Kapitel 10

Margaret hörte von ihrem Platz im Wohnzimmer, wo sie vor einem leeren Blatt Papier saß, einen fürchterlichen Spektakel von der Küche her. Die Elster der Köchin kreischte, die Köchin schimpfte, und ein Eimer fiel scheppernd um. Durch die geöffnete Tür erhaschte Margaret einen Blick auf drei kleine Lehrbuben, einer von ihnen mit einer Fleischpastete in der Hand, die wie gehetztes Wild durch die Diele auf die Straße liefen, wo sie sich verzogen, um ihre Beute zu teilen. Kendalls Lehrbuben kamen zumeist aus guten Familien – jüngere Söhne, deren Väter in harter Münze dafür bezahlten, daß man sie im lukrativen Einfuhr-Ausfuhr-Gewerbe anlernte. Es bestand eine große Nachfrage nach den wenigen vorhandenen Lehrstellen, denn es war bekannt, daß die Kinder unter Margarets Obhut gediehen, und heutzutage dachte man so modern, daß eine kaufmännische Ausbildung, ebenso wie eine juristische beinahe so viel wert war, wie Land zu erben. Aber keß waren sie schon, diese kleinen Herren, und kannten keinerlei Achtung vor dem heiligen Reich der Küche; ihre Streiche belustigten Margaret sehr, doch wissen durfte das natürlich niemand.

Margaret nahm sich in acht, nicht zu lachen, als die Köchin heftig schnaufend erschien und sich auf ihren Besen gestützt auf der Schwelle aufbaute. Stattdessen bemühte sie sich um eine reife schauspielerische Leistung als würdevolle Schreiberin, so wie sie jetzt die Feder absetzte. Das war eine Angewohnheit, die sie Bruder Gregory abgeschaut hatte, und sie verfehlte ihre Wirkung durchaus nicht.

»Mistress Margaret«, sagte die Köchin, während sie respektvoll Feder und Papier vor Margaret musterte, »habt Ihr gesehen, wohin diese bösen Buben gelaufen sind?«

»Tut mir leid, Köchin, aber ich weiß es wirklich nicht. Wie Ihr seht, war ich beschäftigt. Aber ich werde sie mir heute abend vorknöpfen. Wer war es denn?«

»Dieser gräßliche Alexander spielte mal wieder den Anführer.«

»Dann waren wohl auch Stephen und Philip dabei wie üblich?«

»Wie üblich.«

»Ich nehme sie mir heute abend ganz sicher vor.« Die Köchin sah besänftigt aus. Im Hinausgehen brummelte sie vor sich hin:

»Gottseidank ist es mittlerweile nicht mehr so schwer, diesen Haushalt mit Pasteten zu versorgen, seit nämlich dieser lange, ausgehungerte Kerl nicht mehr kommt.« Sie hätte es zwar nie zugegeben, doch die Köchin vermißte Bruder Gregory, so wie jeder Künstler einen wirklich begeisterten Bewunderer seiner Schöpfungen vermißt. Nun hatte sich Bruder Gregory aber nicht etwa aus dem Staub gemacht, hockte anderswo rum und stopfte sich voll, der undankbare Kerl, nachdem er sich in ihre Küche eingeschlichen und herumgeschnüffelt und sich dann wohl hingesetzt und der Köchin Gelegenheit gegeben hatte, an seiner Person die erstaunliche Verwandlung von bleicher Bissigkeit bis zu erhitzter Umgänglichkeit in all ihren staunenswerten Einzelheiten mitzuerleben. Man konnte nicht nur praktisch sehen, wie sich das Essen bei ihm bis in alle Extremitäten verteilte, nein, er sagte dann wohl auch: »Ach, hat das gutgetan. Das war wohl Safran, was Ihr darangegeben habt, oder? Ja, mit Safran zu würzen, das ist eine Kunst.« Dann errötete die Köchin wohl und bot ihm noch etwas an, was er in der Regel auch noch verputzte. Ja, selbst der Vogel hatte sich an ihn gewöhnt und mit seinem Warngekreische aufgehört. Jetzt war sie auf den Hund gekommen, das heißt, auf diebische, kleine Jungen, die nicht wußten, was gut ist.

Margaret konnte das Gebrumm der Köchin nicht überhören und seufzte. Dann schob sie sich Tinte, Federn und Papier neu zurecht, daß die Arbeit besser gelingen möge. Sie hatte gerade ein einziges Wort geschrieben, als die Mädchen hereingepoltert kamen, die Kinderfrau ihnen auf den Hacken.

»Mama, Mama, Alexander hat eine ganze Pastete. Wir wollen auch was haben.«

»Ihr wißt doch, daß bald Essenszeit ist. Es tut nicht gut, wenn man zwischendurch ißt: das verdirbt den Appetit.«

»Alexanders Appetit hat's auch nicht verdorben«, schmollte Alison.

»Hat es wohl; und außerdem wird er es heute abend noch sehr bedauern.«

Doch Cecily, ihre Älteste, warf ihr einen schlauen Blick zu und sagte:

»Aber Mama, Bruder Gregory hat immerzu gegessen und sich nie den Appetit verdorben.«

Wieder seufzte Margaret, als die Kinderfrau die Mädchen unter lautstarkem Protest abführte.

Dann brachte Margaret ein zweites Wort zu Papier. Vielleicht sollte ich die Tür schließen, dachte sie. Aber was ist, wenn etwas Furchtbares geschieht und ich mich nicht rechtzeitig darum gekümmert habe, weil die Tür zu war?

In diesem Augenblick fand Roger Kendall, der den ganzen Morgen über mit seinen Schreibern und Gesellen die Buchführung und die Lagerbestände durchgesehen hatte, daß er eine Pause brauchte.

»Du liebe Zeit, siehst du aber klug aus, wie du da so mit der Feder in der Hand vor dem Papier sitzt. Ich hab's ja immer gewußt, daß du eine ungewöhnlich intelligente Frau bist«, rief er ihr fröhlich durch die offene Tür zu. Margaret blickte auf und errötete vor Freude. Er kam herein, umarmte sie von hinten und blickte ihr über die Schulter.

»Noch nicht viel, was? Mach dir nichts draus, mach dir nichts draus. Bald wird meine kluge, hübsche, kleine Margaret eine ganze Seite vollgeschrieben haben.«

Margaret blickte auf die Seite und lächelte wehmütig.

»Was rieche ich denn da, was gibt es zu essen? Haben wir heute viele Gäste?«

»Geschmortes Kaninchen, glaube ich. Wir haben diese hansischen Tuchhändler zu Tisch, die du eingeladen hast, mehr nicht.«

»Schade, daß du keinen deiner exzentrischen Bekannten dazu gebeten hast. Ich müßte meinen Witz mal wieder an einem richtigen Disput schärfen.«

»Wir haben doch Master Will.«

»Den? Der versteift sich zu sehr auf eine Idee, als daß man mit ihm gut streiten könnte. Seitdem er aber mit diesem langen Gedicht angefangen hat, in welchem er die Reichen verteufelt, ist er zum Langweiler geworden. Ob er es wohl jemals fertigstellt? Wahrscheinlich muß ich ihn noch jahrelang mit Papier versorgen. Nein, ich brauche jemand Bissigeres. Also, dieser Bruder Gregory, der konnte wirklich streiten.« Und Master Kendall verschwand wieder, um seine Buchführung fertig zu machen.

Ich muß die Tür wirklich schließen, dachte Margaret. Doch als sie aufstehen wollte, kam Lion hereingetapst und wollte geknuddelt werden. Dann machte sie endgültig die Tür zu und setzte sich zum Schreiben.

»Was er wohl macht?« fragte sie sich, als sie die Feder in die Tinte tauchte und den ersten Satz zu Papier brachte.

Als ich aus dem düsteren Dämmerlicht des Kapitelsaals in den hellen Sonnenschein trat, mußte ich blinzeln. Ich war ganz verstört bei der Vorstellung, daß man überall, wohin ich auch ging, meinen allerunschuldigsten Worten lauschen, mich belauschen, meinen Freunden nachspionieren und alle unrechten Gedanken, die man bei mir festzustellen meinte, weiterleiten würde. Am meisten Angst aber machte mir, daß ich für meine Freunde eine Gefahr darstellte. Auf einmal konnte ich unser Haus so sehen, wie diese Kleriker es sehen würden: in einem Stadtteil der Diebe und Halsabschneider gelegen, eine finstere Bruchbude, die zwei zweifelhafte Wehmütter beherbergte, welche fragwürdige Heilbehandlungen durchführten, dazu einen verrückten Alchimisten, Flüchtlinge und ein Wechselbalg. Und noch zwei seltsame Haustiere, die den Hexenfamiliaris ungemein gut zupaß kommen würden. Jetzt würden sie mich im Auge behalten. Wie lange würde es dauern, bis Bruder Malachi in Verdacht geriet, der ja kein Klosterbruder war? Was würde geschehen, wenn sie auch nur ein ganz kleines bißchen von dem herausbekamen, womit er sich beschäftigte? Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich seinen Kopf oben auf einer Stange sehen müßte. Und wenn sie ihn schnappten, was würde wohl aus Hilde werden, die ohne ihn nicht leben konnte, und den anderen, die nirgendwohin wußten? Wenn ich sie liebte, dann konnte ich dort nicht mehr wohnen. Nie würde ich wissen, an welchem Tag oder zu welcher Stunde ich ihnen den Tod ins Haus schleppte. Mir war sehr elend zumute. Die ganze Zeit über hatte ich bei allem, was ich tat, nur an mich selbst gedacht. Ich hatte mir eingebildet, ich diente höheren Zwecken, doch es war selbstsüchtig und hoffärtig von mir gewesen, andere ohne deren Wissen mit in Gefahr zu bringen. »Lebt wie andere Frauen, krempelt und spinnt Wolle. Hört auf mit der Geburtshilfe und mit dem Unruhestiften. Heiratet und lebt ehrbar, denn wenn Ihr Euch nicht bessern könnt, werdet Ihr brennen.« Immer noch sah ich ihre harten Gesichter vor mir, sah, wie sich ihre Fischmäuler öffneten und schlossen. Selbst David war jetzt in Gefahr, als Bruder einer Ketzerin, die widerrufen hatte. Wenn ich doch mit ihm sprechen und ihm sagen könnte, daß es mir leidtat; aber ich wußte, daß ich ihn um seinetwillen nie wiedersehen durfte. Wie sollte ich bloß leben? Spinnen ist nie meine Stärke gewesen, und vom Krempeln muß ich niesen.

Ich ließ den Kopf derart hängen, daß ich nicht mitbekam, wie eine Maultiersänfte am Fuß der Treppe hielt, die zur Pforte des Außenklosters führte. Der alte Master Kendall ächzte und keuchte mit verbundenem Fuß die Stufen hoch und stützte sich dabei auf die Schultern von zwei stämmigen Knechten. Sein schütteres, graues Haar hing ihm zerzaust unter dem modischen, juwelenbesetzten Filzhut hervor, und seine Goldketten klirrten und klingelten auf der soßenfleckigen Passe seines prächtigen, pelzgefütterten Gewandes.

»Nanu, Mistress Margaret! Ihr seid draußen, und das ohne Begleitung! Ich befürchtete schon, ich würde Euch im Gefängnis vorfinden – oder schlimmer noch, in Begleitung Eurer Scharfrichter. Dann wäre ich zu spät gekommen.«

»O Master Kendall, warum seid Ihr gekommen? Es ist gefährlich, mich zu kennen«, sorgte ich mich.

»Mein liebes Kind, ich bin gekommen, weil ich Eure Inquisitoren bestechen wollte.« Kendall lächelte sein komisches, schiefes Lächeln. »Aber Ihr scheint auch ohne mich freigekommen zu sein. Wie habt Ihr denn das geschafft?«

»Sie haben mich ausgefragt und ausgefragt. Dann hat sich mein Bruder für mich eingesetzt, und weil er Priester ist, haben sie ihm zugehört. Aber sie haben gesagt, ich soll bereuen und mich ändern, noch einmal komme ich nicht ungeschoren davon.«

Kendall schüttelte den Kopf. »Da habt Ihr Glück gehabt. Auf dem Festland entkommt kein menschliches Wesen dem Heiligen Offizium lebendig. Alle gestehen unter der Folter. Aber unser guter König erlaubt nicht, daß im Stadium der Befragung gefoltert wird. Verträgt sich nicht mit dem englischen Recht, sagt er. Und diese selbstgestrickten Affären, denen fehlt einfach – der Biß.« Er nahm meine Hand und besah sie von beiden Seiten, dann schüttelte er verwundert den Kopf.

