihr sehr wohl wißt, Hochwürden Edmund, fällt einem bösen Lebenswandel anheim; der Teufel verleitet dazu, denn als Gewerbe für seine Adepten sucht er sich mit Vorliebe die Geburtshilfe aus.«
»In all diesen Monaten haben sich keinerlei Beweise für Schwarze Künste ergeben. Die Unterstellung, sie sei eine Hochstaplerin und damit meineidig, ist widerlegt. Und was den Irrglauben angeht, der fast an Häresie grenzt, so ist sie nur in einem Punkt überführt. Sagt, wirkt dieses gemeine, schniefende Geschöpf etwa trotzig? Ich kann keinen bösen Willen erkennen, lediglich Dummheit. Ich glaube, sie ist zu Buße und Besserung fähig.« O Gott, Vater Edmund, wie konntet Ihr mir das antun? Nie hätte ich gedacht, daß ein Herz so wehtun konnte, wie nämlich meines, als er das sagte. Der Bischof blickte mich lange an, wie ich da ganz aufgelöst und mit verweintem Gesicht kniete. Ich blickte zu ihm hoch und forschte in seinem Gesicht, ob ich seine Gedanken lesen könnte. Sein Mund zuckte angewidert.
»Bessern, die? Das ist eine Schlange und eine Heuchlerin.« Schon wieder einer der gelehrten Doctores der Theologie.
»Weib, bereust du?« fragte Vater Edmund.
»Ja, ich bereue aus tiefstem Herzen und bitte um Vergebung.« Jetzt hieß es, meine Rolle zu spielen um Davids willen.
Mein Wille war gebrochen, und ich spürte nur noch die entsetzliche Schmach, daß ich mich dort befand.
»Wollt Ihr Buße tun?«
»Ja, ich will Buße tun.«
»Wollt Ihr ablassen von Eurem eigenwilligen Betragen?«
»Ja.«
»Ehe Ihr versucht, etwas zu tun, was Euch gut dünkt, wollt Ihr Euch da nicht überheben, sondern demütig Eurer Unwürdigkeit eingedenk sein und Euch dem Urteil Eures Beichtvaters oder eines anderen trefflichen Priesters unterwerfen?«
»Ja.«
»Ich halte sie für durchaus fähig, sich zu bessern«, sagte Vater Edmund.
»Ich hätte lieber handfeste Beweise«, sagte ein anderer.
»Ja, Beweise!«
»Wieso seid Ihr es nicht zufrieden, Wolle zu krempeln und zu spinnen wie andere Frauen?«
»Ich muß mir den Lebensunterhalt verdienen«, begehrte ich matt auf, aber meine Stimme ging in dem Stimmengeschnatter unter, als mich die gelehrten Doctores schmähten.
Dann verschaffte sich der Bischof in dem Lärm Gehör und sagte:
»Also lautet mein Beschluß. Margaret von Ashbury, auch als Margaret Small und Margaret die Wehmutter bekannt, Ihr müßt von Eurem augenblicklichen sündhaften Lebenswandel ablassen. Die Dinge, die Ihr getan habt, haben Euch in Versuchung gebracht und zu Gottlosigkeit verleitet. Doch ein Sünder, der Buße tut, gefällt unserem Heiland allzumal besser als ein toter Sünder. Ihr werdet Euren aufrührerischen Gedanken und Taten gegen die Heilige Schrift feierlich entsagen und abschwören, vornehmlich Euren Irrglauben, was Gottes gerechte Strafe für die Töchter Evas anbetrifft. Ihr werdet ablassen von allen Taten, die Euch zu diesem Glauben verleitet haben: als da sind die Geburtshilfe und das Feilbieten von falschen Heilbehandlungen durch Handauflegen. Desgleichen dürft Ihr in der Öffentlichkeit nicht über Glaubensfragen reden oder auf andere, ungehörige Weise öffentlich Ärgernis erregen. Ihr müßt leben wie andere achtbare Frauen und auf die Art, wie es sich für eine Frau geziemt. Ihr solltet heiraten und Euch einem Eheherrn unterwerfen, falls sich einer findet.
