Trautes Heim
EIN wichtiges Ergebnis hatte der Kampf auf der Lagune: Er besiegelte die Freundschaft zwischen den Jungen und den Rothäuten. Peter hatte Tiger Lily vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt, und nun gab es nichts mehr, was sie und ihre Männer nicht für ihn tun würden. Die ganze Nacht saßen sie da und bewachten das unterirdische Haus und warteten auf den großen Angriff der Piraten, der unweigerlich bevorstand. Selbst bei Tage lungerten sie herum, rauchten die Friedenspfeife und sahen dabei immer aus, als würden sie lieber was Süßes essen – viel Süßes.
Sie nannten Peter den Großen Weißen Vater und warfen sich vor ihm auf den Boden. Er genoß das ganz außerordentlich, und ich glaube, es war gar nicht gut für ihn.
»Der Große Weiße Vater«, pflegte er sehr hoheits-voll zu sagen, wenn sie ihm zu Füßen lagen, »sieht mit Freude, daß die Pickaninni-Krieger sein Wigwam vor den Piraten beschützen.«
»Ich Tiger Lily«, antwortete dann dieses liebliche Wesen. »Peter Pan mich retten, ich sein sehr guter Freund.
Ich nicht lassen Piraten ihn weh tun.«
Sie war viel zu schön und hatte es nicht nötig, so zu schmeicheln, aber Peter hielt es für seine Schuldigkeit, von oben herab zu antworten: »Schon gut. Peter Pan hat gesprochen.«
Immer wenn er »Peter Pan hat gesprochen« sagte, hieß das, sie sollten die Klappe halten, und das ließen sie sich in Demut gefallen. Aber vor den anderen Jungen hatten sie keineswegs denselben Respekt, die waren ja nur gewöhnliche Krieger. Sie sagten »Na, Kumpels« und lauter solche Sachen, und die Jungen ärgerten sich, daß Peter anscheinend nichts dagegen hatte.
Wir sind jetzt bei dem Abend angelangt, der den Kindern als die »Nacht der Nächte« galt – wegen seiner Abenteuer und deren Ausgang.
Als hätte er still seine Kräfte sammeln wollen, war der Tag fast ereignislos verlaufen, und nun waren die Rothäute mit ihren Decken oben auf dem Posten, während unten die Kinder zu Abend aßen. Alle außer Peter, der ausgegangen war, um herauszubekommen, wie spät es ist. Auf der Insel erfährt man das, wenn man dem Krokodil auflauert und so lange in seiner Nähe bleibt, bis der Wecker klingelt.
Das Essen war zufällig ein eingebildeter »Tee«, und sie saßen um den Tisch und schlürften gierig, und wirklich, ihr Geschwätz und ihr Geschrei, der Krach, wie Wendy sagte, war absolut ohrenbetäubend. Sicher, sie hatte nichts gegen Krach, aber sie konnte es einfach nicht leiden, wenn sie Sachen vom Tisch grapschten und sich dann herausredeten und sagten, Tootles hätte sie am Ellbogen gestoßen. Es gab die Vorschrift, daß sie bei Tisch nie zurückschlagen durften, sondern daß sie manierlich den rechten Arm heben und Wendy die Sache vortragen mußten, indem sie sagten: »Ich beschwere mich über Den-und-den.« Aber normalerweise vergaßen sie das – oder sie übertrieben es gleich.
»Ruhe«, rief Wendy, nachdem sie ihnen schon zwanzigmal gesagt hatte, daß sie nicht alle gleichzeitig reden sollten. »Ist dein Kürbisbecher leer, Slightly, Liebling?«
»Noch nicht ganz, Mami«, sagte Slightly, als er in den eingebildeten Becher guckte.
»Er hat noch nicht mal angefangen, seine Milch zu trinken«, rief Nibs.
Das war gepetzt, und Slightly nahm gleich die Gelegenheit wahr zu protestieren: »Ich beschwere mich über Nibs!« rief er.
Aber John hatte zuerst die Hand gehoben.
»Nun, John?«
»Darf ich auf Peters Stuhl sitzen, solange er nicht da ist?«
»Auf Vaters Stuhl? John!« Wendy war außer sich.
»Natürlich nicht!«
»Er ist nicht unser richtiger Vater«, maulte John. »Er hat nicht mal gewußt, wie ein Vater sich benimmt, bis ich es ihm gezeigt habe.«
Das war gemeckert. »Wir beschweren uns über John«, riefen die Zwillinge.
