Wendys Geschichte

»ALSO hört zu«, sagte Wendy und setzte sich für die Geschichte zurecht – Michael zu ihren Füßen und sieben Jungen im Bett. »Es war einmal ein Gentleman …«

»Wieso nicht eine Dame?« fragte Curly.

»Oder eine weiße Maus?« fragte Nibs.

»Still«, mahnte die Mutter, »eine Dame gab es auch, und …«

»Mami«, rief der erste Zwilling, »du meinst doch, es gibt eine Dame in der Geschichte. Sie ist doch nicht tot, oder?«

»Nein, nein.«

»Ich bin schrecklich froh, daß sie nicht tot ist«, sagte Tootles. »Freust du dich auch, John?«

»Natürlich.«

»Freust du dich auch, Nibs?«

»Doch, doch.«

»Freut ihr euch auch, Zwillinge?«

»Na klar, wir freuen uns.«

»Mein Gott«, seufzte Wendy.

»Etwas mehr Ruhe bitte«, rief Peter. Er meinte, daß sie die Geschichte ungestört erzählen sollte, auch wenn er sie noch so gräßlich fand.

»Der Gentleman«, fuhr Wendy fort, »hieß Mr. Darling, und sie hieß Mrs. Darling.«

»Kenn ich!« sagte John, um die anderen zu ärgern.

»Ich glaube, ich auch«, sagte Michael etwas unsicher.

»Sie waren verheiratet, wißt ihr«, sagte Wendy, »und was, glaubt ihr wohl, hatten sie?«

»Weiße Mäuse!« rief Nibs begeistert.

»Nein.«

»Es ist schrecklich spannend«, sagte Tootles, der die Geschichte auswendig kannte.

»Still, Tootles. Sie hatten drei Nachkommen.«

»Was ist ein Nachkomme?«

»Du zum Beispiel, Zwilling.«

»Hast du das gehört, John? Ich bin ein Nachkomme!«

»Nachkommen sind bloß Kinder«, sagte John.

»Mein Gott, mein Gott«, seufzte Wendy. »Also, diese drei Kinder hatten ein treues Kindermädchen namens Nana. Aber Mr. Darling war böse mit ihr und legte sie im Hof an die Kette. Da sind alle Kinder weggeflogen.«

»Das ist eine Klassegeschichte«, sagte Nibs.

»Sie flogen ins Niemalsland«, fuhr Wendy fort, »wo die verlorenen Kinder sind.«

»Das hab ich mir gedacht«, unterbrach Curly aufgeregt.

»Ich weiß nicht, warum, aber ich hab es mir gedacht.«

»O Wendy«, rief Tootles, »hieß eins der verlorenen Kinder Tootles?«

»Ja, natürlich.«

»Ich komme in einer Geschichte vor. Hurra, Nibs, ich komme in einer Geschichte vor!«

»Psch! Also, stellt euch bitte vor, wie unglücklich die Eltern waren: alle Kinder weggeflogen.«

»Uh!« stöhnten sie alle, obwohl ihnen die unglücklichen Eltern ziemlich egal waren.

»Und die leeren Betten!«

»Uh!«

»Das ist schrecklich traurig«, sagte der erste Zwilling fröhlich.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Geschichte gut ausgeht«, sagte der zweite Zwilling. »Was meinst du, Nibs?«

»Ich bin schrecklich gespannt.«

»Wenn ihr wüßtet, wie groß die Liebe einer Mutter ist«, sagte Wendy triumphierend, »dann hättet ihr keine Angst.« Sie war jetzt bei der Stelle angelangt, die Peter nicht leiden konnte.

»Ich liebe die Liebe einer Mutter«, sagte Tootles und haute Nibs mit dem Kissen. »Liebst du auch die Liebe einer Mutter, Nibs?«

»Na klar«, sagte Nibs und haute zurück.

»Seht ihr«, sagte Wendy selbstgefällig, »unsere Heldin wußte, daß die Mutter immer das Fenster offenlassen würde, damit die Kinder zurückkehren könnten. Und so blieben sie viele Jahre fort und lebten glücklich und zufrieden.«

»Und sind sie je zurückgekommen?«

»Wir wollen«, sagte Wendy und bemühte sich sehr, daß ihre Worte die Wirkung nicht verfehlten, »einmal einen Blick in die Zukunft werfen.« Sie setzten sich alle in Position, damit sie den Blick auch nicht verpaßten.