Ihr müßt regelmäßig Euren Beichtvater aufsuchen, und wir erhalten von ihm Berichte hinsichtlich Eures Betragens. Ihr werdet Euch in Eurer Pfarrkirche demütig der Züchtigung durch die Rute unterwerfen, Euch dort barfüßig und barhäuptig einfinden, in ein weißes Hemd gewandet und mit einer brennenden Kerze in der Hand. Ich spreche Euch los von der Exkommunikation. Seid aber stets eingedenk: solltet Ihr wieder hier erscheinen, so seid Ihr des Todes; Ihr werdet dem weltlichen Arm übergeben, auf daß Ihr brennt. Sogar Unser Herr verlor die Geduld mit Sündern. Schreiber, setzt das Dokument über das Sündenbekenntnis und den Widerruf auf.«
Während ich schweigend wartete, konnte ich das kurze Federgekratze des Schreibers hören. Es schien nicht viel zu sein, was er da niederschrieb, verglichen mit der Menge, die er laut vorlas, und ich fragte mich, ob sie das alles wohl schon im voraus fertiggestellt hatten, da sie von meiner Schuld überzeugt waren, und nur ein paar bestimmte Einzelheiten ausgelassen hatten, die jetzt, da der Fall abgeschlossen war, eingefügt wurden. Dann stand der Schreiber auf.
»Margaret von Ashbury, hört Euer Sündenbekenntnis und Euren Widerruf«, verkündete er und hielt das Papier hoch. Meiner Lebtage werde ich nicht vergessen, was er sagte. Ich mochte nicht glauben, daß Papier soviel Schimpf und Schande aushielt. Er las mit klarer, lauter Stimme:
»Im Gottes Namen stehe ich, Margaret von Ashbury, Wehmutter in der City von London in Eurer Diözese und Eure Untertanin vor Euch, dem verehrungswürdigen Vater in Christus, Stephen, von Gottes Gnaden Bischof von London und gestehe und bekenne, daß ich folgende, in dieser Urkunde aufgeführte Irrglauben und Häresien gehegt, geglaubt und bejaht habe:
Ich habe die Richtigkeit der Heiligen Schrift hinsichtlich der Rechtmäßigkeit von Evas gerechter Bestrafung durch Gott, daß sie der Menschheit die Ursünde brachte, geleugnet und vorsätzlich und trotzig künstliche Mittel verwendet, um die Töchter Evas von der Last zu befreien, welche Gottes Urteil ihnen auferlegt.
Ich habe öffentlich verkündet, insonderheit vor Frauen, daß mein Irrglaube richtig ist und sie durch falsch Zeugnis und heimliche Lockworte zur Sünde verleitet.« Hier fuhr ich zusammen. Wann hatte ich denn das gestanden? Dagegen mußte ich mich wehren, und schon wollte ich den Mund aufmachen, doch die Zeit zum Reden war vorbei. Mit halbem Auge konnte ich sehen, wie Vater Edmund mich beschwörend anstarrte und mir zu völligem Schweigen riet. Der Schreiber las weiter:
»Zu all diesem hat mich sündhafter Stolz und trotzige Auflehnung gegen Gott und Seine Kirche verleitet. Hier vor Euch schwöre ich ab und entsage feierlich meinem Irrglauben und der Häresie und werde nie wieder weder an Irrglauben noch an Häresie noch an falscher Lehre gegen den Glauben der Heiligen Kirche und die Beschlüsse der Römischen Kirche festhalten.«
Dann las der Schreiber den Schuldspruch zu Ende vor und dazu die Warnung, daß man mich, sollte ich rückfällig werden, dem weltlichen Arm übergeben und mich verbrennen würde.
»Dort unterzeichnet Ihr«, sagte er und deutete auf eine leere Stelle unten auf dem Dokument.
»Was besagt das da, die Schrift über dem leeren Raum?« fragte ich und sah die Reihen schwarzer Zeichen auf dem Pergament an. Er schenkte mir einen Blick voll unendlichem Abscheu.
»Es besagt, daß Ihr diese Dinge mit einem eigenhändig geschriebenen Kreuz bezeugt. Wißt Ihr eine Feder zu halten?« Ich starrte ihn verständnislos an. Es war alles so überaus schrecklich. Das Ganze mußte ein Fehler sein. Ich gehörte nicht hierher. Ich sollte in der Dunkelheit bei einer flackernden Öllampe wachen und einer Frau in den Wehen die Hand halten. Dazu waren meine Hände geschaffen. Ich blickte meine Rechte an. Das Eisen hatte schon die Haut am Handgelenk abgeschürft. O Hand, dachte ich, du bist feige, und ich bin feige mit dir. Du solltest nicht für alle Zeit auf die Waffe verzichten. Ich blickte meine Finger an. Und wenn ich mir noch soviel Mühe gab, sie zitterten. Ich konnte sie nicht einmal richtig schließen. Der Schreiber sah, wie unbeholfen sie sich bewegten und drückte sie um die Feder und half ihnen, das Zeichen zu machen. Die Tinte spritzte, befleckte mir die Hand und hinterließ Tropfen auf dem Papier und auf seinem Ärmel. Angewidert untersuchte er den angerichteten Schaden. Alles war vorbei.
