Das Wetter wurde milder; bald würde man baden können, aber das Wasser war noch kalt. Man ahnte den Frühling in der Luft, alle erwarteten ihn ungeduldig. In Liwadija besichtigte ich mit Partenau den Sommerpalast Nikolaus’ II.; das Gebäude war während der Kämpfe abgebrannt, aber mit seinen regelmäßigen und asymmetrischen Fassaden und seinen schönen Höfen in florentinischem und arabischem Stil immer noch eindrucksvoll anzusehen. Von dort aus erklommen wir den sonnenbeschienenen Weg, der inmitten von Bäumen auf das Oreanda überragende Vorgebirge führt; von dort aus hat man einen herrlichen Blick auf die Küste, die hohen, noch schneebedeckten Berge, die die Straße nach Sewastopol beherrschen, und dahinter, ganz unten, das elegante Bauwerk aus dem weißen Granit der Krim, von dem wir aufgebrochen waren, noch rauchgeschwärzt, aber in der Sonne erstrahlend. Der Tag kündigte sich prachtvoll an, nach dem Aufstieg zur Klippe waren wir schweißgebadet, und ich zog meine Jacke aus. Etwas weiter im Westen sah man ein Bauwerk, das hoch oben auf den Klippen eines Kaps thronte, das Schwalbennest, eine mittelalterliche Fantasie, die dort ein deutscher Baron, ein Ölmagnat, kurz vor der Revolution errichtet hatte. Ich schlug Partenau vor, bis zu diesem Turm zu gehen; er war einverstanden. Ich schlug einen Weg ein, der an den Klippen entlangführte. Unten schlug das Meer geräuschlos gegen die Felsen; über unseren Köpfen glänzte die Sonne auf den Schneekuppen der schroffen Gipfel. Der aromatische Duft von Pinien und Heidekraut erfüllte die Luft. »Weißt du«, sagte er plötzlich, »ich habe das Buch durch, das du mir geliehen hast.« Wir duzten uns seit einigen Tagen. »Es war sehr interessant. Natürlich wusste ich, dass die Griechen andersrum waren, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie eine solche Ideologie daraus gemacht haben.« – »Darüber haben sie im Laufe der Jahrhunderte intensiv nachgedacht. Das geht weit über die einfache sexuelle Aktivität hinaus. Für sie war es eine Lebens- und Organisationsform, die alles betraf: Freundschaft, Erziehung, Philosophie, Politik, sogar das Kriegshandwerk.« Ich hielt inne; schweigend setzten wir unseren Weg fort, die Jacken hatten wir uns über die Schulter geworfen. Dann fing Partenau wieder an: »Als ich klein war, habe ich im Religionsunterricht gelernt, dass es etwas ganz Abscheuliches, Verwerfliches ist. Auch mein Vater hat mit mir darüber geredet, er sagte, die Homosexuellen kämen in die Hölle. Ich erinnere mich noch an eine Stelle bei Paulus, die er zitierte: Desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben … Deswegen hat Gott sie dahingegeben … Ich habe es neulich Abend in der Bibel nachgelesen.« – »Ja, aber erinnere dich, dass nach Platon in dieser Hinsicht nichts absolut ist: Keine Handlung ist an sich selbst schön oder verwerflich. Ich will dir sagen, was ich denke: Das christliche Vorurteil, das christliche Verbot ist ein jüdischer Aberglaube. Paulus, der eigentlich Saulus hieß, war ein jüdischer Rabbiner, der dieses Verbot nicht übertreten konnte, wie so viele andere nicht. Es hat einen konkreten Ursprung: Die Juden lebten umgeben von heidnischen Stämmen, darunter auch viele, deren Priester bei bestimmten religiösen Zeremonien eine rituelle Homosexualität praktizierten. Das kam sehr häufig vor. Herodot berichtet dergleichen von den Skythen, die erst diese Region und dann die ganze ukrainische Steppe besiedelten. Die Enareer, Nachkommen der Skythen, hätten den Tempel von Askalon geplündert, woraufhin die Göttin sie mit einem Frauenleiden geschlagen habe. Laut Herodot waren das Seher, die sich wie Frauen betrugen; er nennt sie auch die Androgynoi, die Mannfrauen, die jeden Monat ihre Regel bekamen. Offenbar handelt es sich um schamanische Praktiken, die Herodot nicht ganz verstanden hatte. Ich habe gehört, Ähnliches könne man noch in Neapel sehen, wo man bei heidnischen Zeremonien einen jungen Mann von einer Puppe entbindet. Bedenke auch, dass die Skythen die Vorfahren der Goten waren, die hier auf der Krim lebten, bevor sie nach Westen wanderten. Ob es dem Reichsführer nun gefällt oder nicht, es gibt gute Gründe für die Annahme, dass auch die Goten homosexuelle Praktiken kannten, bevor sie von den judaisierten Pfaffen verdorben wurden.« – »Das wusste ich nicht. Trotzdem, unsere Weltanschauung verurteilt die Homosexualität. Bei der Hitlerjugend wurden uns Vorträge darüber gehalten, und in der SS lehrt man uns, dass es ein Verbrechen gegen die Volksgemeinschaft ist.« – »Ich glaube, was du da beschreibst, ist ein Beispiel für einen halb verstandenen Nationalsozialismus oder einen, der andere Interessen verschleiern soll. Die Ansichten des Reichsführers zu diesem Thema sind mir wohlbekannt; aber der Reichsführer kommt, wie du, aus einem sehr engstirnigen katholischen Milieu; trotz der Lauterkeit seiner nationalsozialistischen Gesinnung hat er sich von einigen seiner katholischen Vorurteile nicht befreien können, und so wirft er Dinge in einen Topf, die nicht zusammengehören. Und du weißt wohl, wenn ich katholisch sage, meine ich jüdisch, jüdische Gesinnung. Richtig verstanden, gibt es nichts in unserer Weltanschauung, was gegen die Männerliebe spricht. Ganz im Gegenteil, und ich kann es dir beweisen. Du hast vielleicht bemerkt, dass sich der Führer selbst nie zu der Frage geäußert hat.« – »Trotzdem, nach dem 30. Juni hat er Röhm und die anderen wegen ihrer widernatürlichen Praktiken entschieden verurteilt.« – »Für unsere deutschen Spießer, die vor allem Angst haben, war das ein gewichtiges Argument, das wusste der Führer genau. Aber was du vielleicht nicht weißt – vor dem 30. Juni hat der Führer Röhms Verhalten immer verteidigt; aus den Reihen der Partei gab es viele Kritiker, aber der Führer weigerte sich, auf sie zu hören, er hielt den Lästermäulern entgegen, dass die Partei kein Internat für höhere Töchter, sondern eine Kampforganisation sei.« Partenau lachte schallend. »Nach dem 30. Juni«, fuhr ich fort, »als sich herausstellte, dass viele von Röhms Komplizen, wie Heines zum Beispiel, auch seine Liebhaber waren, befürchtete der Führer, die Homosexuellen könnten einen Staat im Staate bilden, eine Geheimorganisation wie die Juden, die ihre eigenen Interessen verfolgen könnte und nicht die des Volkes, einen ›Orden des dritten Geschlechts‹, so wie es einen Schwarzen Orden gibt. Das ist der Grund der Verunglimpfungen. Aber das ist ein politisches und kein ideologisches Problem. Von einem wirklich nationalsozialistischen Standpunkt könnte man die brüderliche Liebe ganz im Gegenteil als das wahre Bindemittel einer kriegerischen und schöpferischen Volksgemeinschaft betrachten. Auf seine Weise dachte Platon genauso. Erinnerst du dich an die Rede des Pausanias, wo er die anderen Völker kritisiert, die, wie etwa die Juden, die Männerliebe ablehnten: Denn die Barbaren halten dies … für schimpflich, und ebenso das Streben nach Ausbildung des Geistes und Körpers … Wo es daher die Satzung als schimpflich festgestellt hat, dem Liebhaber zu Willen zu sein, da liegt dies an der niedrigen Gesinnung derer, bei denen sie es festgestellt hat, nämlich an dem Eigennutz der Herrscher und der Feigheit der Beherrschten. Ich habe übrigens einen französischen Freund, der Platon für den ersten echten faschistischen Autor hält.« – »Ja, aber trotzdem! Die Homosexuellen sind effeminiert, Mannfrauen, wie du gesagt hast. Wie soll ein Staat Männer dulden, die ihm nicht als Soldaten dienen können?« – »Da täuschst du dich. Du gehst von einer falschen Vorstellung aus, wenn du dem männlichen Soldaten den effiminierten Homosexuellen gegenüberstellst. Den Typus gibt es natürlich, aber er ist ein modernes Produkt der Verderbtheit und Degeneriertheit unserer Städte: Juden oder verjudetes Pack, das sich aus den Klauen der Priester und Pfaffen nicht befreit hat. In der Geschichte haben die besten Soldaten, die Elitesoldaten, immer andere Männer geliebt. Sie hatten Frauen, die ihnen das Haus besorgten und denen sie Kinder machten, aber ihre Gefühle behielten sie ihren Kameraden vor. Nimm Alexander! Und Friedrich den Großen, selbst wenn man es bei ihm nicht wahrhaben will, es ist das Gleiche. Die Griechen haben sogar ein militärisches Prinzip daraus abgeleitet: In Theben hat man die Heilige Schar gegründet, eine Einheit aus dreihundert Mann, die als die beste Elitetruppe ihrer Zeit galt. Gekämpft wurde paarweise, jeder an der Seite seines Freundes; wenn der Liebhaber alt wurde und ausschied, wurde sein Geliebter der Liebhaber eines jüngeren Mannes. So spornten sie gegenseitig ihren Mut an, bis sie unbesiegbar wurden; vor dem Freund hätte keiner von beiden gewagt, dem Feind den Rücken zuzuwenden und zu fliehen; in der Schlacht trieben sie sich gegenseitig zu Heldentaten an. Bei Chaironea kämpften sie gegen die Makedonier, bis auch ihr letzter Mann niedergemacht war: ein erhebendes Beispiel für unsere Waffen-SS. Ähnliche Verhältnisse herrschten in unseren Freikorps; alle alten Kämpfer, die auch nur eine Spur ehrlich sind, werden es zugeben. Du siehst, man muss das von einem geistigen Standpunkt aus betrachten. Es liegt auf der Hand, dass nur der Mann wirklich schöpferisch ist: Die Frau schenkt Leben, sie erzieht und nährt, aber sie erschafft nichts Neues. Blüher, ein Philosoph, der seinerzeit den Männern des Freikorps sehr nahestand und sogar an ihrer Seite kämpfte, hat gezeigt, dass die Liebe unter Männern – da diese sie anspornt, sich gegenseitig an Mut, Tugend und sittlichem Verhalten zu übertreffen – sowohl zum Krieg als auch zur Entstehung von Staaten beiträgt, die lediglich erweiterte Spielarten von Männergesellschaften wie dem Militär sind. Es handelt sich also um eine höhere Entwicklungsstufe, für Männer von verfeinerter Geistesart. Die Umarmungen der Frauen taugen für die Masse, das Herdenvieh, aber nicht für die Führer. Erinnerst du dich an die Rede des Phaidros: Eben dasselbe sehen wir aber auch bei dem Geliebten, daß er vor allem sich vor seinen Liebhabern schämt, wenn er bei etwas Schimpflichem erblickt wird. Ließe es sich daher ins Werk setzen, einen Staat oder ein Heer aus lauter Liebhabern und Geliebten zu bilden, so ist gar nicht zu denken, wie ein Staat im Innern besser verwaltet werden könnte, als wenn alle seine Bürger sich alles Schimpflichen enthalten und im Wetteifer zum Guten einander überbieten; aber auch im gemeinsamen Kampfe würden die so Verbundenen, selbst in geringer Zahl, ich möchte sagen, alle Menschen besiegen. Zweifellos hat dieser Text die Thebaner stark beeinflusst.« – »Dieser Blüher, den du erwähntest, was ist aus ihm geworden?« – »Ich glaube, er lebt noch. Während der Kampfzeit wurde er in Deutschland viel gelesen und trotz seiner monarchistischen Anschauungen in bestimmten Kreisen der Rechten, unter anderem auch der Nationalsozialisten, sehr geschätzt. Später hat man ihn, glaube ich, allzu sehr in die Nähe von Röhm gerückt, und seit 1934 hat er Publikationsverbot. Doch eines Tages wird man dieses Verbot aufheben. Noch etwas möchte ich dir sagen: Noch heute macht der Nationalsozialismus den Kirchen viel zu viel Konzessionen. Allen ist das bewusst, und der Führer leidet darunter, doch in Kriegszeiten kann er sich nicht erlauben, sie offen zu bekämpfen. Die beiden Kirchen haben noch zu viel Einfluss auf das bürgerliche Denken, daher sind wir gezwungen, sie zu dulden. Aber das wird nicht ewig dauern: Nach dem Krieg können wir uns wieder mit dem inneren Feind befassen und uns aus dieser Umklammerung, diesem moralischen Würgegriff befreien. Wenn Deutschland eines Tages von seinen Juden gesäubert sein wird, muss es auch von deren verderblichen Ideen gesäubert werden. Dann wirst du sehen, dass viele Dinge in einem anderen Licht erscheinen.« Ich hörte auf zu reden; Partenau sagte nichts. Der Weg schlängelte sich an den Felsen entlang hinunter zum Meer; schweigend gingen wir an einem schmalen, leeren Strand entlang. »Willst du schwimmen?«, schlug ich vor. »Es muss eisig sein.« – »Es ist kalt; aber die Russen schwimmen oft im Winter. An der Ostsee ist es auch üblich. Das bringt das Blut in Wallung.« Wir zogen uns nackt aus, und ich rannte ins Wasser; laut schreiend folgte mir Partenau; einige Augenblicke lang biss mir die Kälte des Wassers in die Haut, wir schrien und lachten, schlugen wild um uns und stolperten durch die Wellen, bis wir genauso schnell wieder hinausliefen. Ich legte mich auf meine Jacke, flach auf den Bauch; Partenau streckte sich neben mir aus. Ich war noch nass, aber mein Körper war warm, ich spürte die Tropfen und die blasse Sonne auf der Haut. Einen langen Augenblick widerstand ich lustvoll dem Verlangen, Partenau anzusehen, dann wandte ich mich ihm zu: Auf seinem weißen Körper schimmerte das Meerwasser, sein Gesicht aber war rot gefleckt. Er hielt die Augen geschlossen. Als wir uns wieder anzogen, fiel sein Blick auf mein Geschlecht: »Du bist beschnitten?«, rief er überrascht aus und wurde noch röter. »Entschuldige.« – »Oh, das hat nichts zu sagen. Eine Infektion in der Pubertät, das kommt häufig vor.« Das Schwalbennest war noch zwei Kilometer entfernt, wir mussten wieder auf die Klippen emporsteigen; auf dem Balkon hinter dem zinnenbewehrten Turm befand sich eine kleine Kneipe, sie war leer und lag hoch über dem Meer; das Schwalbennest selbst war geschlossen, aber es gab Portwein und einen atemberaubenden Blick über die Küste, das Gebirge und Jalta, das sich in der Tiefe der Bucht verbarg, weiß und verschwommen. Wir tranken ein paar Gläser und sprachen wenig. Partenau war wieder blass, atmete aber noch schwer nach dem Aufstieg und schien in Gedanken vertieft. Dann brachte uns ein Lastwagen der Wehrmacht nach Jalta zurück. Dieses Spielchen setzte ich noch ein paar Tage fort, doch schließlich gelangte alles zu dem Ende, das ich mir erhofft hatte. Letztlich war es gar nicht so kompliziert. Partenaus fester Körper bot wenig Überraschungen; er kam mit offenem, rundem Mund, der wie ein schwarzes Loch klaffte; und seine Haut strömte einen süßlichen, etwas widerlichen Geruch aus, der mich bis zum Wahnsinn erregte. Wie soll man diese Empfindungen jemandem beschreiben, der sie nicht kennt? Am Anfang, beim Eindringen, ist es gelegentlich etwas schwierig, besonders wenn es trocken ist. Doch einmal eingedrungen, ah, das ist so gut, ihr könnt es euch nicht vorstellen. Das Kreuz wird hohl, und es bildet sich eine leuchtend blaue Schmelzmasse aus Blei, die euch das Becken füllt, langsam im Rückenmark aufsteigt, den Kopf erreicht und ihn auslöscht. Diese wunderbare Wirkung ist offenbar der Berührung des eindringenden Glieds mit der Prostata, der Klitoris des armen Mannes, zu verdanken, die beim Penetrierten direkt an den Mastdarm grenzt, während sie bei der Frau, falls meine anatomischen Vorstellungen richtig sind, durch einen Teil des Fortpflanzungsapparates vom Darm getrennt ist, was erklären würde, warum die Frauen im Allgemeinen so wenig Gefallen am Analverkehr finden, es sei denn, als Lust im Kopf. Für die Männer ist es anders; ich habe mir oft gesagt, dass die Prostata und der Krieg die beiden Gaben sind, mit denen Gott den Mann dafür entschädigen wollte, keine Frau zu sein.
