Im Oktober, kurz nach meinem Geburtstag, wurde ich wieder nach Ungarn geschickt. Von dem Bach und Skorzeny hatten Horthy durch einen Handstreich gestürzt, jetzt waren Szálasis Pfeilkreuzler an der Macht. Kammler verlangte lauthals Arbeitskräfte für seine unterirdischen Fabriken und für die V2, deren erste Modelle im September abgefeuert worden waren. Die sowjetischen Truppen drangen im Süden bereits nach Ungarn und in Ostpreußen sogar auf Reichsgebiet vor. In Budapest war das SEK im September aufgelöst worden, doch Wisliceny befand sich noch immer dort, und Eichmann ließ auch nicht lange auf sich warten. Wieder war es ein kompletter Fehlschlag. Die Ungarn erklärten sich bereit, uns fünfzigtausend Budapester Juden zu überlassen (im November wies Szálasi bereits mit Nachdruck darauf hin, dass sie nur »geliehen« seien), aber sie mussten für Kammler und den Bau des Ostwalls nach Wien verbracht werden, und es gab keine Transportmittel mehr: Vermutlich in Absprache mit Veesenmayer beschloss Eichmann, sie dorthin marschieren zu lassen. Der Rest ist bekannt: Viele starben unterwegs, und der Offizier, der für die Entgegennahme zuständig war, Obersturmbannführer Höse, wies die meisten von denen, die ankamen, zurück, weil er – wieder dasselbe Spiel – keine Frauen für Erdarbeiten gebrauchen konnte. Ich konnte nicht das Geringste machen, niemand hörte auf meine Vorschläge, weder Eichmann noch Winkelmann noch Veesenmayer noch die Ungarn. Da Obergruppenführer Jüttner, der Chef des SSFHA, mit Becher in Budapest eintraf, versuchte ich, bei ihm zu intervenieren; Jüttner war den Kolonnen begegnet, die Häftlinge waren wie Fliegen in Schlamm, Regen und Schnee gefallen; der Anblick hatte ihn empört, und er wollte tatsächlich bei Winkelmann Protest einlegen; Winkelmann aber verwies ihn an Eichmann, auf den er keinerlei Einfluss hatte, und Eichmann weigerte sich rundweg, sich mit Jüttner zu treffen, er schickte ihm einen seiner Leute, der alle Klagen arrogant vom Tisch fegte. Eichmann hatte offensichtlich den Verstand verloren, er hörte auf niemanden mehr, ausgenommen vielleicht Müller und Kaltenbrunner, und Kaltenbrunner schien noch nicht einmal mehr auf den Reichsführer zu hören. Ich sprach mit Becher darüber, der bei Himmler vorstellig werden sollte, und bat ihn, die Sache zur Sprache zu bringen, er versprach, sein Möglichstes zu tun. Szálasi seinerseits bekam es rasch mit der Angst zu tun: Die Russen rückten vor; Mitte November setzte er den Märschen ein Ende, es waren noch nicht einmal dreißigtausend auf den Weg geschickt worden, noch eine unsinnige Verschwendung, eine mehr. Niemand schien mehr zu wissen, was er tat, oder vielmehr tat jeder nur das, was er wollte, allein, auf sich selbst gestellt, es wurde unmöglich, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Ich machte einen letzten Vorstoß bei Speer, der im Oktober die vollständige Kontrolle über den Arbeitseinsatz übernommen hatte, wozu auch die Verwendung der WVHA-Häftlinge gehörte; er erklärte sich endlich bereit, mich zu empfangen, fertigte mich aber ungeduldig ab, da er keinen Sinn in unserer Unterhaltung sah. Und ich hatte ihm tatsächlich wenig Konkretes zu bieten. Die Haltung des Reichsführers verstand ich überhaupt nicht mehr. Ende Oktober befahl er, die Vergasung in Auschwitz einzustellen, und Ende November, er hatte die Judenfrage für gelöst erklärt, ordnete er die Zerstörung der Vernichtungsanlagen an; gleichzeitig wurde im RSHA und im Persönlichen Stab eifrig die Schaffung eines neuen Vernichtungslagers in Alteist-Hartel bei Mauthausen erörtert. Außerdem hieß es, der Reichsführer verhandle in der Schweiz und in Schweden mit den Juden; Becher schien Bescheid zu wissen, wich aber meinen Fragen aus, wenn ich ihn um Aufklärung bat. Ich erfuhr auch, dass er den Reichsführer endlich bewogen hatte, Eichmann einzubestellen (das war später, im Dezember); was dabei besprochen wurde, erfuhr ich allerdings erst siebzehn Jahre später, als dem wackeren Obersturmbannführer in Jerusalem der Prozess gemacht wurde: Becher, der es in Bremen zum millionenschweren Geschäftsmann gebracht hatte, erklärte in seiner Aussage, das Treffen habe im Befehlswagen des Reichsführers bei Triberg im Schwarzwald stattgefunden und der Reichsführer habe mit Eichmann im Guten und Bösen gesprochen. Seither wird in den Büchern gerne ein Satz des Reichsführers zitiert, den er laut Becher an seinen starrsinnigen Untergebenen gerichtet haben soll: »Wenn Sie bisher Juden ausrotteten, so müssen Sie, wenn ich es befehle, wie in diesem Falle, jetzt Judenpfleger sein. Ich erinnere Sie daran, daß nicht der Gruppenführer Müller oder Sie, sondern ich 1939 das Reichssicherheitshauptamt gegründet habe und daß ich befehle. Wenn Sie es nicht können, dann müssen Sie es sagen!« Möglich, dass es so war. Allerdings ist Bechers Zeugenaussage mit größter Vorsicht zu genießen; so schreibt er beispielsweise die Beendigung der Elendsmärsche von Budapest seinem Einfluss auf Himmler zu – obwohl der Befehl von den erschreckten Ungarn kam –, desgleichen, noch anmaßender, die Initiative zur Unterbrechung der Endlösung: Wenn das überhaupt jemand dem Reichsführer hat eingeben können, dann sicherlich nicht dieser verschlagene Geschäftemacher (Schellenberg vielleicht).
Meine juristische Angelegenheit ging ihren Gang; regelmäßig lud mich SS-Richter von Rabingen vor, um den einen oder anderen Punkt zu klären. Von Zeit zu Zeit traf ich mich mit Mihai; Helene schien immer durchscheinender zu werden, nicht aus Angst, sondern wegen fortwährender Gefühlsanspannung. Als ich ihr bei meiner Rückkehr aus Ungarn von den Gräueltaten in Nyíregyháza berichtete (das III. Panzerkorps hatte bei der Rückeroberung der Stadt von den Russen Ende Oktober Entsetzliches entdeckt: vergewaltigte Frauen jeden Alters, Eltern, die vor den Augen ihrer verstümmelten Kinder lebend an Türen genagelt worden waren; und dort hatte es sich um Ungarn, nicht um Deutsche gehandelt), sah sie mich lange an, dann sagte sie leise: »War es denn in Russland anders?« Ich antwortete nicht, sondern betrachtete ihre ungewöhnlich zarten Handgelenke, die aus den Ärmeln hervorschauten; ich sagte mir, dass ich sie leicht mit Daumen und Zeigefinger hätte umspannen können. »Ich weiß, ihre Rache wird schrecklich sein«, sagte sie dann. »Aber wir haben sie verdient.« Anfang November ging meine Wohnung, die bis dahin wie durch ein Wunder verschont geblieben war, bei einem Fliegerangriff verloren: Eine Luftmine hatte das Dach durchschlagen und die beiden oberen Etagen in die Luft gejagt; der arme Herr Zempke erlag einem Herzinfarkt, als er aus dem halb eingestürzten Keller kam. Zum Glück hatte ich mir angewöhnt, einen Teil meiner Kleidung und meiner Wäsche im Büro aufzubewahren. Mihai bot mir an, bei ihm einzuziehen; ich richtete mich aber lieber in Wannsee bei Thomas ein, der dorthin gezogen war, nachdem im Mai sein Haus in Dahlem abgebrannt war. Er führte ein wildes Leben, ständig waren ein paar Verrückte aus dem Amt VI da, ein oder zwei Kameraden von Thomas, Schellenberg und Mädchen natürlich. Schellenberg diskutierte häufig außerdienstlich mit Thomas, nahm sich vor mir aber sichtlich in Acht. Eines Tages kam ich etwas früher nach Hause und vernahm eine angeregte Unterhaltung im Wohnzimmer, laute Stimmen, Schellenbergs spöttischen, eindringlichen Tonfall: »Wenn dieser Bernadotte einverstanden ist …« Er hielt inne, als er mich in der Tür stehen sah, und begrüßte mich fröhlich: »Freut mich, Sie zu sehen, lieber Aue«, nahm aber seine Unterhaltung mit Thomas nicht wieder auf. Wenn ich der Feierlaune meines Freundes überdrüssig war, ließ ich mich manchmal von Mihai überreden. Er besuchte die täglichen Abschiedsfeste von Dr. Kosak, dem kroatischen Botschafter, die entweder in der Gesandtschaft stattfanden oder in dessen Dahlemer Villa; die Creme des diplomatischen Korps und des Auswärtigen Amts schlug sich den Bauch voll, betrank sich und frequentierte die hübschesten Stars der Ufa, die dort waren, Maria Milde, Ilse Werner, Marika Rökk. Um Mitternacht sang ein Chor dalmatinische Volkslieder; nach dem üblichen Mosquito-Angriff kamen die Artilleristen der benachbarten kroatischen Flakbatterien herüber, um bis zum Morgengrauen zu trinken und Jazz zu spielen; unter ihnen war auch ein Offizier, ein Überlebender von Stalingrad, aber ich hütete mich, ihm zu erzählen, dass auch ich einer war, ich wäre ihn nicht mehr losgeworden. Diese Bacchanalien entarteten manchmal zu Orgien – etliche Paare umschlangen sich in den Alkoven der Gesandtschaft, die leer Ausgegangenen gingen frustriert in den Garten und schossen die Magazine ihrer Pistolen leer: Eines Abends trieb ich es betrunken mit Mihai im Schlafzimmer des Botschafters, der unten auf einem Sofa schnarchte; anschließend kam Mihai, noch immer erregt, mit einer kleinen Schauspielerin wieder nach oben und nahm sie vor meinen Augen, während ich eine Flasche Slibowitz leerte und über die Knechtschaft des Fleisches meditierte. Diese eitle und rasende Fröhlichkeit konnte nicht von Dauer sein. Ende Dezember, als die Russen Budapest belagerten und unsere letzte Offensive in den Ardennen stecken blieb, schickte mich der Reichsführer zur Inspektion der Evakuierung von Auschwitz.
Im Sommer hatte uns die verspätete und überstürzte Evakuierung des KL Lublin einige Sorgen bereitet: Die Sowjets hatten intakte Einrichtungen und volle Lagerhallen vorgefunden, Wasser auf den Mühlen ihrer Gräuelpropaganda. Seit Ende August biwakierten ihre Truppen an der Weichsel, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie dort nicht stehen bleiben würden. Es mussten Maßnahmen ergriffen werden. Die etwaige Evakuierung der Lager und Nebenlager des Auschwitz-Komplexes fiel in die Verantwortlichkeit von Obergruppenführer Ernst Schmauser, dem HSSPF des Wehrkreises VIII, zu dem Oberschlesien gehörte; die Operationen würden vom Lagerpersonal durchgeführt, erklärte mir Brandt. Meine Aufgabe sei es, darauf zu achten, dass die Evakuierung der einsatzfähigen und in guter Verfassung befindlichen Arbeitskräfte, die auf dem Reichsgebiet verwendet werden sollten, vorrangig behandelt würde. Nach meinen ungarischen Pleiten war ich misstrauisch: »Welche Machtbefugnisse habe ich?«, fragte ich Brandt. »Kann ich die erforderlichen Befehle geben?« Er wich der Frage aus: »Obergruppenführer Schmauser hat die volle Befehlsgewalt. Wenn Sie sehen, dass das Lagerpersonal nicht in der erforderlichen Weise kooperiert, wenden Sie sich wegen der nötigen Befehle an ihn.« – »Und wenn ich Probleme mit dem Obergruppenführer habe?« – »Sie werden keine Probleme mit dem Obergruppenführer haben. Er ist ein ausgezeichneter Nationalsozialist. Auf jeden Fall werden Sie ständig mit dem Reichsführer oder mir in Verbindung stehen.« Ich wusste aus Erfahrung, dass das eine ziemlich unzuverlässige Garantie war. Aber ich hatte keine Wahl.