Ich war frei. Aber was für eine traurige Freiheit. Aus Angst David zu schaden, wagte ich nicht, abermals mit ihm zu sprechen. Ich mochte nicht einmal Vater Edmund anschauen, als man mich aus dem Raum führte, und so blickte ich denn auf meine Füße. An der Tür nahm mir der Wachtposten die Handschellen ab. Ich konnte vor Tränen kaum sehen. David hatte ich mit meinem Versprechen gerettet, aber was sollte bloß aus mir werden? Die Waffe gegen den Tod war fort. Nie und nimmer würde ich wagen, mir eine neue anfertigen zu lassen. Ich war so gut wie tot, denn ich konnte nicht mehr ich selbst sein. Auf der anderen Seite aber, so redete ich mir gut zu, erwartet dich am Morgen nicht der Scheiterhaufen. Das hat etwas Gutes zu bedeuten. Mein Herz tat einen Sprung, als ich ins helle Tageslicht hinaustrat.
Margaret sah Bruder Gregory beim Schreiben über die Schulter zu. Sie konnte jetzt zwar lesen, aber ihn machte das fahrig. Früher hatte er sich so gern in ihrer Bewunderung gesonnt, wenn sie zusah, wie er die Worte hervorzauberte wie magische Formeln auf Papier, und sie ihr dann noch einmal genauso vorlas, wie sie diese gesagt hatte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Margaret, Ihr habt mich mit hineingezogen. Vermutlich haben die da oben meinen Namen.«
»Bloß für den Leseunterricht. Das kann man Euch nicht vorwerfen.«
»Bloß für – wie um Himmels willen wollt Ihr das wissen?«
»Ich weiß so allerlei. Ich habe doch schon gesagt, daß ich herumkomme. Selbst jetzt noch.«
»Naja, jedenfalls hat sich mir ein Rätsel gelöst. Ich habe mich immer gefragt, warum Ihr das da aufgeschrieben haben wolltet. Es kam mir eigenartig vor. Aber da ich Euch mittlerweile gut kenne, ist mir ganz klar, daß Ihr –«
»Ich meine Seite der Geschichte erzählen wollte«, bemerkte Margaret selbstzufrieden.
»Eure Seite? Wie gewöhnlich unterbrecht Ihr mich. Nein, Ihr wolltet nur das letzte Wort haben. Frauen!« Bruder Gregory schnaubte, doch nicht mehr mit dem alten Feuer.
»Ich kann Euch nur gut raten«, und dabei drohte Bruder Gregory ihr grimmig mit dem Finger, »laßt das hier nie ans Licht kommen. Wieso Ihr Euch die Mühe macht, ist Eure Sache, aber öffentlich Schande über Euch zu bringen, das ist auch Sache Eurer Freunde.«
»Ich weiß. Ich hebe es auf.«
»Aufheben? Für wen wohl?« Bruder Gregory schüttelte den Kopf. Kenne sich einer aus mit den Launen einer Frau!
»Ich will es meinen Töchtern in jener Truhe da hinterlassen.«
»Doch wohl ein ziemlich fruchtloses Unterfangen.« Bruder Gregory durchmaß großen Schrittes das Zimmer. Er war verwirrt und traurig. Margaret saß ruhig da und blickte ihn an.