Trotzdem habe ich nicht immer Jungen geliebt. In jungen Jahren, als Kind noch, hatte ich, wie ich Thomas erzählt hatte, tatsächlich ein Mädchen geliebt. Allerdings hatte ich Thomas nicht die ganze Wahrheit gesagt. Wie bei Tristan und Isolde hat es auf einem Schiff begonnen. Einige Monate zuvor hat meine Mutter in Kiel einen Franzosen namens Moreau kennengelernt. Mein Vater muss damals seit drei Jahren fort gewesen sein. Dieser Moreau hatte eine kleine Firma in Südfrankreich und reiste geschäftlich nach Deutschland. Was zwischen den beiden war, weiß ich nicht, aber nach einiger Zeit kam er zurück und bat meine Mutter, zu ihm zu ziehen. Sie war einverstanden. Als sie uns davon berichtete, fing sie es geschickt an: Sie pries das schöne Wetter, das Meer, das reichliche Essen. Der letzte Punkt war besonders verlockend: Deutschland hatte gerade die große Inflation hinter sich, und obwohl wir noch zu klein waren, um viel davon verstanden zu haben, hatten wir doch darunter gelitten. Daher antworteten meine Schwester und ich: »Schön, aber was machen wir, wenn Papa zurückkommt?« – »Nun, er wird uns schreiben, und dann fahren wir heim.« – »Versprochen?« – »Versprochen.«
Moreau lebte in einem großen, etwas altmodischen und verwinkelten Haus am Meer in Antibes. Von dem üppigen, in Olivenöl schwimmenden Essen und der warmen Aprilsonne, die sich in Kiel erst im Juli zeigt, waren wir sofort begeistert. Moreau, der, obwohl etwas plump, keineswegs dumm war, gab sich große Mühe, von uns wenn schon nicht geliebt, so doch geduldet zu werden. Er lieh sich von einem Bekannten ein großes Segelboot und machte mit uns Segeltouren zu den Îles de Lérins und sogar bis Fréjus. Anfangs war ich seekrank, aber das ging schnell vorüber; sie, die, von der ich spreche, wurde nicht seekrank. Wir machten es uns zusammen im Vorschiff bequem, blickten auf die Schaumkronen der Wellen, blickten dann uns an, und in diesem Blick, unter dem Eindruck unserer bitteren Kindheit und des majestätischen Rauschens des Meeres, geschah etwas, etwas Unwiderrufliches: die Liebe, bittersüß, bis in den Tod. Das war damals allerdings noch nicht mehr als ein Blick.
Lange blieb es nicht dabei. Zwar nicht gleich, aber doch etwa ein Jahr später entdeckten wir diese Dinge; von da an war unsere Kindheit von grenzenloser Lust erfüllt. Und dann, eines Tages, wurden wir, wie erwähnt, überrascht. Es gab Auftritte ohne Ende, meine Mutter nannte mich Schwein und verkommen, Moreau weinte, und das war das Ende aller Herrlichkeit. Einige Wochen später, als die Schule wieder anfing, wurden wir, Hunderte von Kilometern voneinander entfernt, auf katholische Internate geschickt, und so begann –vom Himmel durch die Welt zur Hölle – ein Albtraum von mehreren Jahren, der, in gewisser Weise, noch immer andauert. Frustrierte, verbitterte, über meine Sünden informierte Priester zwangen mich, stundenlang auf den eisig kalten Fliesen der Kapelle zu knien, und erlaubten mir nur, kalt zu duschen. Armer Partenau! Auch ich habe die Kirche kennengelernt, und schlimmer noch. Nun war aber mein Vater Protestant, und die Katholiken verachtete ich bereits; unter dem Einfluss dieser Behandlung verflüchtigten sich die Reste meines naiven Kinderglaubens, und statt der Reue lernte ich den Hass.
In dieser Schule war alles sittenlos und widernatürlich. Nachts setzten sich die älteren Jungen auf mein Bett und legten die Hand zwischen meine Beine, bis ich sie ohrfeigte; dann lachten sie, standen seelenruhig auf und gingen fort; doch unter der Dusche, nach dem Sportunterricht, drängten sie sich an mich und rieben rasch ihr Ding an meinem Hintern. Auch die Priester bestellten gelegentlich Jungen in ihre Arbeitszimmer, um ihnen die Beichte abzunehmen und sie durch Versprechen auf Geschenke und durch Einschüchterung zu verwerflichen Handlungen zu veranlassen. Kein Wunder, dass der unglückliche Jean R. versuchte, sich umzubringen. Ich war angeekelt und fühlte mich beschmutzt. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte: Mein Vater hätte das nie zugelassen, aber ich wusste nicht, wo er war.
Da ich mich weigerte, ihren ekelhaften Begierden nachzugeben, behandelten mich die großen Schüler genauso bösartig wie die ehrwürdigen Patres. Sie verprügelten mich unter fadenscheinigen Vorwänden, zwangen mich, sie zu bedienen, ihnen die Schuhe zu putzen, ihre Anzüge auszubürsten. Eines Nachts öffnete ich die Augen: drei von ihnen standen vor meinem Bett und holten sich über meinem Gesicht einen runter; bevor ich reagieren konnte, verklebte mir ihr ekelhaftes Zeug die Augen. Es gab nur ein Mittel, mich solchen Situationen zu entziehen, ein klassisches Mittel – ich musste mir einen Beschützer suchen. Dafür hatte das Internat ein genau festgelegtes Ritual entwickelt. Der jüngste Knabe wurde Descendu genannt; der ältere Junge musste ihm Avancen machen, die auf der Stelle zurückgewiesen werden konnten; wenn nicht, hatte er das Recht, seine Argumente vorzutragen. Aber ich war noch nicht bereit: Ich zog es vor, zu leiden und von meiner verlorenen Liebe zu träumen. Dann ließ mich ein seltsamer Vorfall anderen Sinnes werden. Pierre S., mein Bettnachbar, war in meinem Alter. Eines Nachts weckte mich seine Stimme. Er stöhnte nicht, sondern sprach laut und deutlich, obwohl er allem Anschein nach schlief. Ich war nur halb wach, und wenn ich mich an seine Worte auch nicht mehr genau erinnere, so ist mir doch der Schrecken, mit dem sie mich erfüllten, lebhaft im Gedächtnis geblieben. Es war so etwas wie: »Nein, noch nicht, es ist genug«, oder auch: »Bitte, das ist zu viel, nur die Hälfte.« Wenn ich darüber nachdenke, sind diese Worte mehrdeutig; doch damals, mitten in der Nacht, hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Ich war wie erstarrt, selbst von dieser großen Furcht gepackt, ich krümmte mich tief in meinem Bett zusammen und versuchte nicht hinzuhören. Selbst damals überraschte mich die Heftigkeit meines Entsetzens, die Raschheit, mit der es mich überkam. Wie ich in den folgenden Tagen begriff, fanden diese Worte, die ganz offen heimliche, unsägliche Dinge aussprachen, offenbar tief in meinem Inneren ihre Geschwister, und die erwachten, hoben ihre schrecklichen Häupter und öffneten ihre glühenden Augen. So sagte ich mir nach und nach Folgendes: Wenn ich sie nicht haben kann, was kann mir dann all das andere anhaben? Eines Tages sprach mich ein Junge auf der Treppe an: »Ich habe dich beim Sport gesehen, ich war unter dir, am Kasten, deine Turnhose klaffte weit auf.« Es war ein athletischer Junge von etwa siebzehn Jahren mit strubbeligem Haar, stark genug, um die anderen einzuschüchtern. »Einverstanden«, erwiderte ich und eilte die Treppe hinab. Von da an hatte ich kaum noch Probleme. Dieser Junge, er hieß André N., machte mir kleine Geschenke und nahm mich von Zeit zu Zeit mit auf die Toilette. Ein durchdringender Geruch nach frischer Haut und Schweiß ging von ihm aus, manchmal mit einem Hauch von Scheiße vermischt, als hätte er sich nicht richtig abgewischt. Die Toiletten selbst stanken nach Urin und Desinfektionsmitteln, sie waren immer verdreckt, und noch heute ruft mir der Geruch von Männern und Sperma den Geruch von Phenol und Urin ins Gedächtnis, genauso wie die abblätternde Farbe, den Rost und die kaputten Riegel. Anfangs berührte er mich nur, oder ich nahm ihn in den Mund. Dann verlangte er andere Dinge. Die kannte ich, die hatte ich schon mit ihr getan, nach Eintritt ihrer Regel; und dabei hatte sie Lust empfunden, warum hatte ich die nicht auch dabei? Und dann, so dachte ich, käme ich ihr dadurch noch näher; gewissermaßen könnte ich auf diese Weise fast all das empfinden, was sie empfunden hatte, als sie mich berührt, geküsst, geleckt und mir dann ihre mageren, schmalen Hinterbacken dargeboten hatte. Es tat mir weh, auch ihr musste es weh getan haben, und dann wartete ich, und als ich kam, stellte ich mir vor, es wäre sie, die so käme, die diesen wilden, entfesselten Orgasmus hätte, der mich fast vergessen ließ, wie armselig und begrenzt meine Lust neben der ihren war, der schon ozeanischen Lust einer Frau.
Später ist es sicherlich zur Gewohnheit geworden. Wenn ich Mädchen betrachtete und mir vorzustellen versuchte, wie ich ihre milchigen Brüste in den Mund nahm und meinen Schwanz in ihren Schleimhäuten rieb, sagte ich mir: Wozu? Sie ist es nicht und sie wird es niemals sein. Also ist es besser, dass ich selbst sie werde und all die anderen ich werden. Diese anderen liebte ich nicht, das habe ich euch schon gesagt. Mein Mund, meine Hände, mein Schwanz, mein Arsch begehrten sie, manchmal leidenschaftlich, atemlos, doch ich wollte von ihnen nur ihre Hände, ihren Schwanz und ihren Mund. Das heißt nicht, dass ich nichts empfunden hätte. Wenn ich Partenaus schönen nackten Körper betrachtete, der bereits so grausam verwundet war, überkam mich eine dumpfe Angst: Wenn meine Finger über seine Brust glitten, leicht die Warze berührten, dann die Wunde, stellte ich mir vor, wie diese Brust abermals von Metall zerfetzt wurde; wenn ich seine Lippen küsste, sah ich, wie sein Unterkiefer von einem glühenden Granatsplitter abgerissen wurde; und wenn ich zwischen seine Beine hinabtauchte, um das Gesicht in seinen strotzenden Organen zu vergraben, wusste ich, dass irgendwo eine Mine wartete, um sie zu zerreißen. Seine kraftvollen Arme, seine geschmeidigen Oberschenkel waren nicht weniger verwundbar, kein Teil seines geliebten Körpers war davor gefeit. Im nächsten Monat, in einer Woche, schon morgen konnte sich dieses schöne, verführerische Fleisch in einen blutigen Klumpen, eine verkohlte Masse verwandeln und das intensive Grün seiner Augen für immer verlöschen. Manchmal war ich deshalb den Tränen nahe. Doch als er, schließlich genesen, abreiste, empfand ich keinerlei Traurigkeit. Er fiel übrigens ein Jahr später bei Kursk.
Wieder allein, las ich und ging spazieren. Im Garten des Sanatoriums blühten Apfelbäume, Bougainvilleen, Glyzinien, Flieder, Goldregen und bedrängten die Sinne mit der Fülle ihrer betäubenden, schweren, miteinander im Widerstreit liegenden Düfte. Täglich ging ich auch in dem Botanischen Garten im Osten von Jalta spazieren. Seine verschiedenen Abteilungen erhoben sich terrassenförmig über das Meer, mit weiten Ausblicken bis zum Blau und Grau des Horizonts, und im Rücken, allgegenwärtig, die schneebedeckten, schroff aufragenden Gipfel des Jailagebirges. Im Arboretum leiteten Schilder den Besucher zu einer mehr als tausendjährigen Pistazie und einer Eibe von fünfhundert Jahren; weiter oben, im Werchni-Park, bot der Rosengarten zweitausend Arten, deren Blüten sich gerade öffneten, es wimmelte dort schon von Bienen wie in den Lavendelfeldern meiner Kindheit; im Primorski-Park wuchsen in kaum beschädigten Treibhäusern subtropische Pflanzen, dort konnte ich mit Blick auf das Meer sitzen und ungestört lesen. Eines Tages, auf dem Rückweg über die Stadt, besichtigte ich das Tschechow-Haus, eine kleine Datscha, weiß und gemütlich, die von den Sowjets in ein Museum umgewandelt worden war; nach den Schildern zu urteilen, schien die Museumsleitung besonders stolz auf das Klavier im Salon zu sein, auf dem Rachmaninow und Schaljapin gespielt hatten; doch auf mich machte die Hüterin des Museums den tiefsten Eindruck, Mascha, Tschechows leibliche Schwester, mittlerweile achtzig Jahre alt, die am Eingang auf einem einfachen Holzstuhl saß, unbeweglich, stumm, die Hände flach auf den Schenkeln. Ich wusste, ihr Leben war, wie das meine, am Unmöglichen zerbrochen. Träumte sie, da vor mir sitzend, noch immer von dem, der eigentlich an ihrer Seite hätte sitzen müssen, dem Pharao, dem verstorbenen Bruder und Gatten?