»So ein Glück, so ein Glück. Keine Verletzung. Das kann kaum jemand von sich behaupten. Ich habe nämlich geschäftlich viel mit dem Kontinent zu tun. Mit Frankreich, Deutschland, Italien. Überall das Gleiche. Etliche gute Freunde habe ich bereits verloren. Wenn man ihnen dort Geld bietet, folgern sie, daß man noch mehr versteckt hat und schnappen einen trotzdem; dann können sie nämlich alles bis aufs letzte bißchen konfiszieren, diese geldgierigen, widerlichen Schwarzröcke! Hier in England jedoch gilt es als unpatriotisch, Bestechungsgelder abzulehnen. Ich rechnete mir schon aus, daß es einen Batzen kosten würde, aber wahrscheinlich hätte ich auch Erfolg gehabt.« Er legte den Kopf schief, so als ob er im Geist Summen überschlüge.

»Da sind natürlich die privaten Geschenke – ich hätte ihnen mehr bieten müssen, als sie von Euren Denunzianten bekommen haben. Dann würden sie mir ein paar Kirchenfenster abgeknöpft haben, dazu vielleicht noch eine Kapelle – hm, kann sein, auch ein Versprechen, daß Ihr Euch gut aufführt. O ja, es wäre teuer geworden, aber die Sache war es wert. Meine Gicht hat sich seit Eurer Verhaftung sehr verschlimmert. Ich mußte Euch einfach wiederhaben!«

»O Master Kendall, soviel hättet Ihr für mich getan? Euer Vermögen aufs Spiel gesetzt?«

»Für meine Gicht, für meine Gicht. Mit Schmerzen werde ich einfach nicht fertig. Könntet Ihr auf der Stelle kommen und mich behandeln?«

»Aber ich darf nicht mehr heilen. Das ist eine der Bedingungen«, sagte ich.

»Dann bezeichnet es als einen gesellschaftlichen Besuch«, sagte er unbekümmert. »Das bekomme ich schon hin. Nun grämt Euch nicht länger, geht nach Haus und holt dieses stinkige Zeug, das Ihr immer drauftut, und diesen ekelhaften Tee auch. Ich habe Schmerzen, schlimme Schmerzen, ich kann es kaum noch aushalten!«

Ich beeilte mich, das Gewünschte zu holen. Nichts belebt so sehr wie das Wissen, daß man treue Freunde hat. Doch daheim fand ich ein Chaos vor. Meine Freunde packten. Das heißt, Mutter Hilde packte, und Bruder Malachi, der während meiner Abwesenheit zurückgekehrt war, packte erst gar nicht aus. Er saß auf einer Truhe im Stinkezimmer, fuchtelte mit den Armen und gab zur Unterhaltung der Familie eine Geschichte zum Besten. Beim Eintreten bekam ich nur noch den Rest mit:

» – natürlich war es mein Riesenglück, daß ich zunächst einmal den Gemeindepfarrer aufgesucht hatte, und der war tief beeindruckt, vornehmlich von dem päpstlichen Siegel, und als dann diese großen Bauernlümmel mit Sicheln auf mich eindrangen, warf er sich zwischen uns und sagte: ›Wehe, Ihr krümmt diesem heiligen Ablaßkrämer ein Härchen!‹«

»Und was passierte dann?« fragte Sim.

»Ei, ich vergab allen und verkaufte ihnen erstklassige Ablaßbriefe zu Schleuderpreisen. ›Ich habe wunde Füße‹, erzählte ich ihnen, und da legten sie zusammen und trieben dieses schöne, wenn auch etwas angejahrte Maultier für mich auf, auf welchem ich zurückgekehrt bin. Ah! Margaret! Die Rückkehr der verlorenen Tochter!«

»Ihr braucht nicht zu fliehen. Ich bin frei und muß nicht brennen.«

»Kann man sehen, liebes Mädchen, kann man sehen! Aber haben sie dir nicht Auflagen gemacht? Wirst du beobachtet?« Bruder Malachi kannte sich aus.

»Ich glaube schon. Ich werde ungemein vorsichtig sein müssen.«

Bruder Malachi seufzte. »In diesem Falle, liebes Kind, muß ich meine Suche nach dem Stein der Weisen für ein Weilchen aufschieben und darf meine Geräte gar nicht erst auspacken. Wer weiß, wen sie zum Schnüffeln herschicken?« Dann heiterte sich seine Miene auf. »Doch der Reliquienhandel läuft von Tag zu Tag besser! Habt Ihr gewußt, daß in der Stadt schon wieder Fälle von Pestilenz aufgetreten sind? Ich habe da ein wirkungsvolles Gebet, das man als Schutz dagegen in einem Beutelchen um den Hals tragen kann, und sollte die Krankheit so furchtbar sein, daß selbst das nichts hilft, so kann man es kauen und aufessen, dann hilft es allemal! Vor Jahren habe ich damit in Chester gute Geschäfte gemacht. Gott nimmt mit einer Hand, aber nicht, ohne mit der anderen zu geben!« Und er hob die Augen gen Himmel.

»Amen!« setzte ich hinzu, denn Bruder Malachi hat so etwas, daß man hinterher immer guter Laune ist.

»Ich muß fort – der alte Master Kendall möchte seine Gicht behandelt haben.«

»Der alte Geldsack ist von der schnellen Truppe – ei, der ist klüger als die ganze Inquisition zusammen. Woher wußte er denn, daß du so schnell herauskommen würdest?«

»Das ist eine lange Geschichte, aber wie gewöhnlich habt Ihr recht, Bruder Malachi.« Ich suchte mir meine Sachen zusammen und machte mich hastig wieder auf den Weg zu Kendalls großem Haus in der Thames Street. Als man mich in sein Schlafzimmer führte, war klar, daß er große Schmerzen litt. Er lag auf dem Bett, die Kleidung ganz in Unordnung, den schlimmen Fuß hatte er entblößt, denn dieser duldete keine Bekleidung. Der Fuß war rot und geschwollen. Die Tränen flossen ihm aus den Augen, und er biß in einen Ledergürtel, damit er vor Qual nicht laut schrie.

»O Master Kendall, wie habt Ihr damit heute nur das Haus verlassen können?« fragte ich, während ich meine Sachen auspackte. Als Antwort stöhnte er. Ich kniete mich hin und bekreuzigte mich. Während ich die Salbe auf den Händen verrieb, daß sie warm wurde, versetzte ich meinen Geist in jene besondere Verfassung, so wie ich es mir beigebracht hatte. All meine Probleme, all meine Gedanken lösten sich in nichts auf, und eine göttliche Verzückung ergriff von mir Besitz. Ich merkte, wie es in Kopf und Händen pochte, dann wurden sie warm. Ich schlug die Augen auf, und da schien das Zimmer in einem fast unmerklichen warmen, orangefarbenen Licht zu leuchten. Ich legte meine Hände auf den geschwollenen Fuß.

»O Jesus, vielen Dank! Ich meinte, es nicht einen Augenblick länger aushalten zu können, ohne wahnsinnig zu werden!« Seine Magd stopfte ihm Kissen in den Rücken, so daß er den Kopf heben und mich ansehen konnte. Die Rötung im Fuß ging schon zurück.

»Wahnsinnig werdet Ihr gewiß nicht, Master Kendall, aber vermutlich wart Ihr maßlos. Fetten, süßen Pudding mit Nierentalg gestern abend? Wein? Hammel?«

»Nein, nur ganz leichte Kost. Ich halte mich doch immer an Euren Rat. Lediglich Gans, Lerchenpastete, einen Weißwein – sehr leichten –, Käse, eine leckere lombardische Creme – ach, und dergleichen mehr.«

»O Master Kendall, die Schmerzen kann ich Euch wohl nehmen, aber Ihr werdet jedes Mal wieder krank, wenn Ihr so reichlich speist und trinkt.«

»Aber was bleibt mir denn sonst noch?« Er war betrübt Die Schmerzen waren vergessen, und als Belohnung für seine Leiden hatte er schon ein luxuriöses Essen geplant gehabt.

»Haferpfannkuchen? Wasser? Einen Bratapfel vielleicht? Fürwahr, arme Bauern leben besser als ich!«

»Ist Euch denn noch nie aufgefallen, daß arme Bauern keine Gicht haben?«

»Dazu leben sie auch nicht lange genug, drum. Das kommt von den Haferpfannkuchen, diesem ekligen Zeugs. Die verhungern doch, lange bevor sie Gicht bekommen können!«

»Ihr müßt Euch entscheiden«, sagte ich fest, »einfaches Essen oder Gicht, es liegt bei Euch.«

»Na gut, ich werde es mir überlegen. Ihr seid die einzige, bei der es plausibel klingt – und das ändert die Sachlage. Ei, was hat man mich doch jahrelang vergiftet und zur Ader gelassen, und nichts hat angeschlagen, außer daß ich noch mehr Schmerzen gekriegt habe. Ein schlimmer Fuß, dazu ein schlimmer Magen und schlimme Handgelenke, ich kann Euch sagen, mit Roger Kendall ist nicht mehr viel los. Rückt mir die Kissen ein wenig höher, bitte.«

Ich schob ihm die Kissen zurecht, während er mein Gesicht forschend betrachtete. Das Leuchten im Raum verblaßte.

»Ihr seht sehr traurig aus. Was haben Euch denn diese alten Böcke im Domkapitel gesagt?«

»Sie – sie haben gesagt, ich soll Wolle krempeln und spinnen wie andere Frauen und von der Geburtshilfe und dem Gesundbeten ablassen – und mich verheiraten.«

»Ja, und warum tut Ihr's nicht?«

»Ich muß mir den Lebensunterhalt verdienen, und wenn ich das tue, dann kann ich mich nicht viel bessern. Es geht einfach nicht. Ich bin schon bald wieder dort, und ein zweites Mal habe ich kein Glück.« Und schon wieder ergriff mich die Niedergeschlagenheit.

»Und warum heiratet Ihr nicht einfach? Andere Frauen haben nichts dagegen, sich von einem Mann ernähren zu lassen.«

»Ich kann nicht heiraten, ich kann einfach nicht. Die Ehe ist einfach gräßlich, und ich will nicht heiraten!«

»Ihr wollt nicht heiraten? Wie kann ein hübsches, junges Mädchen nur so denken. Warum um alles wollt Ihr bloß nicht heiraten?«

»Ich – ich – also, es liegt wohl daran, daß ich Männer nicht gut leiden mag«, stammelte ich. Mein Herzeleid war so groß, daß ich mit der Wahrheit nicht mehr zurückhalten konnte.

»Keine Männer mögen? Was, keine Männer mögen?« Kendall warf den Kopf zurück und lachte.

»Ei, ein Mädchen wie Ihr ist doch dazu geschaffen, Männer zu mögen! Du liebe Zeit, wie konnte es nur so weit mit Euch kommen?«

»Ich weiß nicht. Aber Verheiratetsein ist schlimm. Das weiß ich aus Erfahrung.«

»Welche Erfahrungen hättet Ihr in Eurem Alter schon machen können? Wetten, daß Ihr von der Ehe gar nichts wißt.«

»Ich weiß viel zuviel. Ich war mit einem gräßlichen, gräßlichen Mann verheiratet. Ein Mann wie der leibhaftige Teufel, nur daß meine Eltern nichts davon ahnten, als sie die Ehe absprachen. Nur die Pest, die alle so verfluchen, hat mich von ihm befreit.«

»Ei, kleine Margaret«, sagte er weich. »Hat er Euch wehgetan? Wenn ja, so tut Ihr mir leid.«

»Er hat mich geschlagen. Er hat mir wehgetan. Seine – seine erste Frau hat sich im Schlafzimmer erhängt. Er war so schlecht.« Jetzt weinte ich in seine Bettdecke.

»Ich würde – ich würde ja Nonne werden, wenn es ginge, aber ich habe keine Mitgift für das Kloster, und rein bin ich auch nicht mehr. Die wollen keine Mädchen, die nicht rein sind.«

Er beugte sich vor und nahm mich tröstend in den Arm.

»Ihr seid rein, Margaret. Ihr seid eine keusche Wittib. Wer könnte wohl noch reiner sein? Ich bin reich. Für mich wäre Eure Mitgift kein Problem.«

»Ach, Ihr meint es gut, aber Ihr versteht einfach nicht. Er hat mich widernatürlich benutzt. Er hat gesagt, es sei meine Pflicht. Ich werde Zeit meines Lebens nicht wieder rein.«

»Ist das alles? Mehr nicht? Ei, Margaret, das zählt doch überhaupt nicht. Es passiert häufig, das könnt Ihr mir glauben.«

»Aber es ist gegen die Natur. Ich habe überall geblutet. Und manchmal habe ich mich geschämt, daß ich überhaupt noch lebe.«

Wieso erzählte ich ihm das alles? Ich weiß es nicht zu sagen. Vermutlich, weil er Mitgefühl zeigte. Und dazu alt war – er machte mir keine Angst.

»Margaret, Margaret, liebes Kind. Wißt Ihr denn nicht, daß sich Männer auf diese Weise lieben?«

»Tun sie das? Wie kann man nur?«

»Hatte er einen Freund, Margaret? Das würde eine Menge erklären.«

»O Gott, einen widerlichen Freund, einen schmierigen, rotgesichtigen Freund. Das also haben sie allein im Schlafzimmer getrieben. Woher hätte ich das wissen sollen?«

»Das, und zweifellos noch viel mehr«, gab er zurück.