Die Möglichkeit, dass der feindliche Vormarsch ein Konzentrationslager bedrohen könnte, hatte der Reichsführer am 17. Juni 1944 in einer Vorlage mit dem Titel Fall A angesprochen; darin erhielt der HSSPF der Region im Krisenfall weitreichende Vollmachten gegenüber dem Lagerpersonal. Wenn also Schmauser verstand, wie wichtig es war, ein Maximum an Arbeitskräften zu retten, ließ sich das Ganze vielleicht wirklich korrekt durchführen. Ich suchte ihn an seinem Dienstsitz in Breslau auf. Er war ein Mann der alten Schule, vielleicht fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre alt, streng, steif, aber professionell. Der Plan zur Evakuierung der Lager falle, so erklärte er mir, in den allgemeinen Rahmen der Rückzugsstrategie Auflockerung-Räumung-Lähmung-Zerstörung, die Ende 1943 konzipiert worden sei »und so erfolgreich in der Ukraine und Weißrussland angewendet wurde, wo die Bolschewisten nicht nur keine Unterkunft und Verpflegung fanden, sondern in manchen Wehrkreisen wie Nowgerod noch nicht einmal einen Menschen von potenziellem Nutzen auftreiben konnten«. Der Wehrkreis VIII hatte den Befehl zur Durchführung von ARLZ am 19. September ausgegeben. In diesem Rahmen waren bereits 65 000 Häftlinge ins Altreich evakuiert worden, darunter auch alle polnischen und russischen Häftlinge, die bei Annäherung des Feindes als mögliche Gefahr für das rückwärtige Gebiet galten. Blieben 67 000 Häftlinge, von denen 35 000 noch in den Fabriken Oberschlesiens und der benachbarten Regionen arbeiteten. Seinem Verbindungsoffizier, dem Major der Polizei Boesenberg, hatte Schmauser die Planung der endgültigen Evakuierung und der beiden letzten ARLZ-Phasen anvertraut; die Einzelheiten würde ich mit ihm klären, da ich wusste, dass nur Gauleiter Bracht in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar für Oberschlesien die Entscheidungen zur Ausführung treffen konnte. »Sie sehen«, erklärte mir Schmauser zum Schluss, »wir wissen alle, wie wichtig die Erhaltung des Arbeitspotenzials ist. Trotzdem behalten für uns, wie auch für den Reichsführer, die Sicherheitsfragen vorrangige Bedeutung. Eine solche feindliche Menschenmasse hinter unseren Linien stellt ein enormes Risiko dar, selbst wenn sie unbewaffnet ist. Siebenundsechzigtausend Häftlinge, das sind fast sieben Divisionen: Malen Sie sich sieben feindliche Divisionen während einer Offensive in Freiheit hinter unseren Linien aus! Sie wissen vielleicht, dass wir im Oktober in Birkenau einen Aufstand unter den Juden des Sonderkommandos hatten. Wir konnten ihn glücklicherweise niederschlagen, aber wir haben Männer verloren, und eines der Krematorien wurde gesprengt. Stellen Sie sich vor, es wäre ihnen gelungen, sich mit den polnischen Partisanen zu vereinigen, die sich ständig in der Umgebung des Lagers herumtreiben – sie hätten unabsehbaren Schaden anrichten und Tausenden von Häftlingen die Flucht ermöglichen können! Seit August, seit die Amerikaner die Fabrik von IG Farben bombardieren, wird jeder Angriff von Häftlingen zur Flucht genutzt. Für die endgültige Evakuierung, wenn sie denn stattfindet, müssen wir alle Vorkehrungen treffen, damit sich eine solche Situation nicht wiederholt. Wir müssen auf der Hut sein.« Ich verstand diesen Gesichtspunkt sehr gut, hatte aber Angst vor den Konsequenzen, die sich daraus ergeben konnten. Boesenbergs Darlegungen trugen nicht wesentlich zu meiner Beruhigung bei. Auf dem Papier war alles minuziös vorbereitet, mit exakten Karten für jeden Evakuierungsweg; doch Boesenberg übte heftige Kritik an Sturmbannführer Baer, der jede gemeinsame Absprache bei der Ausarbeitung dieses Plans abgelehnt hatte (eine letzte administrative Neuordnung Ende November hatte den gelernten Konditor zum Kommandanten der zusammengelegten Lager I und II sowie zum Standortältesten der drei Lager und aller Nebenlager gemacht); unter dem Vorwand, dass der HSSPF keinerlei Befehlsgewalt über das Lager habe – was, genau genommen, zutraf, solange nicht der Fall A ausgerufen war –, erklärte er sich als nur der Amtsgruppe D gegenüber verantwortlich. Eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den verantwortlichen Instanzen bei einer Evakuierung zeichnete sich nicht ab. Außerdem – und das beunruhigte mich nach meinen Erfahrungen vom Oktober und November noch mehr – sah Boesenbergs Plan vor, die Lager zu Fuß zu räumen, das heißt, die Häftlinge mussten zwischen 55 und 63 Kilometer marschieren, bevor sie in Gleiwitz und Loslau in die Züge verladen werden konnten. Dieser Plan war logisch: Die darin unterstellte Kriegslage ließ eine durchgehende Benutzung der Schienenwege bis zur HKL nicht zu; im Übrigen herrschte ein hoffnungsloser Mangel an rollendem Material (in ganz Deutschland gab es nur noch etwa zweihunderttausend Eisenbahnwaggons, ein Verlust von mehr als 70 Prozent in zwei Monaten). Außerdem musste auch an die Evakuierung der deutschen Zivilisten, der Personen mit Sonderrechten, der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen gedacht werden. Am 21. Dezember hatte Gauleiter Bracht einen vollständigen U-Plan/Treckplan für die Provinz herausgegeben, der Boesenbergs Plan einbezog und vorsah, dass die KL-Häftlinge aus Sicherheitsgründen Vorrang beim Überqueren der Oder hatten, des größten Engpasses der Evakuierungswege. Auch das sah auf dem Papier ganz vernünftig aus, aber ich wusste, was bei einem Gewaltmarsch mitten im Winter und ohne Vorbereitung passieren konnte; hinzu kam, dass die Budapester Juden bei guter Gesundheit aufgebrochen waren, während es sich hier um erschöpfte, geschwächte, unterernährte und schlecht gekleidete Häftlinge handelte, die in Panik waren – eine Situation, die ungeachtet der Vorbereitungen leicht entarten und außer Kontrolle geraten konnte. Lange und eingehend befragte ich Boesenberg zu den entscheidenden Punkten: Er versicherte mir, dass vor dem Aufbruch warme Kleidung und zusätzliche Decken ausgegeben würden und Verpflegungsvorräte entlang den Strecken angelegt worden seien. Mehr lasse sich nicht machen, versicherte er. Ich musste einsehen, dass er Recht hatte.
In Auschwitz lernte ich auf der Kommandantur Sturmbannführer Kraus kennen, einen Verbindungsoffizier, der von Schmauser mit einem Sonderkommando des SD hergeschickt worden war und im Lager eine »Verbindungs- und Übergangsdienststelle« leitete. Dieser Kraus, ein junger Offizier von liebenswürdigen Umgangsformen, der am Hals und linken Ohr die Spuren einer schweren Verbrennung aufwies, erklärte mir, er sei grundsätzlich verantwortlich für die Phasen »Lähmung« und »Zerstörung«: Vor allem solle er sicherstellen, dass die Vernichtungsanlagen und die Vorratsdepots den Russen nicht intakt in die Hände fielen. Für die Ausführung des Evakuierungsbefehls sei, sobald er erteilt sei, Baer verantwortlich. Dieser empfing mich ziemlich unfreundlich, ich war in seinen Augen offensichtlich noch einer dieser Bürokraten, die von außerhalb kamen und ihn an seiner Arbeit hinderten. Mir fielen seine stechenden, unsteten Augen, eine ziemlich unförmige Nase und ein schmaler, aber sinnlicher Mund auf; sein dichtes gewelltes Haar war sorgfältig mit Brillantine gekämmt, wie bei einem Berliner Dandy. Er wirkte auf mich erstaunlich farblos und beschränkt, in noch höherem Maße als Höß, der immerhin noch die Aura des ehemaligen Landsknechts besaß. Meinen Dienstgrad ausspielend, stauchte ich ihn heftig wegen seiner mangelnden Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Diensten des HSSPF zusammen. Er erwiderte mit unverhohlener Arroganz, er habe bei seiner Vorgehensweise die volle Unterstützung Pohls. »Wenn der Fall A eintritt, folge ich dem Befehl von Obergruppenführer Schmauser. Bis dahin unterstehe ich allein Oranienburg. Sie haben mir keine Befehle zu geben.« – »Wenn der Fall A eintritt«, erwiderte ich wutschnaubend, »dürfte es zu spät sein, die Folgen Ihrer Unfähigkeit zu beseitigen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass ich in meinem Bericht an den Reichsführer Sie persönlich für alle unbilligen Verluste verantwortlich machen werde.« Meine Drohungen schienen ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken, er hörte mir mit kaum verhohlener Verachtung zu.