Eines Abends, gegen Ende meines Genesungsurlaubs, stattete ich dem Kasino von Jalta einen Besuch ab, das in einer Art Rokokopalast untergebracht war, etwas altmodisch, aber ganz nett. Auf der Treppe, die in den Saal führte, begegnete ich einem mir wohlbekannten Oberführer der SS. Ich trat zur Seite und nahm Haltung an, um ihn zu grüßen, zerstreut erwiderte er meinen Gruß; doch zwei Stufen tiefer wandte er sich plötzlich um, und sein Gesicht erhellte sich: »Dr. Aue! Ich habe Sie gar nicht erkannt.« Es war Otto Ohlendorf, mein Amtschef aus Berlin, der inzwischen die Einsatzgruppe D befehligte. Behände stieg er die Stufen wieder empor, gab mir die Hand und gratulierte mir zu meiner Beförderung. »Was für eine Überraschung! Was tun Sie hier?« Ich erklärte ihm in wenigen Worten die Gründe meines Aufenthalts. »Ah, Sie sind bei Blobel gewesen! Sie Ärmster. Ich begreife nicht, dass man Geisteskranke wie ihn bei der SS duldet, und noch weniger, dass man ihnen Befehlsgewalt verleiht.« – »Wie dem auch sei«, erwiderte ich, »Standartenführer Weinmann hat jedenfalls einen sehr seriösen Eindruck auf mich gemacht.« – »Ich kenne ihn nicht sehr gut. Er ist bei der Staatspolizei, nicht wahr?« Einen Augenblick betrachtete er mich nachdenklich, dann sagte er: »Warum bleiben Sie nicht bei mir? Ich brauche einen Stellvertreter für meinen Leiter III im Gruppenstab. Der alte hat Typhus bekommen und ist heimgeschickt worden. Ich kenne Dr. Thomas gut, er wird nichts gegen Ihre Versetzung einzuwenden haben.« Ich fühlte mich von seinem Angebot etwas überrumpelt: »Muss ich Ihnen die Antwort sofort geben?« – »Nein. Oder eigentlich doch!« – »Nun denn, sollte Brigadeführer Thomas einverstanden sein, nehme ich das Angebot an.« Er lächelte wieder und schüttelte mir die Hand. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Jetzt muss ich aber weiter. Kommen Sie morgen zu mir nach Simferopol, wir regeln dann alles, und ich erkläre Ihnen die Einzelheiten. Wir sind leicht zu finden, unsere Dienststelle ist neben dem AOK, fragen Sie dort. Guten Abend!« Er eilte die Stufen hinab, winkte noch einmal und verschwand. Ich ging zur Bar und bestellte einen Kognak. Ich schätzte Ohlendorf sehr und hatte immer großen Gefallen an den Gesprächen mit ihm gefunden; wieder mit ihm arbeiten zu können war eine unverhoffte Chance. Er war ein Mann von bemerkenswerter hellwacher Intelligenz, sicherlich einer der klügsten Köpfe des Nationalsozialismus und einer der kompromisslosesten; seine Haltung trug ihm viele Feinde ein, mir aber war sie ein Anlass zur Bewunderung. Sein Vortrag damals in Kiel, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte mich tief beeindruckt. Nur mit einigen losen Notizzetteln bewaffnet, sprach er vollkommen flüssig, mit klarer, angenehmer Stimme, die jeden Punkt nachdrücklich und exakt hervorhob: Nach einer vehementen Kritik des italienischen Faschismus, der seiner Meinung nach den Fehler begangen hatte, den Staat zu vergöttlichen, ohne die menschliche Gemeinschaft zu berücksichtigen, unterstrich Ohlendorf, dass der Nationalsozialismus sich auf ebendiese Volksgemeinschaft gründe. Schlimmer noch, Mussolini habe systematisch alle institutionellen Einschränkungen der politischen Machthaber aufgehoben. Das führte nach Ohlendorfs Einschätzung direkt zu einer totalitären Version des Etatismus, wo weder der Macht noch ihrem Missbrauch die geringsten Grenzen gesetzt waren. Der Nationalsozialismus orientiere sich grundsätzlich am Wert des einzelnen menschlichen Lebens und dem des Volkes in seiner Gesamtheit; so werde der Staat den Ansprüchen des Volkes untergeordnet. Unter dem Faschismus habe der Mensch überhaupt keinen Wert an sich, er sei das Objekt des Staates, und die einzige maßgebliche Wirklichkeit sei der Staat selbst. Trotzdem seien gewisse Elemente innerhalb der Partei bestrebt, den Faschismus im Nationalsozialismus heimisch zu machen. Seit der Machtergreifung sei der Nationalsozialismus in bestimmten Bereichen vom wahren Weg abgewichen und greife auf alte Methoden zurück, um vorübergehende Probleme zu überwinden. Diese der Bewegung fremden Tendenzen seien besonders ausgeprägt in der Lebensmittelindustrie, aber auch in der Großindustrie, die vom Nationalsozialismus nur den Namen übernommen habe und die unkontrollierten defizitären Staatsausgaben für ein zügelloses Wachstum nutze. Arroganz und Größenwahn, die bestimmte Gliederungen der Partei beherrschten, trügen noch zur Verschlimmerung der Situation bei. Dem Nationalsozialismus drohe aber noch eine andere tödliche Gefahr; Ohlendorf nannte sie die bolschewistische Abweichung und meinte damit vor allem die kollektivistischen Tendenzen der DAF, der Deutschen Arbeitsfront. Ley verunglimpfe ständig den Mittelstand, er wolle die kleinen und mittelgroßen Unternehmen vernichten, obwohl sie doch das eigentliche soziale Rückgrat der deutschen Wirtschaft bildeten. Das Ziel aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen müsse grundsätzlich und letztlich der Mensch sein; die Wirtschaft, darin könne man den Analysen von Marx folgen, sei der bestimmendste Faktor für das Schicksal des Menschen. Gewiss, es gebe noch keine nationalsozialistische Wirtschaftsordnung. Doch die nationalsozialistische Politik müsse sich auf all ihren Feldern – den wirtschaftlichen, sozialen und verfassungsrechtlichen – stets bewusst bleiben, dass es ihr um den Menschen und das Volk gehe. Die kollektivistischen Bestrebungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik würden ebenso wie die absolutistischen Tendenzen in der Verfassungspolitik eine Abweichung von dieser Linie bedeuten. Wir, die Studenten, die Zukunftsträger des Nationalsozialismus, die künftigen Eliten der Partei, müssten ihrem wahren Geist treu bleiben und uns bei all unserem Tun von diesem Geist leiten lassen.
Das war die schärfste Kritik an der Situation im modernen Deutschland, die ich je gehört hatte. Ohlendorf, kaum älter als ich, hatte offensichtlich lange über diese Fragen nachgedacht und stützte seine Folgerungen auf profunde und schlüssige Analysen. Später erfuhr ich übrigens, dass er 1934, als Student in Kiel, von der Gestapo verhaftet worden war, weil er allzu lautstark verkündet hatte, der Nationalsozialismus prostituiere sich; diese Erfahrung hatte ihn vermutlich bewogen, in den Sicherheitsdienst einzutreten. Er hatte eine hohe Meinung von seiner Arbeit und verstand sie als wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Nationalsozialismus. Als er mir nach dem Vortrag vorgeschlagen hatte, als V-Mann für ihn zu arbeiten, war mir, nachdem er mir das Aufgabenfeld beschrieben hatte, törichterweise die Bemerkung herausgerutscht: »Aber das sind ja Spitzeldienste!« Trocken hatte Ohlendorf erwidert: »Nein, Herr Aue, das hat nichts mit Schnüffelei zu tun. Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie petzen; uns ist es völlig schnuppe, ob Ihre Putzfrau einen parteifeindlichen Witz erzählt. Aber der Witz selbst interessiert uns, weil er Aufschluss über die Stimmung im Volk gibt. Die Gestapo ist durchaus in der Lage, mit Staatsfeinden fertig zu werden, doch das fällt nicht in die Zuständigkeit des Sicherheitsdienstes, dessen Aufgabe vor allem die Nachrichtenbeschaffung ist.« Nach meiner Ankunft in Berlin ist meine Beziehung zu ihm nach und nach enger geworden, vor allem dank der Vermittlung von Professor Höhn, mit dem Ohlendorf auch dann noch in Verbindung geblieben war, als jener den SD bereits verlassen hatte. Wir trafen uns von Zeit zu Zeit zum Kaffeetrinken, oder er lud mich sogar zu sich nach Hause ein, um mir auseinanderzusetzen, welche schädlichen Tendenzen die Partei neuerdings entwickle und was zu tun sei, um sie zu korrigieren oder zu bekämpfen. Damals arbeitete er nicht mehr ausschließlich für den SD, weil er außerdem Forschungsaufträge an der Universität Kiel wahrnahm und später ein wichtiges Amt in der Reichsgruppe Handel bekleidete. Als ich schließlich beim SD eintrat, übernahm er, wie Dr. Best, ein bisschen die Rolle meines Mentors. Doch sein ständig eskalierender Konflikt mit Heydrich und seine schwierige Beziehung zum Reichsführer hatten seine Position geschwächt, was ihn allerdings nicht daran hinderte, beim Aufbau des RSHA Leiter des Amts III – Chef des Sicherheitsdienstes – zu werden. In Pretzsch machten zahlreiche Gerüchte über die Gründe seiner Versetzung nach Russland die Runde; es hieß, er habe den Posten mehrfach abgelehnt, bis Heydrich ihn, vom Reichsführer unterstützt, dazu zwang, ihn anzutreten, um ihn mit der Nase in den Dreck zu stecken.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit einem militärischen Pendelbus nach Simferopol. Ohlendorf empfing mich mit seiner üblichen Höflichkeit, ohne Herzlichkeit vielleicht, aber freundlich und nett. »Ich habe gestern zu fragen vergessen, wie es Ihrer Frau Gemahlin geht.« – »Meiner Frau Käthe? Sehr gut, danke. Natürlich vermisst sie mich, aber Krieg ist Krieg.« Eine Ordonnanz servierte uns einen ausgezeichneten Kaffee, und Ohlendorf kam rasch zur Sache. »Sie werden sehen, Ihre Arbeit ist sehr interessant. Sie brauchen sich nicht um die Ausführung zu kümmern, die überlasse ich ganz den Kommandos; die Krim ist sowieso schon praktisch judenfrei, und mit den Zigeunern sind wir auch schon fast fertig.« – »Mit allen Zigeunern?«, unterbrach ich ihn erstaunt. »In der Ukraine gehen wir nicht so systematisch vor.« – »Für mich sind sie genauso gefährlich«, erwiderte er, »wenn nicht gefährlicher als die Juden. In allen Kriegen dienen die Zigeuner als Spione oder als Agenten, die über die Fronten hinweg Verbindungen unterhalten. Sie brauchen nur Ricarda Huch oder Schiller über den Dreißigjährigen Krieg zu lesen.« Er machte eine Pause. »Zunächst befassen Sie sich nur mit reinen Ermittlungen. Im Frühjahr werden wir in den Kaukasus vorrücken – darüber bewahren Sie bitte Stillschweigen –, und da das eine noch wenig bekannte Region ist, möchte ich eine zentrale Auskunftsstelle für den Gruppenstab und die Kommandos einrichten, besonders in Hinblick auf die verschiedenen ethnischen Minderheiten und deren Beziehungen untereinander und zur Sowjetmacht. Im Prinzip soll das gleiche Besatzungssystem wie in der Ukraine Anwendung finden, wir werden ein neues Reichskommissariat bilden, aber natürlich haben auch die Sipo und der SD ein Wort mitzureden, und je besser dieses Wort begründet ist, desto mehr wird man darauf hören. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter wird Sturmbannführer Dr. Seibert sein, der auch Chef des Gruppenstabes ist. Kommen Sie, ich stelle Sie ihm vor, und auch Hauptsturmführer Ulrich, der sich um Ihre Überstellung kümmern wird.«
Ich kannte Seibert flüchtig; in Berlin leitete er die Abteilung D (Wirtschaft) des SD, ein ernsthafter, freimütiger und liebenswürdiger Mensch, ein ausgezeichneter Wirtschaftswissenschaftler, der an der Universität Göttingen studiert hatte und hier ebenso fehl am Platze zu sein schien wie Ohlendorf. Seit seiner Versetzung hatte sich sein verfrühter Haarausfall noch verstärkt; doch weder seine Stirnglatze noch seine sorgenvolle Miene noch der Schmiss, der ihm das Kinn zerschnitt, vermochten etwas an seinem jugendlichen, stets etwas träumerischen Erscheinungsbild zu ändern. Er empfing mich freundlich, stellte mich seinen anderen Mitarbeitern vor und führte mich, als Ohlendorf gegangen war, ins Büro von Ulrich, der mir ein ziemlich kleinkarierter Bürokrat zu sein schien. »Der Oberführer hat eine etwas leichtfertige Vorstellung von den Formalitäten einer Versetzung«, stellte er säuerlich fest. »Normalerweise muss ein Antrag in Berlin gestellt und die Antwort abgewartet werden. Man kann sich seine Leute nicht einfach auf der Straße auflesen.« – »Der Oberführer hat mich nicht auf der Straße gefunden, sondern in einem Kasino«, stellte ich richtig. Er nahm seine Brille ab und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen: »Sagen Sie, Hauptsturmführer, wollen Sie hier den Geistreichen spielen?« – »Keineswegs. Wenn Sie wirklich meinen, dass es so nicht geht, teile ich das dem Oberführer mit und kehre zu meinem Kommando zurück.« – »Nein, nein, nein«, sagte er und massierte sich den Nasenrücken. »Es ist kompliziert, das ist alles. Es bedeutet für mich noch mehr Papierkrieg. Wie dem auch sei, der Oberführer hat in Ihrer Angelegenheit bereits einen Boten zu Brigadeführer Thomas geschickt. Sobald er eine Antwort bekommt und falls sie positiv ausfällt, melde ich das nach Berlin. Das wird dauern. Kehren Sie ruhig nach Jalta zurück und suchen Sie mich nach Abschluss Ihres Genesungsurlaubs auf.«
