Die Nixenlagune

WENN du die Augen schließt und Glück hast, dann siehst du vielleicht verschwommen einen kleinen See in schönen blassen Farben, die in der Dunkelheit schimmern; wenn du dann die Augen fester zudrückst, nimmt der See Gestalt an, und die Farben leuchten so stark, daß sie, wenn du noch fester drückst, zu brennen anfangen.

Aber kurz bevor sie brennen, erkennst du die Lagune.

So viel kann man vom Festland aus von der Lagune sehen, mehr nicht, und nur diesen einen himmlischen Augenblick. Gäbe es zwei solcher Augenblicke, dann könntest du vielleicht die Brandung sehen und den Gesang der Nixen hören.

Die Kinder verbrachten oft lange Sommertage in dieser Lagune, sie schwammen oder ließen sich einfach treiben, spielten Nixenspiele im Wasser und so weiter.

Du mußt deshalb nicht glauben, daß die Nixen ihre Freunde waren, im Gegenteil, Wendy bedauerte lange, daß sie während der ganzen Zeit auf der Insel nie ein freundliches Wort von ihnen hörte. Wenn sie still ans Ufer der Lagune schlich, konnte sie ganz viele Nixen sehen, besonders auf dem Matrosenfelsen, wo sie sich mit Vorliebe sonnten und sich träge das Haar kämmten.

Oder sie konnte sogar sehr dicht heranschwimmen, auf  Zehenspitzen sozusagen, aber dann sahen sie sie doch und tauchten unter, und meistens spritzten sie sie naß, nicht zufällig, sondern mit Absicht.

Die Jungen behandelten sie genauso, außer Peter natürlich, der mit ihnen stundenlang auf dem Matrosenfelsen plauderte und sich ihnen auf den Schwanz setzte, wenn sie frech wurden. Er schenkte Wendy einen Nixenkamm.

Am unheimlichsten ist es, wenn man den Nixen beim Wechsel des Mondes begegnet. Dann stoßen sie merkwürdig klagende Schreie aus. Zu dieser Zeit ist die Lagune für Sterbliche gefährlich. Bis zu dem Abend, von dem wir nun erzählen müssen, hatte Wendy die Lagune noch nie bei Mondlicht gesehen – weniger aus Angst, denn natürlich hätte Peter sie begleitet, sondern weil sie streng darüber wachte, daß alle um sieben im Bett lagen. Sie ging oft zur Lagune, an Sonnentagen nach dem Regen, wenn besonders viele Nixen auftauchten und mit ihren Seifenblasen spielten. Natürlich waren die Blasen nicht aus Seifenlauge, sondern aus Regen-bogenwasser, in allen erdenklichen Farben, und damit spielten sie wie mit Bällen, schlugen sie fröhlich mit dem Schwanz hin und her, immer in der Bahn des Regenbogens – bis die Blasen platzten.

Aber sobald die Kinder mitmachen wollten, verschwanden die Nixen. Trotzdem wissen wir, daß sie die Eindringlinge heimlich beobachteten, und sie waren sich nicht zu fein, ihnen etwas abzugucken, John erfand eine neue Art, die Seifenblasen abzuspielen, nämlich mit dem Kopf statt mit der Hand, und einige Nixen machten es bald ebenso. Das ist die einzige Spur, die John im Niemalsland hinterlassen hat.



Nach dem Essen ruhten die Kinder eine halbe Stunde auf einem Felsen. Wendy bestand darauf, und sie mußten es selbst dann, wenn das Essen bloß eingebildet war.

So lagen sie in der Sonne, und Wendy saß dabei und machte ein bedeutendes Gesicht.

Eines schönen Tages waren sie alle auf dem Matrosenfelsen. Der Felsen war nicht viel größer als ihr großes Bett, aber natürlich wußten alle, wie man mit wenig Platz auskommt. Sie dösten oder lagen zumindest mit geschlossenen Augen, und manchmal zwickten sie sich gegenseitig, wenn sie glaubten, daß Wendy nicht hinschaute. Sie war sehr mit Nähen beschäftigt.