»Noch mehr? Bitte, nicht sagen. Es reicht auch so.«

»Ihr seid ein eigenartiges Mädchen. Die meisten wären neugierig.«

»Ich bin überhaupt nicht neugierig. Ich bin bloß furchtbar traurig. Ich habe Gott gebeten, mich zu sich zu nehmen. Ich hatte nichts, gar nichts mehr. Stattdessen sandte Er mir eine Gabe

»Die Gabe, die meinen Fuß besser macht?«

»Ja. Gott hat einen eigenartigen Sinn für Humor, davon bin ich überzeugt.« Meine Tränen trockneten allmählich. Ich wischte mir die Nase im Ärmel ab.

»Margaret, wenn Ihr welterfahrener wärt, Ihr würdet um solch eine Nichtigkeit keine Träne vergießen. Kommt und setzt Euch neben mich und laßt mich ausreden, und ich verspreche Euch, Ihr werdet um derlei nie wieder weinen. Und dann nehmt Ihr auch die Mitgift von mir an, nicht wahr?« Er zog mich aufs Bett und wartete, bis ich mit Tränentrocknen fertig war, ehe er sagte: »Mit zunehmendem Alter, Margaret, werdet Ihr immer wieder feststellen, daß die Notwendigkeit uns zu Taten zwingt, die wir freiwillig nicht getan hätten. Mir scheint, Gutsein bedeutet nicht, daß man unberührt bleibt, sondern daß man unter schwierigen Bedingungen ehrenhaft handelt. Ich habe Euch nie wissentlich die Hand zu einer bösen Tat leihen sehen, Margaret, und ich habe Euch eingehender beobachtet, als Ihr ahnt.« Er blickte mir forschend in die Augen und setzte hinzu: »Das kann ich nicht von vielen Menschen behaupten, nicht einmal von mir selbst.« Dann lachte er verhalten.

»Wißt Ihr, wieviel Anerkennung ich für meine Verbindungen zum Orient und vor allem für meine Bekanntschaft mit dem Sultan ernte? Wie sie mich beneiden und hassen, meine weniger einflußreichen Brüder! Sie sehen die Nachkommen seines Zuchthengstes in meinem Stall und sein Messer an meinem Gürtel und beneiden mich um die Geschenke, die wir vor vielen, vielen Jahren getauscht haben und um den Handel, den ich in Gang gebracht habe. Doch jener Fürst lebt viel ausschweifender als alle christlichen Könige und Prälaten, und Ihr könnt mir glauben, daß kein christlicher Gefangener an seinem Hof, wie ich einst einer war, überlebt, ganz zu schweigen, daß er gedeiht und freigelassen wird, ohne daß er nicht viel mehr über die Welt erfährt, als er ursprünglich wissen wollte.« Ich blickte ihn neugierig an. Was für ein wunderlicher Mensch verbarg sich doch hinter diesem närrischen, fröhlichen Äußeren! Mir war, ich sähe über den Rand in einen tiefen Brunnen, und jählings, unerwartet blickte mich daraus ein Paar uralte Augen an.

»Was würdet Ihr sagen, Margaret, wenn ich Euch erzählte, daß ich einst jemanden kannte, so jung wie Ihr, der auf einer langen Handelsreise erfahren mußte, wie grausam die Welt ist, und dem bei seiner Rückkehr die Frau gestorben war, während die Kinder von seiner Mutter großgezogen wurden, und der nur noch Seufzen und Weinen ohne Ende, Gebet und Buße, Fasten und Pilgerfahrten kannte? Und alles um solcher Dinge willen, die er aus freien Stücken nicht getan hätte. Sagt mir, wie seht Ihr das?« Ich dachte lange und sorgfältig nach, ehe ich antwortete:

»Ich würde sagen, wenn Gott ihm vergeben hat, dann sollte er sich selbst auch vergeben, anderenfalls würde er sich in Hoffärtigkeit suhlen. Es ist besser, einen Fehler gutzumachen, als zulange darauf zu verweilen.«

»Genau meine Meinung, Margaret, Ihr seid wirklich ein kluges Mädchen und macht Euch mehr Gedanken als andere. Ich weiß, ihm ging das nicht im entferntesten so rasch auf. Erst als er herausfand, daß sein eigener Herrscher, unser seliger König, nicht viel anders lebte als der Sultan, da merkte er, daß dergleichen in der großen Welt kaum zählt, daß es eine Nichtigkeit und nicht einen Seufzer wert ist.«

Ich machte große Augen. Auf die Idee wäre ich nie gekommen. Er sah mich so eigenartig an, schlau und nachsichtig zugleich.

»Margaret, kleiner Unschuldsengel, wollt Ihr denn nicht einsehen, daß Euer Kummer in den Augen der Welt nichts ist, überhaupt nichts? Und in Gottes Augen, ja, da habt Ihr Eure Antwort doch bereits erhalten, oder.«

»Ist das alles – alles wirklich wahr?« schluckte ich.

»Es ist wahr«, sagte Kendall schlicht.

»Aber – aber mir ist da gerade etwas eingefallen, ich kann sowieso nicht Nonne werden. Welches Kloster würde wohl eine Frau aufnehmen, die einen Widerruf wegen Ketzerei unterschrieben hat?«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.« Kendalls Stimme klang sachlich.

»Ihr könntet es mit der Ehe versuchen – beispielsweise mit mir. Mein Geld und mein Einfluß würden Euch schützen.«

»Nicht, daß ich etwas gegen Euch habe – das müßt Ihr mir glauben; Ihr seid – also, Ihr seid so furchtbar nett zu mir gewesen. Aber heiraten? Ich habe soviel Angst vor der Ehe, daß ich meine, ich sollte es nie wieder wagen.«

»Wißt Ihr eigentlich, daß die Hälfte aller Wittibe Londons für dieses Angebot ihr Herzblut geben würde?« Seine Stimme neckte mich. »Ei, ich bin alt – stehe praktisch schon mit einem Bein im Grabe, und meine Frau würde reich sein.«

»Kein Mensch heiratet aus einem so unehrlichen Grund.«

»Unehrlich, aber allgemein üblich. Ei, ich hatte vor gar nicht so langer Zeit eine Geliebte, die mich regelmäßig bat, sie zu heiraten. Sie war verrückt nach Edelsteinen. Ich überschüttete sie damit. Aber sie heiraten? Die gierige Schlampe hatte einen jungen Liebhaber. Sie hätten mich todsicher genauso vergiftet, wie den armen Tropf, der sie am Ende doch noch nahm.«

»Vergiftet? Liebhaberinnen? Was für ein abscheuliches Leben.«

»Ganz meine Meinung, kleine Margaret. Heiratet mich und heilt meine Gicht, und es soll Euch an nichts fehlen. Ich will jetzt ein gutes Leben führen, denn ich bin alt, und Gott blickt mir schon über die Schulter.«

»O Master Kendall, solch eine Krankenpflegerin käme Euch aber teuer zu stehen!«

»Krankenpflegerin? Nein! Keine Krankenpflegerin. Die kann ich anstellen. Betrachtet es einmal so. Ich bin reich geworden, weil ich eine Nase für verborgene Schätze habe. Ihr seid ein Schatz, Margaret, und ich bin einfach so schlau, daß ich zugreife.«

»Aber – es – wird nicht gehen.« Ich zerknäuelte einen Zipfel der Bettdecke und glättete ihn wieder. Er betrachtete mich eingehend, so pfiffig, wie ich ihn einen Levantiner betrachten sah, der Geld borgen wollte.

»Denkt Ihr an Eure – hmm – Pflichten?«

»Ja.«

»Und wenn ich Euch nun verspreche, vor einem Priester verspreche, daß ich nichts von Euch will, es sei denn, Ihr bittet mich darum? Wenn Ihr es nicht möchtet, so werde ich Euch nicht berühren.«

»Das würdet Ihr wirklich tun?«

»Mein Ehrenwort, ich schwöre es beim Namen unseres Herrn Jesus Christus.« Kendall sprach feierlich und blickte mir dabei fest in die Augen. Ich sah, daß es ihm mit seinem Versprechen völliger Ernst war.

»Aber wollt Ihr denn keine Erben?« fragte ich.

»Ich habe Erben«, gab er zurück. »Zwei erwachsene Söhne, die nur zu froh sein werden, wenn Ihr keine Kinder bekommt.«

Keine Kinder? Es gab mir einen Stich. Aber es mußte sein, denn es war schon einmal schiefgegangen.

»Wenn Ihr es schwört, Euer Ehrenwort gebt – dann – dann will ich Euer Angebot annehmen.« Ich blickte ihn forschend an, so als ob ich bei genauem Hinsehen herausfinden könnte, wie lange er wohl sein Versprechen hielt.

Und Kendall hielt sein Versprechen, wie sich schon bald herausstellte, doch wie alle gewiegten Händler hatte er mir eine Information vorenthalten. In den langen Jahren seiner Witwerschaft und den vielen, die er an sehr merkwürdigen Orten verbrachte, hatte er sich zu einem Meister der geheimen Liebeskunst entwickelt. Und mit Hilfe dieser Geheimnisse wollte er mich am Ende doch noch gewinnen und gleichzeitig seinem Schwur treubleiben.

Doch davon später. Damals war ich so überwältigt von diesem Austausch von Geheimnissen und dem neuen Wissen um weltliche Dinge, das mir Master Kendall vermittelt hatte, daß ich ihn etwas fragte, was mir schon seit Jahren auf der Seele lag.

»Sagt mir – nur noch eines, da wir so aufrichtig miteinander gewesen sind.« Ich blickte ihn an. Gewiß, er war der weiseste Mann, den ich meiner Lebtage gekannt hatte: weltläufig, duldsam und tröstlich.

»Ei, und was wäre das?« fragte er zärtlich.

»Bloß – bloß etwas, das mir seit Jahren im Kopf herumgeht. Stimmt es, daß Ihr den seligen König gekannt habt?«

»Recht gut vermutlich. Ich habe ihm allerlei seltene Dinge verkauft, und als er stürzte, konnte ich von Glück sagen, daß ich mit dem Leben und mit meinem Reichtum davonkam.«

»Also, es ist nur eine Frage. Hat ihn zuviel Baden wirklich so geschwächt, daß er dadurch seinen Thron verlor?«

Kendall blickte erstaunt, und dann mußte er so furchtbar lachen, daß ihm die Tränen aus den Augen liefen.

»Margaret, Margaret, mit Euch werde ich mich nie langweilen!« Und dann ergriff er meine Hand und erklärte mir wie einem Kinde:

»Es stimmt, daß der selige König Edward der Zweite oft badete und man ihn deswegen einen Weichling hieß. Und er trug auch noch – kaum zu glauben – ein Tüchlein bei sich, in das er sich die Nase schneuzte, statt wie ein Christ die Finger zu nehmen! Aber er ging nicht an seinen putzsüchtigen Gewohnheiten, sondern an seiner Liebe zu Männern zugrunde. Vor allem sein Günstling Pierre Gaveston wurde zu mächtig. Die Königin und ihr Liebhaber stürzten den König, und das mit stillschweigender Duldung zahlloser großer Barone. Und als er zugunsten seines Sohnes und Erben abgedankt hatte, da ermordeten sie ihn, ohne daß an seinem Leib eine Spur blieb.«

»Wie das? Ließen sie ihn verhungern?«

»Soviel Glück hatte er nicht. Sie stießen ihm einen rotglühenden Schürhaken in jene Liebespforte, von der gerade die Rede war, und verschmorten ihm die Eingeweide.«

»Barmherziger Jesus!« Ich bekreuzigte mich. Wenn das schon Königen geschieht, was dann wohl erst dem niederen Volk wie uns?

»Redet mir nie davon. Ich weiß vieles, was anderen unbekannt ist. Mit Euch werde ich immer aufrichtig sein, wenn Ihr den Mund halten könnt. Wissen ist auf dieser Welt gefährlich.«

»Unwissenheit aber auch, finde ich.«

»Da habt Ihr durchaus recht. Ich muß mir nur noch schlüssig werden, welcher Zustand mehr Sicherheit bietet.«

Margaret saß allein über ihrem Buch. Sie war so bei der Sache, daß ihr Gesicht ganz faltig wirkte, und kleine Tintentropfen von der Feder auf ihren Ärmel gespritzt waren. An ihrem rechten Zeigefinder prangte ein großer Tintenklecks und ein kleinerer an ihrem Daumen.