Dr. Thomas gab rasch seine Zustimmung. Solange die Berliner Genehmigung der Versetzung auf sich warten ließ, war ich »vorübergehend« vom Sonderkommando 4a zur Einsatzgruppe D »abkommandiert«. Ich brauchte noch nicht einmal nach Charkow zurückzukehren, Strehlke ließ mir die wenigen Sachen, die ich dort gelassen hatte, nachschicken. In Simferopol fand ich in der Tschechow-Straße, wenige Hundert Meter vom Gruppenstab entfernt, Unterkunft in einem netten Bürgerhaus aus vorrevolutionärer Zeit, dessen Bewohner man ausquartiert hatte. Freudig vertiefte ich mich in meine kaukasischen Studien, wobei ich mit einer Reihe von historischen Werken, Reiseberichten, anthropologischen Abhandlungen begann, die leider alle aus der Zeit vor der Revolution stammten. Hier ist nicht der Ort, mich über die Besonderheiten dieser faszinierenden Region auszulassen: Der interessierte Leser kann in Bibliotheken nachschauen oder sich, wenn er will, auch an das Bundesarchiv der Bundesrepublik wenden, wo er mit Beharrlichkeit und ein wenig Glück vielleicht meine Originalberichte entdeckt, die zwar von Ohlendorf oder Seibert unterzeichnet, aber anhand des Diktatzeichens M. A. zu identifizieren sind. Wir wussten wenig über die Verhältnisse im sowjetischen Kaukasus. Einige Reisende aus dem Westen hatten ihn in den zwanziger Jahren besuchen dürfen; seither waren selbst die Auskünfte des Auswärtigen Amts eher dürftig geblieben. Wenn ich mich also informieren wollte, musste ich mich in die Literatur vertiefen. Der Gruppenstab besaß einige Nummern der deutschen wissenschaftlichen Zeitschrift Caucasica: Die meisten Artikel behandelten sprachwissenschaftliche Themen und waren sehr fachspezifisch, trotzdem konnte man ihnen eine Menge entnehmen; Amt VII in Berlin hatte die kompletten Jahrgänge bestellt. Außerdem gab es eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur sowjetischer Provenienz, die aber nicht übersetzt und ungleich schwerer zugänglich war; ich befahl einem Dolmetscher, der nicht zu beschränkt war, die verfügbaren Werke zu lesen und mir Auszüge und Zusammenfassungen anzufertigen. Nachrichtendienstliche Informationen über Petrochemie, Verkehrswesen und Industrie besaßen wir in Hülle und Fülle; was dagegen die ethnischen und politischen Verhältnisse anging, so waren unsere Akten fast leer. Ein gewisser Sturmbannführer Kurreck vom Amt VI war zur Einsatzgruppe gekommen, um das Sonderkommando Zeppelin zu bilden, ein Projekt Schellenbergs: Er warb »antibolschewistische Aktivisten« in den Stalags und Oflags an, die häufig ethnischen Minderheiten angehörten, um sie mit Spionage- und Sabotageaufträgen hinter die russischen Linien zu schicken. Doch das Programm lief gerade erst an und hatte noch keine Ergebnisse gezeitigt. Ohlendorf schickte mich zur Abwehr, damit ich Erkundigungen einziehe. Seine Beziehungen zum AOK, die zu Anfang des Feldzugs sehr gespannt gewesen waren, hatten sich gebessert, seit von Manstein den General Ritter von Schobert ersetzt hatte, der im September bei einer Notlandung ums Leben gekommen war. Mit dem Chef des Stabes, Oberst Wöhler, hingegen verstand sich Ohlendorf nicht immer so gut; Wöhler versuchte, die Kommandos als Einheiten der Geheimen Feldpolizei zu behandeln und weigerte sich, Ohlendorf mit Herr und Dienstgrad anzureden, eine unverschämte Beleidigung. Doch die Zusammenarbeit mit dem Ic/AO Major Eisler war gut und die mit dem Abwehroffizier, Major Riesen, sogar ausgezeichnet, vor allem seit sich die Einsatzgruppe aktiv an der Bandenbekämpfung beteiligte. Also suchte ich Eisler auf, der mich an einen seiner Fachleute verwies, Leutnant Dr. Voss. Voss, ein liebenswürdiger Mann etwa meines Alters, war nicht eigentlich Offizier, sondern eher ein Forscher, der für die Dauer der Kampagne von der Universität zur Abwehr überstellt worden war. Er kam wie ich von der Universität Berlin; er war weder Anthropologe noch Ethnologe, sondern Sprachwissenschaftler und gehörte damit einer Disziplin an, die, wie ich bald erkennen sollte, rasch über die engeren Probleme der Phonetik, Morphologie und Syntax hinausgreifen und ihre eigene Weltanschauung hervorbringen konnte. Voss empfing mich in einem kleinen Büro, wo er, die Füße auf einem mit Bücherstapeln und verstreuten Papieren bedeckten Tisch, las. Als er mich an die offene Tür klopfen sah, fragte er, ohne zu grüßen (ich hatte einen höheren Dienstgrad, und er hätte zumindest aufstehen müssen): »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich habe echten schwarzen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, rief er: »Hans! Hans!« Dann stöhnte er, sagte: »Verdammt, wo steckt der denn schon wieder?«, legte sein Buch beiseite, erhob sich, schob sich an mir vorbei und verschwand im Flur. Einen Augenblick später erschien er wieder: »Sehr schön. Das Wasser ist schon aufgesetzt.« Dann meinte er zu mir: »Aber bleiben Sie doch nicht in der Tür. Kommen Sie rein.« Voss hatte ein schmales Gesicht mit feingeschnittenen Zügen und lebhaften Augen; mit seinem zerzausten blonden Schopf und den rasierten Schläfen sah er wie ein Abiturient aus. Aber der Sitz seiner Uniform verriet einen guten Schneider, und er trug sie mit Eleganz und Selbstsicherheit. »Guten Tag! Was führt Sie her?« Ich erklärte ihm mein Anliegen. »Der SD interessiert sich also für den Kaukasus. Warum? Haben wir vor, in den Kaukasus einzumarschieren?« Als er meine betretene Miene sah, brach er in Lachen aus: »Nun machen Sie nicht solch ein Gesicht! Ich bin natürlich informiert. Schließlich bin ich nur deshalb hier. Mein Spezialgebiet sind die indogermanischen und indoiranischen Sprachen, wobei die kaukasischen Sprachen einen Schwerpunkt bilden. Also alles, was mich interessiert, befindet sich dort unten; hier drehe ich nur Däumchen. Ich habe Tatarisch gelernt, aber das interessiert mich nur am Rande. Glücklicherweise habe ich brauchbare wissenschaftliche Werke in der Bibliothek gefunden. Im Zuge unseres Vormarsches muss ich eine wissenschaftliche Sammlung zusammenstellen und sie nach Berlin schicken.« Er brach in Lachen aus. »Wenn wir mit Stalin Frieden gehalten hätten, hätten wir sie bestellen können. Das wäre zwar ziemlich teuer gewesen, aber sicherlich nicht so teuer wie eine Invasion.« Eine Ordonnanz brachte heißes Wasser, und Voss holte Tee aus einer Schublade. »Zucker? Leider kann ich Ihnen keine Milch anbieten.« – »Nein danke.« Er brühte zwei Tassen auf, reichte mir eine und nahm wieder auf seinem Stuhl Platz, ein Bein an die Brust gezogen. Der Bücherstapel verdeckte einen Teil seines Gesichts, daher rutschte ich ein Stück weiter. »Also, was wollen Sie wissen?« – »Alles.« – »Alles! Dann haben Sie viel Zeit.« Ich lächelte: »Ja, habe ich.« – »Ausgezeichnet. Dann fangen wir mit den Sprachen an. Schließlich bin ich Sprachwissenschaftler. Sie wissen vermutlich, dass die Araber den Kaukasus schon im 10. Jahrhundert den Berg der Sprachen nannten. Und das vollkommen zu Recht. Es ist ein einzigartiges Phänomen. In Hinblick auf die genaue Zahl herrscht große Uneinigkeit, weil man noch über bestimmte Dialekte streitet, vor allem das Dagestanische, aber so um die fünfzig sind es bestimmt. Unter dem Gesichtspunkt der Sprachgruppen oder -familien haben wir zunächst die indoiranischen Sprachen: das Armenische natürlich, eine wunderbare Sprache, das Ossetische, das mich besonders interessiert, und das Tatische. Das Russische zähle ich selbstverständlich nicht dazu. Dann gibt es die Turksprachen, die sich rund um das Gebirge verteilen: Karatschaisch, Balkarisch, Nogaisch und Kumykisch im Norden, dann das Aserische und den meschetischen Dialekt im Süden. Aserisch ist der Sprache, die in der Türkei gesprochen wird, am ähnlichsten, nur dass sie die alten persischen Elemente bewahrt hat, von denen Kemal Atatürk das so genannte moderne Türkisch befreit hat. Alle diese Völker sind Reste jener türkischmongolischen Horden, die die Region im 13. Jahrhundert überrannt haben, oder Überbleibsel älterer Wanderbewegungen. Die nogaischen Khane haben übrigens sehr lange über die Krim geherrscht. Haben Sie ihren Palast in Bachtschissarai gesehen?« – »Leider nicht. Das ist Kampfgebiet.« – »Stimmt. Ich hatte eine Genehmigung. Auch die Höhlenstadt ist außergewöhnlich.« Er trank einen Schluck Tee. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Dann haben wir da noch die bei weitem interessanteste Familie, nämlich die kaukasischen oder ibero-kaukasischen Sprachen. Lassen Sie mich gleich klarstellen: Das Kartwelische oder Georgische hat überhaupt keine Beziehung zum Baskischen. Das ist eine Idee, die Humboldt aufgebracht hat, Friede seiner großen Seele, und die seither immer wieder aufgegriffen wurde, aber zu Unrecht. Das Wortteil Ibero bezeichnet einfach eine südkaukasische Sprachgruppe. Im Übrigen steht noch nicht einmal fest, ob diese Sprachen untereinander irgendeine Beziehung aufweisen. Man nimmt es an – das ist das Grundpostulat der sowjetischen Sprachwissenschaftler –, aber genetisch lässt sich das nicht beweisen. Bestenfalls lassen sich Unterfamilien definieren, die tatsächlich eine genetische Einheit darstellen. Hinsichtlich des Südkaukasischen, das heißt des Kartwelischen, Swanischen, Mingrelischen und Lasischen, herrscht praktisch Gewissheit. Ebenso für das Kaukasische im Nordwesten: Trotz der« – er stieß ein eigenartig zischendes Pfeifen aus – »etwas verwirrenden abchasischen Dialekte handelt es sich zusammen mit dem Abchasischen, Adygeischen und Karbadisch-Tscherkessischen sowie dem Ubychischen, das fast ausgestorben ist und das man nur noch bei einigen Sprechern in Anatolien findet, um eine einzige Sprache mit ausgeprägten Dialektvarianten. Gleiches gilt für das Wainachische, das verschiedene Formen aufweist, von denen die wichtigsten das Tschetschenische und Inguschische sind. In Dagestan dagegen ist die Lage noch sehr unübersichtlich. Man hat einige Komplexe abgegrenzt, etwa das Awarische sowie die andische Sprache, das Didoische oder Tsesische, das Lakische und Lesginische, doch einige Forscher meinen, das Wainachische sei mit ihnen verwandt, andere nicht; und auch über die Untergruppen streitet man trefflich. Beispielsweise über die Beziehung zwischen dem Kubatschinischen und Darginischen; oder auch über die genetischen Verwandtschaftsverhältnisse des Chinalugischen, das einige Sprachwissenschaftler lieber als isolierte Sprache ansehen würden, ebenso wie das Artschinische.« Ich verstand nicht viel, hörte ihm aber staunend zu, wie er sein Wissen ausbreitete. Auch sein Tee war sehr gut. Schließlich fragte ich: »Entschuldigen Sie, aber können Sie alle diese Sprachen?« Er lachte schallend: »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen! Bei meinem Alter? Und dann, wenn man nicht im Lande ist, hat es keinen Zweck. Nein, ich verfüge über passable theoretische Kenntnisse des Kartwelischen und habe mich mit einzelnen Elementen der anderen Sprachen befasst, vor allem der kaukasischen Familie des Nordwestens.« – »Und wie viele Sprachen können Sie insgesamt?« Er lachte wieder. »Eine Sprache zu sprechen ist nicht das Gleiche, wie sie lesen und schreiben zu können; und eine genaue Kenntnis ihrer Phonologie oder Morphologie ist wieder etwas anderes. Um noch einmal auf die kaukasischen Sprachen des Nordwestens oder die adygeischen Sprachen zurückzukommen, ich habe über die Konsonantensysteme gearbeitet – weit weniger über die Vokale –, und ich habe eine allgemeine Vorstellung von der Grammatik. Aber ich wäre nicht in der Lage, mich mit einem Muttersprachler zu unterhalten. Wenn Sie an die Alltagssprache denken, so werden dort selten mehr als fünfhundert Wörter und eine ziemlich rudimentäre Grammatik verwendet; die könnte ich mir sicherlich in jeder Sprache in acht oder vierzehn Tagen aneignen. Darüber hinaus hat jede Sprache aber ihre eigenen Schwierigkeiten und Probleme, mit denen man sich beschäftigen muss, wenn man sie beherrschen will. Wenn Sie so wollen, unterscheidet sich die Sprache als Erkenntnisobjekt der Wissenschaft vom Ansatz her grundsätzlich von der Sprache als Verständigungsmittel. Ein abchasischer Dreikäsehoch, vier Jahre alt, ist in der Lage, sich mit einer phänomenalen Komplexität auszudrücken, die ich niemals korrekt reproduzieren, wohl aber zerlegen und beschreiben könnte, beispielsweise als Folgen von einfachen oder labialisierten Alveolopalatalen, was diesem Jungen nicht das Geringste sagen würde, weil er seine ganze Sprache im Kopf hat, sie aber niemals analysieren könnte.« Er überlegte einen Augenblick. »Beispielsweise habe ich einmal das Konsonantensystem einer südtschadischen Sprache untersucht, das geschah aber nur, um sie mit dem des Ubychischen zu vergleichen. Das Ubychische ist eine faszinierende Sprache. Gesprochen wird sie von einem adygeischen Stamm – oder zirkassischen, wie man in Europa sagt –, der 1864 vollständig von den Russen aus dem Kaukasus vertrieben wurde. Die Überlebenden sind im Osmanischen Reich sesshaft geworden, haben aber größtenteils ihre Sprache eingebüßt und stattdessen das Türkische oder andere zirkassische Dialekte übernommen. Die erste partielle Beschreibung stammt von einem Deutschen – Adolf Dirr. Er war ein bedeutender Pionier der kaukasischen Sprachforschung: Pro Jahr untersuchte er eine dieser Sprachen, stets während des Urlaubs. Leider saß er während des Weltkriegs in Tiflis fest, von wo er zwar schließlich entkommen konnte, aber unter Verlust des größten Teils seiner Aufzeichnungen, darunter die über das Ubychische, die er sich 1913 in der Türkei gemacht hatte. Was ihm geblieben war, veröffentlichte er 1927, und das war noch bewundernswert genug. Danach hat sich ein Franzose, Dumézil, damit befasst und 1931 eine vollständige Beschreibung veröffentlicht. Nun hat das Ubychische die Besonderheit, dass es, je nach Zählweise, zwischen achtzig und dreiundachtzig Konsonanten umfasst. Mehrere Jahre lang glaubte man, das sei der Weltrekord. Dann wurde behauptet, einige Sprachen aus dem Süden des Tschad, etwa das Marghische, hätten noch mehr Konsonanten aufzuweisen. Doch die Streitfrage ist noch nicht entschieden.«
Ich hatte meine Teetasse abgesetzt: »All das
ist hochinteressant, Leutnant Voss. Aber ich muss mich leider für
etwas konkretere Fragen interessieren.« – »Oh, Pardon, natürlich!
Was Sie im Grunde interessiert, ist die Nationalitätenpolitik der
Sowjets. Doch Sie werden sehen, dass meine Abschweifungen nicht
nutzlos waren: Diese Politik gründet sich nämlich unmittelbar auf
die Sprache. Zur Zarenzeit war alles viel einfacher: Die eroberten
Autochthonen durften praktisch machen, was sie wollten, solange sie
sich ruhig verhielten und ihre Steuern zahlten. Die Eliten konnten
russisch erzogen werden und sich sogar als russifiziert betrachten
– im Übrigen war eine Anzahl russischer Fürstenfamilien
kaukasischen Ursprungs, vor allem seit der Heirat Iwans IV. mit
Maria Temrjukowna, einer kabardinischen Fürstentochter. Ende des
letzten Jahrhunderts begannen die russischen Forscher diese Völker
zu studieren, vor allem unter ethnologischen Gesichtspunkten, und
brachten bemerkenswerte Arbeiten zustande, etwa die Untersuchungen
von Wsewolod Miller, der auch ein ausgezeichneter
Sprachwissenschaftler war. Die meisten dieser Werke sind in
Deutschland greifbar, und einige sind sogar übersetzt; doch es gibt
auch eine Anzahl von obskuren oder nur in kleinen Auflagen
erschienenen Werken, die ich in den Bibliotheken der Autonomen
Republiken zu finden hoffe. Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg
hat die bolschewistische Macht, zunächst von einer Lenin’schen
Schrift ausgehend, nach und nach eine ganz eigene
Nationalitätenpolitik definiert: Stalin, der damals Volkskommissar
für Nationalitätenfragen war, hat dabei eine maßgebliche Rolle
gespielt. Diese Politik ist eine erstaunliche Synthese einerseits
aus wissenschaftlichen Arbeiten von absolut objektivem Charakter,
wie etwa den Werken der großen Kaukasiologen Jakowlew und Trubezkoi, und
andererseits aus einer internationalistischen kommunistischen
Ideologie, die anfangs unfähig war, die ethnischen Aspekte zu
berücksichtigen, und schließlich aus den Realitäten der ethnischen
Beziehungen und Bestrebungen an Ort und Stelle. Die sowjetische
Lösung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Volk – oder
Nationalität, wie die Sowjets sagen – ist gleich Sprache plus
Territorium. Getreu diesem Grundsatz haben sie versucht, den Juden,
die eine Sprache hatten, das Jiddisch, aber kein Territorium, ein
autonomes Gebiet in Fernost zuzuweisen, Birobidshan; doch es sieht
so aus, als wäre das Experiment gescheitert, als hätten die Juden
dort nicht leben wollen. Anschließend haben die Sowjets nach dem
demographischen Gewicht der einzelnen Nationalitäten eine komplexe
Abstufung der administrativen Selbstständigkeit entwickelt, wobei
jede Ebene ihre genau definierten Rechte und Einschränkungen bekam.