Plötzlich veränderte sich die Lagune. Ein leichtes Zittern erfaßte sie, und die Sonne verschwand, Schatten schlichen über das Wasser, und es wurde kalt. Wendy konnte das Nadelöhr nicht mehr sehen, und als sie aufschaute, kam ihr die Lagune, die bisher immer so heiter und hell gewesen war, unfreundlich und schrecklich vor.

Das lag, wie sie wußte, nicht daran, daß die Nacht gekommen war, sondern etwas, das so schwarz war wie die Nacht. Nein, schlimmer noch. Es war noch nicht gekommen, aber es hatte die See zum Zittern gebracht, um anzukündigen, daß es kommen würde. Was war das?


 


All die Geschichten, die Wendy über den Matrosenfelsen gehört hatte, schossen ihr durch den Kopf. Er heißt Matrosenfelsen, weil böse Kapitäne auf diesem Felsen Matrosen aussetzen, damit sie ertrinken. Sie müssen ertrinken, wenn die Flut steigt, denn dann ist auch der Felsen überflutet.

Natürlich hätte sie die Kinder sofort wecken sollen.

Nicht bloß wegen des Unbekannten, das sich ihnen da näherte, sondern auch weil es nicht gut für die Jungen war, auf einem feuchten Felsen zu schlafen. Aber sie war noch eine junge Mutter und wußte das nicht. Sie glaubte, daß man sich einfach an die Vorschriften halten muß: eine halbe Stunde nach dem Mittagessen. Obwohl sie Angst hatte und gern die Stimmen der Jungen gehört hätte, wollte sie also niemanden wecken. Sie blieb bei ihnen und ließ sie ausschlafen. War das nicht mutig von Wendy?

Zum Glück war einer unter ihnen, der selbst im Schlaf Gefahren wittert. Peter sprang in die Höhe, wach wie ein Spürhund, und mit einem einzigen Warnruf weckte er die anderen.

Er stand reglos, eine Hand am Ohr.

»Piraten!« rief er. Die anderen kamen näher. Ein merkwürdiges Lächeln lag auf seinem Gesicht. Wendy sah es und schauderte. Solange dieses Lächeln auf seinem Gesicht war, wagte niemand, ihn anzusprechen.

Sie konnten nur abwarten und gehorchen.

Der Befehl kam scharf und schneidend: »Tauchen!«

Man sah gerade noch ein paar Füße, und mit einem Mal war die Lagune verlassen. Der Matrosenfelsen stand einsam in den drohenden Gewässern, als wäre er selbst ein ausgesetzter Matrose.

Das Boot kam näher. Es war das Beiboot der Piraten, in dem drei Gestalten saßen: Smee und Starkey, und die dritte war eine Gefangene, niemand anderes als Tiger Lily, an Händen und Füßen gefesselt. Sie wußte, welchem Schicksal sie entgegenfuhr. Sie sol te zu ihrem Verderben auf dem Felsen zurückgelassen werden, ein Ende, das für eine Squaw fürchterlicher war als der Tod durch Feuer und Folter, denn steht in den Stammesbüchern nicht geschrieben, daß zu den ewigen Jagdgründen kein Weg durch das Wasser führt? Trotzdem verzog Tiger Lily keine Miene.

Sie war die Tochter eines Häuptlings, und sie würde wie die Tochter eines Häuptlings sterben. So ist das.

Sie hatten sie gefangen, als sie mit einem Messer im Mund an Bord des Piratenschiffes kletterte. Niemand hielt Wache auf dem Schiff, weil Hook sich immer  damit brüstete, daß sein schlechter Ruf das Schiff im Umkreis einer Meile von selbst bewachte. Nun würde die Kunde von Tiger Lilys Schicksal den schlechten Ruf noch festigen.

In der Dunkelheit, die sie selber verbreiteten, sahen die beiden Piraten den Felsen nicht, bis sie mit ihm zusammenkrachten.

