Die Kinder werden entführt 

DER Angriff der Piraten war völlig überraschend gekommen; ein sicherer Beweis dafür, daß der skrupellose Hook ihn unehrenhaft geführt hat, denn was es heißt, Rothäute wirklich zu überraschen, kann der weiße Mann sich gar nicht vorstellen.

Nach allen ungeschriebenen Gesetzen der wilden Kriegskunst ist es immer die Rothaut, die angreift, und mit der ganzen Schläue ihrer Rasse tut sie das kurz vor Tagesanbruch, weil sie weiß, daß dann der Mut der Weißen am tiefsten gesunken ist. Die weißen Männer haben inzwischen auf dem höchsten Punkt der hügeligen Landschaft eine primitive Palisade errichtet, zu deren Fuß ein Gewässer dahinfließt – es ist tödlich, sich zu weit vom Wasser zu entfernen. Dort erwarten sie den Angriff. Die Unerfahrenen halten nervös ihre Revolver umklammert und trampeln auf der Stelle, während die Altgedienten ruhig schlafen bis kurz vor Tagesanbruch. Durch die lange schwarze Nacht winden sich die wilden Späher wie die Schlangen; sie streichen durchs Gras, ohne daß ein Halm sich rührt. Das Dickicht schließt sich hinter ihnen so lautlos wie die Erde, in die sich ein Maulwurf verkrochen hat. Kein Ton ist zu hören, außer wenn sie, ganz wunderbar, den lieblichen Schrei des Steppenwolfs  nachahmen. Andere Männer antworten dem Schrei, und manche können ihn besser als die Steppenwölfe selber, die ihn nicht sehr gut beherrschen.

So schleichen die schlimmen Stunden dahin, und die lange Anspannung ist furchtbar quälend für ein Bleichgesicht, das sie zum erstenmal ertragen muß. Doch für die Geübten ist das grausige Geheul und die noch grausigere Stille nichts als ein Zeichen dafür, daß die Nacht vergeht.

So war das immer, und das wußte Hook ganz genau, und wenn er sich nicht daran hielt, konnte er sich nicht damit herausreden, er hätte es nicht gewußt.

Die Pickaninnis ihrerseits vertrauten stillschweigend auf seine Ehre, und alles, was sie in dieser Nacht un-ternahmen, stand in auffälligem Gegensatz zu Hooks Verhalten. Sie taten alles, was irgend mit dem Ruf ihres Stammes vereinbar war. Durch ihr sicheres Gespür, das zivilisierte Menschen mit Bewunderung und zugleich mit Schrecken erfüllt, wußten sie, daß Piraten auf der Insel waren – seit dem Augenblick, als einer auf einen trockenen Ast getreten war, und in unglaublich kurzer Zeit ging das Wolfsgeheul los. Jeder Zentimeter Boden zwischen dem Punkt, wo Hook mit seinen Leuten ge-landet war, und dem Haus unter den Bäumen wurde heimlich von Männern untersucht, die ihre Mokassins verkehrtherum (also mit den Fersen nach vorn) trugen.

Sie fanden nur einen einzigen kleinen Hügel an einem Gewässer; Hook hatte keine Wahl, hier mußte er sich niederlassen und warten – bis kurz vor Tagesanbruch.

Nachdem alles mit peinlicher Genauigkeit durchdacht und geplant war, wickelten sich die meisten Rothäute in eine Decke und hockten unbeweglich – das gilt bei ihnen als höchst männlich – über dem Haus der Kinder und warteten auf den schrecklichen Augenblick, da sie dem Tod ins Gesicht sehen sollten.

Hier träumten sie, wenngleich hellwach, von den außergewöhnlichen Qualen, die sie Hook bei Tagesanbruch bereiten würden. Hier erwischte der Verräter die arglosen Rothäute. Nach späteren Berichten von den Kriegern, die dem Blutbad entkamen, hat er of-fenbar nicht einmal beim Hügel angehalten, obwohl er ihn in der Dämmerung gesehen haben muß. Nie, in keinem Augenblick, ist seinem zarten Geist der Gedanke gekommen: Warte, bis du angegriffen wirst. Er wollte nicht einmal das Ende der Nacht abwarten. Er schlug drauflos, ohne List, ohne Taktik, einfach so. Was konnten die verblüfften Späher tun? Sie kannten jede kriegerische List, bloß so etwas nicht. Also trotteten sie hilflos hinter Hook her, fürchterlich blamiert, und heulten markerschütternd wie die Wölfe.

Die tapfere Tiger Lily hatte ein Dutzend ihrer stärk-sten Krieger um sich versammelt, und plötzlich sahen sie, wie sich die verräterischen Piraten auf sie stürzten.

Aus der Traum vom großen Sieg. Nie mehr würden sie jemanden am Marterpfahl quälen. Nun hieß es: ab in die Ewigen Jagdgründe. Das wußten sie. Aber als Söhne ihrer Väter taten sie ihre Pflicht. Sie hätten noch Zeit gehabt, eine geschlossene Reihe zu bilden, die schwer zu  durchbrechen gewesen wäre, wenn sie sich nur schnell erhoben hätten, aber das verstieß gegen die Bräuche ihrer Rasse. Es steht geschrieben, daß die edle Rothaut in Gegenwart von Weißen niemals Überraschung zeigen darf. So schrecklich das plötzliche Erscheinen der Piraten für sie gewesen sein muß, sie blieben erst mal, wo sie waren, und rührten keinen Muskel – als hätten sie den Feind selbst eingeladen. Dann endlich griffen sie zu den Waffen, und Kriegsgeschrei zerriß die Luft.

Leider war es zu spät.