Die bedeutendsten Völkerschaften, wie die Armenier, Georgier und
die so genannten Aseris, haben, genauso wie die Ukrainer und die
Weißrussen, das Recht, eine SSR, eine Sozialistische
Sowjetrepublik, zu bilden. In Georgien kann man sogar ein
Universitätsstudium vollständig auf Kartwelisch absolvieren, und es
werden Arbeiten von hohem wissenschaftlichem Rang in dieser Sprache
veröffentlicht. Gleiches gilt für Armenien. Es ist anzumerken, dass
es sich um zwei Schriftsprachen handelt, die sehr alt und
traditionsreich sind und die lange vor dem Russischen und sogar dem
Slawonischen geschrieben wurden; erstmals erwähnt wurden sie von
Kyrillos und Methodios. Übrigens muss Mesrop, wenn Sie mir den
Exkurs gestatten, der Anfang des 5. Jahrhunderts das georgische und
das armenische Alphabet entwickelte – obwohl die beiden Sprachen
nicht die geringste Beziehung untereinander aufweisen –, ein
genialer Sprachwissenschaftler gewesen sein. Sein georgisches
Alphabet ist vollkommen phonematisch. Das lässt sich von den
kaukasischen Alphabeten der
sowjetischen Sprachwissenschaftler nicht behaupten. Es heißt,
Mesrop habe auch ein Alphabet für die Albaner des Kaukasus
erfunden; davon ist aber leider keine Spur erhalten. Doch fahren
wir fort: Dann kommen die Autonomen Sozialistischen
Sowjetrepubliken, etwa Kabardino-Balkarien,
Tschetscheno-Inguschetien oder Dagestan. Auch die Wolgadeutschen
hatten diesen Status, doch wie Sie wissen, hat man sie alle
deportiert und ihre Republik aufgelöst. Dann geht es weiter mit den
autonomen Gebieten und so fort. Ein entscheidender Gesichtspunkt
ist der Begriff der Schriftsprache. Um eine eigene Republik zu
haben, muss ein Volk unbedingt eine Schriftsprache haben. Doch wie
erwähnt, erfüllte, vom Kartwelischen abgesehen, zur Zeit der
Revolution keine kaukasische Sprache diese Bedingung. Zwar gab es
einige Versuche im 19. Jahrhundert, doch nur zu wissenschaftlichen
Zwecken, und es existieren einige spärliche Inschriften in
arabischen Buchstaben, die auf das 10. oder 11. Jahrhundert
zurückgehen, aber das ist alles. Hier haben die sowjetischen
Sprachwissenschaftler Erstaunliches, Kolossales geleistet: Sie
haben – zunächst auf der Grundlage lateinischer, dann kyrillischer
Buchstaben – für elf kaukasische Sprachen, eine große Anzahl
Turksprachen, darunter auch sibirische Idiome, Alphabete
geschaffen. Wissenschaftlich betrachtet, sind diese Alphabete
bestimmt sehr kritikwürdig. Das Kyrillische eignet sich schlecht
für diese Sprachen: Modifizierte lateinische Buchstaben, wie man
sie in den zwanziger Jahren ausprobiert hat, oder auch das
arabische Alphabet hätten besser gepasst. Eine bemerkenswerte
Ausnahme haben sie allerdings für das Abchasische gemacht, das man
heute mit einem abgeänderten georgischen Alphabet schreibt; doch
die Gründe dafür sind sicherlich nicht sprachwissenschaftlicher
Art. Der obligatorische Wechsel zum Kyrillischen hat groteske
Verrenkungen erforderlich gemacht, so die Verwendung von
diakritischen Zeichen, von Digraphen, Trigraphen und sogar – zur Darstellung
des entstimmten aspirierten labialisierten uvularen Plosivs im
Kabardinischen – von einem Tetragraphen.« Er nahm ein Blatt Papier
und kritzelte auf die Rückseite einige Zeichen, dann reichte er es
mir, um mir die Inschrift κxy zu zeigen. »Das hier
ist ein Buchstabe. Das ist genauso lächerlich, wie wenn man den
kyrillischen Buchstaben
« – wieder kritzelte er etwas – »im Englischen
durch shch oder, schlimmer noch, bei uns im
Deutschen durch schtsch transkribiert.
Außerdem sind einige der neuen Schreibweisen außerordentlich
unsicher. Im Abchasischen ist die Wiedergabe der Aspiraten und
Ejektive äußerst inkonsistent. Mesrop wäre empört gewesen.
Schließlich haben die sowjetischen Sprachwissenschaftler darauf
bestanden, und das ist ihre größte Sünde, dass jede Sprache ein
eigenes Alphabet bekommt. Sprachlich führt das zu absurden
Situationen, so steht das
im Kabardinischen beispielsweise für das
sch und im Adygeischen für das tsch, obwohl es sich um ein und dieselbe Sprache
handelt; im Adygeischen wird das sch durch
und im Kabardinischen das tsch durch
wiedergegeben. Gleiches gilt für die
Turksprachen, wo beispielsweise das mouillierte g in fast jeder Sprache anders wiedergegeben wird.
Da steckt natürlich eine Absicht dahinter: Es war eine politische
und keine sprachwissenschaftliche Entscheidung, die offensichtlich
den Zweck hatte, die benachbarten Völker möglichst stark
voneinander zu trennen. Zu Ihrem Verständnis: Die verwandten Völker
sollten sich nicht mehr horizontal, als Netz, organisieren, sondern
sich vertikal und parallel auf die Zentralmacht ausrichten, den
höchsten Schlichter in allen Konflikten, die diese Zentralmacht
selbst unaufhörlich stiftete. Aber um auf diese Alphabete
zurückzukommen, trotz all meiner kritischen Anmerkungen bleiben sie
eine ungeheure Leistung, umso mehr, als in der Folge ein enormer
Bildungsapparat entwickelt wurde. In fünfzehn, manchmal sogar nur
zehn Jahren wurden vollkommen analphabetische Völker mit Zeitschriften, Büchern
und Magazinen in ihrer eigenen Sprache versorgt. Die Kinder lernten
noch vor dem Russischen in ihrer Muttersprache lesen. Das ist
außergewöhnlich.«
Voss fuhr fort; ich schrieb mit, so schnell ich konnte. Doch mehr noch als die Einzelheiten faszinierte mich seine Einstellung zu seinem Wissen. Die Intellektuellen, mit denen ich bislang zu tun gehabt hatte, etwa Ohlendorf und Höhn, breiteten ständig ihre Kenntnisse und Theorien aus; wenn sie sprachen, dann taten sie es entweder, um ihre Ideen darzulegen, oder um sie weiterzuentwickeln. Voss’ Wissen dagegen schien fast wie ein Organismus in ihm zu leben, und Voss schien dieses Wissen sinnlich zu genießen, wie eine Geliebte, er aalte sich in dem Wissen, entdeckte ständig neue Aspekte an ihm, die zwar schon in ihm vorhanden gewesen, aber ihm noch nicht bewusst gewesen waren, und er fand daran die reine Freude eines Kindes, das lernt, eine Tür zu öffnen oder zu schließen oder einen Eimer mit Sand zu füllen und ihn zu leeren; diese Freude teilte sich dem Zuhörer mit, weil seine Rede mit launigen Exkursen und ständigen Überraschungen gespickt war; man konnte darüber lachen, aber es war stets das Lachen des entzückten Vaters, der seinem Kind zusieht, wie es eine Tür öffnet und schließt, zehnmal hintereinander, und lacht. Ich suchte ihn noch mehrfach auf, und er empfing mich jedes Mal mit der gleichen Freundlichkeit und Begeisterung. Wir schlossen schon bald auf jene offene und rasche Art Freundschaft, die durch den Krieg und Ausnahmesituationen begünstigt wird. Gemeinsam schlenderten wir durch die lärmenden Straßen von Simferopol und erfreuten uns an der Sonne inmitten einer bunten Menge von deutschen, rumänischen und ungarischen Soldaten, erschöpften Hiwis, dunkelhäutigen turbanbewehrten Tataren und ukrainischen Bäuerinnen mit rosigen Wangen. Voss kannte alle Tschaichonas der Stadt und unterhielt sich ungezwungen in verschiedenen Dialekten mit den beflissenen oder liebenswürdigen Wirten, die uns schlechten grünen Tee servierten und sich dafür entschuldigten. Eines Tages fuhr er mit mir nach Bachtschissarai, dort besichtigten wir den prachtvollen kleinen Palast der Krimkhane, der im 16. Jahrhundert von italienischen, persischen und osmanischen Architekten entworfen und von russischen und ukrainischen Sklaven erbaut worden war; auch Tschufut-Kale besuchten wir, die Festung der Juden, eine Höhlenstadt, die ab dem 6. Jahrhundert in den Kalksteinfels gehauen und von verschiedenen Völkern bewohnt worden war, deren letztes, die Karaiten – ihnen verdankt der Ort seinen persischen Namen –, eine abtrünnige jüdische Religionsgemeinschaft war, die, wie ich Voss erklärte, 1937 durch Entscheidung des Innenministeriums von den deutschen Rassengesetzen ausgenommen worden war und infolgedessen auch hier auf der Krim nicht von den Sondermaßnahmen der Sipo erfasst wurde. »Offenbar haben die deutschen Karaiten zaristische Dokumente, darunter einen Ukas von Katharina der Großen, vorgelegt, aus denen hervorging, dass sie nicht jüdischer Abstammung, sondern erst relativ spät zum Judentum übergetreten sind. Die Spezialisten im Ministerium haben die Echtheit dieser Dokumente bestätigt.« – »Ja, ich habe davon gehört«, sagte Voss mit einem kleinen Lächeln. »Das haben sie schlau angestellt.« Ich hätte ihn gern gefragt, was er damit meinte, aber er hatte das Thema bereits gewechselt. Es war ein strahlender Tag. Noch war es nicht zu heiß, der Himmel blieb blass und klar; von der Höhe der Felsen sah man in der Ferne das Meer, eine etwas graue Fläche unter dem Himmel. Von Südwesten erreichte uns verschwommen das monotone, leise von den Bergen zurückgeworfene Grollen der Artillerie, die Sewastopol beschoss. Kleine Tatarenkinder, schmutzig und zerlumpt, spielten zwischen den Ruinen oder hüteten ihre Ziegen; einige von ihnen betrachteten uns neugierig, nahmen aber Reißaus, als Voss sie in ihrer Sprache herbeirufen wollte.
Wenn ich sonntags nicht zu viel Arbeit hatte, nahm ich einen Opel, und wir fuhren nach Eupatoria an den Strand. Oft saß ich selbst am Steuer. Es wurde von Tag zu Tag heißer, wir befanden uns mitten im Frühjahr, und ich musste auf die Gruppen von Jungen achten, die nackt mit dem Bauch auf dem glühend heißen Asphalt der Straße lagen und beim Nahen eines Autos wie Spatzen auseinanderstoben, ein Gewimmel von mageren sonnengebräunten Leibern. In Eupatoria gab es eine schöne Moschee, die größte auf der Krim, die im 16. Jahrhundert von dem berühmten osmanischen Architekten Sinan entworfen worden war, und einige merkwürdige Ruinen; aber wir bekamen dort keinen Portwein und noch nicht einmal Tee, der diesen Namen verdient hätte; und das Wasser des Sees war eine stehende schlammige Brühe. Daher verließen wir die Stadt und fuhren an den Strand, wo wir manchmal Gruppen von Soldaten trafen, die von Sewastopol kamen, um sich von den Kämpfen zu erholen. Meist nackt, von Gesicht, Hals und Unterarmen abgesehen fast immer vollkommen weiß, alberten sie wie Kinder herum, stürzten ins Wasser, wälzten sich, noch nass, im Sand und saugten seine Wärme auf wie ein Gebet, um die Kälte des Winters auszutreiben. Oft waren die Strände leer. Ich mochte den altmodischen Anblick der sowjetischen Strände: die Sonnenschirme, bunt, aber teilweise ohne Tuch, die Bänke mit Vogeldreck befleckt, die rostenden Metallkabinen mit abblätternder Farbe, die von den hinter den Absperrungen versteckten Gören nur Füße und Köpfe zeigten. Wir hatten unseren bevorzugten Flecken, einen Strand im Süden der Stadt. An dem Tag, an dem wir ihn entdeckten, war ein halbes Dutzend Kühe rund um einen bunt bemalten, auf dem Sand liegenden Fischkutter dabei, das frische, von der Steppe in die Dünen eindringende Gras abzufressen, ohne das blonde Kind zu beachten, das sich auf einem selbst gebastelten Fahrrad zwischen ihnen hindurchschlängelte. Auf der anderen Seite einer schmalen Bucht drang eine kleine traurige russische Melodie aus einer blauen Hütte, die auf einer wackligen Anlegebrücke stand, an der, an abgewetzten Seilen vertäut, drei armselige Fischerboote plätscherten. Der Ort träumte in stiller Verwahrlosung vor sich hin. Wir hatten frisches Brot und rote Äpfel vom Vorjahr mitgenommen, dazu tranken wir Wodka; das Wasser war kalt und belebend. Zu unserer Rechten standen zwei alte, mit Vorhängeschlössern gesicherte Erfrischungsstände und der halb zerfallene Turm des Bademeisters. Die Stunden verstrichen, ohne dass wir viel redeten. Voss las; ich trank langsam den Wodka aus und tauchte immer wieder ins Wasser ein; eine der Kühe begann ohne erkennbaren Grund am Strand entlangzugaloppieren. Auf dem Rückweg zu unserem Wagen, den wir weiter oben geparkt hatten, kamen wir in einem kleinen Fischerdorf an einer Schar Enten vorbei, die sich nacheinander unter einem Holztor hindurchzwängten, die letzte hatte einen grünen Apfel im Schnabel und lief, um ihre Schwestern einzuholen.