»Luv, du Dussel!« rief eine Stimme. Sie gehörte dem Iren Smee. »Hier ist der Felsen. Na los, rauf mit der Rothaut, da soll sie ersaufen.«

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da hatten sie das schöne Mädchen brutal auf den Felsen geworfen. Sie war zu stolz, um Widerstand zu leisten, der keinen Sinn hatte. Ganz in der Nähe des Felsens, aber unsichtbar für die Piraten, tauchten zwei Köpfe auf, die Köpfe von Peter und Wendy. Wendy weinte, es war die erste Tragödie, die sie miterlebte. Peter hatte viele Tragödien erlebt, aber er hatte sie al e vergessen. Ihm tat Tiger Lily weniger leid als Wendy. Zwei gegen eine, das ärgerte ihn, und er beschloß, sie zu retten. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn sie gewartet hätten, bis die Piraten abzogen, aber er hatte nie zu denen gehört, die es sich einfach machen.

Es gab fast nichts, was er nicht konnte, und jetzt ahmte er Hooks Stimme nach.

»Ahoi, ihr Landratten!« rief Peter. Er machte das fabelhaft.

»Der Käptn«, sagten die Piraten und guckten sich verblüfft an.

»Er muß uns nachgeschwommen sein«, sagte Starkey, nachdem sie vergebens nach ihm Ausschau gehalten hatten.

»Wir setzen die Rothaut auf den Felsen«, rief Smee.

»Laßt sie frei!« hörten die beiden Piraten zu ihrer Überraschung.

»Frei?«

»Ja, schneidet die Fesseln los und laßt sie frei!«

»Aber Käptn …«

»Sofort, verdammt«, rief Peter, »oder ich durchbohr euch mit dem Haken.«

»Das ist seltsam«, keuchte Smee.

»Besser, wir tun, was der Käptn befiehlt«, sagte Starkey nervös.

»Ay, ay«, sagte Smee und zerschnitt die Fesseln. Sofort schlüpfte Tiger Lily durch Starkeys Beine ins Wasser.

Natürlich freute Wendy sich sehr über Peters Schlauheit, aber sie wußte auch, daß er sich genauso freuen und deshalb wahrscheinlich krähen und sich verraten wür-de. Darum wollte sie ihm schnell den Mund zuhalten, aber ihre Hand erstarrte, denn plötzlich tönte es »Schiff ahoi!« über die Lagune; es war die Stimme von Hook, und diesmal war es die echte.

Vielleicht wollte Peter gerade krähen, aber jetzt pfiff er durch die Zähne – vor Überraschung.

»Schiff ahoi!« rief es wieder.

Nun begriff Wendy. Der echte Hook war auch im Wasser.

Er schwamm auf das Boot zu, und als seine Leute  ihm mit einer Laterne den Weg leuchteten, hatte er es bald erreicht. Im Licht sah Wendy, wie er den Haken in die Bootswand schlug, und als er tropfnaß ins Boot kletterte, sah sie sein böses, finsteres Gesicht. Sie bebte und wäre am liebsten weggeschwommen, aber Peter bewegte sich nicht von der Stelle. Ihn juckte das Fell, und er war wieder einmal ungeheuer eingebildet. »Bin ich nicht ein Teufelskerl!« flüsterte er Wendy ins Ohr, und obwohl sie das auch fand, war sie froh, daß ihn sonst niemand hörte – was hätten die Leute denken sollen?

Er machte ihr ein Zeichen: »Still! Paß auf!«

Die beiden Piraten waren sehr neugierig, was wohl ihren Kapitän hierher getrieben hätte, aber der saß, den Kopf auf den Haken gestützt, nur tief melancholisch da.»Käptn, ist ales in Ordnung?« fragten sie zaghaft, doch Hook antwortete nur mit einem hohlen Stöhnen.

»Er seufzt«, sagte Smee.

»Er seufzt schon wieder«, sagte Starkey.

»Er seufzt sogar ein drittes Mal«, sagte Smee.