Baer wies mir eine Dienststelle in der Kommandantur von Birkenau an, und ich ließ Obersturmführer Elias und Untersturmführer Darius, einen meiner neuen Mitarbeiter, aus Oranienburg kommen. Wieder wohnte ich im Haus der Waffen-SS; ich bekam dasselbe Zimmer wie bei meinem ersten Besuch vor anderthalb Jahren. Das Wetter war fürchterlich: kalt, nass, wechselhaft. Die ganze Region lag unter Schnee, einer dicken Decke, oft mit dem Ruß der Bergwerke und Fabrikschornsteine bestreut, einem schmutzig grauen Spitzenbesatz. Im Lager war er fast schwarz, von Tausenden Häftlingen festgetreten und mit dem im Frost erstarrten Schlamm vermischt. Heftige Schneeböen kamen ohne Vorwarnung von den Beskiden herab, hüllten das Lager ein und erstickten es zwanzig Minuten lang unter einem weißen flatternden Schleier, bevor sie ebenso schnell wieder verschwanden und alles für einige Augenblicke in makelloser Reinheit zurückließen. In Birkenau rauchte nur noch ein Schornstein, unregelmäßig und stoßweise, das Krema IV, dessen Betrieb fortgesetzt wurde, um die im Lager gestorbenen Häftlinge zu beseitigen; Krema III war seit dem Aufstand vom Oktober zerstört, die beiden anderen auf Befehl Himmlers teilweise demontiert. Der neue Bauabschnitt war aufgegeben, der größte Teil der Baracken abgerissen, sodass das riesige leere Gelände jetzt dem Schnee überlassen blieb; das Problem der Überbelegung war durch vorläufige Evakuierungen gelöst worden. Als die Wolkendecke aufriss, tauchte die bläuliche Linie der Beskiden hinter den geometrisch aufgereihten Baracken auf: Das Lager wirkte unter dem Schnee friedlich und ruhig. Fast jeden Tag machte ich Inspektionstouren durch die verschiedenen Nebenlager: Günthergrube, Fürstengrube, Tschechowitz, Neu-Dachs, die kleinen Lager von Gleiwitz, um den Stand der Vorbereitungen zu verfolgen. Die langen ebenen Straßen waren fast verlassen, kaum aufgewühlt von den Lastwagen der Wehrmacht; abends kehrte ich unter einem düsteren Himmel zurück, einer lastenden grauen Masse voller Schnee, der manchmal wie ein Tuch auf die fernen Dörfer fiel, und dahinter noch ein zarter Himmel, blau und blassgelb, nur mit wenigen Wolken von stummem Violett, gesäumt vom Licht der untergehenden Sonne, ein bläuliches Licht auf dem Schnee und dem Eis der Sümpfe, die die polnische Erde aufweichten. Am Abend des 31. Dezembers gab es im Haus eine stille Feier für die durchreisenden Offiziere und einige Lageroffiziere: Die Männer sangen melancholische Lieder, tranken langsam und sprachen mit gedämpfter Stimme; allen war klar, dass es der letzte Jahreswechsel im Krieg war, denn es bestand wenig Aussicht, dass das Reich noch bis zum nächsten überdauerte. Dort traf ich auch einen tief deprimierten Dr. Wirths wieder, der seine Familie nach Deutschland zurückgeschickt hatte, und Unterführer Schurz, den neuen Chef der Politischen Abteilung, der mich weit zuvorkommender behandelte als sein Kommandant. Lange diskutierte ich mit Kraus; er hatte mehrere Jahre in Russland Dienst getan, bis zu seiner schweren Verwundung bei Kursk, wo er sich gerade noch aus seinem brennenden Panzer hatte retten können; nach seiner Genesung war er dem SS-Oberabschnitt »Südost« (Breslau) zugewiesen worden und beim Stab von Schmauser gelandet. Dieser Offizier, der dieselben Vornamen – Franz Xaver – wie ein anderer Kraus trug, ein bekannter katholischer Theologe aus dem vorigen Jahrhundert, machte auf mich den Eindruck eines ernsthaften Mannes, offen für die Meinungen anderer, aber fanatisch entschlossen, seinen Auftrag nach besten Kräften zu erledigen; zwar versicherte er mir, meine Ziele bestens zu verstehen, vertrat aber gleichzeitig die Ansicht, dass natürlich kein Häftling den Russen lebend in die Hände fallen dürfe, und er war überzeugt, dass es nicht den geringsten Widerspruch zwischen den beiden Bedingungen gebe. Grundsätzlich hatte er sicherlich Recht, doch ich machte mir Sorgen – begründet, wie sich zeigen sollte –, dass zu strenge Befehle die Brutalität der Lagerwachen wecken würden, die sich jetzt, im sechsten Kriegsjahr, aus dem Abschaum der SS rekrutierten, aus Männern, die zu alt oder zu krank für die Front waren, Volksdeutschen, die kaum Deutsch sprachen, Kriegsteilnehmern, die unter psychischen Störungen litten, aber dienstfähig geschrieben waren, Alkoholikern, Drogenabhängigen, moralisch verkommenen Subjekten, die es verstanden hatten, dem Strafbataillon oder dem Erschießungskommando zu entgehen. Viele Offiziere taugten kaum mehr als ihre Männer: Angesichts der maßlosen Expansion des KL-Systems während des zurückliegenden Jahres war das WVHA gezwungen gewesen, die letzten Reserven zu mobilisieren, notorisch unfähige Leute zu befördern, Offiziere zu reaktivieren, die wegen schwerer Vergehen ausgestoßen worden waren, oder Männer zu nehmen, die niemand anders haben wollte. Hauptsturmführer Drescher, den ich an diesem Abend auch kennenlernte, bestärkte mich in meiner pessimistischen Auffassung. Drescher leitete die noch existierende Untersuchungskommission, die Konrad Morgen im Lager eingerichtet hatte; er hatte mich einmal mit seinem Chef in Lublin gesehen; an diesem Abend äußerte er sich mir gegenüber in einer Nische, die etwas abseits des großen Saales lag, ziemlich freimütig über die laufenden Untersuchungen. Die Ermittlungen gegen Höß, die im Oktober kurz vor ihrem Abschluss gestanden hatten, waren im November plötzlich in sich zusammengefallen, trotz der Aussage eines weiblichen Häftlings, einer österreichischen Prostituierten: Höß hatte sie verführt und dann versucht, sie umzubringen, indem er sie in eine Strafzelle der PA eingeschlossen hatte. Nach seiner Versetzung nach Oranienburg Ende 1943 hatte Höß seine Familie im Kommandantenhaus zurückgelassen, sodass seine verschiedenen Nachfolger gezwungen waren, sich anderswo eine Unterkunft zu suchen; erst einen Monat zuvor hatte er ihren Umzug veranlasst, zweifellos wegen der russischen Bedrohung, und im Lager war es ein offenes Geheimnis, dass Frau Höß vier Lastwagen gebraucht hatte, um ihr Hab und Gut abzutransportieren. Es machte Drescher krank, aber Morgen konnte nichts gegen Höß’ Gönner ausrichten. Die Ermittlungen wurden fortgesetzt, betrafen aber nur die kleinen Fische. Wirths hatte sich zu uns gesellt, doch Drescher fuhr fort, ohne sich an der Gegenwart des Arztes zu stören; offenbar erzählte er ihm nichts Neues. Wirths machte sich Sorgen wegen der Evakuierung: Trotz Boesenbergs Plan waren weder im Stammlager noch in Birkenau die geringsten Vorkehrungen getroffen worden, Reiseproviant oder warme Bekleidung bereitzustellen. Auch ich machte mir Sorgen.
Doch die Russen rührten sich noch immer nicht. Im Westen bemühten sich unsere Truppen durchzubrechen (die Amerikaner hatten sich in Bastogne festgesetzt), und auch bei Budapest waren wir zur Offensive übergegangen, was uns etwas Hoffnung gab. Aber die viel gerühmten V2-Raketen entpuppten sich für alle, die zwischen den Zeilen lesen konnten, als unwirksam, unsere zweite Offensive im Nordelsass war sofort ins Stocken geraten, und es bestand kein Zweifel mehr, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Anfang Januar gab ich Piontek einen Tag frei, damit er seine Familie aus Tarnowitz fortschaffen konnte, zumindest bis Breslau; ich wollte nicht, dass er sich vor Sorge verzehrte, wenn es so weit war. Es schneite regelmäßig, und wenn der Himmel aufklarte, beherrschte der schmutzige Rauch der Eisenhütten und Stahlwerke die schlesische Landschaft, Beleg für die Produktion von Panzern, Kanonen und Munition, die bis zum letzten Moment fortgesetzt wurde. So verstrichen ein Dutzend Tage in beängstigender Ruhe, nur von bürokratischen Streitigkeiten unterbrochen. Es gelang mir endlich, Baer zu überreden, Sonderrationen bereitzustellen, die beim Aufbruch an die Häftlinge verteilt werden sollten; hinsichtlich der warmen Bekleidung teilte er mir mit, man werde sie aus dem »Kanada« nehmen, das wegen fehlender Transportmöglichkeiten aus allen Nähten platze. Eine gute Nachricht lockerte die angespannte Stimmung kurzzeitig auf. Eines Abends fand sich Drescher im Haus mit zwei Kognakgläsern an meinem Tisch ein und lächelte in sein Bärtchen: »Glückwunsch, Obersturmbannführer«, verkündete er, reichte mir eines der Gläser und hob das andere. »Vielen Dank, aber warum?« – »Ich habe heute mit Sturmbannführer Morgen gesprochen. Ich soll Ihnen sagen, dass Ihre Angelegenheit abgeschlossen ist.« Dass Drescher informiert war, machte mir wenig aus, so erleichtert war ich über die Neuigkeit. Drescher fuhr fort: »Da es überhaupt keine konkreten Beweise gibt, hat SS-Richter von Rabingen beschlossen, die Ermittlungen gegen Sie einzustellen. Von Rabingen hat dem Sturmbannführer gesagt, er habe noch nie einen so zusammengeschusterten und so dürftig begründeten Fall erlebt. Die Kripo habe erbärmliche Arbeit geleistet. Er habe fast den Eindruck, dass es sich um eine Intrige gegen Sie handle.« Ich atmete tief durch: »Genau das habe ich immer gesagt. Glücklicherweise hat der Reichsführer stets Vertrauen in mich gehabt. Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, ist meine Ehre wiederhergestellt.« – »In der Tat«, sagte Drescher und nickte zustimmend. »Sturmbannführer Morgen hat mir sogar anvertraut, SS-Richter von Rabingen denke daran, ein Disziplinarverfahren gegen die Inspektoren anzustrengen, die Ihnen so übel mitgespielt haben.« – »Das würde mich freuen.« Die Nachricht wurde mir drei Tage später durch einen Brief von Brandt bestätigt, dem die Kopie eines Schreibens an den Reichsführer beigefügt war, in dem von Rabingen versicherte, er habe sich von meiner Unschuld restlos überzeugt. In keinem der beiden Briefe war von Clemens und Weser die Rede, trotzdem war ich zufrieden.
Schließlich traten die Sowjets nach kurzer Atempause aus ihren Brückenköpfen an der Weichsel zu ihrer so sehr befürchteten Offensive an. Die schwachen Kräfte unseres Sperrriegels wurden beiseitegefegt. Während der Waffenruhe hatten die Russen eine unerhörte Feuerkraft zusammengezogen; ihre T 34 ergossen sich in langen Kolonnen über die polnischen Ebenen, durchbrachen unsere Divisionen, wobei sie in glänzender Weise unsere Taktik von 1941 nachahmten; vielfach wurden unsere Truppen von den feindlichen Panzern überrascht, die sie noch mehr als hundert Kilometer entfernt wähnten. Am 17. Januar räumten Generalgouverneur Frank und seine Verwaltung Krakau, und unsere letzten Einheiten zogen sich aus den Ruinen von Warschau zurück. Die ersten sowjetischen Panzer drangen bereits in Schlesien ein, als Schmauser den Fall A ausrief. Ich hatte von meiner Seite alles Menschenmögliche getan: mich mit einigen Kanistern Treibstoff, belegten Broten und Rum für unsere zwei Fahrzeuge bevorratet und alle Kopien meiner Berichte vernichtet. Am Abend des 17. wurde ich mit allen anderen Offizieren zu Baer gerufen; er teilte uns mit, dass auf Anweisung von Schmauser alle Häftlinge, die kräftig genug seien, ab dem nächsten Morgen zu Fuß evakuiert würden: Dieser Abendappell werde der letzte sein. Die Evakuierung werde planmäßig durchgeführt. Jeder Kolonnenführer habe darauf zu achten, dass kein Häftling entkommen oder zurückbleiben könne; jeder Versuch müsse unbarmherzig bestraft werden; Baer empfahl allerdings, keine Häftlinge während des Marsches durch Dörfer zu erschießen, damit die Bevölkerung nicht vor den Kopf gestoßen werde. Einer der Kolonnenführer, ein Obersturmführer, meldete sich zu Wort: »Ist der Befehl nicht etwas zu streng, Sturmbannführer? Wenn ein Häftling zu entkommen versucht, muss er selbstverständlich erschossen werden. Aber wenn er einfach zu schwach zum Marschieren ist?« – »Alle Häftlinge, die in Marsch gesetzt werden, sind als arbeitsfähig eingestuft und müssen fünfzig Kilometer ohne Schwierigkeiten schaffen«, erwiderte Baer. »Die Kranken und die Schwachen bleiben in den Lagern. Wenn es Kranke in den Kolonnen gibt, müssen sie eliminiert werden. Diesen Befehlen ist unbedingt Folge zu leisten.«
In dieser Nacht schlief die Lager-SS kaum.
Vom Haus aus, das in der Nähe des Bahnhofs
lag, sah ich die langen Trecks deutscher Zivilisten vorbeiziehen,
die vor den Russen flohen: Nachdem sie die Stadt hinter sich und
die Brücke über die Soa überquert hatten, stürmten sie den Bahnhof
oder schleppten sich zu Fuß weiter Richtung Westen. Die SS bewachte
einen Sonderzug, der für die Familien des Lagerpersonals reserviert
war; er war bereits zum Bersten gefüllt, die Männer versuchten
große Bündel neben ihren Frauen und Kindern zu stapeln. Nach dem
Abendessen inspizierte ich das Stammlager und Birkenau. Ich
kontrollierte einige Baracken: Die Häftlinge versuchten zu
schlafen, die Kapos bestätigten mir, dass überhaupt keine zusätzlichen
Kleidungsstücke ausgegeben worden waren, trotzdem hoffte ich immer
noch, dass das am nächsten Tag vor dem Abmarsch geschehen würde.