Auch Ohlendorf sah ich häufig. Im Dienst hatte ich vor allem mit Seibert zu tun; doch am Spätnachmittag ging ich, wenn Ohlendorf nicht zu beschäftigt war, in sein Büro, um mit ihm Kaffee zu trinken. Er trank ihn ständig, böse Zungen behaupteten, er ernähre sich von ihm. Stets schien er mit einer Vielzahl von Aufgaben beschäftigt, die manchmal wenig mit denen der Gruppe zu tun hatten. Tatsächlich erledigte Seibert die tägliche Arbeit; ihm hatten die anderen Offiziere des Gruppenstabes Rede und Antwort zu stehen, er war es, der auch regelmäßig die Besprechungen mit dem Chef des Stabes oder dem Ic der 11. Armee führte. Um Ohlendorf in dienstlichen Belangen zu sprechen, musste man sich an seinen Adjutanten wenden, Obersturmführer Heinz Schubert, einen Nachkommen des großen Komponisten und gewissenhaften, wenn auch etwas beschränkten Menschen. Daher brachte ich, wenn Ohlendorf mich empfing – wie ein Professor, der einen Studenten außerhalb des Lehrbetriebs vorlässt –, nie Dienstliches zur Sprache. Stattdessen unterhielten wir uns über theoretische oder weltanschauliche Fragen. Eines Tages schnitt ich die Judenfrage an. »Die Juden!«, rief er aus. »Verdammt solln sie sein! Sie sind noch schlimmer als die Hegelianer!« Er gönnte sich ein Lächeln, was bei ihm selten vorkam, bevor er mit seiner präzisen, melodiösen, ein wenig hellen Stimme fortfuhr. »Im Grunde hat schon Schopenhauer sehr klar erkannt, dass der Marxismus eigentlich eine jüdische Pervertierung Hegels ist. Nicht wahr?« – »Ich wollte Sie eigentlich nach Ihrer Meinung über unsere Aktion fragen«, erwiderte ich vorsichtig. »Sie möchten über die Vernichtung des jüdischen Volkes sprechen, nehme ich an?« – »Ja. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich damit Probleme habe.« – »Damit haben alle Probleme«, erklärte er kategorisch. »Auch ich habe damit Probleme.« – »Was denken Sie also darüber?« – »Was ich denke?« Er setzte sich auf und faltete die Hände vor den Lippen; seine gewöhnlich so durchdringenden Augen schienen leer geworden zu sein. Ich konnte mich nicht daran gewöhnen, ihn in Uniform zu sehen; für mich blieb Ohlendorf ein Zivilist, und ich hatte Schwierigkeiten, ihn mir anders als in seinen unauffälligen, perfekt geschnittenen Anzügen vorzustellen. »Es ist ein Fehler«, sagte er schließlich. »Aber ein notwendiger Fehler.« Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Ich muss Ihnen das erklären. Nehmen Sie sich Kaffee. Es ist ein Fehler, denn es ist das Ergebnis unserer Unfähigkeit, das Problem zweckmäßiger zu lösen. Aber es ist ein notwendiger Fehler, weil die Juden in der gegenwärtigen Situation eine ungeheure, akute Gefahr für uns darstellen. Wenn der Führer schließlich die radikalste Lösung befohlen hat, dann deshalb, weil er sich dazu durch die Unentschlossenheit und Unfähigkeit der Verantwortlichen gezwungen sah.« – »Was meinen Sie mit unserer Unfähigkeit, das Problem zweckmäßiger zu lösen?« – »Ich werde es Ihnen erklären. Sie erinnern sich sicherlich, wie nach der Machtergreifung all die Verantwortungslosen und Psychopathen unter den PG’s lautstark nach radikalen Maßnahmen geschrien haben und wie alle möglichen illegalen oder schädlichen Aktionen eingeleitet wurden, denken Sie nur an die Initiativen dieses Schwachkopfs Streicher. Klugerweise hat der Führer diese unkontrollierten Aktionen unterbunden und eine legale Lösung des Problems in die Wege geleitet, was 1935 zu den insgesamt befriedigenden Rassengesetzen geführt hat. Aber selbst danach blieb das Judenproblem im Kräftefeld zwischen den kleinkarierten Bürokraten, die jeden Fortschritt in einer Papierflut ertränkten, und den Hysterikern, die ständig zu Einzelaktionen aufriefen, häufig zu ihrem eigenen Vorteil, noch weit von einer Lösung entfernt. Die Pogrome von 1938, die Deutschland so nachhaltig geschadet haben, waren eine logische Konsequenz dieses Mangels an Koordination. Erst als der SD anfing, sich ernsthaft mit dem Problem zu befassen, zeichnete sich eine Alternative dieser improvisierten Initiativen ab. Nach eingehenden Studien und Diskussionen konnten wir eine umfassende und einheitliche Politik vorschlagen: die beschleunigte Emigration. Ich denke heute noch, dass diese Lösung alle Welt zufriedengestellt hätte und dass sie sich selbst nach dem Anschluss noch durchaus hätte durchführen lassen. Die Institutionen, die geschaffen wurden, um die Emigration zu fördern, insbesondere die Verwendung unrechtmäßig erworbener jüdischer Vermögen, um die Emigration mittelloser Juden zu finanzieren, haben sich als sehr wirksam erwiesen. Sie erinnern sich vielleicht an diesen kleinen, ziemlich kriecherischen Halbösterreicher, der erst für Knochen und dann für Behrends gearbeitet hat …?« – »Sie meinen Sturmbannführer Eichmann? Durchaus, ich habe ihn letztes Jahr in Kiew wiedergetroffen.« – »Richtig, genau den. Nun, er hatte in Wien eine bemerkenswerte Organisation auf die Beine gestellt. Die funktionierte sehr gut.« – »Ja, aber dann kam Polen. Kein Land der Welt war bereit, drei Millionen Juden aufzunehmen.« – »Genau.« Er hatte sich wieder aufgerichtet und ein Bein über das andere geschlagen. »Aber selbst zu dem Zeitpunkt hätte man die Schwierigkeiten noch Schritt für Schritt lösen können. Die Gettoisierung war natürlich eine Katastrophe; doch Franks Verhalten hat meiner Meinung nach erheblich dazu beigetragen. Das eigentliche Problem lag darin, dass man alles gleichzeitig wollte: die Volksdeutschen heim ins Reich holen und das jüdische und das polnische Problem lösen. Das musste ins Chaos führen.« – »Schon, aber andererseits war die Heimholung der Volksdeutschen doch dringend geboten: Niemand konnte wissen, wie lange Stalin noch zur Zusammenarbeit bereit sein würde. Er hätte die Grenzen von heute auf morgen schließen können. Und übrigens ist es uns nicht gelungen, die Wolgadeutschen zu retten.« – »Wir hätten es können, denke ich. Aber sie wollten nicht kommen. Sie haben den Fehler begangen, Stalin zu vertrauen. Sie haben sich durch ihr Statut geschützt gefühlt, nicht wahr? Auf jeden Fall haben Sie Recht: Wir hätten unbedingt mit den Volksdeutschen beginnen müssen. Aber das betraf nur die Anschlussgebiete, nicht das Generalgouvernement. Wären alle zur Zusammenarbeit bereit gewesen, hätte die Möglichkeit bestanden, die Juden und Polen aus dem Warthegau und Danzig-Westpreußen ins Generalgouvernement umzusiedeln, um Platz für die Optanten zu schaffen. Doch hier stoßen wir an die Grenzen unseres nationalsozialistischen Staates, so wie er sich heute darstellt. Die Organisation der nationalsozialistischen Verwaltung wird zweifellos noch nicht den politischen und sozialen Bedürfnissen unserer Gesellschaftsform gerecht. Die Partei krankt an zu vielen verderbten Elementen, die ihre Privatinteressen verteidigen. Infolgedessen wird jede Meinungsverschiedenheit sofort zu einem erbitterten Konflikt. Im Falle der Repatriierung haben die Gauleiter der Anschlussgebiete eine ungeheure Arroganz an den Tag gelegt, und das Generalgouvernement hat sich genauso aufgeführt. Jeder behauptet von sich, er werde von den anderen als Müllabladeplatz missbraucht. Und die SS, die eigentlich mit der Lösung des Problems beauftragt worden war, hatte nicht genügend Macht, um eine vernünftige Regelung durchzusetzen. In jedem Stadium ergriff irgendwer eine abenteuerliche Initiative oder stellte die Entscheidungen des Reichsführers in Frage, indem er seine persönliche Beziehung zum Führer nutzte. Unser Staat ist ein absoluter, nationaler und sozialistischer Führerstaat bisher nur in der Theorie; in der Praxis ist er eine Art pluralistische Anarchie, und es verschlimmert sich zusehends. Der Führer kann versuchen zu vermitteln, aber überall sein kann er nicht, und unsere Gauleiter verstehen sich ausgezeichnet darauf, seine Befehle zu interpretieren, sie sich nach Bedarf zurechtzubiegen und hinterher zu verkünden, sie würden nach seinem Willen handeln, um in Wirklichkeit zu tun, was sie wollen.«
All das hatte uns ein wenig von den Juden fortgeführt. »Ach ja, das auserwählte Volk. Selbst angesichts all dieser Hindernisse wären noch angemessene Lösungen möglich gewesen. Nach unserem Sieg über Frankreich beispielsweise hat der SD in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt ernsthaft über den Madagaskarplan nachgedacht. Zuvor war erwogen worden, alle Juden in Lublin und Umgebung anzusiedeln, in einer Art großem Reservat, wo sie in Frieden hätten leben können, ohne noch eine größere Gefahr für Deutschland darzustellen; doch das Generalgouvernement hat das kategorisch abgelehnt; Frank hat seine Beziehungen spielen lassen und den Plan torpediert. Madagaskar war ernst gemeint. Wir haben Untersuchungen vorgenommen, da wäre genügend Platz für alle Juden in unserer Einflusssphäre gewesen. Wir waren in der Planung schon sehr weit fortgeschritten, wir haben die Mitarbeiter der Staatspolizei zur Vorbereitung ihrer Abreise sogar schon gegen Malaria geimpft. Das Projekt wurde vor allem vom Amt IV vorangetrieben, aber der SD hat Informationen und Ideen beigesteuert, und ich habe alle Berichte gelesen.« – »Und warum ist nichts daraus geworden?« – »Ganz einfach, weil die Briten sich unvernünftigerweise geweigert haben, unsere drückende Überlegenheit anzuerkennen und einen Friedensvertrag mit uns zu unterzeichnen! Davon hing das Ganze ab. Zunächst einmal, weil Frankreich uns Madagaskar hätte abtreten müssen, was Gegenstand des Vertrags gewesen wäre, und dann, weil England sich mit seiner Flotte hätte daran beteiligen müssen, verstehen Sie?«
Ohlendorf unterbrach sich, um eine neue Kanne Kaffee bei seiner Ordonnanz bestellen zu gehen. »Auch hier in Russland waren die anfänglichen Vorstellungen sehr viel begrenzter. Alle dachten, der Feldzug würde nicht lange dauern, daher wollten wir wie in Polen vorgehen, das heißt die Rädelsführer, die Intellektuellen, die bolschewistischen Kader, alle gefährlichen Leute ausschalten. Das allein wäre schon eine grässliche Aufgabe, aber lebenswichtig und logisch, bedenkt man, wie maßlos der Bolschewismus in seinen Zielsetzungen ist und wie skrupellos. Nach dem Endsieg hätten wir wieder über eine umfassende und endgültige Lösung nachdenken können, indem etwa ein jüdisches Reservat im Norden oder in Sibirien geschaffen oder sie nach Birobidshan geschickt worden wären, warum nicht?« – »Wie dem auch sei, es bleibt eine grässliche Aufgabe«, sagte ich. »Darf ich Sie fragen, warum Sie den Posten hier angenommen haben? Bei Ihrem Dienstgrad und Ihren Fähigkeiten wären Sie doch in Berlin viel nützlicher gewesen.« – »Gewiss«, erwiderte er lebhaft. »Ich bin weder Militär noch Polizist, und diese Handlangerdienste sagen mir überhaupt nicht zu. Aber es war ein direkter Befehl, und ich musste ihn befolgen. Und wie gesagt, wir sind alle der Meinung gewesen, dass das Ganze nur ein, zwei Monate dauert, nicht länger.« Ich war erstaunt, dass er mir so freimütig geantwortet hatte; noch nie hatten wir ein so offenes Gespräch gehabt. »Und was ist mit dem Vernichtungsbefehl des Führers?«, fragte ich weiter. Ohlendorf antwortete nicht sofort. Die Ordonnanz brachte den Kaffee; Ohlendorf wollte mir wieder nachschenken: »Danke, ich habe genug.« Er blieb in Gedanken vertieft. Schließlich sagte er langsam, seine Worte mit Bedacht wählend: »Der Vernichtungsbefehl des Führers ist eine schreckliche Sache. Paradoxerweise hört er sich fast wie ein Befehl Gottes aus der Bibel der Juden an, nicht wahr? So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was er hat, verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel. Aus dem 1. Buch Samuel, kennen Sie sicherlich. Als ich den Befehl erhielt, musste ich an diese Stelle denken. Und wie gesagt, ich halte das für einen Fehler, unsere Intelligenz und Fähigkeiten hätten ausreichen müssen, um eine … menschlichere Lösung zu finden, eine Lösung, sagen wir, die besser mit unserem Gewissen als Deutsche und Nationalsozialisten in Einklang zu bringen gewesen wäre. Insofern ist es ein Fehlschlag. Doch wir müssen auch die Realitäten des Krieges sehen. Der Krieg hält an, und jeder Tag, an dem dieser Feind hinter unseren Linien lauert, stärkt unsere Gegner und schwächt uns. Es ist ein totaler Krieg, der alle Kräfte des Volkes verlangt, und wir dürfen nichts vernachlässigen, was dem Sieg dienen könnte, nichts. Das hat der Führer in aller Klarheit erkannt: Er hat sicherlich den gordischen Knoten der Zweifel, des Zögerns, der Interessenskonflikte durchschlagen. Er hat es getan – wie er alles tut –, um Deutschland zu retten, wohl wissend, dass er damit möglicherweise Hunderttausende von Deutschen in den Tod schickt, das kann und muss er auch mit den Juden und allen unseren anderen Feinden tun. Die Juden beten für unsere Niederlage und betreiben sie mit allen Mitteln, und solange wir noch nicht gesiegt haben, können wir einen solchen Feind nicht an unserem Busen nähren. Und was uns angeht – uns, denen aufgetragen ist, diese schwere Aufgabe durchzuführen, unsere Pflicht gegenüber unserem Volk, unsere Pflicht als wahre Nationalsozialisten zu erfüllen –, so haben wir zu gehorchen. Selbst wenn der Gehorsam das Messer ist, das dem Willen des Menschen die Kehle durchschneidet, wie der heilige Josef von Copertino sagt. Wir müssen diese Pflicht in derselben Weise auf uns nehmen, wie Abraham das Unausdenkliche auf sich nimmt: das von Gott geforderte Opfer seines Sohnes Isaak. Haben Sie Kierkegaard gelesen? Er nennt Abraham den Ritter des Glaubens, der nicht nur seinen Sohn opfern muss, sondern auch und vor allem seine ethischen Grundsätze. Uns geht es genauso, nicht wahr? Wir müssen Abrahams Opfer vollenden.«