»Wenn sie es nicht haben wollen, dann können sie es ja ihren Töchtern vermachen. Eines Tages wird jemand meine Seite hören wollen.« Sie hielt inne und setzte dann beschwichtigend hinzu:
»Nehmt es Euch nicht so zu Herzen. Ich habe schon große Fortschritte gemacht und bin, was die da oben angeht, fast schon gebessert. Vater Edmund heimst das Lob dafür ein. Den sehe ich nämlich manchmal.«
»Habt Ihr die Buße geleistet?«
»Ihr meint, ob ich im Unterhemd um Vergebung gefleht und dabei eine riesige Kerze in der Hand getragen und blutige Fußabdrücke auf den Steinen hinterlassen habe? Nein, selbstverständlich nicht. Mein Mann hat mich natürlich losbekommen. Er ist jetzt für mich verantwortlich.«
»Euch losbekommen? Das ist nicht so einfach.«
»Manchmal, Bruder Gregory, könnte man meinen, daß Ihr noch einfältiger seid als ich. Nach unserer Verlobung hat mein Mann mich losgekauft. Er hat gesagt, es gezieme sich eher für seinen Stand, daß ich privat und bekleidet bereue. Der Priester hat meinen Rücken die vorgeschriebenen Male berührt und bescheinigt, daß es Schläge waren. Die Kerze war sehr groß und teuer, und er hat ihnen den kleinen Schrein gekauft, auf den sie in der Pfarrkirche so erpicht waren. Mit Geld läßt sich nämlich alles regeln.«
»In London vielleicht, doch nicht in Paris«, sagte Bruder Gregory bitter. Sie durfte nicht einmal ahnen, woran er dachte. Es ist wirklich nicht gerecht, kochte es in ihm. Nicht nur, daß er für seinen Irrglauben im Unterhemd um Vergebung hatte bitten, nein, er hatte auch noch alle Exemplare seines Buches eigenhändig ins Feuer werfen müssen. Dazu noch in der Öffentlichkeit, im Beisein von wirklich Hunderten von Menschen, die häßliche Bemerkungen machten, als die Offiziale der Kirche das Schuldbekenntnis und den Widerruf laut verlasen. Das hatte sogar noch mehr geschmerzt als die Peitschenhiebe, die machten, daß ihm das Hemd am Leib festklebte. Man hatte es abweichen müssen, und noch wochenlang danach hatte er krank daniedergelegen. Und eine Frau brauchte bloß zu weinen, und schon ließ sich alles mit Geld regeln.
»Da mögt Ihr recht haben«, sagte Margaret friedfertig, und ihre Stimme riß ihn aus seinen gräßlichen Träumen. »Mein Mann sagt, daß für Geld in London alles zu haben ist. Darum machen Kaufleute hier auch so gute Geschäfte.«
»Hmpf. Ja. Selbst ein Kaufmann von gefälschten Ablaßbriefen«, sagte Bruder Gregory grämlich.
»Du lieber Himmel«, erwiderte Margaret, »in der City verkauft Bruder Malachi die nie und nimmer. Hier ist man viel zu ausgepicht.« Gregory sah noch düsterer aus als gewöhnlich.
»Mit dem trefft Ihr Euch vermutlich auch noch.«
»Niemals. Ich kann nämlich nicht ins alte Haus zurück. Wenn ich die da oben dort hinführen würde, wäre er so gut wie tot. Hilde hat meine kleinen Mädchen entbunden, und sie sehe ich auch noch. Aber niemals dort – nein. Ich bin sehr vorsichtig. Lion habe ich behalten, und wenn ich nach ihr schicken möchte, dann lasse ich ihn raus, und er holt sie.«
»Viel ist ja nicht an ihm dran, aber dafür ist er sehr schlau.«
»Das finde ich auch. Tiere sind manchmal fast wie Menschen.«
»Vorsicht, Margaret, Ihr seid schon wieder hart an der Grenze – Tiere haben keine Seele.«
»Angenommen, ich sage, das stimmt, weil auch einige Menschen keine haben?«
»Ärger denn je!« Gregory lächelte wehmütig. »Gut, daß nicht Ihr das gesagt habt.«
Bruder Gregory schob Federhalter und Tintenhorn beiseite und gab Margaret das Manuskript. Sie kniete sich vor die Truhe und verwahrte es in der Geheimschublade. Er sah schon wieder verlegen aus, denn er überlegte, wie er ihr die schlechte Nachricht am besten beibrächte.
»Margaret, Ihr bekommt von mir jetzt eine neue Schreibaufgabe. Ihr werdet den letzten Teil Eures Buches selber schreiben müssen.«
»Ihr wollt gehen?« Sie sah verschreckt und verstört aus. »Doch nicht etwa meinetwegen, oder?«
»Nein«, sagte Bruder Gregory betrübt, »wegen meiner Familie. Meine Welt geht gerade zu Bruch, so wie die Eure endlich heil geworden ist. Ich würde gern bleiben und mitbekommen, wie die Geschichte ausgeht. Die Neugier ist einer meiner schlimmsten Fehler, und sie hat mich schon oft in böse Situationen gebracht. Zuweilen aber auch in gute, wenn ich an dieses Haus denke. Doch damit ist es nun vorbei.«
»Mögt Ihr mir davon erzählen, oder ist es ein Geheimnis?« Margaret verspürte auf einmal herzliches Mitgefühl. Es war sehr betrüblich, mit ansehen zu müssen, wie Bruder Gregory sein altes Feuer einbüßte. Er wirkte auf einmal abgehärmt und völlig außerstande zu einem Streit mit Kendall, nicht einmal über die Beschaffenheit des heidnischen Glaubens zur Zeit von Aristoteles. Ihr würde sogar seine Griesgrämigkeit fehlen.