»Du liebe Zeit«, dachte sie bei sich, »wieviel schwerer ist es doch, alles aufzuschreiben, anstatt es einfach nur zu erzählen. Kein Wunder, daß Bruder Gregory so grämlich dabei war.« Und sie massierte sich die rechte Hand mit der linken, wie sie es ihm abgeschaut hatte. Lion lag schlafend unter dem Tisch und gab im Traum nach Hundeart Laute von sich. Margaret überlegte ein Weilchen, was Hunde wohl träumen mochten, dann welchen Unterricht die Mädchen nachmittags haben sollten, und danach, was es Donnerstag zu Abend geben sollte, wenn sie Gäste hatten. Dann dachte sie an das, was sie gerade schrieb, und nahm sich vor, wieviele Seiten genau sie heute fertigstellen wollte. Dann merkte sie, es waren zuviel und berichtigte ihren Voranschlag. Schließlich blieb nichts mehr zu tun, als wirklich mit Schreiben zu beginnen. Es ging ihr durch den Kopf, wieviel Spaß es gemacht hätte, Bruder Gregory mit etwas wirklich Schockierendem in Harnisch zu bringen. Dann seufzte sie und griff erneut zur Feder.

Wir heirateten in aller Stille, aber der Skandal war unvermeidlich. Die erwachsenen Söhne meines Mannes stießen sich an seiner Wiederheirat, und überall in der Stadt klatschte man, daß Roger Kendall am Ende doch senil geworden sei und seine Krankenpflegerin geheiratet hätte. Was natürlich bedeutete, daß eine Menschenmenge zugegen war, denn es kamen nicht nur die Freunde meines Mannes, sondern auch seine Feinde – weil sie alles weitertratschen wollten.

»Habt Ihr die kleine Puppe vom alten Kendall gesehen? Ei, ich war bei der Hochzeit. Er ist ja völlig vernarrt in sie – ja, er hat völlig den Verstand verloren.«

Mir kam die Hochzeitszeremonie seltsam und traumartig vor, denn bei den Worten mußte ich an jene erste Hochzeit denken, die solch ein böses Ende genommen hatte. Nicht einmal die sonderbare Absprache, die mein Mann und ich getroffen hatten, tröstete mich, und er bemerkte denn auch meine Blässe. Ich kam mir gefangen vor – gefangen in einer Ehe, die ich meinen Freunden und meinem Bruder zuliebe eingegangen war, und auch weil ich Angst vor dem Scheiterhaufen hatte. Ich hatte meine Freiheit verkauft, damit ich sie nicht gefährdete, weil sie mich kannten. Es war alles so bitter und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Aber am Ende kam ich zu dem Schluß, daß Freiheit das Risiko des Scheiterhaufens wert sei, denn lange brennt man nicht, andererseits aber wollte ich nicht in alle Ewigkeit mit der Last herumlaufen, daß meine Unvorsichtigkeit allen Schaden zugefügt hatte, die ich liebte. Um ihretwillen beschloß ich, mich so zu benehmen, daß ich keinen Verdacht mehr erregte. Ich nahm nur zwei Dinge aus meinem früheren Leben mit: das Brennende Kreuz, welches ich immer trug, und Lion, der ohne mich nicht fressen wollte.

Aber neue Kleider und eine luxuriöse Umgebung bekamen mir nicht. Ich schien in Master Kendalls Haus einfach zu vergehen. Ich konnte nicht mehr ruhig werden und das Licht herbeirufen, denn mir tat alles so weh. Ich ging neben meinem Mann wie ein Geist, wenn er mich zur Kirche begleitete, wo wir bei unserer Ankunft immer viel Aufsehen erregten. Mein Haar verlor den Glanz und fiel mir allmählich aus. Und eines Morgens wurde mir dann zur Gewißheit, was ich schon geahnt hatte: die Gabe war fort. Bald konnte ich das Bett nicht mehr verlassen; dann konnte ich nichts mehr essen. Immer tat mir der Magen weh, so als ob ich innen von Teufeln zerrissen würde.

»Bitte, iß, mir zuliebe«, bat mein Mann, der neben mir auf dem Bett saß. »Ich dachte immer, du wärst nur traurig und würdest wieder munter werden, doch jetzt merke ich, daß du krank bist. Bitte, schwinde nicht einfach so dahin! Bitte! Sieh mich an. Ich bin schon viel dünner geworden. Ich habe nicht mehr so üppig gegessen, und die Gicht hat sich sehr gebessert! Eine Zeitlang schon kein Anfall mehr. Ich wußte, ich mußte dich damit verschonen. Gebrauche du deine ganze Kraft für die Genesung. Kannst du dich denn nicht selbst heilen?«

Ich blickte ihn an und lächelte, denn Sprechen fiel mir zu schwer, und ich hielt seine Hand. Seine Zuneigung tröstete mich. Lion blieb immer bei mir, am Fußende des Bettes, so als ob er mich vor eine unsichtbaren Bedrohung schützen wollte. Dann nahm ich alle Kraft zusammen und flüsterte:

»Schickt nach Hilde. Wenn sie nicht weiß, was mir fehlt, dann niemand.«

»Und ich tue noch ein Weiteres. Ich schicke nach dem besten Arzt in London, Dottore Matteo di Bologna.«

»Ein Italiener?« regte ich mich auf.

»Ja, natürlich. Und sehr intelligent.«

»Mit einem gesträubten, schwarzen Bart?«

»Ja, den hat er.«

»Dann ertrage ich seinen Anblick nicht, wie schlecht es mir auch geht. Das ist der Mann, den ich bei der reichen Dame getroffen habe – der Mann, der mich verraten hat, da bin ich ganz sicher.«

»Sch, Sch. Ich habe mich erkundigt. Dich hat ein Engländer angezeigt. Und gut bezahlt hat er die da oben auch. Auf das Wort eines Ausländers hätten sie nichts gegeben. Es gibt nur zwei Männer, die es gewesen sein können. Beide spezialisieren sich auf die Behandlung von reichen Frauen. Du hast ihnen das Geschäft verdorben.«

»Ihr meint also, es ging dabei – ums Geschäft?«

»Wenn es um Geld geht, wird hoch gespielt. Ich weiß Bescheid. Ich habe selbst auch viel eingesetzt und auch viel einstecken müssen, doch ausgeteilt habe ich auch.« Seine Augen wurden schmal, und ich hoffte um seiner Seele Seligkeit willen, er würde nie herausfinden, welcher von beiden es war.

»Schlimme Gedanken schaden Eurer Gesundheit«, mahnte ich ihn, und er lächelte sein komisches Lächeln und sagte:

»Bravo, das klingt fast wie in alten Zeiten.«

Danach fingen meine Gedanken an zu wandern, und später erzählte man mir, daß ich nicht einmal mehr Hilde erkannte, als sie eintraf. Jetzt wurde mein Mann richtig besorgt und schickte auf der Stelle nach dem Doktor und einem Priester. Und dieser Priester war Vater Edmund.

Ich wußte, daß Leute um mich herumstanden. Sie sahen wie Schatten aus, die um das Bett herumschwebten, und ich konnte nicht ausmachen, wer sie waren. Sie sahen anklagend aus, diese Schatten, und so entschuldigte ich mich bei ihnen:

»Es tut mir leid, daß sie tot sind. Ihnen war nicht zu helfen. Früher hatte ich eine Waffe, aber die ist weg. Der Kopf ist zu groß, zu groß –«

»Ich sag ja, so geht es. Sie glaubt, sie ist in Wochenstuben.

Manchmal sagt sie, daß sie ohne Flügel fliegt und andere Phantastereien. Sie – sie wird auch nicht mehr Licht. Ich hatte vorgehabt, Euch zu einem festlichen Abendessen zu laden, Vater, nicht zur letzten Ölung.«

»Margaret, meine Tochter, wißt Ihr, wer ich bin?« fragte eine Männerstimme. Jemand tat mir etwas Kaltes und Nasses aufs Gesicht. Es biß und roch furchtbar. Genau wie im alten Haus.

»Hilde? Wo ist Hilde?« fragte ich. »Habt Ihr nicht nach ihr geschickt?«

»Ich bin hier, Margaret. Das ist eine Arznei von Dottore Matteo.«

»Sie riecht gräßlich, Hilde, genau wie das Stinkezimmer. Ich bin nämlich wieder krank geworden, Hilde.«

»Ich weiß, und ich bin ja da und helfe dir.«

Allmählich verschwamm nicht mehr alles. Da stand Vater Edmund und sah düster aus. Ich merkte, er hatte seine Robe ausgezogen und sich die Stola umgelegt. Der Knabe mit der Kerze trug das Öl. Neben dem Bett war ein Tischchen aufgestellt worden, auf dem zwei Kerzen brannten, dann lag da noch ein Eibenzweig, ein Handtuch und andere Dinge, die er benötigte.

Vater Edmund ergriff meine Hand.

»Margaret, Margaret, es tut mir leid, daß ich Euch das angetan habe. Ich mußte es tun. Ich mußte Euren Willen brechen. Und das schnell, ehe Ihr noch mehr sagen konntet. Wenn man Euch dazu verleitet hätte zu sagen, was Ihr denkt, dann hätten sie Euch die Worte im Munde umgedreht und Ihr wärt unrettbar verloren gewesen. So geht das bei diesen Befragungen; Männer wie die da brauchen nicht zu foltern, um jemanden ans Messer zu liefern. Ich wollte Euch retten, doch ich habe Euch zerstört. Ich dachte, es wäre gut so.«

»Gut? Genau wie ich also.«

»Genauso.«

»Ich wollte nie unwissend sein.«

»Das habe ich immer gewußt. Aber ich mußte Euren wunden Punkt treffen.«

»Das habt Ihr.«

»Ich war begierig, Euch zu retten. Zu begierig. Die da konnten keinen richtigen Fall zusammenbekommen. Beweise gab es nicht, außer der Todesurkunde. Als ich David fand, da wußte ich, ich hatte sie in der Tasche. Ich wollte Euch nicht loslassen. Ihr seid nämlich ein Original. Besser als der wundertätige Pfannkuchen.«

»Der wundertätige Pfannkuchen?« knurrte mein Mann. »Davon habe ich schon gehört – man ist mich gerade um eine Spende für einen Schrein angegangen. Natürlich habe ich gespendet. Ich spende immer für Schreine.«

»Vater Edmund«, fragte ich, »hat es seit dem Pfannkuchen weitere wundertätige Manifestationen gegeben?«

»O ja, mehrere. Den Glühenden Knochen, das Schwimmende Schwert – doch das war eine abgekartete Sache, ein Scharlatan hatte es für Geld gemacht –, außerdem gibt es noch den Fußabdruck des Engels und den Daumennagel des Gehängten. Letzterer wurde von mir als Fall von Schwarzer Magie entlarvt. In London ist um diese Jahreszeit viel los, auch wenn es nicht Frühling ist.«

Man stopfte mir noch ein Kissen in den Rücken und zog mich hoch, daß ich besser sehen konnte. Die Bettücher kamen ins Rutschen, Gold glitzerte.

»Ich sehe, daß Ihr immer noch das Brennende Kreuz tragt. Jetzt würde ich gewißlich nicht mehr wagen, es zu berühren«, sagte Vater Edmund traurig.

»Aus Angst, es würde Euch verbrennen? Das ist albern.«

»Nein, aus Angst, es würde nicht brennen. Dann wüßte ich, Ihr hättet recht gehabt und ich wäre nicht der gute Mensch, für den ich mich hielt, als ich es zum ersten Mal anfaßte.«

»Ach, Vater Edmund.«

»Ihr seid nämlich nicht wirklich unwissend. Ihr habt nur eben nicht studiert. Das ist der Unterschied. Und Ihr denkt zuviel. Das bringt Euch immer wieder in Schwierigkeiten – das, und weil Ihr den Mund nicht halten könnt.«

»Ich weiß, es stimmt«, seufzte ich. »Aber das macht nun auch nichts mehr. Meine Kraft ist dahin.«

»Dann habt Ihr also die Vision nicht mehr?«

»Ich weiß, daß ich einst eine sah, aber ich kann sie nicht mehr spüren. Sie ist jetzt fort.«

»Ich bitte Euch um Vergebung, Margaret. Ich bitte demütigst darum, denn das habe ich Euch angetan.«

Doktor Matteo schnaubte verächtlich. Während unseres Gesprächs war er im Zimmer umhergestrichen. Zunächst hatte er mir den Puls gefühlt, dann herumgestöbert, in Töpfe und Truhen geschaut und unters Bett. Jetzt stand er da und nahm die ganze Szene mit seinen dunklen Katzenaugen in sich auf.

»Ihr Priester seht in allem gleich eine geistige Krise.« Sein Bart sträubte sich wild. »Ich hatte mir eingebildet, Ihr wäret aufgeweckter als der Rest, aber auch Euch mangelt es an Beobachtungsgabe. Hmpf!« Er sah empört aus.

»Seht Euch dieses Haar an, wie brüchig.« Er nahm eine lange Haarsträhne vom Kissen und führte es vor, indem er es zwischen den Fingern rieb. Dann ergriff er meine Hand. »Seht Ihr diese Nägel? Die Farbe? Auch sie brüchig. Das Gesicht, seht Ihr das? Die Farbe?« Er faßte mich unters Kinn und drehte meinen Kopf grob hin und her.