Wir müssen das nicht beschreiben; ein Massaker war es, kein Kampf. So sind viele der Besten des Pickaninni-Stammes umgekommen. Nicht alle starben ungerächt, denn mit Dürrer Wolf starb auch Alf Mason – nicht mehr der Schrecken der Spanischen Gewässer –, und unter denen, die ebenfalls der Staub bedeckte, waren Scourie, Turley und Alsatian Foggerty. Turley fiel durch den Tomahawk von Großer Panther, der sich schließlich seinen Weg durch die Piraten freischlug, mit Tiger Lily und einem kleinen Rest des Stammes.

Ob man Hook die Taktik, die er hier wählte, zum Vorwurf machen darf, soll die Geschichte entscheiden.

Hätte er – wie es sich gehört – auf dem Hügel gewartet, dann wären er und seine Leute wahrscheinlich niederge-macht worden; das muß man in Betracht ziehen, wenn man versucht, ihm gerecht zu werden. Vielleicht hätte er seinen Gegnern mitteilen sollen, daß er beabsich-tigte, eine neue Methode anzuwenden. Das wiederum hätte seine Strategie hinfällig gemacht, weil sie ja auf Überraschung beruhte; die ganze Frage ist also äußerst schwierig zu entscheiden. Man kann zumindest eine gewisse – wenn auch widerstrebende – Bewunderung nicht leugnen für den Geist, der solch kühnen Plan ersann, und für das grausige Genie, mit dem der Plan ausgeführt wurde.

Wie fühlte er sich selbst in diesem triumphalen Augenblick? Gern hätten seine Hunde das gewußt. Wie sie da keuchten und ihre Entermesser wischten, hielten sie vorsichtig Abstand zu seinem Haken und schielten mit ihren Frettchenaugen nach diesem ungewöhnlichen Mann. Stolz war in seinem Herzen, sicherlich, aber sein Gesicht verriet es nicht. Ewig ein dunkles und einsames Rätsel, stand er abseits von seiner Gefolgschaft.

Das Nachtwerk war noch nicht vol bracht, denn Hook war nicht gekommen, die Rothäute zu vernichten. Sie waren bloß die Bienen, die man ausräuchern muß, damit man an den Honig kommt. Er wollte Pan, Pan und Wendy und ihre Bande, aber vor allem Pan.

Peter war ein so kleiner Junge, daß man sich doch wundern muß, warum der Mann ihn so haßte. Gewiß, er hatte Hooks Arm dem Krokodil in den Rachen geworfen.

Aber das und auch die erhöhte Lebensgefahr, die dank der Hartnäckigkeit des Krokodils damit verbunden war, erklären eine solch unerbittliche und tückische Rachsucht kaum. Die Wahrheit ist, daß Peter etwas an sich hatte, das den Piratenkapitän zum Wahnsinn trieb. Es war nicht sein Mut, es war nicht seine blendende Erschei-nung, es war – wir müssen nicht um den heißen Brei herumreden, wir wissen ganz genau, was es war, und sagen es endlich: Peters Frechheit.




Die ging Hook auf die Nerven, die sorgte dafür, daß ihm die Eisenklaue zuckte, und die plagte ihn nachts wie ein Insekt. Solange Peter lebte, fühlte sich der ge-quälte Mann wie ein Löwe im Käfig, der von einem Spatz geärgert wird.

Jetzt war die Frage, wie die Piraten die Bäume hinunter kämen, oder vielmehr, wie diese Hunde es schafften.

Hook musterte sie mit gierigen Augen und suchte die dünnsten aus. Denen wurde ganz mulmig, denn sie wußten, daß er nicht zögern würde, sie unangespitzt in den Boden zu rammen.

Und was ist inzwischen mit den Jungen passiert? Wir haben sie zuletzt gesehen, als der Waffenlärm losging, versteinert standen sie da, mit offenen Mündern, die Arme flehend nach Peter ausgestreckt. Und wir kehren zu ihnen zurück, als die Münder sich schließen und die Arme wieder herabsinken. Der Tumult da oben hat fast so plötzlich aufgehört, wie er anfing; wie ein Sturmwind, der gleich wieder verschwindet. Aber sie wissen, daß dieser Sturm über ihr Schicksal entschieden hat.

Welche Partei hat gewonnen?

Die Piraten, die begierig oben an den Bäumen lauschten, hörten, wie jeder Junge diese Frage stellte, und, ach, sie hörten auch Peters Antwort.

»Wenn die Rothäute gewonnen haben«, sagte er, »werden sie das Tomtom Schlagen, das ist ihr Sieges-zeichen.«

Nun hatte Smee das Tomtom gefunden und saß in diesem Augenblick darauf. »Du wirst das Tomtom nie mehr hören«, brummte er, aber so, daß es keiner mitkriegte, denn absolutes Schweigen war strengstens angeordnet. Zu seiner Verblüffung machte Hook ihm ein Zeichen, das Tomtom zu schlagen. Und ganz al mählich dämmerte ihm, was für ein schaurig verruchter Befehl das war. Wahrscheinlich hat dieser einfache Mann Hook niemals so sehr bewundert wie in diesem Augenblick.

Zweimal schlug Smee auf die Trommel, dann lauschte er in froher Erwartung.

»Das Tomtom«, hörten die Schurken Peter rufen, »die Indianer haben gesiegt!«

Die verlorenen Kinder antworteten mit einem Freudenschrei – Musik für die schwarzen Seelen da oben; und im nächsten Augenblick fingen sie wieder an, sich von Peter zu verabschieden. Das verwirrte die Piraten, aber die Freude darüber, daß der Feind nun endlich nach oben käme, ließ sie alles andere vergessen. Sie grinsten sich an und rieben sich die Hände. Schnell und lautlos gab Hook seine Befehle: ein Mann an jeden Baum, die übrigen stel en sich in eine Reihe, jeder zwei Schritt vom nächsten entfernt.