»Was ist, Käptn?«

Dann sprach er endlich, tief bewegt: »Das Spiel ist aus!« rief er. »Die Jungen haben eine Mutter.«

Obwohl Wendy furchtbare Angst hatte, platzte sie fast vor Stolz.

»O schwarzer Tag!« rief Starkey.

»Was ist eine Mutter?« fragte der ahnungslose Smee.

Wendy war so schockiert, daß sie ausrief: »Das weiß er nicht!«, und danach dachte sie immer: Wenn man sich einen Lieblingspiraten aussuchen könnte, dann würde ich Smee nehmen.

Peter tauchte sie unter, denn Hook war aufgesprungen und schrie: »Was war das?«

»Ich hab nichts gehört«, sagte Starkey und schwenkte die Laterne übers Wasser, und als die Piraten genau hinschauten, sahen sie etwas sehr Seltsames. Das Nest, von dem ich dir erzählt habe, trieb auf der Lagune, und der Niemalsvogel saß darin.

»Da«, sagte Hook zu Smee, »das ist eine Mutter. Welch ein Beispiel! Das Nest muß ins Wasser gefal en sein, aber läßt die Vogelmutter ihre Eier im Stich? Nein.«

Seine Stimme war weich geworden, als erinnerte er sich für einen Augenblick an die unschuldigen Tage seiner Kindheit – aber er verscheuchte diese Schwäche mit dem Haken.

Smee, höchst beeindruckt, starrte auf den Vogel, der im Nest vorüberschwamm, aber der mißtrauische Starkey meinte: »Wenn sie eine Mutter haben, vielleicht treibt sie sich hier herum, um Peter zu helfen.«

Hook zuckte zusammen. »Ay«, sagte er, »das ist die Angst, die mir im Nacken sitzt.«

Aber Smee verscheuchte Hooks Trübsal. »Käptn«, sagte er eifrig, »könnten wir nicht die Mutter dieser Jungen entführen und sie zu unserer Mutter machen?«

»Das ist ein göttlicher Einfall«, rief Hook, und sofort war der Plan in seinem großen Hirn durchdacht. »Wir  schnappen uns die Kinder und bringen sie aufs Schiff.

Dann lassen wir die Jungen von der Planke springen, und Wendy ist unsere Mutter.«

Wieder konnte Wendy nicht an sich halten: »Niemals!«

rief sie – und war untergetaucht.

»Was war das?«

Aber sie konnten nichts sehen. Es mußte wohl ein Blatt im Wind gewesen sein. »Einverstanden, ihr Sa-tansbraten?« fragte Hook.

»Meine Hand drauf«, sagten beide.

»Und meinen Haken. Schwört!«

Geschworen! Inzwischen waren sie auf dem Felsen, und Hook erinnerte sich plötzlich an Tiger Lily.

»Wo ist die Rothaut?« fragte er barsch.

Er hatte manchmal einen köstlichen Humor, und die beiden Piraten dachten, jetzt sei so ein Augenblick.

»Schon gut, Käptn«, antwortete Smee gönnerhaft, »wir haben sie laufen lassen.«

»Laufen lassen?« schrie Hook.

»Du hast es selber befohlen«, stotterte der Bootsmann.

»Übers Wasser hast du uns zugerufen: ›Laßt sie frei!‹«

sagte Starkey.

»Schwefel und Galle«, donnerte Hook, »so ein Betrug!« Sein Gesicht wurde schwarz vor Wut, als er begriff, daß sie es ernst meinten, und er kriegte einen Schreck. »Jungs«, sagte er und zitterte dabei, »das habe ich nie befohlen.«

»Nun wird’s verrückt«, sagte Smee, und alle drei  wurden ganz nervös. Hook erhob die Stimme, aber sie bebte.