Wie ich Ohlendorfs Äußerungen entnehmen konnte, hätte er es vorgezogen, nicht auf diesen Posten versetzt zu werden; aber wer hatte schon in dieser Zeit das Glück, tun zu können, wozu er Lust hatte? Das hatte er begriffen und akzeptierte es sehenden Auges. Als Kommandeur war er streng und gewissenhaft; im Unterschied zu meiner alten Einsatzgruppe, die diese wenig praktische Methode rasch aufgegeben hatte, bestand er darauf, dass die Exekutionen militärisch durchgeführt wurden, das heißt durch Erschießungskommandos; häufig schickte er seine Offiziere, etwa Seibert und Schubert, zur Inspektion, um zu überprüfen, ob die Kommandos seine Befehle befolgten. Es war ihm auch wichtig, dass nach Möglichkeit alle Diebstähle und Unterschlagungen der mit den Exekutionen beauftragten Soldaten unterbunden wurden. Außerdem hatte er streng verboten, die Verurteilten zu schlagen oder zu quälen; laut Schubert wurden diese Befehle so weit wie möglich befolgt. Davon abgesehen, bemühte sich Ohlendorf fortwährend, positive Initiativen zu ergreifen. Im vorangehenden Herbst hatte er in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht eine Kolonne aus jüdischen Handwerkern und Bauern zusammengestellt, um die Ernte in der Umgebung von Nikolajew einbringen zu lassen; dieses Experiment musste er auf direkten Befehl des Reichsführers abbrechen, doch ich wusste, dass er es bedauerte, und insgeheim hielt er den Befehl für einen Fehler. Auf der Krim hatte er sich vor allem um bessere Beziehungen zur tatarischen Bevölkerung bemüht, und zwar mit beträchtlichem Erfolg. Im Januar, als die sowjetische Überraschungsoffensive und der Verlust von Kertsch unsere Gesamtlage auf der Krim gefährdet hatten, stellten die Tataren Ohlendorf spontan ein Zehntel ihrer männlichen Bevölkerung zur Verfügung, um bei der Verteidigung unserer Linien zu helfen; außerdem leisteten sie der Sipo und dem SD beträchtliche Hilfe bei der Bandenbekämpfung, indem sie Partisanen, die ihnen in die Hände fielen, auslieferten oder selbst liquidierten. Die Armee wusste diese Hilfe zu schätzen, und Ohlendorfs Bemühungen in dieser Hinsicht hatten, nach dem Konflikt mit Wöhler, erheblich zur Verbesserung der Beziehungen zum AOK beigetragen. Trotzdem fühlte er sich auch weiterhin nicht sehr wohl in seiner Rolle; und ich war nicht sonderlich überrascht, als er sich nach Heydrichs Tod um seine Rückkehr ins Reich bemühte. Heydrich wurde am 29. Mai in Prag verwundet und starb am 4. Juni; am folgenden Tag flog Ohlendorf nach Berlin, um an den Begräbnisfeierlichkeiten teilzunehmen; er kehrte in der zweiten Hälfte des Monats mit der Beförderung zum SS-Brigadeführer und der Zusicherung einer baldigen Ablösung zurück; gleich nach seiner Rückkehr machte er die Runde, um sich zu verabschieden. Eines Abends erzählte er mir kurz, wie sich das zugetragen hatte: Vier Tage nach Heydrichs Tod hatte der Reichsführer ihn zu einer Besprechung mit den meisten anderen Amtschefs bestellt – Müller, Streckenbach und Schellenberg –, um die Zukunft des RSHA zu erörtern und zu überlegen, ob das RSHA ohne Heydrich überhaupt die Fähigkeit habe, als unabhängige Organisation fortzubestehen. Der Reichsführer hatte beschlossen, Heydrich nicht sofort zu ersetzen; er übernahm selbst die kommissarische Leitung, aber nur mittelbar; und diese Entscheidung verlangte die Anwesenheit aller Amtschefs in Berlin, damit sie die Leitung ihrer Ämter unmittelbar im Auftrage Himmlers wahrnehmen könnten. Ohlendorfs Erleichterung war offenkundig; ohne seine Zurückhaltung aufzugeben, wirkte er fast fröhlich. Doch das fiel inmitten der allgemeinen Aufregung kaum auf: Wir standen kurz vor unserer großen Sommeroffensive Richtung Kaukasus. Die Operation Blau begann am 28. Juni mit Bocks Angriff auf Woronesh; zwei Tage später traf Ohlendorfs Nachfolger, Oberführer Dr. Walter Bierkamp, in Simferopol ein. Ohlendorf reiste nicht allein ab: Bierkamp hatte seinen eigenen Adjutanten mitgebracht, Sturmbannführer Thielecke, und er hatte vor, die meisten der dienstälteren Offiziere des Gruppenstabs, auch die Befehlshaber der Kommandos, im Laufe des Sommers ablösen zu lassen, je nach der Verfügbarkeit der Ersatzleute. Anfang Juli hielt uns Ohlendorf, in der Begeisterung über den Fall Sewastopols, eine geschliffene Abschiedsrede, in der er, mit all seiner natürlichen Würde, die ganze Größe und Schwierigkeit unseres Überlebenskampfes gegen den Bolschewismus beschwor. Auch Bierkamp, der aus Belgien und Frankreich zu uns gekommen war, zuvor aber die Kripo in seiner Heimatstadt Hamburg geleitet hatte und dann als IdS in Düsseldorf tätig gewesen war, richtete einige Worte an uns. Er schien mit seiner neuen Dienststellung sehr zufrieden zu sein: »Die Arbeit im Osten ist für einen Mann, besonders in Kriegszeiten, ein besonderer Ansporn«, erklärte er uns. Eigentlich war er Jurist und Anwalt; doch in seinen Ausführungen während der Rede und des folgenden Empfangs konnte er den Polizisten nicht verleugnen. Er mochte vierzig Jahre alt sein, war eher gedrungen, kurzbeinig und hatte eine etwas verschlagene Miene; trotz seines Doktortitels war er sicherlich kein Intellektueller, und in seiner Sprechweise mischte sich der Hamburger Dialekt mit dem Sipo-Jargon; aber er schien entschlossen und kompetent zu sein. Nach diesem Abend sah ich Ohlendorf nur noch ein einziges Mal, beim Festbankett, das das AOK zur Feier der Einnahme Sewastopols gab: Er wurde von den Offizieren der Armee mit Beschlag belegt und unterhielt sich lange mit Manstein; aber er wünschte mir viel Glück und lud mich ein, ihn zu besuchen, wenn ich in Berlin sei.
Auch Voss war abgereist, nachdem er unvermittelt zum AOK des Generalobersten von Kleist abkommandiert worden war, dessen Panzer bereits die östliche Grenze der Ukraine überschritten hatten und in Richtung Millerowo vorstießen. Ich fühlte mich ein wenig einsam. Bierkamp war vollauf mit der Reorganisation der Kommandos beschäftigt, von denen einige aufgelöst werden sollten, um auf der Krim ständige Einrichtungen von Sipo und SD zu bilden; Seibert bereitete sich seinerseits auf seine Abreise vor. Mit Beginn des Sommers war es im Landesinneren der Krim unerträglich schwül geworden, daher suchte ich so oft wie möglich Erholung an den Stränden. Ich besichtigte Sewastopol, wo sich eines unserer Kommandos bereits an die Arbeit gemacht hatte. Der langgestreckte Hafen in der südlichen Bucht war von einer Vielzahl noch rauchender Ruinen umstanden, ausgelaugte Zivilisten huschten in ihnen umher, die schockiert waren, dass schon evakuiert wurde. Kleine Gören, blass und schmutzig, wieselten zwischen den Beinen der Soldaten umher und bettelten um Brot; vor allem die Rumänen jagten sie mit Ohrfeigen oder Stiefeltritten in den Hintern davon. Ich stieg in die unter dem Hafen gelegenen Kasematten hinab, in denen die Rote Armee Waffen- und Munitionsfabriken eingerichtet hatte; größtenteils waren sie demontiert oder verbrannt; in der Endphase der Schlacht hatten sich Kommissare, gelegentlich mit ihren Männern und den Zivilisten, die dort oder in den Felshöhlen Schutz gesucht hatten – sowie den deutschen Soldaten, die sich zu weit vorgewagt hatten –, in die Luft gesprengt. Doch alle hochrangigen sowjetischen Offiziere und Funktionäre waren vor dem Fall der Stadt von U-Booten herausgeholt worden, sodass wir nur Soldaten oder kleine Würstchen gefangen genommen hatten. Die kahlen Höhenzüge, die die riesige Bucht im Norden überragten und die Stadt umgaben, waren mit zerstörten Befestigungsanlagen übersät; die Stahlkuppeln der 30,5-cm-Festungsartillerie waren von den 80-cm-Granaten unseres schweren Eisenbahngeschützes förmlich zerfetzt worden; die langen verkrümmten Rohre der russischen Geschütze waren zur Seite abgeknickt oder ragten in den Himmel. In Simferopol packte das AOK 11 seine Sachen; Manstein, zum Generalfeldmarschall befördert, brach mit seinem Armeestab auf, um Leningrad in Schutt und Asche zu legen. Von Stalingrad sprach damals natürlich noch niemand: Das galt noch als zweitrangiges Ziel.
Anfang August setzte sich die Einsatzgruppe in Marsch. Unsere Truppen, mittlerweile aufgeteilt in die Heeresgruppen A und B, hatten in heftigen Straßenkämpfen gerade Rostow zurückerobert, und die Panzer stießen, nachdem sie den Don überquert hatten, in die Kubansteppe vor. Bierkamp versetzte mich zum Vorkommando des Gruppenstabes und schickte uns über Melitopol nach Rostow, wo wir uns der 1. Panzerarmee anschließen sollten. Unser kleiner Konvoi passierte rasch die Landenge und den gewaltigen Tatarengraben, der von den Sowjets in einen Panzergraben umgewandelt worden war; hinter Perekop bogen wir ab, um die Nogaische Steppe zu durchqueren. Die Hitze war fürchterlich, der Schweiß floss in Strömen, der Staub klebte wie eine graue Maske am Gesicht; doch im Morgengrauen, kurz nach dem Aufbruch, hatte sich ein zartes wunderbares Farbspiel lange Zeit am nur langsam erblauenden Himmel gehalten und meine Trübsal vertrieben. Regelmäßig mussten unsere Fahrzeuge halten, damit unser Führer, ein Tatar, beten konnte; ich ließ die anderen Offiziere schimpfen und stieg aus, um mir die Beine zu vertreten und zu rauchen. Beiderseits der Straße waren die Flüsse und Bäche ausgetrocknet und bildeten ein Netz von Balki, tiefen Einschnitten, die die Steppe durchzogen. Ringsum weder Bäume noch Hügel; nur die regelmäßig gesetzten Pfähle der »Indo-Europäischen Telegraphenlinie«, die Ende des 19. Jahrhunderts von Siemens erbaut worden war, unterbrachen die trostlose Weite. Das Wasser der Brunnen war salzig, der Kaffee schmeckte nach Salz, die Suppe schien vollends versalzen zu sein; mehrere Offiziere, die sich den Bauch mit Melonen vollgeschlagen hatten, bekamen Durchfall, was unser Vorankommen verlangsamte. Hinter Mariupol folgten wir einer schlechten Küstenstraße bis Taganrog und weiter nach Rostow. Hauptsturmführer Remmer, ein Offizier der Geheimen Staatspolizei, der das Vorkommando befehligte, ließ den Konvoi zweimal an breiten, mit gelb gewordenen Gräsern bewachsenen Kieselstränden halten, damit sich die Männer ins Wasser stürzen konnten; auf dem glühend heißen Kies trockneten wir in wenigen Minuten; dann hieß es wieder in die Kleider und weiter. In Rostow wurde unsere Kolonne von Sturmbannführer Dr. Christmann in Empfang genommen, der Seetzen an der Spitze des Sonderkommandos 10 a ablöste. Er hatte gerade die Exekution der jüdischen Bevölkerung in der so genannten Schlangenschlucht auf der anderen Seite des Dons abgeschlossen; außerdem hatte er ein Vorkommando in das zwei Tage zuvor gefallene Krasnodar geschickt, wo das V. Armeekorps einen Berg sowjetischer Dokumente entdeckt hatte. Ich bat ihn, sie so rasch wie möglich analysieren zu lassen und mir alle Informationen über Funktionäre und Parteimitglieder zu übermitteln, damit ich das kleine vertrauliche Heft vervollständigen konnte, das mir Seibert in Simferopol für seinen Nachfolger anvertraut hatte; es enthielt, in kleinen Buchstaben auf Bibelpapier, die Namen, Adressen und häufig auch Telefonnummern der aktiven Kommunisten, parteilosen Intellektuellen, Wissenschaftler, Professoren, Schriftsteller und berüchtigten Journalisten, der Funktionäre, Leiter von Staatsbetrieben, Kolchosen und Sowchosen aus der ganzen Region Kuban-Kaukasus; sogar Listen von Freunden und Familienangehörigen, Beschreibungen körperlicher Kennzeichen und einige Fotos waren angefügt. Christmann informierte uns auch über das Vorrücken der Kommandos: Das Sk 11, noch unter dem Kommando Dr. Braunes, eines Intimus von Ohlendorf, war gerade mit der 13. Panzerdivision in Maikop eingerückt; Persterer wartete mit seinem Sk 10b immer noch in Taman, doch ein Vorkommando des Ek 12 befand sich schon in Woroschilowsk, wo sich der Gruppenstab bis zur Einnahme von Grosny einrichten sollte; Christmann selbst bereitete sich darauf vor, sein Hauptkommando plangemäß nach Krasnodar zu verlegen. Ich sah fast nichts von Rostow; Remmer wollte weiter und gab gleich nach der Mahlzeit den Befehl zum Aufbruch. Jenseits des Dons, dessen immense Breite Pioniere mit Pontons überbrückt hatten, erstreckten sich kilometerweit reife Maisfelder, die sich nach und nach in der weiten wüstenartigen Kubansteppe verloren; weiter im Osten verlief die unregelmäßige Linie der Seen und Sümpfe der Manytschniederung, gelegentlich von Stauseen hinter gigantischen Talsperren unterbrochen; für einige Geographen markiert sie die Grenze zwischen Europa und Asien. Die Vorhutkolonnen der 1. Panzerarmee, die in geschlossenen Karrees marschierten, Lkws und Artillerie, von Panzern flankiert, waren auf fünfzig Kilometer zu erkennen: riesige Staubsäulen im blauen Himmel, gefolgt vom trägen schwarzen Rauchschleier der in Brand geschossenen Dörfer. In ihrem Gefolge begegneten wir kaum einmal Nachschubkolonnen oder Verstärkungstruppen auf dem Weg zur Front. In Rostow hatte Christmann uns eine Kopie jener Meldung Kleists gezeigt, die es später zu Berühmtheit bringen sollte: Vor mir kein Feind, hinter mir kein Nachschub. Und die Leere dieser endlosen Steppe hatte tatsächlich etwas Erschreckendes. Wir kamen nur mit Mühe voran: Die Panzer hatten die Wege in Meere aus feinem Sand verwandelt; unsere Fahrzeuge fuhren sich oft darin fest, und wenn wir ausstiegen, sackten wir manchmal bis zum Knie ein, wie in Schlamm. Vor Tichorezk zeigten sich endlich die ersten Sonnenblumenfelder, gelbe himmelwärts gewandte Flächen, Vorboten des Wassers. Dann begann das Paradies der Kubankosaken. Die Straße durchquerte jetzt bebaute Felder – Mais, Weizen, Hirse, Gerste, Tabak, Melonen; es gab auch Brachflächen, mit Disteln bewachsen, hoch wie Pferde, von rosa und violetten Spitzen gekrönt; und über allem ein weiter wolkenloser Himmel, zart und blass. Die Kosakendörfer waren reich, jede Isba hatte ihre Obstbäume – Pflaumen, Aprikosen, Äpfel, Birnen –, ihre Tomaten, Melonen, Rebstöcke, einen Hühnerhof, einige Schweine. Als wir Halt machten, um zu essen, wurden wir herzlich empfangen, man brachte uns frisches Brot, Omeletts, gebratene Schweinekoteletts, grüne Zwiebeln und kaltes Brunnenwasser. Dann tauchte Krasnodar auf, wo wir Lothar Heimbach wiedertrafen, den Führer des Vorkommandos. Remmer befahl einen Halt von drei Tagen, um die beschlagnahmten Papiere, die Christmann seit seiner Ankunft übersetzen ließ, zu sichten und zu erörtern. Auch Dr. Braune kam von Maikop zu Besprechungen herüber. Danach machte sich unser Vorkommando auf den Weg nach Woroschilowsk.