»Jahre sind vergangen – und wer ist diese elegante Dame unbestimmten Alters, die dort am Londoner Bahnhof aussteigt?«

»Wendy, sag schon, wer?« rief Nibs, so aufgeregt, als wüßte er das nicht.

»Ist es vielleicht – ja – nein – doch – es ist die schöne Wendy!«

»Oh!«

»Und wer sind die feinen, stattlichen Herren, die sie begleiten, zwei erwachsene Männer? Sind das wohl John und Michael? Tatsächlich!«

»Oh!«

»›Seht, liebe Brüder‹, sagt Wendy und zeigt nach oben, ›das Fenster steht noch offen. Ja, jetzt werden wir belohnt für unseren unerschütterlichen Glauben an die Mutterliebe.‹ Da flogen sie hinauf zu Mama und Papa, und die Freude war unbeschreiblich, und jetzt ist die Geschichte aus.«

Das war eine Geschichte, und sie gefiel ihnen so gut wie der reizenden Erzählerin selber. Wie das so ist: Wir machen uns aus dem Staub wie die herzlosesten Wesen von der Welt – das sind Kinder nämlich, herzlos, aber liebenswert –, und wir denken nur an uns selbst, und dann, wenn wir ein bißchen Zuwendung brauchen, kehren wir  großmütig zurück, überzeugt, daß wir nicht geohrfeigt, sondern mit offenen Armen empfangen werden.

So groß war tatsächlich ihr Glaube an die Mutterliebe, daß sie meinten, sie könnten es sich leisten, noch etwas länger so egoistisch zu sein.

Aber einer unter ihnen wußte es besser, und als Wendy mit der Geschichte fertig war, tat er einen tiefen Seufzer.

»Was hast du, Peter?« rief sie und lief zu ihm und dachte, er wäre krank. Sie befühlte ihm sorgenvoll die Brust. »Wo tut es weh, Peter?«

»Es tut nirgends weh«, antwortete Peter düster.

»Aber was ist denn?«

»Wendy, es stimmt nicht, was du von den Müttern erzählst.«

Sie waren entsetzt und drängten sich um ihn; was er da sagte, war höchst alarmierend. Und ganz offen verkündete er nun, was er bisher verheimlicht hatte: »Vor langer Zeit«, sagte er, »da glaubte ich wie du, daß meine Mutter das Fenster immer für mich offenlassen würde. Also blieb ich viele Monde fort, und dann flog ich zurück. Aber das Fenster war verriegelt, denn meine Mutter hatte mich völlig vergessen, und ein anderer kleiner Junge schlief in meinem Bett.«

Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, aber Peter glaubte, daß es stimmte. Und es machte ihnen angst.

»Weißt du genau, daß Mütter so sind?«

»Ja.«

Also das ist die Wahrheit über Mütter. Diese Luder!

Vorsicht, Vorsicht! Kinder merken schnell, wenn es Zeit wird aufzuhören. »Wendy, wir wollen nach Hause«, riefen John und Michael.

»Ja«, sagte sie und drückte sie an sich.

»Jetzt gleich?« fragten die verlorenen Jungen verwirrt.

Sie wußten in ihren Herzen – oder was sie dafür hielten –, daß man ganz gut ohne Mutter auskommen kann und daß nur die Mütter glauben, es ginge nicht ohne sie.

»Sofort«, sagte Wendy entschlossen, denn ihr war ein schrecklicher Gedanke gekommen: »Vielleicht trägt Mutter jetzt schon Trauer.«

Durch diesen Schreck vergaß sie ganz, was Peter jetzt wohl fühlen mochte, und sie sagte ziemlich barsch zu ihm: »Peter, triff bitte die nötigen Vorbereitungen.«

»Wenn du willst«, sagte er kühl, als hätte sie ihn bloß gebeten, ihr mal die Nüsse zu reichen.

Nicht einmal ein »Schade, daß du gehst!«. Wenn ihr der Abschied nichts ausmachte, würde er ihr zeigen, daß es ihm, Peter Pan, auch egal war.

Aber natürlich war es ihm nicht egal, und er hatte eine solche Wut auf die Erwachsenen, die wie immer alles kaputtmachten, daß er, sobald er in seinem Baum verschwunden war, absichtlich schnell atmete, ungefähr fünfmal in der Sekunde. Nach einem Sprichwort im Niemalsland stirbt nämlich jedesmal, wenn einer atmet, ein Erwachsener, und aus Rache brachte Peter sie um, so schnell wie möglich.