»Geist, der du diese dunkle Lagune heimsuchst in der Nacht, kannst du mich hören?«

Natürlich hätte Peter den Mund halten sollen, aber natürlich tat er das nicht. Er antwortete gleich mit Hooks Stimme:

»Himmel, Blitz, Haifisch und Hölle, ich höre dich.«

In diesem äußerst spannenden Augenblick wurde Hook nicht bleich, nicht einmal um die Mundwinkel, aber Smee und Starkey klammerten sich entsetzt aneinander.

»Wer bist du, Fremder, sprich!« wollte Hook wissen.»Ich bin James Hook«, erwiderte die Stimme, »Käptn der ›Jolly Roger‹.«

»Bist du nicht, bist du nicht«, schrie Hook heiser.

»Schwefel und Galle«, rief die Stimme, »sag das noch einmal, und ich schlitz dir den Bauch mit dem Haken auf.«

Hook versuchte es auf die sanftere Tour. »Wenn du Hook bist«, sagte er beinah unterwürfig, »dann sag mir: Wer bin ich?«

»Ein Schellfisch«, erwiderte die Stimme, »nichts als ein Schellfisch.«

»Ein Schel fisch!« echote Hook verblüfft, und da, aber wirklich erst da, waren sein Mut und sein Stolz gebrochen.

Er sah, wie seine Leute sich von ihm abwandten.

»Hat uns die ganze Zeit ein Schellfisch herumkom-mandiert?« murmelten sie. »Das kränkt unsere Ehre.«

Sie waren wie Hunde, die nach ihm schnappten, doch er beachtete sie kaum. Er war zur tragischen Figur geworden, es stand schrecklich um ihn, aber nicht, weil sie nicht an ihn glaubten, sondern weil er selber langsam den Glauben an sich verlor. Er spürte, wie ihm sein Ich abhanden kam. »Verlaß mich nicht, alter Junge«, flüsterte er heiser.

In seiner dunklen Natur gab es, wie bei allen großen Piraten, einen weiblichen Zug, und deshalb hatte er manchmal »Intuitionen«. Plötzlich versuchte er es mit einem Ratespiel.

»Hook«, rief er, »hast du noch eine andere Stimme?«

Nun konnte Peter einem Spiel nie widerstehen, und er antwortete fröhlich mit seiner eigenen Stimme: »Jawohl!«

»Und noch einen Namen?«

»Ay, ay.«

»Pflanze?« fragte Hook.

»Nein.«

»Gegenstand?«

»Nein.«

»Lebewesen?«

»Ja.«

»Mensch?«

»Ja.«

»Mann?«



»Nein!«

Das klang verächtlich.

»Junge?«

»Ja.«

»Bist du in England?«

»Nein.«

»Bist du hier?«

»Ja.«

Hook war völlig durcheinander.

»Fragt ihr ihn was«, sagte er zu den anderen und wischte sich die nasse Stirn.

Smee überlegte. »Mir fällt nichts ein«, sagte er bedauernd.

»Ihr kommt nicht drauf, ihr kommt nicht drauf«, krähte Peter, »gebt ihr auf?«

Natürlich trieb sein Stolz das Spiel zu weit, und die Schufte witterten ihre Chance.

»Ja, ja«, antworteten sie eifrig.

»Na schön«, rief er, »ich bin Peter Pan.«

Pan!

Gleich war Hook wieder er selbst, und Smee und Starkey waren seine treuen Anhänger.

»Jetzt haben wir ihn«, jauchzte Hook. »Ins Wasser, Smee! Starkey, bleib beim Boot! Wir kriegen ihn, tot oder lebendig.«

Er sprang schon, während er noch sprach, und gleichzeitig hörte man Peters fröhliche Stimme: »Seid ihr bereit, Jungs?«

»Ay, ay«, hallte es von der Lagune.

»Nichts wie los, auf die Piraten!«

Der Kampf war hart und kurz. John vergoß das erste Blut, tapfer war er ins Boot geklettert und hatte Starkey gepackt. Es gab ein heftiges Gerangel, bei dem der Pirat sein Entermesser verlor. Mit einer Drehung sprang er über Bord, und John sprang hinterher. Der Kahn driftete ab.