Tootles hob die Hand. Er war deutlich der bescheidenste von allen – er war überhaupt der einzig bescheidene, so daß Wendy besonders sanft mit ihm umging. »Ich glaube nicht«, sagte Tootles schüchtern, »daß ich ein Vater sein könnte.«
»Nein, Tootles.«
Wenn Tootles einmal zu reden angefangen hatte, was nicht sehr oft vorkam, hörte er so schnell nicht wieder auf.
»Wenn ich kein Vater sein kann«, sagte er bekümmert, »glaube ich auch nicht, daß Michael mir erlaubt, das Baby zu sein.«
»O nein!« fauchte Michael. Und schon war er in seinem Korb.
»Wenn ich kein Baby sein kann«, sagte Tootles, und er wurde immer bekümmerter, »glaubt ihr dann, ich könnte ein Zwilling sein?«
»Auf keinen Fall«, erwiderten die Zwillinge, »es ist furchtbar schwer, ein Zwilling zu sein.«
»Wenn ich überhaupt nichts Richtiges sein kann«, sagte Tootles, »möchte vielleicht jemand, daß ich ein Kunststück zeige?«
»Nein!« riefen alle.
Da hörte er endlich auf. »Das hab ich mir gedacht«, sagte er.
Das gräßliche Gepetze ging wieder los.
»Slightly spuckt auf den Tisch.«
»Die Zwillinge essen schon den Nachtisch.«
»Curly nimmt sich Maulbeerbrötchen und chinesische Kartoffeln.«
»Nibs spricht mit vollem Mund.«
»Ich beschwere mich über die Zwillinge.«
»Ich beschwere mich über Curly.«
»Ich beschwere mich über Nibs.«
»Mein Gott, mein Gott«, rief Wendy, »manchmal denke ich wirklich, Kinder sind den ganzen Ärger nicht wert.«
Sie sagte, sie sollten abräumen, und setzte sich an ihren Nähkorb: eine riesige Ladung Kniestrümpfe, und in jedem Knie ein Loch, wie üblich.
»Wendy«, beschwerte sich Michael, »ich bin zu groß für die Wiege.«
»Ich brauche einen in der Wiege«, erklärte sie fast sauer, »und du bist der Kleinste. Eine Wiege ist nett und gemütlich und gehört in jeden Haushalt.«
Während sie nähte, spielten und tanzten die Jungen durchs Zimmer. Das war ein vertrautes Bild im Haus unter der Erde – wir sehen es zum letztenmal.
Oben waren Schritte zu hören, und Wendy – da kannst du sicher sein – war die erste, die sie erkannte.
»Kinder, ich höre Vater kommen. Lauft und begrüßt ihn an der Tür.«
Oben verneigten sich die Rothäute vor Peter. »Abtreten, Männer. Ich habe gesprochen.«
Und dann, wie schon so oft, zogen ihn die Kinder fröhlich durch den Baum nach unten – wie so oft und niemals wieder.
Er hatte Nüsse für die Jungen mitgebracht und für Wendy die genaue Zeit.
»Peter, du verwöhnst sie einfach zu sehr«, sagte Wendy geziert.
»Ay, ay, Alte«, sagte Peter und hängte seine Flinte auf.»Das hat er von mir, daß man zu Mutter ›Alte‹ sagt«, flüsterte Michael Curly zu.
»Ich beschwere mich über Michael!« rief Curly sofort.
Der erste Zwilling ging auf Peter zu. »Vater, wir wollen tanzen.«
»Tanz nur, kleiner Mann«, sagte Peter; er war äußerst gut gelaunt.
»Aber wir möchten mit dir tanzen.«
Peter war tatsächlich der beste Tänzer von allen, aber er tat empört:
»Mit mir? Daß die alten Knochen klappern?«
»Und Mami!«
»Was «, rief Wendy, »Mutter von so vielen Kindern und tanzen!«
»Es ist doch Samstag abend«, bettelte Slightly.
Es war nicht Samstag abend, aber es hätte doch sein können – sie zählten die Tage längst nicht mehr.
Jedenfalls sagten sie immer, wenn sie etwas Besonderes vorhatten, es wäre Samstag abend, und dann taten sie, was sie vorhatten.
Wendy ließ sich erweichen. »Natürlich, Peter, es ist Samstag abend.«
»In unserem Alter, Wendy!«
»Wir sind ja unter uns.«
»Na schön.«
Also tanzten sie, aber erst mußten die Jungen ihre Nachthemden anziehen.