Auf den Wegen brannten Stapel von Dokumenten: Die
Müllverbrennungsöfen waren überlastet. In Birkenau bemerkte ich ein
gewaltiges Durcheinander am »Kanada«: Im Scheinwerferlicht verluden
Häftlinge alle möglichen Dinge auf Lastwagen; ein Untersturmführer,
der die Operation beaufsichtigte, versicherte mir, dass die Ladung
ins KL Groß-Rosen geschafft werde. Aber ich sah sehr wohl, dass
sich die SS-Wachen auch selbst bedienten, manchmal ganz offen.
Alles schrie, machte sich hektisch, aber nutzlos zu schaffen, und
ich merkte, dass diese Männer in Panik waren, dass ihnen der Sinn
für Maß und Disziplin abhandenkam. Wie immer war bis zur letzten
Minute gewartet worden, um alles zu erledigen, denn früher zu
handeln hätte als Defätismus gegolten; jetzt saßen uns die Russen
im Nacken, und die Wachen in Auschwitz erinnerten sich an das
Schicksal der SS-Männer, die im Lager von Lublin den Russen in die
Hände gefallen waren, darüber vergaßen sie alle Pflichten und
wollten nur noch eines: fliehen. Deprimiert suchte ich Drescher in
seinem Dienstzimmer im Stammlager auf. Auch er verbrannte
Unterlagen. »Haben Sie gesehen, wie geplündert wird?«, fragte er
mich, in seinen Bart lachend. Aus einer Schublade holte er einen
teuren Armagnac hervor: »Was sagen Sie dazu? Ein Untersturmführer,
hinter dem ich seit vier Monaten her war, den ich aber nicht
erwischt habe, hat ihn mir zum Abschied geschenkt, der
Schweinehund. Er hat ihn natürlich geklaut. Trinken Sie einen
Schluck mit mir?« Er schenkte uns einen Doppelten in Wassergläser
ein: »Entschuldigung, aber ich habe nichts Besseres.« Er hob sein
Glas, und ich tat es ihm nach. »Wie wär’s mit einem Trinkspruch?«,
sagte er. Aber mir fiel keiner ein. Er zuckte die Achseln: »Mir
auch nicht. Dann trinken wir eben so.« Der Armagnac war ausgezeichnet, ein leichtes
aromatisches Brennen. »Wohin gehen Sie?«, fragte ich. »Nach
Oranienburg, Bericht erstatten. Ich habe Material bei mir, das für
elf weitere Anklagen reicht. Danach sollen sie mich hinschicken,
wohin sie wollen.« Als ich aufbrechen wollte, reichte er mir die
Flasche: »Hier, behalten Sie sie. Sie werden sie nötiger brauchen
als ich.« Ich steckte sie mir in die Manteltasche, schüttelte ihm
die Hand und ging. Ich kam am HKB vorbei, wo Wirths die Evakuierung
des medizinischen Materials beaufsichtigte. Ich berichtete ihm von
dem Problem mit der warmen Bekleidung. »Die Kleiderkammern sind
voll«, versicherte er mir. »Es dürfte nicht allzu schwierig sein,
Decken, Stiefel und Mäntel auszugeben.« Aber Baer, den ich gegen
zwei Uhr nachts in der Kommandantur von Birkenau dabei antraf, den
Abmarsch der Kolonnen auszuarbeiten, sah das offenbar anders. »Die
eingelagerten Sachen sind Eigentum des Reichs. Ich habe keinerlei
Befehle, sie an die Häftlinge zu verteilen. Sie werden, sobald wie
möglich, per Lastwagen oder Bahn abtransportiert.« Draußen mussten
es zehn Grad minus sein, die Wege waren gefroren und glatt. »So,
wie sie bekleidet sind, werden Ihre Häftlinge nicht überleben.
Viele sind praktisch barfuß.« – »Die Arbeitsfähigen überleben
schon«, behauptete er. »Die anderen brauchen wir nicht.« Mit
wachsender Wut ging ich in die Nachrichtenzentrale hinunter und
ließ mich mit Breslau verbinden; doch Schmauser war nicht zu
erreichen, Boesenberg auch nicht. Ein Funker zeigte mir eine
Blitzmeldung der Wehrmacht: Tschenstochau war gefallen, die
russischen Truppen befanden sich vor den Toren Krakaus. »Dicke
Luft«, meinte er lakonisch. Ich dachte daran, ein Fernschreiben an
den Reichsführer zu schicken, aber das würde nichts bringen; es war
besser, am folgenden Tag Schmauser zu suchen, in der Hoffnung, dass
der mehr Verstand hatte als dieser Trottel Baer. Plötzlich von
Müdigkeit überwältigt, kehrte ich ins Haus
zurück, um mich schlafen zu
legen. Die Trecks von Zivilisten, mit Wehrmachtssoldaten vermischt,
strömten noch immer herbei, erschöpfte Bauern, eingemummt, ihre
Habseligkeiten mit den Kindern auf einem Karren angehäuft, trieben
ihr Vieh vor sich her.
Piontek weckte mich nicht, und ich schlief bis acht. Die Küche war noch in Betrieb, ich ließ mir ein Omelett mit Würstchen bringen. Dann ging ich hinaus. Im Stammlager in Birkenau verließen die Kolonnen in endlosen Strömen das Lager. Die Häftlinge, die Füße mit allem umwickelt, was sie hatten finden können, marschierten langsam, mit schleppendem Gang, eskortiert von SS-Wachen und angetrieben von gut genährten und warm gekleideten Kapos. Wer eine Decke besaß, hatte sie mitgenommen und trug sie im Allgemeinen auf dem Kopf, fast wie ein Beduine; aber das war alles. Auf meine Frage wurde mir mitgeteilt, dass sie einen Kanten Brot und ein Stück Wurst für drei Tage bekommen hatten; niemand hatte wegen der Bekleidung einen Befehl erhalten.
Am ersten Tag schien es trotz Eis und feuchtem Schnee noch einigermaßen zu gehen. Ich nahm die Kolonnen, die das Lager verließen, in Augenschein, besprach mich mit Kraus, fuhr die Straßen entlang, um zu sehen, wie es etwas weiter vorn aussah. Überall bemerkte ich Auswüchse: Die Wachen ließen Karren mit ihrem persönlichen Besitz von Häftlingen schieben oder zwangen sie, ihre Koffer zu tragen. Am Straßenrand bemerkte ich hier und da Leichen im Schnee, oft mit blutüberströmtem Kopf; die Wachen befolgten Baers strenge Befehle. Doch die Kolonnen hielten Marschordnung und machten nicht den Versuch einer Auflehnung. Mittags gelang es mir, Schmauser zu erreichen und ihm das Bekleidungsproblem vorzutragen. Er hörte mir kurz zu, dann fegte er meine Einwände beiseite: »Wir können ihnen keine Zivilkleider geben, die Fluchtgefahr ist zu groß.« – »Dann zumindest Schuhe.« Er zögerte. »Klären Sie das mit Baer«, sagte er schließlich. Er hatte offenbar andere Sorgen, das war zu merken, trotzdem wäre mir ein eindeutiger Befehl lieber gewesen. Ich suchte Baer im Stammlager auf: »Obergruppenführer Schmauser hat befohlen, Schuhe an die Häftlinge auszugeben, die keine haben.« Baer zuckte die Achseln: »Hier habe ich keine mehr, alles ist schon für den Transport verpackt. Versuchen Sie Ihr Glück bei Schwarzhuber in Birkenau.« Ich brauchte zwei Stunden, um diesen Offizier zu finden, den Lagerführer von Birkenau, der unterwegs gewesen war, um eine der Kolonnen zu inspizieren. »In Ordnung, ich kümmere mich darum«, versprach er mir, als ich ihm den Befehl übermittelte. Gegen Abend traf ich wieder mit Elias und Darius zusammen, die ich losgeschickt hatte, um die Evakuierung von Monowitz und mehreren Nebenlagern zu beobachten. Zunächst hatte es geschienen, dass alles fast reibungslos ablief, doch schon am Spätnachmittag konnten immer mehr Häftlinge vor Erschöpfung nicht weiter und ließen sich von den Wachen erschießen. Ich fuhr mit Piontek vor, um die Unterkünfte für die Nacht in Augenschein zu nehmen. Entgegen Schmausers ausdrücklichem Befehl – es wurde befürchtet, die Häftlinge könnten im Schutz der Dunkelheit fliehen – marschierten einige Kolonnen noch immer. Ich machte den Offizieren Vorhaltungen, doch sie erwiderten, sie hätten den angegebenen Haltepunkt noch nicht erreicht und könnten ihre Kolonnen ja wohl kaum draußen in Eis und Schnee übernachten lassen. Die Unterkünfte, die ich mir ansah, erwiesen sich als völlig unzulänglich: eine Scheune oder eine Schule, manchmal für zweitausend Häftlinge; viele schliefen draußen, eng zusammengedrängt. Ich fragte, ob man nicht Feuer machen könnte, aber es gab kein Holz, die Bäume waren zu nass, und es fehlte an Werkzeug, um sie zu fällen; wo sich Bretter oder alte Kisten fanden, wurden kleine Lagerfeuer entzündet, aber sie brannten nicht bis zum Morgen. Es war keine Suppenausgabe vorbereitet, die Häftlinge mussten sich mit dem begnügen, was sie im Lager bekommen hatten; etwas weiter, wurde mir versichert, sei für alles gesorgt. Die meisten Kolonnen hatten keine fünf Kilometer geschafft; viele befanden sich noch in dem fast verlassenen Interessengebiet des Lagers; bei diesem Tempo würden die Märsche zehn bis zwölf Tage dauern.