Hier und da tauchte ein Kopf im Wasser auf, eine Stahlklinge blitzte, dann ein Schrei oder ein Aufheulen.

Smees Korkenzieher erwischte Tootles an der vierten Rippe, aber dafür wurde Smee von Curly durchbohrt.

Starkey bedrängte die Zwillinge und Slightly.

Und wo war Peter die ganze Zeit? Er suchte den großen Kampf.

Alle Jungen waren tapfer, und man darf sie nicht tadeln, wenn sie vor dem Piratenkapitän zurückwichen.

Seine eiserne Klaue umgab ihn mit einem Todeskreis, und davor flohen sie wie die aufgescheuchten Fische.

Aber es gab einen, der sich nicht fürchtete. Es gab einen, der bereit war, den Kreis zu durchbrechen.

Seltsamerweise trafen sie sich nicht im Wasser. Hook stieg auf den Felsen, um zu verschnaufen, und zur selben Zeit kletterte Peter von der anderen Seite hoch. Der Felsen war glatt wie ein Ball, daß sie mehr rutschten als kletterten. Keiner wußte, daß der andere sich näherte, und als sie Halt suchten, erwischten sie den Arm des anderen. Überrascht hoben sie die Köpfe, ihre Gesichter berührten sich fast. So also trafen sie sich.

Wir wissen von den größten Helden, daß sie un-mittelbar vor dem Kampf ein Gefühl der Schwäche verspüren. Wenn das in diesem Augenblick bei Peter so gewesen wäre – ich würde es euch erzählen. Schließlich war Hook der einzige Mann, vor dem John Silver sich gefürchtet hatte. Aber Peter wurde nicht schwach, er kannte nur ein Gefühl: Glück. Und er knirschte vor Freude mit seinen prächtigen Zähnen. Blitzschnell riß er ein Messer aus Hooks Gürtel, und gerade wollte er es ihm in den Leib jagen, als er sah, daß er höher auf  dem Felsen stand als sein Gegner. Das wäre kein fairer Kampf gewesen. Er reichte dem Piraten die Hand und wollte ihm hochhelfen.

Da hat ihn Hook gebissen.

Nicht der Schmerz, sondern die Gemeinheit betäubte Peter. Das war unfair, und das machte ihn ganz hilflos.

Er konnte nur entsetzt gucken. Das geht jedem Kind so, wenn es zum erstenmal ungerecht behandelt wird.

Wenn es zu dir kommt und sich dir anvertraut, glaubt es fest, daß es gerecht behandelt wird. Wenn du es dann ungerecht behandelst, wird es dich zwar wieder lieben, aber es wird nie mehr ganz dasselbe Kind sein. Niemand verwindet die erste Ungerechtigkeit – niemand außer Peter. Ungerechtigkeiten waren ihm oft begegnet, aber er vergaß sie immer. Ich vermute, das ist der entscheidende Unterschied zwischen ihm und allen anderen. Also traf ihn diese Ungerechtigkeit, als wäre es das erste Mal, und er konnte nur hilflos gucken. Zweimal schlug die eiserne Hand zu.

Wenige Minuten später sahen die anderen Jungen, wie Hook sich wild durchs Wasser auf das Schiff zu bewegte. Kein Triumph auf seiner scheußlichen Visage, nur die nackte Angst, denn das Krokodil war ihm dicht auf den Fersen. Normalerweise wären die Jungen mit großem Hal o hinterhergeschwommen, aber jetzt fühlten sie sich unbehaglich, denn sie hatten Peter und Wendy verloren. Sie suchten die Lagune nach ihnen ab und riefen ihre Namen, aber sie fanden nur den Piratenkahn und fuhren damit heim. Auf der Fahrt riefen sie »Peter!«

 und »Wendy!«, doch sie bekamen keine Antwort – nur ein spöttisches Gelächter von den Nixen. »Sie schwimmen wohl zurück, oder sie fliegen«, sagten die Jungen schließlich. Sie waren nicht sehr beunruhigt, sie hatten so viel Vertrauen zu Peter. Sie kicherten und freuten sich, daß sie zu spät ins Bett kämen, und das war ganz allein die Schuld von ihrer Mutter Wendy.