»Ach, Alte«, sagte Peter zu Wendy, »nichts ist schöner, als am Abend, wenn des Tages Mühen vorüber sind, mit dir und den Kleinen am Feuer auszuruhen.«
»Ja, das ist schön, Peter«, sagte Wendy, und sie war sehr zufrieden. »Peter, ich glaube, Curly hat deine Nase.«
»Und Michael wird dir immer ähnlicher.«
Sie ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Lieber Peter«, sagte sie, »bei einer so großen Familie sind die Jahre natürlich nicht spurlos an mir vorübergegangen, aber du magst mich doch, wie ich bin, oder?«
»Ja, Wendy.«
Sicher mochte er sie so, als »Mutter der Familie«, aber er schaute doch etwas unbehaglich; weißt du, er blinzelte wie einer, der nicht genau weiß, ob er wach ist oder schläft.
»Peter, was hast du?«
»Ich hab bloß nachgedacht«, sagte er, und es klang ängstlich. »Wir tun doch nur so, als ob ich ihr Vater wäre, nicht?«
»Gewiß doch«, sagte Wendy förmlich.
»Weißt du«, fuhr er fort, als müßte er sich entschuldigen, »ich käme mir so alt vor, wenn ich ihr richtiger Vater wäre.«
»Aber Peter, es sind unsere Kinder, deine und meine.«
»Aber nicht richtig, oder?« fragte er besorgt.
»Nicht, wenn du nicht willst«, antwortete sie. Und sie hörte deutlich einen Seufzer der Erleichterung. »Peter«, fragte sie mit möglichst fester Stimme, »was genau sind deine Gefühle für mich?«
»Die von einem Kind für seine Mutter.«
»Das hab ich mir gedacht«, sagte sie und verzog sich in die äußerste Ecke des Zimmers.
»Du bist komisch«, sagte er und war richtig durcheinander, »genau wie Tiger Lily. Die will auch immer irgend etwas von mir sein, nur nicht meine Mutter.«
»Nein, nicht deine Mutter«, fauchte Wendy. (Jetzt wissen wir, warum sie was gegen die Rothäute hatte.) »Aber was denn sonst?«
»Das kann ich als Frau nicht sagen.«
»Sehr gut«, meinte Peter gereizt, »dann frag ich eben Tinker Bell.«
»O ja, Tinker Bell kann es dir sagen«, versetzte sie spöttisch. »Sie ist ein verdorbenes kleines Ding.«
An dieser Stelle quiekte Tink, die in ihrem Boudoir saß und lauschte, irgendeine Unverschämtheit.
»Sie sagt, sie sei gern verdorben«, übersetzte Peter.
Plötzlich hatte er eine Idee. »Vielleicht will Tink meine Mutter sein!«
»Du Blödmann!« schrie Tink in heftiger Erregung.
»Blödmann«, hatte sie so oft gesagt, daß Wendy keine Übersetzung brauchte.
Stell dir vor: Wendy und fauchen! Aber man hatte ihrer Geduld viel abverlangt, und sie ahnte nicht, was noch passieren würde, bevor die Nacht hereinbrach.
Hätte sie’s geahnt, sie hätte nicht gefaucht.
Keiner von ihnen ahnte etwas. Vielleicht war das besser so. Ihre Ahnungslosigkeit bescherte ihnen noch eine glückliche Stunde, und wir wollen jede Minute davon genießen, als wäre es die letzte auf der Insel. Sie sangen und tanzten in ihren Nachthemden. Es war ein herrlich gruseliges Lied; sie taten so, als hätten sie Angst vor ihren eigenen Schatten – und wußten nicht, daß bald Schatten über sie hereinbrechen würden, vor denen sie sich wirklich grausten. Sie tanzten so ausgelassen und fröhlich und warfen sich gegenseitig aufs Bett und wieder runter! Es war mehr eine Kissenschlacht als ein Tanz, und als sie damit aufhörten, wollten die Kissen immer noch weitermachen, als hätten sie gewußt, daß es die letzte Gelegenheit war. Und die Geschichten, die sie erzählten, bis es Zeit war für Wendys Gutenachtgeschichte! Selbst Slightly versuchte heute abend, eine Geschichte zu erzählen, aber der Anfang war so entsetzlich langweilig, daß es ihn selbst erschreckte und er ganz trübselig wurde. »Ja, das ist ein langweiliger Anfang.
Also sagen wir einfach: Das ist das Ende.«
Und schließlich krochen alle ins Bett und warteten auf Wendys Geschichte, ihre Lieblingsgeschichte – die Geschichte, die Peter gar nicht mochte. Wenn sie anfing, diese Geschichte zu erzählen, verließ er normalerweise das Zimmer oder hielt sich die Ohren zu, und wenn er das diesmal auch getan hätte, wären sie vielleicht noch alle auf der Insel. Aber heute abend blieb er auf seinem Schemel hocken; wir werden sehen, was passierte.