Schlammbespritzt, durchnässt und erschöpft kehrte ich ins Haus zurück. Kraus war da, er trank ein Glas mit seinen Kameraden vom SD. Er setzte sich zu mir: »Wie läuft es?«, fragte er. »Nicht besonders. Es wird unnötige Verluste geben. Baer hätte viel mehr tun können.« – »Baer ist das scheißegal. Wissen Sie, dass er zum Kommandanten von Mittelbau ernannt worden ist?« Ich zog die Augenbrauen hoch: »Nein, das wusste ich nicht. Wer beaufsichtigt die Schließung des Lagers?« – »Ich. Ich habe Befehl, nach der Evakuierung eine Dienststelle einzurichten, um die administrative Auflösung durchzuführen.« – »Glückwunsch«, sagte ich. »Oh«, erwiderte er, »glauben Sie nicht, dass mir das Spaß macht. Ehrlich gesagt, ich würde lieber was anderes machen.« – »Und was sind Ihre unmittelbaren Aufgaben?« – »Wir warten, bis die Lager leer sind. Danach fangen wir an.« – »Was machen Sie mit den Häftlingen, die bleiben?« Er zuckte die Achseln und lächelte ironisch: »Was glauben Sie denn? Der Obergruppenführer hat Befehl gegeben, sie zu exekutieren. Niemand darf den Bolschewisten lebend in die Hände fallen.« – »Verstehe.« Ich trank mein Glas leer. »Na dann, lassen Sie sich nicht unterkriegen. Ich beneide Sie nicht.«
Unmerklich verschlechterte sich die Situation. Am nächsten Morgen marschierten neue Kolonnen durch das Haupttor zum Lager hinaus, die Wachtürme waren noch besetzt, es herrschte Ordnung; aber einige Kilometer weiter begannen sich die Kolonnen in dem Maße, wie die schwächsten Häftlinge langsamer wurden, in die Länge zu ziehen und aufzulösen. Die Zahl der Leichen am Weg nahm zu. Dichter Schneefall hatte eingesetzt, aber es war nicht sonderlich kalt, für mich jedenfalls nicht, ich hatte weitaus Schlimmeres in Russland erlebt, ich war warm angezogen und fuhr in einem geheizten Auto herum, und die Wachen, die marschieren mussten, trugen Pullover, dicke Mäntel und Stiefel; den Häftlingen dagegen musste die Kälte bis in die Knochen kriechen. Die Furcht der Wachmannschaften wuchs beständig, sie brüllten sie an, schlugen auf sie ein. Ich sah, wie eine Wache einen Häftling niederschoss, der sich hingehockt hatte, um seine Notdurft zu verrichten; ich erteilte ihr einen Verweis und verlangte von dem Untersturmführer, der die Kolonne befehligte, sie in Arrest zu nehmen; er erwiderte, er habe nicht genügend Leute, um sich das erlauben zu können. In den Dörfern ließen die polnischen Bauern, in Erwartung der Russen, die Häftlinge schweigend vorbeiziehen oder riefen ihnen etwas in ihrer Sprache zu; grob fuhren die Wachen dazwischen, wenn jemand versuchte, ihnen Brot oder andere Nahrungsmittel zuzustecken; sie waren sehr nervös, es war bekannt, dass es in den Dörfern von Partisanen wimmelte, ein Handstreich wurde befürchtet. Doch am Abend gab es in der Unterkunft, die ich besichtigt hatte, noch immer keine Suppe und kein Brot, und viele Häftlinge hatten ihre Ration bereits aufgegessen. Ich sagte mir, dass bei diesem Tempo die Hälfte oder zwei Drittel der Kolonnen noch vor dem Ziel auf der Strecke bleiben würden. Ich befahl Piontek, mich nach Breslau zu fahren. Infolge des schlechten Wetters und der Flüchtlingstrecks kam ich erst nach Mitternacht an. Schmauser schlief schon, und Boesenberg, so hörte ich beim Stab, war nach Kattowitz hochgefahren, in die Nähe der Front. Ein unrasierter Offizier zeigte mir eine Lagekarte: Die russischen Stellungen, erklärte er mir, seien eher theoretisch zu verstehen, denn sie würden so schnell vorrücken, dass man mit der Karte nicht nachkomme; während von unseren auf der Karte noch verzeichneten Divisionen einige schon nicht mehr existierten, bewegten sich andere, so die bruchstückhaften Informationen, überrollt hinter den russischen Linien und versuchten, mit unseren zurückgenommenen Kräften Verbindung herzustellen. Tarnowitz und Krakau waren am Nachmittag gefallen. Die Sowjets stießen auch kraftvoll nach Ostpreußen hinein, und es war von noch entsetzlicheren Gräueltaten die Rede als in Ungarn. Eine Katastrophe! Doch als Schmauser mich am späten Vormittag empfing, wirkte er ruhig und selbstsicher. Ich schilderte ihm die Lage und brachte meine Forderungen vor: Verpflegung und Feuerholz in den Unterkünften sowie Karren für den Transport allzu erschöpfter Häftlinge, die man auf diese Weise gesund pflegen und wieder arbeiten lassen könnte, statt sie zu exekutieren: »Ich spreche nicht von den Typhus- oder Tuberkulosekranken, Obergruppenführer, sondern nur von denen, die Kälte und Hunger nichts entgegenzusetzen haben.« – »Unsere Soldaten leiden ebenfalls unter Hunger und Kälte«, gab er missbilligend zurück, »die Zivilisten genauso. Sie scheinen sich über die Lage nicht im Klaren zu sein, Obersturmbannführer. Wir haben anderthalb Millionen Flüchtlinge auf den Straßen. Die sind wohl etwas wichtiger als Ihre Häftlinge.« – »Diese Häftlinge sind als Arbeitskraft ein kriegswichtiger Aktivposten für das Reich, Obergruppenführer. Wir können uns in der gegenwärtigen Situation nicht erlauben, zwanzigoder dreißigtausend von ihnen zu verlieren.« – »Ich verfüge über keine Mittel, die ich Ihnen bewilligen könnte.« – »Dann geben Sie mir wenigstens einen Befehl, mit dem ich mich bei den Kolonnenführern durchsetzen kann.« Ich ließ einen Befehl mit mehreren Durchschlägen für Elias und Darius tippen, und Schmauser unterschrieb sie am Nachmittag; ich brach sofort wieder auf. Die Straßen waren fürchterlich verstopft, endlose Kolonnen von Flüchtlingen, zu Fuß oder auf Karren, vereinzelte Wehrmachtslastwagen, versprengte Soldaten. In den Dörfern wurde in Feldküchen der NSV Suppe ausgegeben. Erst spät traf ich in Auschwitz ein; meine Kameraden waren bereits zurückgekommen und schliefen schon. Baer, so wurde mir mitgeteilt, hatte das Lager verlassen, vermutlich endgültig. Ich ging zu Kraus und traf ihn mit Schurz an, dem Chef der PA. Ich hatte Dreschers Armagnac mitgenommen, und wir tranken zusammen. Kraus erklärte mir, er habe am Morgen die Gebäude von Krema I und II sprengen, aber IV für den letzten Augenblick stehen lassen; außerdem hatte er mit den befohlenen Exekutionen begonnen und zweihundert Jüdinnen, die im Frauenlager von Birkenau verblieben waren, erschießen lassen; doch Springorum, der Regierungspräsident des Bezirks Kattowitz, hatte ihm sein Sonderkommando für dringende Aufgaben entzogen, sodass er jetzt nicht mehr genügend Männer hatte, um damit fortzufahren. Alle arbeitsfähigen Häftlinge hatten das Lager verlassen, es blieben aber nach seinen Angaben auf dem gesamten Komplex noch mehr als achttausend, die krank oder zu schwach zum Marschieren waren. Diese Leute abzuschlachten erschien mir beim gegenwärtigen Stand der Dinge vollkommen töricht und überflüssig, aber Kraus hatte seine Befehle, und es fiel nicht in meine Zuständigkeit; ich hatte auch so genügend Probleme mit den Häftlingskolonnen.
Die folgenden vier Tage verbrachte ich damit, hinter den Kolonnen herzulaufen. Ich hatte das Gefühl, mich mit einer Schlammlawine herumzuschlagen: Ich brauchte Stunden, um voranzukommen, und wenn ich endlich einen verantwortlichen Offizier gefunden hatte und ihm meine Befehle zeigte, kam er meinen Anweisungen nur mit größtem Widerwillen nach. Hier und da gelang es mir, Verpflegung verteilen zu lassen (andernorts wurde sie auch ohne mein Eingreifen ausgegeben); die Decken der Toten ließ ich einsammeln und den Lebenden geben; es gelang mir, Karren von polnischen Bauern zu konfiszieren und sie mit erschöpften Häftlingen zu beladen. Doch als ich am nächsten Tag zu diesen Kolonnen kam, hatten die Offiziere all diejenigen erschießen lassen, die nicht aufstehen konnten, und die Karren waren fast leer. Die Häftlinge selbst sah ich mir kaum an, mich interessierte nicht ihr individuelles Schicksal, sondern ihr kollektives, außerdem sahen sie sich alle ähnlich, sie waren eine graue Masse, schmutzig und trotz der Kälte stinkend, nur isolierte Einzelheiten nahm ich wahr, die Abzeichen, einen Kopf oder nackte Füße, eine Jacke, die anders war als die anderen; Männer und Frauen waren kaum zu unterscheiden. Manchmal bemerkte ich ihre Augen unter den Falten der Decken, aber sie erwiderten keinen Blick, sie waren leer, vollkommen in Anspruch genommen von der Notwendigkeit, zu marschieren, sich vorwärtszuschleppen. Je weiter wir uns von der Weichsel entfernten, desto kälter wurde es und desto mehr Häftlinge verloren wir. Manchmal hatten die Kolonnen der Wehrmacht Platz zu machen und stundenlang am Straßenrand zu warten oder den Weg über gefrorene Felder zu nehmen, wo sie über zahllose Gräben und Erddämme klettern mussten, bevor sie wieder auf die Straße zurückkehrten. Wenn eine Kolonne Halt machte, ließen sich die halb verdursteten Häftlinge auf die Knie fallen, um den Schnee aufzulecken. Jeder Kolonne, selbst denen, die ich mit Karren ausgerüstet hatte, folgte ein Trupp Wachen, die die Häftlinge mit einer Kugel oder einem Kolbenhieb erledigten, wenn sie zu Boden fielen oder einfach stehen blieben; die Offiziere überließen es den Gemeinden, die Leichen zu begraben. Wie immer in solchen Situationen, wurde bei manchen Männern eine angeborene Brutalität angestachelt, und sie schossen in ihrem mörderischen Eifer weit über das Ziel hinaus; ihre jungen Offiziere, ebenso erschrocken wie sie, konnten sie nur schwer im Zaum halten. Und es waren nicht nur die Mannschaftsdienstgrade, die jedes Maß verloren. Am dritten oder vierten Tag suchte ich Elias und Darius, die auf der Straße unterwegs waren; sie inspizierten eine Kolonne der Laurahütte, die von der vorgesehenen Route hatte abweichen müssen, weil die Russen sehr rasch vorgerückt waren und nicht nur von Osten, sondern auch von Norden kamen und nach meinen Informationen schon fast in Groß Strehlitz standen, kurz vor Blechhammer. Elias befand sich bei dem Kolonnenführer, einem jungen Oberscharführer, der sehr nervös und unruhig war; als ich ihn fragte, wo Darius sei, sagte er, der sei nach hinten gegangen und kümmere sich um die Kranken. Ich ging nachsehen, was er machte, und traf ihn an, wie er Häftlinge mit Pistolenschüssen erledigte. »Was zum Teufel machen Sie da?« Er nahm Haltung an und antwortete, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen: »Ich halte mich nur an Ihren Befehl, Obersturmbannführer. Ich habe mir die kranken oder schwachen Häftlinge genau angesehen und diejenigen, die sich noch erholen können, auf die Karren legen lassen. Wir haben nur die exekutiert, die eindeutig nicht mehr verwendbar sind.« – »Untersturmführer«, sagte ich eisig, »für Exekutionen sind Sie nicht zuständig. Ihr Befehl lautet, sie so weit wie möglich einzuschränken, aber ganz gewiss nicht, sich an ihnen zu beteiligen. Verstanden?« Ich verpasste auch Elias eine Zigarre; schließlich war er für Darius verantwortlich.
Manchmal fand ich einsichtigere Kolonnenführer, die die Logik und Notwendigkeit meiner Erklärung einsahen. Doch die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, waren begrenzt, sie befehligten beschränkte und verängstigte Männer, die durch die Jahre in den Lagern abgestumpft waren, ihre Methoden nicht mehr ändern konnten und mit der Lockerung der Disziplin durch das Chaos der Evakuierung in ihre alten Schwächen und Reflexe zurückfielen. Vermutlich hatte jeder seine Gründe, sich so gewalttätig aufzuführen; so hatte Darius wohl diesen Männern, die teilweise viel älter waren als er, Rückgrat und Entschlossenheit beweisen wollen. Doch ich hatte anderes zu tun, als solche Beweggründe zu analysieren, ich versuchte lediglich, unter äußerst schwierigen Umständen für die Befolgung meiner Befehle zu sorgen. Die meisten Kolonnenführer waren einfach gleichgültig, sie hatten nur eines im Sinn: sich mit dem Viehzeug, das man ihnen aufgehalst hatte, so rasch wie möglich von den Russen zu entfernen, ohne sich das Leben unnötig schwer zu machen.