Als er den Rothäuten die nötigen Anweisungen  gegeben hatte, kehrte er unter die Erde zurück, wo sich in seiner Abwesenheit eine unwürdige Szene abgespielt hatte. Der Gedanke, sie könnten Wendy verlieren, hatte die Jungen in Panik versetzt, und sie hatten das Mädchen bedroht.

»Es wird schlimmer als früher«, riefen sie.

»Wir lassen sie nicht weg.«

»Wir nehmen sie gefangen.«

»Ay, legt sie in Ketten!«

In ihrer höchsten Not sagte ihr ein Instinkt, an wen sie sich wenden müßte:

»Tootles«, rief sie, »Tootles, hilf mir!«

War das nicht seltsam? Ausgerechnet Tootles, der einfältigste von ihnen!

Aber Tootles verhielt sich großartig. Diesen einen Augenblick war er nicht dumm und einfältig, sondern er sprach mit Würde:

»Ich bin bloß Tootles, und keiner kümmert sich um mich. Aber jeder, der Wendy nicht wie ein Gentleman behandelt, wird dafür furchtbar bluten müssen.«

Er zog seinen Dolch, und in diesem Augenblick war er Herr der Lage. Den anderen wurde es unbehaglich, und sie zögerten. Da kam Peter zurück, und sie sahen sofort, daß von ihm keine Unterstützung zu erwarten war. Er würde kein Mädchen gegen ihren Willen im Niemalsland festhalten.

»Wendy«, sagte er, auf und ab stolzierend, »ich habe die Rothäute gebeten, dich durch den Wald zu führen, weil das Fliegen dich so ermüdet.«

»Danke, Peter.«

»Dann«, fuhr er fort, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, »wird dich Tinker Bel übers Meer begleiten. Weck sie, Nibs.«

Nibs mußte zweimal klopfen, bis eine Antwort kam, obwohl Tink in Wirklichkeit aufrecht im Bett saß und schon eine Weile gelauscht hatte.

»Wer bist du? Was fällt dir ein? Hau ab!« schrie sie.

»Du mußt aufstehen, Tink«, rief Nibs, »und Wendy auf der Reise begleiten.«

Natürlich war Tink hocherfreut, daß Wendy sie verlassen wollte, aber trotzdem war sie fest entschlossen, nicht ihr Reiseführer zu werden, und das sagte sie auch deutlich – mit sehr beleidigenden Ausdrücken. Dann tat sie so, als schliefe sie weiter.

»Sie sagt, sie will nicht«, rief Nibs, entsetzt über so viel Widerborstigkeit. Worauf Peter entschlossen zum Zimmer der jungen Dame schritt.

»Tink«, stieß er hervor, »wenn du nicht gleich aufstehst und dich anziehst, mach ich den Vorhang auf, und wir sehen dich alle im Neglige.«

Sofort war sie auf den Beinen. »Wer hat gesagt, daß ich nicht aufstehe?« schrie sie.

Die Jungen starrten hilflos Wendy an; sie und John und Michael waren jetzt für die Reise gerüstet. Die Jungen waren nicht bloß niedergeschlagen, weil sie Wendy verlieren würden, sondern auch, weil sie ahnten, daß Wendy ein Abenteuer bevorstand, zu dem sie selbst nicht eingeladen waren. Neues war immer verlockend für sie.

 Wendy glaubte, edlere Regungen zu erkennen – und wurde weich.

»Ihr Lieben«, sagte sie, »ich bin fast sicher, daß ich Vater und Mutter bewegen kann, euch zu adoptieren, wenn ihr alle mitkommt.«

Die Einladung galt in erster Linie Peter, aber jeder dachte nur an sich selbst, und sofort machten alle Jungen einen Freudensprung.

»Aber sind wir nicht ein paar zuviel?« fragte Nibs mitten im Sprung.

»Nein, nein«, sagte Wendy. Sie hatte sich die Sache schnell überlegt. »Wir müssen nur ein paar Betten im Wohnzimmer aufstellen, und wenn Besuch kommt, verstecken wir sie.«

»Peter, dürfen wir mit?« bettelten alle. Sie hielten es für selbstverständlich, daß er auch mitkäme, aber eigentlich war ihnen das herzlich egal. Wenn etwas Neues lockt, sind Kinder allemal bereit, die besten Freunde zu verlassen.