»Ihr hättet mich eher rufen sollen. Sogar diese alte Frau hier, die mir scheint gar nicht so dumm ist, dürfte dergleichen noch nie gesehen haben. Ich schon. In Italien erlebt man das alle Tage.« Er legte eine effektheischende Pause ein. Dieser Mann liebte dramatische Auftritte.

»Es ist Gift.«

Vater Edmund und Master Kendall blickten sich an.

»Normalerweise«, fuhr Doktor Matteo heiter fort, »bedeuten diese Symptome bei einer Frau, daß ihr Mann die Nase von ihren Liebschaften voll hat.« Er kam mir mit seinen stachligen Barthaaren sehr nahe, starrte mir in die Augen und sagte dann jäh:

»Habt Ihr Liebschaften?«

Dann richtete er sich auf. »Hmpf. Ich glaube nicht. Außerdem seid Ihr frisch verheiratet. Noch sollte Euer Mann Euch nicht satt haben. So ist alles offen. Wer profitiert von Eurem Tod, bambina?«

Kendalls Augen wurden schmal. Er wußte es.

»Dann kommt sie also durch?« fragte er.

»Durchkommen? Wer redet denn von durchkommen? Normalerweise behandle ich mit Aderlaß und Abführmitteln. Das reinigt Blut und Eingeweide. Doch dazu ist es jetzt zu spät. Sie ist zu schwach für einen Aderlaß. Versucht viel Wasser zu trinken und kein vergiftetes Essen zu Euch zu nehmen. Vielleicht hilft es ja, schaden tut es jedenfalls nicht. In der Regel ist in diesem Stadium alles vorbei – Tage, Stunden, wer weiß?« Er hob die Schultern. »Sie sollte lieber ihren Frieden mit Gott machen. Es dürfte an der Zeit sein.« Er näherte sich dem Bett und beugte sich über mich.

»Und Ihr, bambina, solltet Euch nicht wegen geistiger Krisen grämen. Ich habe selber einige ekstatische erlebt. Beim nächsten Mal kriecht und bekennt Ihr nicht. Trotzt ihnen! Steht zur Wahrheit! Das ist ein herrliches Gefühl! Ei, als sie meinen ersten Meister, Bernardo von Padua, verbrannten, da stapelten sie alle seine Bücher rund um den Scheiterhaufen. Als die Flammen emporschlugen, rief er: ›Ich trotze Euch! Die Wahrheit könnt ihr nicht verbrennen.‹ O, ich sage Euch, das ist der einzig angemessene Tod für einen Wissenschaftler. Perfetto! Ein herrlicher Märtyrertod für die Wahrheit! Als die riesigen Rauchwolken emporstiegen, flammten seine Haare auf wie ein Heiligenschein! ›Wahrheit!‹ rief er! Also, das nenn ich mir einen Tod!« Doktor Matteo hatte sich sehr ereifert. Er fuchtelte mit den Händen und wollte einen Eindruck von den brausenden Flammen vermitteln, und dann hob er sie, um zu veranschaulichen, wie der Rauch geradewegs zu Gottes Richterstuhl aufgestiegen war. Alsdann beruhigte er sich wieder und musterte mich mit braunen Knopfaugen.

»Sagt Eure Gebete und eßt nichts Bitteres. Morgen bin ich wieder da und sehe nach, ob Ihr noch am Leben seid.«

»Ich – ich dachte, meine Traurigkeit macht, daß alles so bitter schmeckt«, sagte ich matt.

»Natürlich. Hach! Frauen!« und damit wandte er sich zum Gehen, überlegte es sich jedoch wieder. Stattdessen ging er ums Bett herum, wo Hilde stand, und sagte gänzlich gelassen:

»Ihr, die alte Frau da, seid Ihr die Lehrmeisterin?«

»Die Lehrmeisterin?« fragte sie.

»Ja, die Lehrmeisterin der Kleinen. Sie sagt, sie hat alles bei Euch gelernt. Wir hatten ein paar ausführliche Unterhaltungen, sie und ich. Ich bin dabei, eine Liste über die Wirkung der in England heimischen Pflanzen aufzustellen. Ich würde Euch gern einmal besuchen und mit Euch über Kräuterarzneien sprechen.« Hilde willigte mit einem wortlosen Nicken ein.

Dann verließen sie das Zimmer, während Vater Edmund mir die Beichte abnahm und mir ein Tuch für die Kommunion unters Kinn legte. Als sie zurückkehrten, begann er mit den Gebeten, und ich merkte, wie sich das Geräusch der gemurmelten Responsorien allmählich immer weiter entfernte.

Der Tod, oder zumindest der Tod im Bett, hat etwas sehr Interessantes. Zunächst wehrt man sich schrecklich. Es ist, als glitte man in einen glitschigen, abfallenden Tunnel ohne Handlauf hinein. Man krallt nach allem, krallt verzweifelt, schöpft wild, verzweifelt Atem, so als könnte man damit das sterbende Feuer im Inneren wieder entfachen. Doch es hilft nicht. Drinnen geht etwas entzwei, Blut kommt einem aus dem Mund, rinnt auf das Kissen. Man schmeckt nicht einmal mehr den salzigen, metallischen Geschmack und sorgt sich auch nicht um die Bettwäsche. Der Schmerz entfernt sich wie ein Ball, der in der Luft schwebt und nicht mehr zu einem gehört. Ganz vorbei, das Leben, und es macht auch nichts mehr, weil jetzt alles anders ist – er war, ja, ich fand, er war sanft. Ich ließ mich in den Tod fallen, als wäre er etwas Sanftes, Liebliches. Aus tausend Meilen Entfernung schienen sie die Sterbeliturgie zu beten. Wie albern. Es schien ihnen allen sehr nahezugehen. Mir einst auch – dergleichen bekümmerte mich immer. Das war, als ich mich noch um ein Fleischklümpchen namens ›Margaret‹ sorgte.

Und auf einmal schwebte ich über dem Klümpchen und blickte nach unten. Alberne, alberne Menschlein! Dort lag die armselige Hülle einer Frau. Sie sah furchtbar, entsetzlich jung aus. Aber unter dem Gesicht ahnte man schon die Umrisse des Schädels, er überschattete die Wangen und die tiefen, eingesunkenen Augen – ein Schatten von jener seltsamen, grünlich blauen Farbe, wie sie alte Prellungen aufweisen. Kleine Puppengestalten in dunklen Gewändern standen um sie herum, und einer hatte gerade mit dem Daumen ein Kreuz auf ihrer Stirn gemacht. Lebt wohl, ihr närrischen Fleischklümpchen – ich muß emporsteigen.

Eine Stimme, eine Stimme wie ein brausender Wasserfall, dröhnte rings um mich in der lichten Leere.

»Margaret, du darfst noch nicht kommen. Du mußt zurückkehren.«

»Nie, nie und nimmer, laß mich jetzt kommen!«

»Zurück, du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Bitte nicht!« gellte ich in die Leere.

»Du hast eine Aufgabe von vielen Jahren vor dir. Du wirst es nicht bedauern. Deine Zeit ist noch nicht reif, du darfst noch nicht kommen.«

»Ich will aber; ich bin fertig, und ich komme doch«, rief ich ins Licht zurück.

»Warum mußt du immer so störrisch sein und soviel reden? Hast du denn immer noch nichts gelernt? Zurück mit dir!«

»Niemals!« schrie ich aus Leibeskräften, und dann wirbelte es mich auch schon um und um furchterregend nach unten.

Was für eine bittere Enttäuschung mit unsäglichen Schmerzen aufzuwachen! Ich war wieder in meinem armseligen Leib, der Schmerz knebelte und fesselte mich und zerriß mich von innen. Ich wußte nicht, wo genau der Schmerz saß. Er war einfach überall. Es war der Schmerz, am Leben zu sein. Schluß mit dem Fliegen! Ich kam mir betrogen vor. Ich hielt die Augen geschlossen. Ich hörte, wie mir das Blut in den Ohren rauschte, und die schwachen, keuchenden Atemzüge, mit denen mein Leib für mich atmen wollte. Manchmal hielt jemand meine Hand. Manchmal auch nicht, doch das machte nichts. Ich lauschte nur auf das gräßliche Gerassel, mit dem mein Leib lebte, lebte.

Einmal hörte ich eine Stimme sagen:

»Also, sie lebt immer noch, wie?«

Ein ander Mal versuchte eine Stimme das Rauschen in meinem Ohr zu übertönen, ging aber beinahe unter:

»Die Küchenmagd hat gestanden. Hilde hat sie dabei erwischt, und sie hat sich im Gefängnis erhängt, ehe man sie zum Reden bringen konnte.«

Wen scherte das noch?

»Es ist alles vorbei, sie wird wieder gesund«, sagte jemand.

Nichts ist vorbei: ich kann nicht mehr fliegen. Du häßlicher, häßlicher Leib. Du ziehst mich nieder und macht dieses brausende, rauschende Geräusch.

Augen wollen sich nicht öffnen. Macht nichts? Wer will dort oben noch sehen?

Und dann siegte eines Tages das Leben. Ich schlug die Augen auf und sah, daß Hilde im verdunkelten Zimmer eingenickt war. Ich schloß sie wieder, doch dieses Mal um zu schlafen, richtig zu schlafen.

Am Nachmittag sah ich mit einem Auge Licht. Es war mit dem Auge, dessen Lid jemand mit einem schwarzen, gesträubten Bart hochhob. »Ha! Ich glaube, sie lebt. Bei guter Pflege wird sie wahrscheinlich wieder gesund.«

Meine Lippen versuchten, Worte zu formen, doch kein Laut kam heraus.

»Also? Nur heraus damit, man kann Euch nicht hören«, sagte der Bart.

»Ich werde nie wieder Angst vor dem Tod haben«, flüsterte ich. »Er ist sanft.«

»Als ob ich Euch das nicht schon gesagt hätte? Hach! Der Tod ist auf seine Art genauso herrlich wie das Leben! Man muß ihn – zu würdigen wissen!«

Ein Wahnsinniger dachte ich. Ich kannte nur einen solchen Wahnsinnigen.

»Doktor Matteo«, sagte ich langsam und deutlich.

»Ei, sie spricht ja! Sie erkennt Euch! Ein Wunder! Ich glaube, sie wird gesund. Ich lasse eine Dankesmesse lesen. Prächtig, prächtig!« Dann beugte sich Roger Kendall über mich und sagte: »Du, wir feiern deine Genesung mit einem Fest, ganz üppig und wunderschön!«

»Ach, Hausherr, die Mühe könnt Ihr Euch sparen. Ihr bekommt nur wieder die Gicht.«

»Ei, das ist meine alte Margaret – meine brave Margaret!« rief er aus. Als der Doktor ging, saß der alte Roger Kendall bei mir, bis mir die Augen zufielen.

Ich schlief ein Weilchen. Als ich erneut die Augen aufschlug, da hatte ich etwas auf dem Herzen. Es mußte heraus.

»Ich glaube, Ihr müßt mich wirklich – gernhaben – Ihr hättet mich doch – aufgeben können«, brachte ich mit meinem bißchen Kraft heraus.

»Dich aufgeben? Aufgeben? Nachdem ich soviel intrigiert, soviel Pläne geschmiedet hatte, um dich zu bekommen? Margaret, was meine Schätze angeht, da bin ich selbstsüchtig. Die gebe ich nie und nimmer auf.«

»Ihr findet also ehrlich, daß ich ein Schatz bin?«

»Aber gewiß doch. Ein echter Schatz. Als ich dich gesehen habe, da wollte ich dich schon haben. Wenn ich jung wäre, ich hätte dich so verführerisch umworben, daß du nicht hättest widerstehen können. Aber alles, was ich jetzt noch zu bieten habe, ist Geld, und ich fürchtete mich davor, ausgelacht zu werden. Gerade du durftest mich nicht auslachen! Dann warf dich mir die Göttin Fortuna in Gestalt eines verräterischen Blutsaugers sozusagen in die Arme. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich dich deswegen verachte? Margaret, du wirst geliebt. Von mir geliebt, wenn du es doch nur zu schätzen wüßtest!« Ich blickte ihm in die Augen. Es war ihm ernst. Das rührte mich zutiefst.

»Gebt mir Eure Hand, daß ich sie küsse, mein wahrer, guter Freund. Ich weiß Eure Liebe wohl zu schätzen. Im Traum wäre ich nicht darauf gekommen, daß jemand so Liebes und Gutes mich lieben könnte. Ich habe es nicht für möglich gehalten.« Mein Herz floß über vor Zärtlichkeit. Sitzen konnte ich noch nicht, aber ich nahm die Hand, die er mir hinstreckte. Eine schreckliche Narbe lief über den Handrücken. Ich küßte die Innenfläche und dann die Narbe, ach, so sanft. Dann legte ich sie an meine Wange und schlief ein.