Während dieser vier Tage schlief ich, wo sich eine Gelegenheit ergab, in Herbergen, bei den Bürgermeistern der Dörfer, bei anderen Einwohnern. Am 25. Januar hatte ein leichter Wind die Wolken vertrieben, der Himmel war klar und rein, strahlend, ich kehrte nach Auschwitz zurück, um zu sehen, was dort geschah. Am Bahnhof sah ich die Angehörigen einer Flakbatterie, größtenteils Hitlerjungen, die in die Luftwaffe gesteckt worden waren, Kinder, die sich auf den Abzug vorbereiteten; ihr Feldwebel teilte mir mit erschrockenen Augen und tonloser Stimme mit, die Russen befänden sich am anderen Ufer der Weichsel und in der Fabrik von IG Farben werde gekämpft. Ich wählte die Straße, die nach Birkenau führte, und stieß auf eine lange Kolonne von Häftlingen, die sich den Hang hinaufquälte, eskortiert von SS-Männern, die mehr oder minder wahllos in die Kolonne hineinschossen; hinter ihnen war die Straße bis zum Lager mit Leichen übersät. Ich hielt an und rief den Kolonnenführer zu mir, einen von Kraus’ Männern. »Was zum Teufel machen Sie da?« – »Der Sturmbannführer hat befohlen, die Abschnitte IIe und IIf zu räumen und die Häftlinge ins Stammlager zu überführen.« – »Und warum lassen Sie auf sie schießen?« Mürrisch erwiderte er: »Sonst bewegen sie sich nicht.« – »Wo ist Sturmbannführer Kraus?« – »Im Stammlager.« Ich dachte nach: »Sie sollten lieber abhauen. Die Russen sind in einigen Stunden da.« Er zögerte, dann fasste er einen Entschluss; er gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin sich die Gruppe im Laufschritt in Richtung Auschwitz I absetzte und die Häftlinge zurückließ. Ich betrachtete sie: Sie rührten sich nicht, einige sahen mich an, andere setzten sich. Ich blickte nach Birkenau hinüber, das ich von dieser Anhöhe aus in seiner ganzen Ausdehnung liegen sah: Der Abschnitt vom »Kanada« im Hintergrund stand in Flammen und schickte eine dicke schwarze Rauchsäule zum Himmel, neben der der dünne Faden aus dem Schornstein von Krema IV, das immer noch in Betrieb war, kaum auffiel. Der Schnee auf den Dächern der Baracken glänzte in der Sonne; das Lager schien verlassen, ich erblickte nicht eine einzige menschliche Gestalt, abgesehen von verstreuten Flecken auf den Wegen, offenbar Leichen, die Wachtürme standen leer, nichts regte sich. Ich stieg wieder in meinen Wagen und wendete, die Häftlinge ihrem Schicksal überlassend. Im Stammlager, wo ich vor dem Kommando eintraf, das ich auf der Straße getroffen hatte, liefen andere Angehörige des SD und der Gestapo von Kattowitz durcheinander, aufgeregt und verängstigt. Die Lagerwege waren voller bereits mit Schnee bedeckter Leichen, Müll, schmutziger Kleiderhaufen; hin und wieder sah ich einen Häftling Leichen durchsuchen oder verstohlen von einem Gebäude zum anderen schleichen, wenn er mich sah, machte er sich hastig aus dem Staub. Ich fand Kraus in der Kommandantur, deren Flure mit Papieren und Unterlagen übersät waren; er war dabei, eine Flasche Schnaps zu leeren, und rauchte eine Zigarette. Ich setzte mich zu ihm und tat es ihm nach. »Hören Sie das?«, fragte er gelassen. Im Norden und Osten dröhnten dumpf und monoton die Einschläge der russischen Artillerie. »Ihre Männer wissen nicht mehr, was sie tun«, teilte ich ihm mit und goss mir einen Schnaps ein. »Das macht nichts«, sagte er. »Ich haue gleich ab. Und Sie?« – »Ich auch, ganz bestimmt. Ist das Haus noch geöffnet?« – »Nein. Die sind gestern abgezogen.« – »Und Ihre Männer?« – »Ich lasse noch ein paar hier für die Sprengungen heute Abend oder morgen. So lange halten unsere Truppen noch die Stellung. Die anderen führe ich nach Kattowitz. Haben Sie gehört, dass der Reichsführer zum Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe ernannt worden ist?« – »Nein«, sagte ich überrascht, »das wusste ich nicht.« – »Gestern. Heeresgruppe Weichsel ist sie getauft worden, obwohl sich die Front schon an der Oder befindet, teilweise auch diesseits. Der Iwan ist auch bis zur Ostsee vorgedrungen. Ostpreußen ist vom Reich abgeschnitten.« – »Ja«, sagte ich, »keine guten Nachrichten. Vielleicht kann der Reichsführer noch etwas ausrichten.« – »Das würde mich wundern. Ich glaube, wir sind im Arsch. Was soll’s, wir kämpfen bis zuletzt.« Er goss sich den Rest der Flasche ins Glas. »Tut mir leid«, sagte ich, »den Armagnac habe ich schon alle gemacht.« – »Das macht nichts.« Er trank einen Schluck, dann blickte er mich an: »Warum legen Sie sich so ins Zeug? Für Ihre Arbeiter, meine ich. Glauben Sie wirklich, die paar Häftlinge können noch etwas ändern?« Ich zuckte die Achseln und leerte mein Glas. »Ich habe meine Befehle«, sagte ich. »Und Sie? Warum legen Sie sich so ins Zeug, diese Leute zu exekutieren?« – »Ich habe auch meine Befehle. Sie sind Feinde des Reichs, ich sehe nicht ein, dass sie davonkommen sollen, wenn unser Volk untergeht. Trotzdem lasse ich es jetzt. Wir haben keine Zeit mehr.« – »Die meisten«, sagte ich und blickte in mein leeres Glas, »machen es sowieso nur noch ein paar Tage. Sie haben ja gesehen, in welchem Zustand sie sind.« Auch er leerte sein Glas und stand auf: »Also los.« Draußen gab er seinen Männern noch einige Befehle, dann wandte er sich an mich und salutierte: »Leben Sie wohl, Obersturmbannführer. Viel Glück.« – »Ihnen auch.« Ich stieg in meinen Wagen und befahl Piontek, mich nach Gleiwitz zu fahren.
Seit dem 19. Januar fuhren von Gleiwitz täglich Züge ab, die die Häftlinge abtransportierten, sobald sie aus den näher und ferner liegenden Lagern eintrafen. Ich wusste, dass die ersten Züge nach Groß-Rosen geleitet worden waren, wo sich Baer um die Aufnahme kümmerte, aber Groß-Rosen war rasch überfüllt und lehnte es ab, noch mehr aufzunehmen; die Transporte führten jetzt durch das Protektorat und wurden von dort entweder nach Wien (in das KL Mauthausen) weitergeleitet oder nach Prag, um auf die KL des Altreichs verteilt zu werden. Als ich auf dem Bahnhof von Gleiwitz eintraf, wurde gerade ein Zug beladen. Zu meinem großen Entsetzen waren die Waggons offen und schon voller Schnee und Eis, als man die erschöpften Häftlinge mit Kolbenstößen dort hineintrieb; es gab weder Wasser noch Verpflegung noch Toiletteneimer. Ich wandte mich an die Häftlinge: Sie kamen aus Neu-Dachs und hatten seit dem Abmarsch aus dem Lager noch nichts zu essen bekommen; einige seit vier Tagen nicht. Fassungslos starrte ich die gespenstischen Skelette an, die, in durchnässte und gefrorene Decken gehüllt, dicht aneinandergedrängt in den Waggons voller Schnee standen. »Wer hat hier das Kommando?«, herrschte ich eine der Wachen an. Der Mann zuckte wütend mit den Achseln: »Keine Ahnung, Obersturmbannführer. Uns hat man nur befohlen, sie in den Zug zu schaffen.« Ich betrat das Hauptgebäude und verlangte den Bahnhofsvorsteher zu sprechen, einen großen mageren Mann mit Hitlerbärtchen und runder Nickelbrille: »Wer ist für diese Züge verantwortlich?« Er wies mit der roten Fahne, die er zusammengerollt in der Hand hielt, auf meine Rangabzeichen: »Sind Sie das nicht, Herr Offizier? Auf jeden Fall, glaube ich, ist es die SS.« – »Wer genau? Wer stellt die Transporte zusammen? Wer stellt die Waggons bereit?« – »Eigentlich«, erwiderte er und steckte sich die Fahne unter den Arm, »die Reichsbahndirektion von Kattowitz. Doch für diese Sonderzüge haben sie uns einen Amtsrat geschickt.« Er zog mich aus dem Bahnhof hinaus und zeigte mir ein Stück weiter unten am Gleis eine Baracke. »Da hat er sich eingerichtet.« Ich ging hin und trat ein, ohne anzuklopfen. Ein Mann in Zivil, fett, unrasiert, saß zusammengesunken hinter einem Schreibtisch voller Papiere. Zwei Eisenbahner wärmten sich an einem Ofen. »Sind Sie der Amtsrat aus Kattowitz?«, fuhr ich ihn an. Er hob den Kopf: »Das bin ich, der Amtsrat aus Kattowitz. Kehrling, zu Ihren Diensten.« Eine unerträgliche Schnapsfahne schlug mir aus seinem Mund entgegen. Ich wies auf die Gleise: »Sind Sie für diese Schweinerei verantwortlich?« – »Was für eine Schweinerei meinen Sie genau? Davon haben wir nämlich im Augenblick eine ganze Menge.« Mühsam bezähmte ich mich: »Die Züge, die offenen Güterwagen für die KL-Häftlinge.« – »Ach, die Schweinerei. Nein, das sind Ihre Kameraden. Ich stelle die Züge zusammen, das ist alles.« – »Dann sind Sie also für diese Waggons verantwortlich.« Er wühlte in seinen Papieren. »Ich werde es Ihnen erklären. Setzen Sie sich, mein Lieber. Hier. Diese Sonderzüge werden von der Generalbetriebsleitung Ost in Berlin eingesetzt. Die Waggons müssen wir an Ort und Stelle besorgen, aus dem verfügbaren rollenden Material. Aber Sie haben vielleicht bemerkt«, er wies nach draußen, »dass es hier zurzeit ein ziemlicher Saustall ist. Die offenen Wagen sind die einzigen, die noch da sind. Der Gauleiter hat alle geschlossenen Waggons für die Evakuierung der Zivilpersonen oder Wehrmachtsangehörigen beschlagnahmt. Wenn Sie nicht zufrieden sind, decken Sie sie doch mit einer Plane ab.« Ich hatte mir seine Erklärung stehend angehört: »Und wo soll ich Planen herbekommen?« – »Nicht mein Problem.« – »Könnten Sie die Waggons nicht wenigstens säubern lassen!« Er seufzte: »Hören Sie, mein Lieber, im Augenblick muss ich zwanzig, fünfundzwanzig Sonderzüge pro Tag zusammenstellen. Meine Männer haben kaum die Zeit, die Waggons anzukoppeln.« – »Und die Verpflegung?« – »Nicht meine Aufgabe. Aber wenn es Sie interessiert, da gibt es irgendwo einen Obersturmführer, der sich um das alles kümmern soll.« Ich ging hinaus und knallte die Tür zu. Bei den Zügen stieß ich auf einen Oberwachtmeister der Schutzpolizei: »Ah ja, ich habe einen Obersturmführer gesehen, der hier rumkommandiert hat. Der ist bestimmt von der Sipo.