»Meinetwegen«, antwortete Peter mit einem bitteren Lächeln – und sofort rannten alle los, um ihr Zeug zu holen.

»Und jetzt, Peter«, sagte Wendy, die dachte, sonst wäre alles erledigt, »jetzt gebe ich dir deine Medizin, bevor du gehst.«

Das tat sie furchtbar gern, und sie gab den Jungen zweifellos immer zuviel davon. Natürlich war es nur Wasser, aber sie hatte es in eine Kürbisflasche getan, und sie schüttelte die Flasche immer und zählte die Tropfen, und das sah dann aus, als ob es wirklich Medizin wäre. Diesmal kriegte Peter seine Medizin nicht, denn als sie gerade alles vorbereitet hatte, entdeckte sie einen Ausdruck in seinem Gesicht, der ihr das Herz schwer machte.

»Hol deine Sachen, Peter«, rief sie und zitterte.

»Nein«, antwortete er, als wäre ihm alles gleichgültig, »ich komme nicht mit.«

»Doch, Peter.«

»Nein.«

Um zu zeigen, daß ihre Abreise ihn kaltließ, hüpfte er im Zimmer auf und ab und spielte fröhlich auf seiner schrecklichen Flöte. Sie mußte hinter ihm herrennen, obwohl das ziemlich unwürdig war.

»Wir werden deine Mutter finden«, redete sie auf ihn ein.

Also, wenn Peter je eine richtige Mutter gehabt hat, dann vermißte er sie nicht mehr. Er kam sehr gut ohne Mutter aus. Er hatte sich’s gut überlegt, und ihm fielen nur die Nachteile ein.

»Nein, nein«, sagte er bestimmt. »Vielleicht sagt sie, ich bin alt, aber ich will immer ein kleiner Junge sein und meinen Spaß haben.«

»Peter …«

»Nein.«

Also mußten es die anderen erfahren.

»Peter kommt nicht mit.«

Kommt nicht mit! Sie starrten ihn an, die Stecken auf den Schultern, und an jedem Stecken ein Bündel.

Ihr erster Gedanke war, daß er sich’s vielleicht anders überlegt hätte und sie nun auch nicht mit dürften.

Aber dazu war er viel zu stolz. »Wenn ihr eure Mütter findet«, sagte er düster, »hoffe ich, daß sie euch gefallen.«

Die Art, wie Peter jetzt redete, war ihnen unangenehm, und die meisten zweifelten allmählich an der Sache. Waren sie nicht, sagten ihre Gesichter, eigentlich Trottel, daß sie fort wollten?

»Na los«, rief Peter, »kein Getue, keine Tränen. Leb wohl, Wendy.« Und er streckte fröhlich seine Hand aus, als müßten sie jetzt wirklich gehen; schließlich hatte er noch was Wichtiges vor.

Sie mußte seine Hand nehmen. Nichts deutete darauf hin, daß er lieber einen Fingerhut bekommen hätte.

»Vergißt du auch nicht, deine Unterwäsche zu wechseln?« sagte sie und blieb bei ihm stehen.

»Nein.«

»Und du nimmst deine Medizin?«

»Ja.«

Das war wohl al es, und es folgte eine peinliche Pause.

Doch Peter gehörte nicht zu denen, die vor anderen Leuten in Tränen ausbrechen. »Bist du fertig, Tinker Bell?« rief er.

»Ay, ay.«

»Dann flieg los.«

Tink schoß durch den nächsten Baum nach oben, aber niemand folgt ihr, denn genau in diesem Augenblick begannen die Piraten ihren fürchterlichen Angriff auf die Rothäute. Es war alles still gewesen da oben, aber nun plötzlich wurde die Luft von Schreien und Säbelhieben zerfetzt. Unten herrschte Totenstille. Münder öffneten sich und blieben offen. Wendy fiel auf die Knie, und ihre Arme waren nach Peter ausgestreckt. Alle Arme waren nach ihm ausgestreckt, als hätte ein Wind sie plötzlich in diese Richtung geblasen. Stumm flehten die Jungen ihn an, er möge sie nicht verlassen. Peter griff nach seinem Degen, dem Degen, von dem er glaubte, er habe damit John Silver erschlagen. Und sein Auge blitzte vor Kampfeslust.