»Meine Familie ist sehr alt, Margaret, wir haben einen altehrwürdigen Namen, und den nehmen wir sehr ernst.«
»Was Ihr mich schon habt merken lassen«, sagte Margaret trocken.
»Ach, reibt mir doch nicht unter die Nase, daß ich so neugierig gewesen bin. Es tut mir leid, wenn ich Euch gekränkt habe.«
»Leid? O, entschuldigt Euch nicht, Bruder Gregory. Bitte nicht. Ihr seid ja ganz saft- und kraftlos und gar nicht mehr der Alte. Diese Nachricht muß Euch aber arg zugesetzt haben.«
»Vermutlich hat sie das – zumindest was mich angeht«, sagte er. »Wir sind nämlich nicht reich, Margaret – nicht so wie hier, alle diese Sachen hier.« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Und ich bin ein jüngerer Sohn.« Bruder Gregory blickte aus dem Fenster und seufzte. Der Garten war ganz winterlich und paßte vollendet zu seiner Stimmung. Nichts als kahle Äste, die im Winde knarrten.
»Vater hat wieder einmal Schulden, Margaret, und immer wenn er Schulden hat, setzt er mir zu. Als wir den Feldzug in Frankreich mitmachten, hat er sich in Schulden gestürzt, um uns auszustatten – und mir dann wieder zugesetzt; aber nachdem wir große Summen an Lösegeldern einnahmen, hat er Ruhe gegeben. Dann mußte er für Hugos Ritterschlag zahlen – Gebühren über Gebühren. Und eine neue Rüstung von John von Leicestershire – nur das Beste ist gut genug, oder? Dann hat er mich aufgetrieben und mir wieder zugesetzt. ›Zieh ins Feld wie ein Mann‹, hat er gebrüllt, ›und hör endlich auf, dich hinter einem Haufen langer Röcke zu verstecken.‹ Ich kann Euch sagen, das war ein Skandal. Man konnte ihn vom Besuchszimmer bis in die Studierstube des Abtes hören. An jenem Tag hat er mir keine Freude gemacht!
Man sollte meinen, er wäre mir dankbar für meinen Entschluß. Schließlich habe ich ihm allerhand Mühe erspart. Aber nein, er schimpft schon so lange darüber, wie ich überhaupt denken kann. Es ist nämlich nicht leicht, eine Berufung zu haben und obendrein seinen Vater zu ehren – das heißt, wenn man so einen Vater hat wie ich. Wie der sich immer aufgeführt hat: ›Weg mit dem Schmöker da, du infernalischer Welpe, und nimm dir ein Beispiel an deinem älteren Bruder Hugo, der ist ein Ritter, wie er im Buche steht!‹ ›Ich bin schon auf dem Turnierplatz gewesen, Vater‹, habe ich dann wohl gesagt. ›Dann wieder zurück mit dir!‹ hat er gebrüllt und mich niedergeschlagen. Alsdann hat er mich an den Hof des Herzogs verfrachtet und gesagt, ich sollte auch noch dankbar sein. Dankbar! Ei, der Mann war genau wie Vater! Ich schwöre Euch, Margaret, die beiden hatten sich abgesprochen, meine Berufung aus mir herauszuprügeln. Seit ich mich entschlossen habe, mein Leben Gott zu weihen, habe ich nur noch aus blauen Flecken bestanden! Ihr habt ja keine Ahnung, wie Vater schimpfen kann, selbst jetzt noch, wo er alt ist!« Bruder Gregory strich durchs Zimmer wie ein eingesperrter Wolf und sah sehr, sehr aufgebracht aus.
»Es ist einfach nicht gerecht, daß er meinen Entschluß nicht respektiert. Ich meine, er sollte dankbar sein! Ich habe alles getan, was er wollte. Ich habe bewiesen, daß ich nicht feige bin. Aber ich will meinen eigenen Weg gehen. Warum muß ich wie Hugo sein? Fürwahr, dafür gibt es keinen Grund, und gänzlich ungerecht ist es obendrein. Ihr findet doch auch, daß es ungerecht ist?«
Margaret wußte nicht so recht, was er meinte, doch er sah so aufgewühlt aus, daß sie es für das Beste hielt, ihm beizupflichten.