« In der Dienststelle wurde mir mitgeteilt, dass es tatsächlich einen Obersturmführer aus Auschwitz gebe, der die Evakuierung der Häftlinge koordiniere, der aber jetzt zum Essen sei. Ich ließ nach ihm schicken. Als er verärgert kam, zeigte ich ihm Schmausers Befehle und stauchte ihn wegen des Zustands der Transporte zusammen. Er hatte Haltung angenommen und hörte mich, rot wie eine Tomate, an; als ich fertig war, stammelte er: »Hören Sie, Obersturmbannführer, es ist nicht meine Schuld, Obersturmbannführer. Ich habe nichts, überhaupt keine Mittel. Die Reichsbahn verweigert mir geschlossene Waggons, Verpflegung gibt es nicht, gar nichts. Ständig wird bei mir angefragt, warum die Züge nicht schneller abgefertigt werden. Ich tue mein Bestes.« – »Was denn, gibt es etwa in ganz Gleiwitz keine Lebensmittelvorräte, die Sie beschlagnahmen können? Keine Planen? Keine Schaufeln, um die Waggons zu säubern? Diese Häftlinge sind ein Aktivposten des Reichs, Obersturmführer! Bringt man den SS-Offizieren nicht mehr bei, Eigeninitiative zu entwickeln?« – »Ich weiß nicht, Obersturmbannführer. Ich kann mich erkundigen.« Ich zog die Augenbrauen hoch: »Na, dann erkundigen Sie sich mal. Ich erwarte morgen anständige Transportbedingungen. Verstanden?« – »Zu Befehl, Obersturmbannführer.« Er grüßte und ging. Ich setzte mich und ließ mir von einer Ordonnanz Tee bringen. Während ich in die heiße Tasse blies, kam ein Spieß herein: »Entschuldigen Sie, Obersturmbannführer. Sind Sie vom Stab des Reichsführers?« – »Ja.« – »Da sind zwei Herren von der Kripo, die nach einem Obersturmbannführer vom Persönlichen Stab fragen. Das sind Sie dann ja wohl?« Ich folgte ihm, und er ließ mich in ein Dienstzimmer eintreten: Clemens stützte sich mit beiden Ellenbogen auf einen Tisch; Weser hockte, die Hände in den Taschen, auf einem Stuhl, den er gegen die Wand gekippt hatte. Ich lächelte und lehnte mich an den Türrahmen, die dampfende Teetasse noch immer in der Hand. »Schau an«, sagte ich, »alte Freunde. Welch schöner Zufall führt Sie hierher?« Clemens richtete einen dicken Finger auf mich: »Sie, Aue. Sie suchen wir.« Immer noch lächelnd, tippte ich auf meinen Kragenspiegel: »Haben Sie meinen Dienstgrad vergessen, Kriminalkommissar?« – »Wir pfeifen auf Ihren Dienstgrad«, knurrte Clemens. »Sie verdienen ihn nicht.« Zum ersten Mal mischte sich Weser ein: »Als Sie die Mitteilung von Richter Rabingen erhielten, haben Sie sicher gedacht: Das war’s, die Sache ist erledigt, nicht wahr?« – »Genau so habe ich das verstanden. Wenn ich mich nicht täusche, hält man Ihre Ermittlungsakte für höchst schludrig.« Clemens zuckte die Achseln: »Die Richter wissen auch nicht mehr, was sie wollen. Aber das heißt nicht, dass sie Recht haben.« – »Pech für Sie«, sagte ich leichthin, »Sie stehen nun einmal im Dienst der Justiz.« – »Genau«, grunzte Clemens, »wir dienen der Justiz. Aber damit dürften wir ziemlich allein stehen.« – »Und um mir das zu sagen, haben Sie die lange Reise nach Schlesien unternommen? Ich fühle mich geschmeichelt.« – »Nicht ganz«, sagte Weser und ließ seinen Stuhl nach vorn kippen. »Sehen Sie, wir haben einen Gedanken gehabt.« – »Mal was ganz Neues«, sagte ich und hob die Tasse an meine Lippen. »Ich will es Ihnen sagen, Aue. Ihre Schwester hat uns gesagt, dass sie kurz vor dem Mord in Berlin war und sich mit Ihnen getroffen hat. Dass sie im Kaiserhof gewohnt hat. Also sind wir in den Kaiserhof gegangen. Da ist der Freiherr von Üxküll gut bekannt, ein Stammgast des Hotels mit festen Gewohnheiten. An der Rezeption hat sich einer der Angestellten erinnert, dass einige Tage nach Üxkülls Abreise ein SS-Offizier erschienen ist, der ein Telegramm an Frau von Üxküll geschickt hat. Und sehen Sie, wenn Sie ein Telegramm von einem Hotel abschicken, wird es in einem Verzeichnis festgehalten. Jedes Telegramm bekommt eine Nummer. Und in der Post bewahren sie eine Kopie des Telegramms auf. Drei Jahre lang, das ist gesetzlich vorgeschrieben.« Er zog einen Zettel aus der Innentasche seines Mantels und entfaltete ihn. »Erkennen Sie das, Aue?« Ich lächelte noch immer. »Die Untersuchung ist abgeschlossen, meine Herren.« – »Sie haben uns angelogen, Aue!«, donnerte Clemens. »Genau, und es gehört sich nicht, die Polizei anzulügen«, pflichtete ihm Weser bei. In aller Ruhe trank ich meinen Tee aus, nickte ihnen höflich zu, wünschte ihnen noch einen schönen Tag und schloss die Tür hinter ihnen.
Draußen hatte wieder ein heftiges Schneetreiben eingesetzt. Ich kehrte zum Bahnhof zurück. Eine große Schar Häftlinge wartete auf einem unbebauten Grundstück, saß, den Windböen ausgeliefert, in Schnee und Schlamm. Ich versuchte, ihnen Zutritt zum Bahnhof zu verschaffen, aber der Wartesaal war von Wehrmachtssoldaten belegt. Piontek und ich schliefen völlig erschöpft im Wagen. Am nächsten Morgen war das unbebaute Grundstück, abgesehen von einigen Dutzend eingeschneiten Leichen, leer. Ich suchte den Obersturmführer vom Vortag, ich wollte sehen, ob er meine Befehle befolgte, doch die grenzenlose Nutzlosigkeit des Ganzen deprimierte mich und lähmte mich in meiner Tatkraft. Mittags stand mein Entschluss fest. Ich befahl Piontek, Benzin zu besorgen, und setzte mich über die Sipo mit Elias und Darius in Verbindung. Am frühen Nachmittag war ich auf dem Weg nach Berlin.
Die Kämpfe zwangen uns zu einem beträchtlichen Umweg, über Ostrau, dann Prag und Dresden. Piontek und ich wechselten uns beim Fahren ab, wir brauchten zwei Tage. Einige Dutzend Kilometer vor Berlin mussten wir uns einen Weg durch die Flüchtlingsströme aus dem Osten bahnen, die Goebbels zur Umgehung der Stadt zwang. Im Zentrum stand von der Außenstelle des Innenministeriums, in dem sich meine Dienststelle befunden hatte, nur noch ein ausgeweidetes Skelett. Es regnete, ein kalter, unangenehmer Regen, der die noch festen Schneebretter auf den Trümmern aufweichte. Die Straßen waren schmutzig und schlammig. Endlich fand ich Grothmann, der mir mitteilte, dass Brandt sich mit dem Reichsführer in Deutsch Krone, in Pommern, aufhielt. Daraufhin fuhr ich nach Oranienburg, wo meine Dienststelle funktionierte wie eh und je – wie abgelöst von der Welt. Asbach berichtete, dass Fräulein Praxa bei einem Fliegerangriff Verbrennungen an Arm und Brust erlitten und er sie in ein Krankenhaus in Franken habe bringen lassen. Elias und Darius hatten sich nach dem Fall von Kattowitz nach Breslau zurückgezogen und warteten auf Befehle: Ich beorderte sie zurück. Bei Durchsicht meiner Post, die seit der Verwundung von Fräulein Praxa niemand angerührt hatte, stieß ich neben offiziellen Schreiben auch auf einen privaten Brief: Ich erkannte Helenes Schrift. Lieber Max, schrieb sie, unser Haus ist getroffen worden, und ich muß Berlin verlassen. Ich bin verzweifelt, ich weiß nicht, wo Sie sind, Ihre Kameraden wollen mir nichts sagen. Ich fahre zu meinen Eltern nach Baden. Schreiben Sie mir. Wenn Sie möchten, komme ich nach Berlin zurück. Noch ist nicht alles verloren. Ihre Helene. Das war fast eine Liebeserklärung, aber ich verstand nicht, was sie mit dem Noch ist nicht alles verloren sagen wollte. Rasch schrieb ich ihr an die angegebene Adresse, um ihr mitzuteilen, dass ich zurück sei, es aber im Augenblick besser sei, wenn sie in Baden bleibe.
Zwei Tage widmete ich einem sehr kritischen Bericht über die Evakuierung. Ich sprach auch persönlich mit Pohl darüber, der meine Argumente aber leichthin abtat: »Auf jeden Fall«, sagte er, »haben wir gar keinen Platz mehr, sie unterzubringen, alle Lager sind voll.« In Berlin war ich Thomas begegnet; Schellenberg war fort, Thomas gab keine Feste mehr und schien missgelaunt zu sein. Er hielt die Leistung des Reichsführers als Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe für ziemlich kläglich; er schloss nicht mehr aus, dass Bormann die Ernennung inszeniert hatte, um Himmler in Misskredit zu bringen. Doch diese schwachsinnigen Spielchen um fünf nach zwölf interessierten mich nicht mehr. Ich litt wieder unter Übelkeit, meine Brechanfälle waren zurückgekehrt, sie überfielen mich vor der Schreibmaschine. Als ich hörte, dass sich Morgen ebenfalls in Oranienburg aufhielt, suchte ich ihn auf und erzählte ihm von der unverständlichen Verbohrtheit der beiden Kriminalbeamten. »Tatsächlich«, sagte er nachdenklich, »das ist merkwürdig. Sie scheinen Sie aus ganz persönlichen Gründen auf dem Kieker zu haben. Ich habe die Akte gesehen, da gibt es nichts Konkretes. Das könnte einer dieser Asozialen gewesen sein, ein verkommenes Subjekt, vieles wäre denkbar, aber Sie? Das erscheint mir grotesk.« – »Vielleicht so etwas wie Klassenneid«, überlegte ich. »Man könnte meinen, sie wollten mich um jeden Preis erniedrigen.« – »Ja, das ist möglich. Sie sind ein gebildeter Mensch, es gibt beim Abschaum der Partei große Vorurteile gegen die Intellektuellen. Hören Sie, ich spreche mit Rabingen darüber. Er soll den beiden eine offizielle Abmahnung schicken. Die dürfen sich nicht über die Entscheidung eines Richters hinwegsetzen und ihre Ermittlungen einfach fortführen.«
Mittags fanden wir uns vor dem Radio ein, um anlässlich des zwölften (und, wie sich herausstellen sollte, letzten) Jahrestags der Machtergreifung einer Rede des Führers zu lauschen. Ich hörte nicht sehr aufmerksam zu, dort in der Offiziersmesse von Oranienburg, ich erinnere mich nicht mehr, wovon er sprach, wahrscheinlich wieder von den bolschewistischen Horden und Ähnlichem; besonders verblüffend fand ich die Reaktion der anwesenden SS-Offiziere: Nur ein Teil von ihnen stand auf und reckte den rechten Arm empor, als zum Schluss die Nationalhymne ertönte, eine Nachlässigkeit, die noch einige Monate zuvor undenkbar und unverzeihlich gewesen wäre. Am selben Tag torpedierte ein sowjetisches U-Boot vor Danzig die Wilhelm Gustloff, das Flaggschiff der Ley’schen »Kraft durch Freude«-Flotte, das mehr als achttausend Flüchtlinge an Bord hatte, die Hälfte davon Kinder. Es gab fast keine Überlebenden. Am Tag nach meiner Ankunft in Berlin erreichten die Russen die Oder und überquerten sie fast nebenbei, um einen großen Brückenkopf zwischen Küstrin und Frankfurt zu bilden. Ich erbrach fast all meine Mahlzeiten und hatte Angst, dass das Fieber zurückkäme.