Als ihre Stimmen verklangen, breitete sich ein eisiges Schweigen über der Lagune aus. Und dann ein schwacher Schrei: »Hilfe, Hilfe!«

Zwei kleine Gestalten schlugen gegen den Felsen. Das Mädchen war ohnmächtig geworden, und der Junge trug es auf den Armen. Mit einer letzten Anstrengung zog Peter das Mädchen auf den Felsen und legte es neben sich. Er war selber der Ohnmacht nahe, als er sah, wie das Wasser stieg. Er wußte, daß sie bald ertrinken würden, aber er konnte nichts mehr tun.

Wie sie so nebeneinander lagen, packte eine Nixe Wendy bei den Füßen und zog sie sachte ins Wasser. Peter merkte, daß sie wegrutschte, und war sofort hellwach, gerade noch rechtzeitig, um sie wieder hinaufzuziehen.

Er mußte ihr die Wahrheit sagen.

»Wir sind auf dem Felsen, Wendy«, sagte er, »aber er wird immer kleiner. Bald steht er unter Wasser.«

Sie verstand nicht.

»Wir müssen fort«, sagte sie fast strahlend.

»Ja«, antwortete er schwach.

»Schwimmen oder fliegen?«

Er mußte es ihr sagen.

»Glaubst du, Wendy, du könntest es ohne meine Hilfe schaffen?«

Sie mußte zugeben, daß sie zu müde war.

Er seufzte.

»Was ist?« fragte sie besorgt.

»Ich kann dir nicht helfen, Wendy. Hook hat mich ver-wundet. Ich kann weder fliegen noch schwimmen.«

»Soll das heißen, daß wir ertrinken müssen?«

»Schau, wie das Wasser steigt.«

Sie legten ihre Hände über die Augen, um nichts mehr zu sehen, und sie dachten, daß sie bald nicht mehr wären.

Wie sie so dasaßen, spürte Peter etwas – es streifte ihn und war so leicht wie ein Kuß, und es ging nicht weg und schien zaghaft zu fragen: »Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

Es war der Schwanz eines Drachens, den Michael vor ein paar Tagen gebaut hatte. Der hatte sich losgerissen und war fortgetrieben.

»Michaels Drachen«, sagte Peter ohne Interesse, aber im nächsten Augenblick hatte er den Schwanz gepackt und zog den Drachen zu sich heran.

»Michael ist mit ihm geflogen«, rief er, »warum nicht auch du?«

»Wir beide!«

»Zwei sind zu schwer, Michael und Curly haben es versucht.«

»Wir wollen losen«, sagte Wendy tapfer.

»Niemals – du bist eine Dame.« Schon hatte Peter den Schwanz um sie gebunden. Sie klammerte sich an ihn, sie weigerte sich, ohne ihn aufzubrechen, aber mit einem »Leb wohl, Wendy«, stieß er sie vom Felsen, und nach wenigen Minuten konnte er sie nicht mehr sehen.

Peter war allein auf der Lagune.

Der Felsen war jetzt sehr klein, bald würde er verschwunden sein. Blasse Lichtstrahlen huschten über das Wasser, und nach und nach waren Klänge zu hören, die zugleich höchst musikalisch und höchst melancholisch waren: Die Nixen riefen den Mond an.

Peter war nicht wie die anderen Jungen, aber schließ-

lich hatte er doch Angst. Ein Schauder überkam ihn, so wie der Wind das Meer erschaudern läßt. Aber das Meer wird von immer neuen Windstößen erfaßt, Peter jedoch spürte nur dies eine Schaudern. Im nächsten Augenblick stand er wieder aufrecht mit diesem Lächeln auf dem Gesicht, und in ihm dröhnte eine Trommel, die sagte: »Sterben ist bestimmt ein großes Abenteuer.«