An jedem Tag meiner Genesung brachte er mir irgendein kleines Geschenk. Einen Blumenstrauß, ein Band, irgendeine mit erlesenem Geschmack und Sorgfalt ausgewählte Kleinigkeit. Und wenn er so jeden Tag kam und meine Hand hielt, fiel mir auf, wie etwas Wunderbares mit ihm vorging. Sein Gesicht strahlte vor Freude, und mit jedem Besuch schien er ein wenig jünger zu werden, so als ob ihn die Liebe erneuerte. Er kleidete sich jetzt mit großer Sorgfalt; verschwunden war das soßenbekleckerte Zeug, das ich immer an ihm gesehen hatte. Jetzt zeigte er eine Vorliebe für tiefdunkle, satte Materialien, die oftmals mit dunklem Pelz gefüttert und kostbar bestickt waren. Seine schweren Gewänder strahlten jetzt Würde aus, und seine goldenen Ketten und Ringe wollten nicht mehr protzen, sondern waren sorgfältig zusammengestellt und zeugten von angeborener Eleganz und Geschmack. Sein Gesicht – jung würde es zwar nicht wieder werden, aber etwas viel Besseres ging mit ihm vor. Es war schmaler geworden, und wo einst fette Hängebacken waren, kam wieder ein kräftiges Kinn zum Vorschein. Seine Augen schienen zu glänzen, und die Falten auf der Stirn, die von Erfahrung erzählten, standen ihm gut.

»Alle sagen, daß ich wieder jung werde, Margaret. Das macht dein Einfluß. Ich esse das alberne Grünzeug, trinke den gräßlichen Tee – ja, ich habe sogar den Weinkonsum eingeschränkt. Sieh dir meinen Fuß an!« Er hielt ihn hoch und wackelte damit. »Viel besser! Für dich will ich wieder jung werden, um dich glücklich zu machen.« Wie hätte sich wohl mein verhärtetes Herz nicht für ihn erwärmen sollen?

Mittlerweile ging es mir so gut, daß mich zwei Diener hinunterbringen konnten, damit ich in seinem Wohnzimmer saß. Es ging auf den Garten, so daß ich die Rosen sehen und frische Luft atmen konnte. Jeden Tag nahm er sich etwas Zeit, setzte sich zu mir und zeigte mir die seltsamen Schätze aus seiner großen, eisenbeschlagenen Lade. Er besaß Schwerter mit fremdartigen Ziselierungen, ein Astrolabium und ausländische Dinge, wie ich sie meiner Lebtage nicht gesehen hatte. Er hatte Bücher in Latein, Französisch, Deutsch und sogar in Arabisch – eine Abhandlung über Mathematik –, aber auch Bücher in unserer Muttersprache. Aus denen las er mir vor. Meist waren es Gedichte, wunderschöne Gedichte.

Eines Abends saß er neben mir in unserem großen Bett, die Vorhänge waren schon zugezogen. Er hielt meine Hand.

»Liebste Margaret«, sagte er, »hast du nie daran gedacht, daß wir Kinder bekommen könnten?« Ich erschauerte. Er legte mir zärtlich den Arm um die Schultern und sagte:

»Die Liebe ist nicht böse, Margaret, oder schmerzhaft oder grausam oder schimpflich.« Ich ließ den Kopf hängen. »Ehrlich«, sagte er, »gute Kinder zeugt man nur, wenn man sich liebt, und andere möchte ich nicht haben.« Als er merkte, wie ich ihn ansah, sagte er: »Ich denke an mein Versprechen, Margaret, und ich respektiere es. Ich möchte nicht, daß du mich einmal verachtest.« Ich sah seine Innigkeit und Großzügigkeit und wußte, er war mein treuster Freund.

»Nur einen Kuß, dann bitte ich auch nicht wieder.« Seine Stimme klang sehnsuchtsvoll, sanft und traurig. Nur einen? dachte ich. Was ist schon dabei nach allem, was er für mich getan hatte.

»Aber ja, einer ist nicht viel – nicht genug für Eure Güte. Ich möchte es auch«, antworte ich ihm.

Er nahm mich zärtlich in die Arme und küßte mich voll auf den Mund, was er zuvor noch nie getan hatte. Das war zart und doch leidenschaftlich, also, ich kann es einfach nicht beschreiben. In mir regte es sich mit Macht.

»Noch einmal?« fragte ich verhalten.

»Noch einmal? Mein kostbarer, liebster Schatz.« Und er küßte mich noch einmal. Seine zärtlichen Hände berührten mich sanft – erst hier, dann dort, sachter als Staubkörnchen auf einem Sonnenstrahl tanzen. Ich spürte, wie ein Schauer – ein köstlicher Schauer dieses Mal – durch meinen Leib lief. Er küßte meinen Hals und dann meine Brust so wunderschön, daß eine Flamme der Leidenschaft von der Liebespforte geradewegs durch mich hindurchfuhr.

»Ich will, ich will Euch so sehr«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Ich spürte, wie ich von innen her erblühte wie eine Blume. Wie sonst hätte ich dergleichen wohl einem Mann sagen können?

»Dann mußt du jetzt auch keine Angst vor mir haben, mein Schatz«, sagte er leise.

Irgendwo – es kann nur sehr weit entfernt von diesem harten Land gewesen sein – war mein Mann Meister der geheimen Liebeskunst geworden. Welche kluge und leidenschaftliche Frau hatte ihn darin unterwiesen? Es gibt Frauen, die hassen die ehemaligen Liebhaberinnen ihres Mannes, ich aber hätte ihr, wenn ich sie gekannt hätte, gern gedankt, auch jetzt noch. Aber bei allem was er sagte und tat, rührte und veränderte mich vor allem die große Zuneigung, die sich in seinem tiefen und vollkommenen Lieben äußerte. Immer noch finde ich keine Worte, um mir das selbst zu erklären. Mit einer Art einfühlsamer Zärtlichkeit entfachte er unsere beiderseitige Lust, daß wir Gipfel unsäglichen Entzückens erreichten. Mein ganzes Ich wurde durchgeschüttelt und wieder neu. Und nachdem wir getändelt hatten – so schön, so angenehm, daß ich es nicht einmal ertrage, dafür das gleiche Wort zu gebrauchen, das man in der Regel für derbere Paarungen verwendet –, da ruhte er sich neben mir aus und fragte leise: »Noch einmal?«

»Noch einmal und immer wieder«, murmelte ich und barg mein Gesicht an seinem Hals. Und wenn das erste Mal schon rauschhaft war, so wurde es vom zweiten noch übertroffen. Wir schliefen zusammen ein, ruhten umschlungen wie Liebende es tun.

Ein verirrter Sonnenstrahl hatte den Weg durch die schweren Bettvorhänge gefunden und beleuchtete den bloßen Rücken meines Mannes über der Bettdecke. Er erschien mir schön – die blasse Haut über den Schulterblättern, die gerade aufsteigende Reihe der Rippen, die sich rundeten, wo er sich zusammengerollt hatte. Alles sah so viel lieblicher aus, als die grüne Erde nach einem sommerlichen Gewitter. Was für schöne Vorhänge, was für eine interessante Bettdecke! Und was für ein erstaunliches Wesen lag da neben mir im Bett – jemand, der mich so sehr mochte, daß er mir den Schatz der Liebeslust erschlossen und mir die Geheimnisse meines eigenen Herzens gezeigt hatte.

»Gewiß«, sinnierte ich vor mich hin, »ist das die Art von Heirat, für die Gottes Segen gedacht ist. Nicht die andere. Wie üblich, haben die Menschen einen Fehler gemacht.«

Mein Mann bewegte sich, drehte sich um, sah mich neben sich im Bett sitzen und lächelte. »Du bist eine sehr ungewöhnliche Frau«, sagte er. »Ob du wohl weißt, wie ungewöhnlich?« Ich küßte ihn, und er erwiderte den Kuß. Und schön bald befanden wir uns wieder in jenem Zustand der Seligkeit, den wir am Abend zuvor erlebt hatten.

»Margaret, du bist eine unglaubliche Frau. Du hast mir meine Jugend wiedergegeben«, sagte er und staunte mein Gesicht an.

»Und du hast mich etwas gelehrt, wovon ich nicht wußte, nicht die leiseste Ahnung hatte, daß es existierte«, raunte ich ihm ins Ohr.

Er schickte nach dem Frühstück, und wir tranken aus einem Becher. Den ganzen Tag über blieben wir im Bett, redeten und liebten uns von Zeit zu Zeit und die ganze Nacht hindurch aufs Neue.

»Soll so die Ehe sein?« fragte ich ihn am zweiten Morgen.

»In der Regel nicht Tag und Nacht, aber ungefähr schon«, sagte er glücklich.

Es stimmte, am Ende mußten wir die Bettvorhänge öffnen und wieder in die Welt zurückkehren, denn es gibt immer viel zu tun. Aber jetzt genoß ich die Freundschaft und das herzliche Verständnis, welche die Ehe, die wahre Ehe, zu einem gesegneten Stand machen. Kendalls Haus war groß, und es dauerte seine Zeit, bis ich gelernt hatte, es zu führen. Außerdem hatte ich mir Dinge in den Kopf gesetzt, die viel Ärgernis erregten. Ich ließ die Dienerschaft das Haus von oben bis unten schrubben, denn in der Zeit von Kendalls Witwerschaft waren sie schlampig geworden. Die Abtritte an der rückwärtigen Mauer des Hauses waren stinkende Löcher: wir holten uns jemand, daß er sie säuberte, da sich kein Hausdiener dazu bereit fand. Wir renovierten die Vorratsräume, so daß kein Ungeziefer mehr eindringen konnte; und ich setzte dort eine fette, alte, getigerte Katze mit ihren Jungen hin, denn ich kann Ratten nicht ausstehen. Was sie nicht fressen, besudeln sie – und darin erinnern sie mich an einige menschliche Kreaturen…

»Ich muß mit dir reden, Hausfrau. Du gibst immense Summen für neue Binsen aus. Obendrein noch süß duftende Kräuter! Selbst Leute, die sich anstellen, wechseln sie nur vier-, fünfmal in zwölf Monaten, und du kehrst sie ständig wieder hinaus.«

»In den Binsen verbergen sich Ratten und Ungeziefer. Ich kann Ratten nicht ausstehen.«

»Die Welt ist voller Ratten und Ungeziefer. Ertrage sie und laß sie leben, damit ersparst du dem Haushalt viel Arger.«

»Sie können ja anderswo leben, wenn sie wollen. Hauptsache, nicht bei mir. Außerdem ist mir eine wunderbare Idee gekommen. Hast du schon mal diese schönen Teppiche mit den eingewebten märchenhaften Pflanzen und Ungeheuern gesehen, welche Ausländer sich auf den Fußboden legen? Wenn wir sowas hätten, wäre das nur eine einmalige Ausgabe.«

»Und was für eine Ausgabe – davon kann man hundert Jahre Binsen kaufen! Möchtest du nicht lieber Geschmeide haben? Frauen lieben doch Geschmeide. Ich könnte dich damit überschütten.«

»Ich würde lieber mit einem sauberen Fußboden überschüttet, geliebter Hausvater. Wenigstens in unserem eigenen Zimmer, ja?«

»Ich werde nach Venedig schreiben«, antwortete er mit einem Lächeln.

»Und für das schöne Zimmer, das auf den Garten geht?«

»Dafür auch.«

»Und für die Diele?«

»Jetzt ist aber Schluß. Vom Tisch fällt einfach zuviel herunter. Lieber die Binsen auskehren.«

»Wie du wünschst«, lächelte ich. Er schüttelte verwundert den Kopf und lächelte sein komisches, schiefes Lächeln.

Aber viel hatte er nicht gegen die Veränderungen im Haus einzuwenden. Er sagte, es mache genausoviel Spaß wie ein neues zu bauen, dazu noch ohne den Ärger und die Kosten eines Umzugs.

Nicht lange danach stellte ich fest, daß ich schwanger war. Als ich ihm das sagte, geriet er ganz außer sich.

»Du hast mir ein neues Leben geschenkt, ein zweites, auf das ich nach dem Ende meines ersten nie zu hoffen gewagt hätte«, sagte er an jenem Morgen zu mir. Was für eine Freude, der Welt zu zeigen, daß er noch ein Mann war. Er verpaßte aber auch keine Gelegenheit, diese Tatsache in die Unterhaltung mit jedem Mann, den er traf, einfließen zu lassen. Und so kam es, daß man sich überall in der Stadt das Maul darüber zerriß, und er mußte sich so manche Neckerei gefallen lassen, was er aber unbesehen als Kompliment auffaßte.

»Aber bist du auch nicht böse, wenn es kein Junge ist?« fragte ich ihn.