»Und warum meint er jetzt wohl, daß er mir wieder zusetzen kann, jetzt, wo mein spirituelles Leben ganz kurz vor der Erfüllung einer lebenslangen Suche steht? Wißt Ihr warum? Weil er behauptet, das Dach müsse ausgebessert werden! Es ist einfach nicht zu fassen? Ich soll wieder zum Heer gehen und Geld für sein Dach beschaffen, genau in dem Augenblick, wo ich kurz davorstehe, daß ich Gott zu sehen bekomme. Welche Sünde habe ich nur begangen, daß Gott mich mit solch einem Vater straft? Aber ich sage Euch, mich kann er nicht zurückhalten! Nie und nimmer! Ich werde Gott trotzdem sehen! Und wenn das geschieht, dann habe ich ein Hühnchen mit Ihm zu –« Bruder Gregory hob die geballte Faust gen Himmel und schüttelte sie. An seinem Hals traten die Adern hervor.
»Bruder Gregory!« Margaret war entsetzt. Sie legte ihm die Hand aufs Handgelenk, wollte die heftige Geste abschwächen. Bruder Gregory blickte die Faust überrascht an, so als ob er gar nicht gemerkt hatte, daß er damit den Himmel bedrohte, dann entriß er sie ihr.
»Er will keinen Sohn, er will ein Schoßhündchen«, knurrte Bruder Gregory. »Jetzt zieht er an der Hundeleine, und schon gehorche ich.«
»Vielleicht – vielleicht würde es besser klappen, wenn Ihr es Gott überlassen würdet, ob er Euch sehen will«, wagte Margaret einzuwerfen.
»Hmpf!« schnaubte Bruder Gregory. »Ihr hört Euch genauso an wie der Abt. Der war ebenso schlimm wie Vater. Zuweilen hätte man fast denken können, sie steckten unter einer Decke. Da hat er doch gesagt, ich müßte meinen Vater ehren und ihn ausreden lassen. Wenn das nicht eine betrübliche Einstellung für jemanden ist, der so jenseitig sein soll. Der hat mich auch nie verstanden. Er hat gesagt, meine Hoffart sei noch nicht genügend besiegt, als daß ich die Kontemplation erlernen könne, und ich solle in der Welt dienen, bis ich gelernt hätte, was er damit meinte. Hoffart!« Gregory klang bitter.
»Ich bin ganz und gar nicht hoffärtig! Haltet Ihr mich für hoffärtig, Margaret!«
»O, ein ganz kleines bißchen, Bruder Gregory.«
»Habe ich Euch gegenüber meinen Stolz herausgekehrt? Nein! Ich bin hier und überall sonst sehr demütig gewesen. Das habt Ihr doch bemerkt, nicht wahr?«
»Natürlich, natürlich.«
»Seht her, das nennt sich nun Hoffart!« Bruder Gregory riß sich das Gewand auf der Brust auf. Statt seines langen Leinenunterhemds trug er etwas Dunkles, Übelriechendes und Haariges.
»Bruder Gregory, doch nicht schon wieder das härene Gewand? Das sieht aber scheußlich aus. Davon wird doch Eure Haut wund.«
»Meine Haut ist sehr dick. Nicht wie Eure. So leicht wird die nicht wund.« Ein selbstgefälliger Ausdruck huschte über Bruder Gregorys Gesicht, ehe er wieder in Selbstmitleid zerfloß.
»Ich kasteie mich. Kasteie meine Hoffart, zumindest die armseligen, verkümmerten Reste, die noch davon übrig sind! Und in diesem Stadium muß ich zu meinem Vater zurück und mich schon wieder kasteien lassen!«
»Gewißlich ist es so schlimm nun auch wieder nicht, Bruder Gregory«, sagte Margaret.
»Die Eitelkeiten dieser Welt setzen mir so zu«, knurrte er.
»Aber Ihr werdet doch sicher wiederkommen und meine Rechtschreibung verbessern?«
»Das verspreche ich Euch, Margaret. Wenn Ihr wollt, lege ich sogar einen Eid darauf ab.«
»Nicht nötig. Versprecht es und gebt mir Nachricht, wenn Ihr wieder im Lande seid.«