Anfang Februar tauchten die Amerikaner wieder am helllichten Tag über Berlin auf. Trotz der Verbote quoll die Stadt über von verzweifelten und aggressiven Flüchtlingen, die sich in den Ruinen einrichteten und Lager und Geschäfte plünderten, ohne dass die Polizei viel ausrichten konnte. Es war so gegen elf, ich hielt mich gerade bei der Gestapo auf; mit den wenigen Offizieren, die dort noch arbeiteten, ging ich zum Luftschutzbunker im Garten, an der Grenze zum verwüsteten Park des Prinz-Albrecht-Palais, das nur noch eine leere Schale ohne Dach war. Dieser nicht einmal unterirdisch gelegene Bunker war im Grunde nur ein langer Gang aus Beton und machte mir keinen sehr vertrauenerweckenden Eindruck, aber ich hatte keine Wahl. Außer den Gestapo-Offizieren wurden noch einige Gefangene hineingelassen, unrasierte Männer mit Ketten an den Füßen, die aus benachbarten Zellen geholt worden sein mussten: Ich erkannte einige von ihnen, Juli-Verschwörer, deren Gesichter ich in der Zeitung oder der Wochenschau gesehen hatte. Der Angriff war ungeheuer heftig; der kompakte Bunker mit seinen Mauern von mehr als einem Meter Stärke schwankte von einer Seite zur anderen wie ein Schilfrohr im Wind. Ich hatte das Gefühl, mich im Zentrum eines Orkans zu befinden, eines ungeheuren Aufruhrs nicht der Elemente, sondern eines reinen, ungezähmten Lärms, des geballten Lärms einer entfesselten Welt. Der Druck der Explosionen lastete schmerzhaft auf dem Trommelfell, ich hörte nichts mehr und hatte Angst, dass es reißen würde, so weh tat es mir. Ich wollte weggefegt, zerschmettert werden, ich konnte es nicht mehr ertragen. Die Gefangenen, die sich nicht hatten setzen dürfen, lagen am Boden, meist zusammengerollt. Dann war mir, als ob ich von einer Riesenhand hochgehoben und fortgeschleudert würde. Als ich die Augen wieder öffnete, schwebten mehrere Gesichter über mir. Sie schienen zu schreien, ich verstand nicht, was sie wollten. Ich schüttelte den Kopf, spürte aber, dass mehrere Hände ihn ergriffen und mich zwangen, ihn still zu halten. Nach dem Alarm wurde ich hinausgeführt. Thomas stützte mich. Obwohl wir Mittag hatten, war der Himmel schwarz von Rauch, Flammen leckten aus den Fenstern des Gestapo-Gebäudes, im Park brannten Bäume wie Fackeln, die ganze Hinterwand des Palais war eingestürzt. Thomas setzte mich auf die Reste einer pulverisierten Bank. Ich fasste mir ins Gesicht: Das Blut lief mir über die Wange. Meine Ohren dröhnten, aber ich nahm Geräusche wahr. Thomas kam zu mir zurück: »Hörst du mich?« Ich nickte; trotz der schrecklichen Ohrenschmerzen verstand ich, was er sagte. »Beweg dich nicht. Du hast einen scheußlichen Schlag abgekriegt.« Etwas später wurde ich in einen Opel verfrachtet. Auf dem Askanischen Platz brannten verbogene Autos und Lastwagen, der Anhalter Bahnhof schien in sich zusammengefaltet zu sein und spie schwarzen, beißenden Rauch aus, das Europahaus und die benachbarten Gebäude standen ebenfalls in Flammen. Vergeblich kämpften Soldaten und Hilfskräfte, schwarz von Rauch, gegen die Brände. Ich wurde in die Kurfürstenstraße, in Eichmanns Dienststelle, gefahren, die noch stand. Dort wurde ich mit anderen Verwundeten auf einen Tisch gelegt. Der Sturmbannarzt, den ich kannte, kam, aber ich hatte seinen Namen erneut vergessen: »Sie schon wieder«, sagte er liebenswürdig. Thomas berichtete ihm, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand des Bunkers geschleudert worden und zwanzig Minuten lang ohne Bewusstsein gewesen sei. Der Arzt ließ mich die Zunge herausstrecken und leuchtete mir mit einem grellen Licht in die Augen. »Sie haben eine Gehirnerschütterung«, sagte er. Er wandte sich an Thomas: »Sorgen Sie dafür, dass sein Kopf geröntgt wird. Wenn er keinen Schädelbruch hat, drei Wochen Ruhe.« Er kritzelte etwas auf einen Zettel, gab ihn Thomas und verschwand. Thomas sagte: »Ich suche dir ein Krankenhaus für die Röntgenaufnahme. Wenn sie dich nicht dabehalten, kannst du dich bei mir zu Hause erholen. Ich kümmere mich um Grothmann.« Ich lachte: »Und wenn du kein Zuhause mehr hast?« Er zuckte die Achseln: »Dann kommst du hierher.«
Ich hatte keinen Schädelbruch, und Thomas hatte noch immer ein Zuhause. Abends kam er zurück und drückte mir ein unterschriebenes und abgestempeltes Blatt Papier in die Hand: »Dein Urlaub. Du solltest Berlin lieber verlassen.« Ich hatte Kopfschmerzen und schlürfte Kognak mit Soda. »Und wohin?« – »Keine Ahnung. Wie wär’s bei deiner kleinen Freundin in Baden?« – »Die Amerikaner könnten vor mir da sein.« – »Das stimmt. Nimm sie mit nach Bayern oder Österreich. Such dir ein kleines Hotel, das wird ein romantischer Urlaub. Ich würde ihn nutzen, wenn ich du wäre. Gut möglich, dass du so bald keinen mehr kriegst.« Er zog eine Bilanz des Fliegerangriffs: Die Räume der Gestapo-Dienststelle waren nicht mehr zu benutzen, die alte Reichskanzlei war zerstört, die neue, die von Speer, stark beschädigt, sogar die privaten Wohnräume des Führers hatten gebrannt. Eine Bombe hatte den Volksgerichtshof während einer Verhandlung getroffen, angeklagt war Oberleutnant von Schlabrendorff, einer der Verschwörer aus dem Stab der Heeresgruppe Mitte; nach dem Angriff fand man den Richter Freisler mausetot, die Akte Schlabrendorff noch in der Hand haltend, den Kopf, wie es hieß, von der bronzenen Führerbüste zerschmettert, die bei seinen leidenschaftlich gehaltenen Plädoyers hinter ihm thronte.
Verreisen schien eine gute Idee zu sein, aber wohin? Baden, ein romantischer Urlaub, kam nicht in Frage. Thomas wollte seine Eltern aus einem Vorort von Wien fortbringen und schlug mir vor, sie an seiner Stelle auf den Hof eines Vetters zu fahren. »Du hast Eltern?« Er sah mich verdutzt an: »Natürlich. Jeder hat Eltern. Warum?« Aber Wien schien mir schrecklich kompliziert für einen Genesungsurlaub zu sein, und Thomas pflichtete mir sofort bei. »Mach dir keine Gedanken. Ich kann das schon regeln. Erhol dich irgendwo anders.« Ich hatte noch immer keine Idee; trotzdem ließ ich Piontek ausrichten, er solle mich, mit mehreren Kanistern Benzin versehen, am nächsten Morgen abholen. In dieser Nacht schlief ich wenig, ich hatte Kopf- und Ohrenschmerzen, die mich immer wieder weckten, zweimal übergab ich mich, aber da war noch etwas anderes. Als Piontek erschien, nahm ich meinen Urlaubsschein – der unbedingt erforderlich war, um die Kontrollposten zu passieren –, die Flasche Kognak und die vier Zigarettenpäckchen, die mir Thomas geschenkt hatte, den Kleidersack mit meinen Sachen und Kleidung zum Wechseln und ließ Piontek, ohne ihm auch nur einen Kaffee angeboten zu haben, abfahren. »Wohin fahren wir, Obersturmbannführer?« – »Nehmen Sie die Straße nach Stettin.«
Ich bin mir sicher, ich hatte es gesagt, ohne zu überlegen; aber nachdem ich es gesagt hatte, schien mir klar zu sein, dass es nichts anderes hätte sein können. Wir mussten komplizierte Umwege machen, um die Autobahn zu erreichen; Piontek, der die Nacht in der Fahrbereitschaft verbracht hatte, erklärte mir, Moabit und der Wedding seien dem Erdboden gleichgemacht worden und Scharen von Berlinern hätten sich dem Strom der Flüchtlinge aus dem Osten angeschlossen. Auf der Autobahn zog sich die Schlange von Pferdekarren, die meisten mit behelfsmäßigen weißen Planen, unter denen sich die Menschen vor dem Schnee und der schneidenden Kälte zu schützen suchten, endlos hin, die Pferde mit ihren Köpfen am Wagenheck vor ihnen, von Schupos und Feldgendarmen auf die rechte Seite gedrängt, damit die Kolonnen der Militärfahrzeuge auf ihrem Weg zur Front passieren konnten. Wenn eine Schturmowik auftauchte, brach Panik aus, die Menschen sprangen von den Fuhrwerken und flüchteten in die verschneiten Felder, während der Sturmvogel über die Kolonne strich und die Nachzügler mit Feuerstößen aus seinen Bordwaffen niedermähte, die Köpfe und Bäuche der in wilden Schrecken versetzten Pferde zerfetzte, die Matratzen und Karren in Brand schoss. Nach einem dieser Angriffe kam ich zu meinem Wagen zurück, er hatte mehrere Treffer erhalten, die Türen waren durchlöchert, die Heckscheibe zersplittert; zum Glück hatte der Motor nichts abbekommen und der Kognak auch nicht. Ich reichte Piontek die Flasche und nahm selbst einen Schluck, und wir fuhren wieder an, inmitten der Schreie der Verwundeten und des Gebrülls der entsetzten Zivilisten. In Stettin überquerten wir die Oder, die Kriegsmarine hatte ihr frühzeitiges Auftauen mit Dynamit und Eisbrechern beschleunigt; wir umfuhren dann den Madüsee im Norden, durchquerten Stargard, das von Männern der Waffen-SS mit schwarz-gelb-roten Ärmelabzeichen besetzt war, also Degrelles Männern. Wir setzten unseren Weg auf der großen Straße nach Osten fort, ich wies Piontek mit einer Karte den Weg, da ich noch nie in dieser Gegend gewesen war. Die überfüllte Straße führte erst an hügeligen Feldern entlang, die mit sauberem Schnee bedeckt waren, unberührt und kristallen, dann an Birkenwäldern oder düsteren, dunklen Kiefernbeständen. Hier und da ein einsamer Hof, lange gedrungene Gebäude, die sich unter ihre schneebedeckten Strohdächer duckten. Die kleinen Dörfer aus roten Ziegelbauten, grauen Spitzdächern und nüchternen protestantischen Kirchen wirkten erstaunlich ruhig mit den Bewohnern, die ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Hinter Wangerin blickten wir auf kalte graue Seen, bei denen nur die Uferzonen gefroren waren. Wir fuhren durch Dramburg und Falkenburg; in Tempelburg, einer Kleinstadt am Südufer des Dratzigsees, wies ich Piontek an, die Autobahn zu verlassen und Richtung Norden zu fahren, auf der Straße nach Bad Polzin. Nach einer langen geraden Strecke durch weite Felder zwischen Tannenwäldern, die den See verbargen, führte die Straße über eine steile, von Bäumen gekrönte Landenge, die den Dratzig- und den kleineren Sarebensee wie eine Messerklinge trennt. Unten erstreckte sich in einer langen Krümmung zwischen den beiden Seen ein kleines Dorf, Alt Draheim, stufenförmig angeordnet um einen quadratischen massiven Steinblock, den Ruinen einer alten Burg. Jenseits des Dorfes bedeckte ein Kiefernwald das Nordufer des Sarebensees. Ich ließ halten und fragte einen Bauern nach dem Weg, der ihn uns fast ohne eine Handbewegung beschrieb: noch ungefähr zwei Kilometer, dann rechts. »Sie können die Abzweigung gar nicht verfehlen«, sagte er. »Da ist eine große Birkenallee.« Trotzdem wäre Piontek fast an ihr vorbeigefahren. Die Allee führte durch ein kleines Wäldchen, bog dann nach rechts ab, durch ein schönes offenes Gelände, eine lange freie Strecke zwischen zwei hohen Vorhängen aus nackten blassen Birken, still und heiter inmitten der weißen, jungfräulichen Fläche. Das Haus lag am Ende der Allee.