»Ich habe bereits Söhne, und die sind eine Enttäuschung. Probieren wir es also mal mit etwas anderem. Was für ein Kind wir beide auch bekommen, ich freue mich darüber.«

Es stimmte, daß er sich um seine Söhne grämte. Sie waren schon erwachsen. Der älteste, Lionel, war fünfundzwanzig, und der jüngere, Thomas, zweiundzwanzig. Sie wiesen nur wenige der guten Charaktereigenschaften ihres Vaters auf. Das schrieb ich dem Verhätscheln durch ihre Großmutter zu, vor allem während Kendalls Abwesenheit, als sie klein waren. Sie vertaten ihr Leben und sahen in ihrem Vater nur eine Geldquelle. In dem Gewerbe, das er sie hatte lernen lassen, hatten sie versagt. Thomas lebte jetzt in einem Mietszimmer über einer Schenke und brachte seine Tage beim Würfelspiel zu. Lionel, sein ältester Sohn, lebte bei seiner Geliebten, einer unangenehmen, habgierigen Person. Ich kannte sie von früher. Einst sollte sie eine Favoritin des Grafen von Northumberland gewesen sein, ehe sie verblühte. Sie hatte sich eine Abtreibung bei einer alten, unkundigen Wehmutter verschafft, die ich kannte und die das dunkle Pulver unvorsichtig angewendet und sie beinahe umgebracht hatte. Und danach war sie in der Tat ein paar Monate wahnsinnig gewesen. Kendall hatte beide schon oft vor Gericht losgekauft – als sie bei einer Schlägerei in einer Schenke einen Mann umgebracht oder als sie einen Mönch in einen Dunghaufen geworfen hatten – so wie er ihnen die Bestrafung erspart hatte, wenn sie als Kinder in der Kirche Handball gespielt oder ein Fenster eingeworfen hatten.

Mein Mann saß oft da und brütete darauf herum. Dann gab ich ihm wohl einen Kuß auf den Nacken, damit er davon abließ, und er fuhr zusammen, blickte auf und sagte zu mir:

»O Margaret, wenn sie doch nur dich zur Mutter gehabt hätten, dann wäre mehr aus ihnen geworden.« Und dann streichelte er wohl meinen Leib mit dem schwellenden Leben darin und lächelte traurig.

Er erzählte mir, daß er früher gedacht hätte, alle Knaben machten Streiche und würden sich am Ende besinnen und ihre Pflichten wie ein Mann auf sich nehmen. Seine Jungen waren nicht nur aus der Schule ausgerückt, sie hatten auch noch den Stock des Lehrers über dessen Rücken zerbrochen. Er hatte versucht, sie bei einem Zunftbruder in die Lehre zu geben, wo sie sich als unheilbar faul und als Störenfriede erwiesen. Den Ältesten hatte er mit einem Handelsschiff zur See fahren lassen und gehofft, daß er dabei sein Gewerbe lernte; stattdessen lernte er lediglich mehr über Lasterhaftigkeit.

Eines Tages im Frühling, als alles grünte und blühte, rief er mich in sein Kontor, wohin ich selten kam. Er seufzte tief und sagte:

»Ich habe einen Entschluß gefaßt, Margaret. Dieses Haus, mein Anwesen auf dem Lande und mein persönlicher Besitz gehen an dich und unser Kind, oder, so Gott will, unsere Kinder. Allein von den Einkünften meines Gutes könnt ihr alle sorglos leben. Mein Lager, meine bewegliche Habe und alles, was ich im Auftrag anderer verkaufen soll, ist zu verkaufen. Einen Teil davon hinterlasse ich als Geschenk an meine Diener, Freunde und Gönner. Die große Endsumme, die übrigbleibt, geht an dich und die Kinder, die wir haben. Ich habe Master Wengrave zu ihrem Vormund bestellt, er übernimmt auch meine Lehrbuben. Ich weiß, daß du Vertrauen zu ihm hast, Margaret, und er eignet sich gut zu deinem Beistand. Auch wenn ich der Kirche eine große Summe für ständige Seelenmessen vermache, bist du immer noch eine wohlhabende Wittib – eine der wohlhabendsten in London, Margaret.«

»Ach Gott, lieber Hausvater, redet mir nicht davon, ich will keine Wittib sein, ob nun wohlhabend oder nicht. Ich möchte mit dir gehen. Ohne dich kann ich nicht leben, merkst du das denn nicht?« Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

»Margaret, Margaret, du bist viel zu jung, als daß du so sprechen dürftest«, sagte er sanft und wischte mir die Augen wie einem Kinde. »Hör gut zu, was ich dir sage, denn ich denke nur an dich, und es ist zu deinem Besten. Du mußt dich um unser Kind kümmern, Margaret; ich habe dich lieber, als ich sagen kann, und die Welt ist sehr schlecht.« Ihm zuliebe bemühte ich mich zuzuhören, aber eine Unterhaltung über Testamentsbestimmungen macht mich abergläubisch, obschon wir das alle eines Tages tun müssen.

»Margaret, ich will dir damit sagen, daß ich meine Söhne enterbt habe. Ihre Ausschweifungen und Verbrechen haben mir nur Kummer bereitet, und ich habe das ihnen zustehende Erbe bereits mehrmals ausgezahlt, um sie aus der Patsche zu holen. Früher glaubte ich, sie würden sich bessern; doch sie haben mit ihrem anstößigen Lebenswandel nichts als Schande über mich gebracht. Ich hinterlasse beiden eine kleine Summe unter der Bedingung, daß sie sich anständig aufführen – weiß Gott mehr als ich zu Anfang hatte –, die bei ihnen aber zweifellos nur für eine mehrtägige Zechtour reichen wird. Damit dürften sie ständig vor Gericht zu tun haben, daß sie ihre Tugend unter Beweis stellen, um an das Geld zu kommen – und das hält sie vielleicht davon ab, dich zu belästigen.«

»Gewiß hinterläßt du ihnen zu wenig«, sagte ich.

»Nicht wenig genug!« sagte er zutiefst verbittert und starrte mich böse an. Als er sah, wie ich zurückfuhr, lächelte er verhalten und sagte etwas, das ich damals nicht verstand:

»Wenn dir etwas zustößt, oder wenn unsere Kinder ohne Anlaß sterben, fällt alles, was sich meine Söhne erhoffen können, an die Kirche.« Ich blickte ihn fragend an. Sein Lachen war grimmig. »Man muß nur einen gierigen Hund auf den anderen hetzen. Damit dürften sie für eine Weile mit Schreinen versorgt sein.«

Ich war jetzt riesig und konnte kaum noch laufen. Hilde kam oft auf Besuch und erzählte mir dann den ganzen Stadtklatsch aus dem Blickwinkel der Wehmutter sozusagen. Welches Kind aber auch gar keinem Verwandten ähnlich sah, welches mit einer Glückshaube geboren war oder sonst mit einem ungewöhnlichen Mal, und welch seltsame Vorkehrungen man in welchem Haushalt für ein Neugeborenes getroffen hatte. Ich genoß es, denn damit versetzte sie mich wieder in die alten Zeiten zurück, nur daß sie im Nachhinein rosig und problemlos schienen. Bruder Malachi machte gute Geschäfte mit Pestarzneien. Er konnte sie verkaufen, ohne die Stadt verlassen zu müssen, worüber Hilde glücklich war. Anscheinend findet man immer eine gute Ausrede, wenn eine Pestarznei nicht wirkt. Außerdem gibt es keinen wütenden Kunden mehr, der einem die schlechte Ware in den Hals stopfen möchte.

»Und er ist dem Geheimnis dieser Tage furchtbar, furchtbar nahe gekommen. Er sagt, aus dem ersten Gold macht er mir eine Krone als Lohn für meine Geduld. Er ist närrisch, aber er meint es so gut!«

»Seine Geräte?« fragte ich ein wenig erschrocken. »Ist etwas durchgesickert?«

»Ach, mach dir keine Sorgen. Bei Tage brennt er Weingeist, das dient ihm als Ausrede. Bei Nacht forscht er nach dem Geheimnis. Der Weingeist verkauft sich gut – als Medizin. Er redet den Leuten ein, daß er beinahe überall hilft, und ob das nun stimmt oder nicht, fast jeder holt sich nach.«

»Aber schläft er denn gar nicht mehr?«

»Wenn er bei Tage arbeiten muß, braucht er gewöhnlich ein Nickerchen. Aber so geht das allen erhabenen Geistern«, sagte Hilde selbstgefällig. Dann befühlte sie meinen Bauch.

»Das Kindchen hat sich schon hübsch gesenkt. Nur noch ein paar Tage, liebes Mädchen.«

Drei Abende später setzten mächtige Wehen ein; beim Blasensprung ergoß sich das Wasser ins Bett.

»Schick nach Hilde!« keuchte ich und rüttelte meinen Mann an der Schulter. Alles stand bereit, als sie eintraf, der Feuerschein fiel auf eine neue Wiege, und der kleine Zuber thronte neben der Feuerstelle. Sauberes Leinen und Wickelbänder waren bereitgelegt. Hilde hatte den Gebärstuhl rübergebracht, denn wir hatten beide genug Erfahrung, daß wir wußten, man preßt besser nach unten als auf dem Rücken liegend, wenn man die Wahl hat.

»Ei, Margaret, die vielen Kinder, die du geholt hast, da dürftest du jetzt aber keine Angst haben«, sagte sie und hielt mir die Hand.

»Bei den eigenen ist das etwas völlig anderes, Hilde. Und außerdem weiß ich nur zu gut, was alles schiefgehen kann.«

»Dann atme tief, statt durchzudrehen, Margaret; so geht es jedenfalls nicht, gerade du solltest das besser können«, bemerkte sie gelassen.

Mein Mann kam fast um vor Angst. Er stapfte vor der Tür der Wochenstube auf und ab und lugte ein ums andere Mal um die Ecke, um Hilde etwas Unsinniges zu fragen.

»Mir wäre leichter zumute, wenn Ihr jenes Ding hättet, das Margaret immer mit sich führte – nur für den Notfall, hört Ihr!« sagte er, während er draußen vor der offenen Tür wartete.

»Nichts da, Master Kendall. Ich habe es vor lauter Angst nie gebraucht. Ich bin eben altmodisch. Es war immer Margarets Instrument, und sie kann ja wohl nicht gut ihr eigenes Kind holen, oder?« Hildes Gelassenheit und Vernunft wirkten ein Weilchen beruhigend auf seine Nerven. Als die Schmerzen schlimmer wurden, da mußte ich einfach stöhnen und schreien. Und schon wieder stand er an der Tür und störte uns:

»Ich halte das nicht mehr aus, Mutter Hilde. Seid Ihr sicher, es läuft alles, wie es soll? Das hört sich ja furchtbar an; viel grausiger als ein Zusammenstoß mit Piraten. Ist das bei Frauen eigentlich immer so?« Hilde war zu beschäftigt, um zu antworten, und so setzte er sich draußen wieder hin und legte den Kopf in die Hände. Dann stieß ich erneut einen Schrei aus; der Kopf war durchgetreten.

»Nur noch ein paar Minuten, Master Kendall, dann haben wir's geschafft; es läuft alles gut, wirklich sehr gut«, rief Mutter Hilde, als sie den schlüpfrigen Rumpf hochhob.

»Ein kleines Mädchen, Ihr habt eine Tochter, Master Kendall«, rief sie eine Minute später. Aber sie wollte ihn nicht eher ins Zimmer lassen, bis das Kind nicht gesäubert und reinlich gewindelt war und auch ich gewaschen im frisch bezogenen Bett lag. Als er dieses Mal auf der Schwelle stand, hielt sie ihm ein kleines Bündel hin, daß er es musterte.

»Ei, sie hat ja rote Haare!« rief er freudig aus. »Kleine rote Locken oben auf dem Kopf. Man kann die Farbe schon deutlich erkennen!«

Hilde legte mir das Kindchen in den Arm, wo es zunächst nach der Brust schnüffelte und dann hingebungsvoll anfing zu nuckeln.

»Wer hätte das gedacht? Rotes Haar«, murmelte mein Mann immer wieder verträumt. Seine Söhne waren schwarzhaarig wie ihre Mutter. Sein Haar war nämlich einmal, vor langer Zeit, rot gewesen, ehe es weiß wurde.

Zeit meines Lebens bin ich nicht so müde gewesen wie in den nun folgenden Tagen und Nächten. Es war eine glückselige Müdigkeit, und meistens schlief ich und fütterte das Kindchen zwischendurch.

»Möchtest du denn keine Amme haben und dich selber schonen? Ich hatte gedacht, alle Frauen wollten eine Amme«, sagte Kendall, als er die Ringe unter meinen Augen bemerkte.

»O Hausherr, niemals. Denn das Kind trinkt mit der Milch auch die Eigenschaften der Mutter. Und ich habe zu viele Ammen aus der Nähe kennengelernt.« Seine Brauen wölbten sich, und er schüttelte den Kopf über meine Exzentrizität.

Ein paar Wochen später – das Kind schlief – fand ich, ich könnte meine Näherei mit nach unten nehmen und mich an den Rosen erfreuen. Ich nähte gerade an etwas Hübschem, einem bestickten Kleid für mein kleines Mädchen.

Agatha kam herein und störte mich, ihr Gesicht war ein Bild der Sorge.

»An der Tür ist ein abgerissener Bettelpriester, der um Einlaß bittet. Er sagt, er kennt Euch und möchte vorgelassen werden. Ich jage ihn fort, wenn es Euch recht ist. Nichts als Blutsauger, diese Kerle, und Ihr braucht Eure Ruhe.«

»Aber welchen Namen hat er angegeben?« fragte ich sie.

»Er hat gesagt, er ist David – mehr bräuchte es nicht.«

David! David hier!

»O Agatha, schick ihn auf der Stelle herein – es ist mein Bruder.«

»Euer Bruder? Da habt Ihr Euch aber einen armselig aussehenden Bruder ausgesucht. Wer konnte das wissen?« murmelte die alte Frau und verschwand.

»David, David!« strahlte ich, stand auf und streckte die Arme nach ihm aus, als er ins Zimmer trat.

»Nicht aufstehen, Schwester. Wie ich höre, hast du jetzt das Gewerbe des Kinderkriegens aufgenommen, und man hat mir gesagt, daß du Ruhe brauchst.«

»Nur einmal in den Arm nehmen, David – danach habe ich mich so lange, lange gesehnt«, gab ich zurück, und er legte mir verlegen die Arme um die Schultern.

David und ich saßen zusammen in der Fensternische. Es war fast wie in alten Zeiten. »Dir geht es hier gut, Schwester«, sagte er und blickte auf die verglasten Fenster, den gemusterten Teppich und die blühenden Rosen draußen.

»Mein Mann gibt mir alles.«

»Dann mußt du ja glücklich sein«, sagte er, aber seine Augen blickten traurig.

»Glücklich? Ja, ich bin wohl glücklich. Aber ich wollte frei sein. Und das ist etwas anderes.«

»Das tut mir leid.«

»Es muß dir nicht leidtun, David. Ich muß dir überhaupt nicht leidtun. Für mich ist alles gar nicht so schlecht ausgegangen. Sogar dich habe ich wiedergefunden. Das hat mich so gefreut, selbst wenn ich dich nicht sehen durfte. Ich wollte nämlich, aber ich dachte, ich würde dir damit deine große Laufbahn zerstören. Und darum habe ich mich nicht blicken lassen.«

»Das ist mir durchaus klar. Darum bin ich ja auch zu dir gekommen. Ich muß dir etwas sagen, Margaret.«

»Doch hoffentlich nichts Schlimmes«, erwiderte ich. Sein Gesicht sah so ernst aus.

»Nein; ich wollte mich nur entschuldigen.«

»Bei mir brauchst du dich nie zu entschuldigen, David. Ich muß mich bei dir entschuldigen.«

»Nein, begreifst du denn nicht, Margaret? Als ich dich dort als Häufchen Unglück sah und merkte, wie Vater Edmund dich vorsätzlich demütigte, da war mir unbeschreiblich scheußlich zumute. Es ging dabei um etwas, was vor langer Zeit war. Ich – ich habe mich geschämt, daß ich dir nie das übrige Alphabet beigebracht habe.«

Ich nahm seine Hand in meine. Wie innig ich David doch liebte! Mein Zwilling, meine andere Hälfte mein Leben lang. Wie gern hätte ich ihn getröstet.

»Aber das ist jetzt alles vorbei. Gräm dich nicht weiter über die Vergangenheit. Mir geht es gut, wie du siehst, und mein Mann hat versprochen, mir irgendwann, wenn ich nicht mehr so müde bin, Leseunterricht geben zu lassen. Ich lerne es schon noch, und dann schreibe ich dir eigenhändig einen Brief. Dann hast du Freude an mir, David.«

»Schick bloß nicht überall Briefe hin. Die landen doch nur in den Händen der bischöflichen Kleriker. Hast du das vergessen? Im Palast des Bischofs bekommen wir Berichte über dich. Berichte über dich und noch eine Menge andere Leute.«

Ich dachte ein Weilchen darüber nach. Einzusehen war das nun wirklich nicht, aber David hatte recht.

»Ach, David, es ist alles so traurig. Ich wünschte, es gäbe weit, weit weg im Meer eine Insel, auf der ich leben und denken könnte, wie ich wollte.«

»Eine solche Insel gibt es nicht, Margaret, und wenn es sie gäbe, würden die Menschen sie zu genau dem machen, was wir hier haben. Du schaffst es nicht, Margaret. Du mußt leben wie alle Übrigen.«

»Wenn du ein lieber Bruder wärst, dann würdest du mich nicht daran erinnern«, sagte ich mit einem Lächeln.

»Das gleicht dem, was ich auch schon länger denke, Margaret. Ich glaube, irgendwo bin ich in die Irre gegangen – nicht arg, aber es hat zu Weiterungen geführt.« Sein Gesicht sah auf einmal abgespannt und traurig aus.

»Du hast doch eine wunderbare Laufbahn vor dir – zerstöre die jetzt nicht durch Zweifel«, drang ich in ihn. Aber er fuhr fort:

»Ich habe eben wieder an früher denken müssen, Margaret. Es hat damit angefangen, daß ich nach deiner Befragung dem Bischof schöntun mußte. Ich habe ihm erzählt, was du alles getan hast, als Mutter gestorben war, und wie gut du zu mir gewesen bist. Er wurde so richtig stolz auf sich, daß er dich hatte laufen lassen. Aber dabei fielen mir auch wieder ein paar Gedanken ein, die ich damals hatte, und da ging es mir immer schlechter. Also habe ich ihn überredet, mich ziehen zu lassen. Ich möchte unter den Armen arbeiten und wie Christus leben und umherwandern – zumindest für eine Weile, bis ich mir im klaren bin, was richtig ist.«

»O David, das ist aber gefährlich – man könnte dir etwas antun. Und du mußt noch Großes vollbringen.«

»Du meinst, als Fürst zurückkehren? Da bin ich mir gar nicht so sicher, ob das gelingt. Genauso wenig wie du frei sein kannst.«

»Aber der Bischof ist doch nicht böse auf dich, oder?«

»O nein, er sah ganz gefühlsduselig aus und gab mir seinen Segen. Er sagte, als er jung war, hätte er das auch getan und würde es gern noch einmal tun.« O David, dachte ich. Was man dir so alles nachsieht. Zu dir sind sie netter als zu anderen, und ich weiß auch warum. Aber wenn ich ihm das erzählte, es würde ihm das Herz brechen. Er glaubte, daß der Bischof ihn nur um seiner selbst willen mochte. Warum sollte ich ihm seinen Glauben nehmen? Also sagte ich:

»Wenn du eine anständige Mahlzeit brauchst, wirst du doch wenigstens wiederkommen, oder?«

»Natürlich komme ich wieder.«

»Wann, David?«

»Wenn – wenn ich wieder Engel sehe.«

»O David, dann darf ich dir doch auch meinen Segen geben? Ich möchte dir die Hände auf die Schultern legen.«

Er kniete nieder, und ich legte meine Hände auf den rauhen Stoff, der seine mageren Schultern bedeckte. Das Zimmer leuchtete sanft orangefarben, dann dunkel orangerosa und für einen Augenblick in einem leuchtenden, weichen Honiggold.

»Ei, Margaret, du hast aber einen komischen Trick. Dein Gesicht wird ja ganz Licht. Wie hast du denn das gelernt?«

»Das ist eine lange Geschichte, David. Aber laß dir noch sagen, was mir an dem Bischof aufgefallen ist.«

»Und was wäre das?«

»Seine Flöhe springen noch viel weiter als deine jemals gesprungen sind.«

»O Margaret, du bist unverbesserlich!« Er gab mir einen Klaps auf den Arm, grinste, griff nach seinem Bündel und war verschwunden.

Margaret betrachtete, was sie geschrieben hatte. Es fiel ihr schwer, an David zu denken, ohne daß er ihr so fehlte, daß es richtig wehtat. Vor einem Jahr war ein von der Überseereise ganz fleckiger Brief eingetroffen, der ›An meine wohledle, vielgeliebte Schwester Margaret‹ adressiert gewesen war. Er war monatelang unterwegs gewesen und berichtete von Wanderschaft in Italien und Arbeit in einem Aussätzigenspital und einer geplanten Pilgerreise ins Heilige Land. Margaret ließ ihn sich immer wieder vorlesen und holte ihn gelegentlich hervor, um ihn wie einen Talisman zu berühren, so als könnte er David wohlbehalten zu ihr zurückbringen. Jetzt, da sie von David geschrieben hatte, mußte sie den Brief wieder sehen. Sie holte ihn aus der Lade, entfaltete ihn vorsichtig und betrachtete die in ihr Gedächtnis eingegrabenen Worte noch einmal, streichelte das Papier und berührte die Unterschrift, ehe sie ihn weglegte und sich wieder ans Schreiben machte.

In der nun folgenden Zeit wurde mein Mann reicher und reicher, so daß selbst die Leute, die sich über seine Heirat mit mir das Maul zerrissen hatten, sich jetzt um eine Einladung in seinem Haus rissen.

»Gute Gesellschaft und gutes Essen, Margaret – nur das zählt im Leben«, sagte er dann wohl und hielt eine seltsame Rarität hoch, die aus Übersee kam, damit er sie besser sehen konnte. Silberne Pokale aus Italien, goldene Ringe aus Konstantinopel, merkwürdige kleine, goldunterlegte Bilder der Muttergottes aus den slawischen Ländern – alles ging durch seine Hände und wurde zu Geschenken an die Großen und Mächtigen und baute seinen Einfluß noch weiter aus.

»Margaret, vergiß nie, daß wir alle Freunde brauchen«, sagte er dann wohl, wenn er mir von gehässiger Rache oder Betrug vor Gericht erzählte. Und dann setzte er hinzu: »Und ist es nicht ein Segen, daß du mein Haus so gut führst – das nämlich ist die Hälfte meiner neuen Erfolge.« Noch nie hatte man mich so gewollt und so geschätzt.

Er kaufte zwei weitere Herrenhäuser auf dem Lande, um seinen Besitz zu vermehren – eines nur darum, weil es einen ausgezeichneten Kirschgarten besaß, denn Kirschen aß er für sein Leben gern. Jedes Mal, wenn er Grund und Boden kaufte, schrieb er insgeheim sein Testament um, damit seinen Söhnen auch ja nichts in die Hände fiele, womit sie ihren anstößigen Lebenswandel finanzieren könnten. Und als ich dann mit Alison ging, wurden Lionel und Thomas, die befürchten mußten, daß ich einen Sohn trug und nicht ahnten, daß er sein Haus schon bestellt hatte, so bösartig, daß er ihnen das Haus ganz und gar verbot.

Aber ich wiegte mich immer noch in Träumen, daß ich sie eines Tages versöhnen, sie zur Umkehr bringen und damit ihres Vaters Herz erfreuen könnte. Ich dachte immer, daß die Gabe, mit der man gebrochene Knochen so leicht heilen konnte, auch zerbrochene Familien wieder zusammenbringen könnte, doch daraus wurde nichts. Manchmal klappte es auch bei Knochen nicht richtig, denn immer, wenn ich schwanger war, ging die Kraft nach innen auf das Kind über, ich konnte sie nicht heraufbeschwören und anderen helfen. Zu solchen Zeiten tat mein Mann gut daran, seiner Gicht zuliebe gesund zu leben wie andere Menschen auch, was jemand wie ihm, der gutes Essen und Wein so sehr schätzte, nicht leichtfiel.

Als Alison geboren war, gab er für sie eine so großartige Tauffeier, als wäre sie ein Sohn, und machte aus meinem ersten Kirchgang ein Fest mit so vielen Geschenken an die Kirche, daß sie mich für moralisch gebessert halten mußten. Was also als Vernunftehe begann, endete als Liebesheirat, und aus Not und Gram wurde Glückseligkeit, wie ich sie mir so nie erträumt hatte.

Margaret blickte ihre Worte an, wie sie da hübsch und schwarz auf Papier standen und freute sich – freute sich sehr. Genauso sollte eine Geschichte enden, mit ›und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende‹. Nun mußte diese nur noch einen ordentlichen Schluß bekommen. Genau wie ein hübsches Kleid einen anständigen Saum braucht, so sollte auch ein Buch mit dem richtigen Wort abgeschlossen werden. Sie tauchte ihre Feder in die Tinte und schrieb mit großen Buchstaben das passende Wort, mit dem man ein richtiges Buch beendete. Es war ein lateinisches Wort; Bruder Gregory hatte es ihr gezeigt. Die Feder war ganz stumpf geworden, und so spritzte die Tinte ein wenig, aber es sah dann doch sehr hübsch aus. Das Wort hieß

FINIS

Sie hielt das Blatt hoch, lächelte und bewunderte ihre Arbeit von allen Seiten. Dann legte sie die Blätter weg. Sie füllten ein ganzes Schubfach. Doch damit war die Geschichte noch nicht richtig zu Ende.