Die Stadt tauchte in der Ferne auf, ausgebreitet auf einem Hochplateau und von Feldern und Obstgärten umgeben. Die Straße war hier von umgestürzten Fahrzeugen, schweren Waffen und zerstörten Panzern gesäumt; auf den Schienen in der Ferne standen noch Hunderte von Güterwagen in munter flackernden Flammen. Früher einmal hatte diese Stadt Stawropol geheißen, was auf Griechisch so viel wie »Stadt des Kreuzes« oder vielmehr »Stadt der Wegkreuzung« heißt; sie war am Schnittpunkt zweier alter nach Norden führender Straßen gegründet worden und hatte den russischen Truppen im 19. Jahrhundert, während des Feldzugs zur Befriedung der Bergstämme, als Garnison gedient. Jetzt war sie eine kleine Provinzstadt, friedlich und verschlafen, die nicht rasch genug gewachsen war, um wie so viele andere durch eine dieser grässlichen sowjetischen Vorstädte verunstaltet worden zu sein. Vom Bahnhof aus führte ein langer Doppelboulevard zu beiden Seiten eines Platanenhains bergan; unten bemerkte ich eine schöne Jugendstilapotheke, mit einer Eingangstür und großen Rundfenstern, deren Scheiben von den Detonationen zerstört worden waren. Auch der Kommandostab des Ek 12 traf ein, und wir bezogen eine vorläufige Unterkunft im Hotel Kawkas. Sturmbannführer Dr. Müller, der Chef des Einsatzkommandos, sollte die Ankunft des Gruppenstabs vorbereiten, hatte aber noch keine Entscheidungen treffen können; alles war noch völlig ungeklärt, denn man erwartete auch den Generalstab der Heeresgruppe A, und Oberst Hartung von der Feldkommandantur zögerte noch, uns Unterkünfte zuzuweisen: Das Einsatzkommando hatte seine Dienststelle bereits im Haus der Roten Armee gegenüber dem NKWD-Gebäude eingerichtet, doch es hieß, der Gruppenstab solle beim Stab der Heeresgruppe unterkommen. Trotzdem hatte das Vorkommando keinen Mangel an Arbeit. Gleich nach der Ankunft hatten sie in einem Saurer-Lkw mehr als sechshundert Patienten einer psychiatrischen Klinik vergast, die als potenzielle Unruhestifter eingestuft worden waren; einige hatten sie zu erschießen versucht, aber das hatte zu einem Zwischenfall geführt: Einer der Verrückten fing an, im Kreis herumzulaufen, und der Hauptscharführer, der versuchte, ihn niederzuschießen, hatte schließlich abgedrückt, als sich einer seiner Kameraden in der verlängerten Schusslinie befand; die Kugel hatte den Unterführer am Arm verletzt, nachdem sie den Kopf des Verrückten durchschlagen hatte. Die jüdischen Gemeindeältesten waren ins ehemalige NKWD-Büro bestellt und ebenfalls vergast worden. Schließlich hatte das Vorkommando noch zahlreiche sowjetische Gefangene erschossen, draußen vor der Stadt, in der Nähe eines versteckten Lagers für Flugzeugbenzin; die Leichen wurden in unterirdische Lagertanks geworfen.
Das Einsatzkommando 12 sollte nicht in Woroschilowsk bleiben, ihm hatte man eine Zone zugewiesen, die bei den Russen KMW heißt, Kawkasskije Mineralnyje Wody – »Kaukasische Mineralwässer« –, ein Kranz von kleinen Kurorten, die, zwischen ehemaligen Vulkanen verstreut, für ihre Heilquellen und -bäder bekannt sind; das Einsatzkommando sollte sich, sobald die Region besetzt war, in Pjatigorsk einrichten. Dr. Bierkamp und der Gruppenstab trafen eine Woche nach uns ein; die Wehrmacht hatte uns endlich in einem separaten Flügel des großen Gebäudekomplexes, der den Stab der Heeresgruppe beherbergte, Unterkünfte und eine Dienststelle zugewiesen: Es war eigens eine Wand eingezogen worden, um uns von ihnen zu trennen, aber die Kantine benutzten wir auch weiterhin gemeinsam, sodass wir zusammen mit der Wehrmacht die Besteigung des Elbrusgipfels, des höchsten Kaukasusbergs, durch eine PK der 1. Gebirgsdivision feiern konnten. Dr. Müller war mit seinem Kommando abgerückt und hatte ein Teilkommando unter Werner Kleber zurückgelassen, das die Säuberung von Woroschilowsk zu Ende führen sollte. Bierkamp wartete noch auf das Eintreffen des Brigadeführers Gerret Korsemann, des neuen HSSPF für den Kuban-Kaukasus. Seiberts Nachfolger war noch immer nicht eingetroffen, daher hatte Hauptsturmführer Prill die kommissarische Führung übernommen. Prill schickte mich mit einem Auftrag nach Maikop.
Im Sommer verwehrten ständige Dunstschleier den Blick auf die Berge des Kaukasus, bis man zu ihren Füßen stand. Ich überquerte ihre hügeligen Ausläufer bei Armawir und Labinsk; sobald wir die Kosakengebiete verlassen hatten, flatterten osmanische Flaggen, grün mit weißem Halbmond, auf den Häusern, von Moslems aufgezogen, um uns willkommen zu heißen. Die Stadt Maikop, eines der wichtigsten Erdölzentren des Kaukasus, schmiegte sich eng ans Gebirge, von der Belaja abgeschirmt, einem tiefen Fluss, auf den die Altstadt von der Höhe eines Kreidefelsens hinabblickt. Vor den Randbezirken führte die Straße an einer Eisenbahnlinie vorbei, auf der Tausende von Güterwagen standen, hochbeladen mit erbeutetem Kriegsmaterial, zu dessen Abtransport die Sowjets nicht mehr gekommen waren. Dann überquerten wir eine unbeschädigte Brücke und fuhren in die Stadt hinein, die von einem Netz rechtwinkliger, völlig identischer Straßen durchzogen war und zu beiden Seiten von einem Kulturpark eingefasst wurde, in dem die Gipsstandbilder der Helden der Arbeit zerbröckelten. Braune, der mit seinem Gesicht unter der gewölbten Stirn an ein Pferd erinnerte, empfing mich ganz geschäftig: Ich spürte, dass es ihn beruhigte, einen der letzten von »Ohlendorfs Leuten« bei sich zu sehen, die in der Gruppe verblieben waren, auch wenn er seine eigene Ablösung jede Woche erwartete. Braune sorgte sich um die Erdölanlagen von Neftegorsk: Kurz vor der Eroberung der Stadt war es der Abwehr gelungen, die »Schamil«, eine Spezialeinheit aus Bergbewohnern des Kaukasus, die als Bataillon des NKWD getarnt war, mit dem Auftrag, die Erdölquellen intakt in ihre Hand zu bringen, in die Stadt zu schleusen; doch das Unternehmen war fehlgeschlagen, und die Russen hatten die Anlagen vor den heranrollenden Panzern in die Luft gejagt. Unsere Spezialisten waren allerdings schon damit beschäftigt, sie wieder instand zu setzen, und schon tauchten die ersten Geier der Kontinental Öl AG auf. Diese Bürokraten, die alle zu Görings Vierjahresplanorganisation gehörten, genossen die Unterstützung von Arno Schickedanz, dem designierten Reichskommissar des Kuban-Kaukasus. »Sie wissen sicherlich, dass Schickedanz seine Ernennung Minister Rosenberg verdankt, mit dem er das Gymnasium in Riga besucht hat. Doch er hatte sich mit seinem alten Schulfreund zerstritten. Es heißt, Herr Körner, der Staatssekretär des Reichsmarschalls Göring, habe die beiden wieder zusammengebracht; und Schickedanz ist in den Verwaltungsrat der KontiÖl berufen worden, der Gesellschaft, die vom Reichsmarschall gegründet wurde, um die Erdölfelder des Kaukasus und Bakus auszubeuten.« Braune meinte, wenn der Kaukasus unter zivile Verwaltung käme, könne man sich auf eine noch chaotischere und unkontrollierbarere Situation gefasst machen als in der Ukraine, wo Gauleiter Koch nach Gutdünken regiere und weder mit der Wehrmacht und der SS noch mit seinem eigenen Ministerium zusammenarbeiten wolle. »Der einzige positive Aspekt für die SS besteht darin, dass Schickedanz SS-Offiziere als Generalkommissare für Wladikawkas und Aserbaidshan eingesetzt hat: Zumindest in diesen Generalkommissariaten wird es die Beziehungen erleichtern.«
Drei Tage arbeitete ich mit Braune zusammen und half ihm bei der Abfassung der Dokumente und Übergabeberichte. Meine einzige Zerstreuung bestand darin, schlechten einheimischen Wein im Hof einer Schenke zu trinken, die von einem runzeligen alten Gebirgsbewohner betrieben wurde. Immerhin machte ich, nicht ganz zufällig, die Bekanntschaft eines belgischen Offiziers, des Kommandeurs der Legion Wallonien, Lucien Lippert. Eigentlich hätte ich Léon Degrelle kennenlernen wollen, den Chef der rexistischen Bewegung, der hier in der Gegend kämpfte; Brasillach hatte mir in Paris überschwänglich von ihm erzählt. Doch der Abwehrhauptmann, an den ich mich wandte, lachte mir ins Gesicht: »Degrelle? Den will jeder treffen. Er ist bestimmt der berühmteste Unteroffizier der Wehrmacht. Aber er ist an der Front, und da geht es heiß her. General Rupp wäre letzte Woche beinahe bei einem Überraschungsangriff getötet worden. Die Belgier haben viele Leute verloren.« Stattdessen machte er mich mit Lippert bekannt, einem jungen Offizier, dürr und eher unbekümmert, in einem zerknitterten, geflickten Feldgrau, das etwas zu groß für ihn war. Ich nahm ihn mit unter den Apfelbaum meiner Schenke, um mit ihm über belgische Politik zu sprechen. Lippert war Berufssoldat, Artillerist; sein Antibolschewismus hatte ihn veranlasst, in die Legion einzutreten, er war aber ein echter Patriot geblieben und beklagte sich, dass die Legionäre entgegen allen Versprechen weiterhin gezwungen seien, die deutsche Uniform zu tragen. »Die Männer waren wütend. Degrelle hatte Mühe, die Wogen zu glätten.« Als Degrelle eingetreten war, hatte er gedacht, seine politische Rolle würde ihn in den Offiziersrang befördern, doch die Wehrmacht hatte sofort abgewinkt: keine Erfahrung. Lippert konnte sich noch immer darüber amüsieren. »Na gut, er ist trotzdem mitgekommen, als einfacher MG-Schütze. Allerdings hatte er keine große Wahl, in Belgien lief es nicht besonders gut für ihn.« Obwohl er in Gromowo-Balka die Übersicht verloren habe, verhalte er sich seither im Gefecht so tapfer, dass er schon befördert worden sei. »Ärgerlich ist nur, dass er sich für eine Art politischen Kommissar hält, verstehen Sie? Er will selbst über den Einsatz der Legion verhandeln, das geht nicht. Schließlich ist er nur Unteroffizier.« Inzwischen träume er davon, die Legion in die Waffen-SS einzugliedern. »Letzten Herbst hat er Ihren General Steiner kennengelernt, das hat ihm vollkommen den Kopf verdreht. Doch ich sage Nein. Wenn er das macht, bitte ich um meine Ablösung.« Sein Gesicht war sehr ernst geworden. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen die SS. Aber ich bin Soldat, und in Belgien machen Soldaten keine Politik. Das ist nicht unsere Aufgabe. Ich bin Royalist, ich bin Patriot, ich bin Antikommunist, aber ich bin kein Nationalsozialist. Als ich mich gemeldet habe, hat man mir versichert, dass dieser Schritt mit meinem Treueschwur gegenüber dem König vereinbar sei, daher fühle ich mich noch immer nicht von ihm entbunden, egal, was die anderen sagen. Der Rest, die politischen Spielchen mit den Flamen, all das ist nicht mein Problem. Doch die Waffen-SS ist keine reguläre Waffengattung, sondern ein Verband der Partei. Degrelle sagt, nur wer an der Seite Deutschlands gekämpft habe, werde nach dem Krieg mitreden können, werde einen Platz in der neuen europäischen Ordnung finden. Einverstanden, deshalb muss man aber noch lange nicht übertreiben.« Ich lächelte: Trotz seiner Heftigkeit gefiel mir Lippert, er war ein aufrichtiger, rechtschaffener Mann. Ich goss ihm Wein nach und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema: »Sie dürften die ersten Belgier sein, die im Kaukasus kämpfen.« – »Glauben Sie das ja nicht!« Er lachte schallend und berichtete mir dann rasch von den unglaublichen Abenteuern des Don Juan van Halen, des Helden der belgischen Revolution von 1830, eines halb flämischen, halb spanischen Aristokraten und ehemaligen napoleonischen Offiziers, der wegen seiner liberalen Einstellung unter Ferdinand VII. in den Madrider Kerkern der Inquisition gelandet war. Er war geflohen und aus Gott weiß was für Gründen in Tiflis gestrandet, wo ihm General Jermolow, der Oberbefehlshaber der russischen Kaukasusarmee, ein Kommando angeboten hatte. »Er hat gegen die Tschetschenen gekämpft«, sagte Lippert lachend, »stellen Sie sich das vor!« Ich musste auch lachen, ich fand ihn sehr sympathisch. Aber er musste fort; das AOK 17 bereitete die Offensive auf Tuapse vor, um den Endpunkt der Ölleitung in die Hand zu bekommen, und die Legion, die der 97. Jägerdivision angegliedert war, sollte daran mitwirken. Als wir uns trennten, wünschte ich ihm viel Glück. Zwar verließ Lippert den Kaukasus wie sein Landsmann van Halen lebend, doch etwas später ließ ihn das Glück im Stich: Gegen Ende des Krieges erfuhr ich, dass er im Februar 1944, beim Ausbruch aus dem Kessel Tscherkassy, gefallen war. Die Legion »Wallonien« wurde im Juni 1943 der Waffen-SS eingegliedert, doch Lippert wollte seine Männer nicht ohne Kommandeur lassen und wartete acht Monate später noch immer auf seine Ablösung. Degrelle dagegen kam mit heiler Haut davon; zum Schluss, im Zuge der allgemeinen Auflösung, ließ er seine Männer bei Lübeck im Stich und floh im Privatflugzeug von Minister Speer nach Spanien. Obwohl in Abwesenheit zum Tode verurteilt, wurde er nie ernsthaft behelligt. Der arme Lippert hätte sich einer solchen Haltung geschämt.
Ich kehrte nach Woroschilowsk zurück, während unsere Truppen Mosdok einnahmen, ein wichtiges militärisches Zentrum der Sowjets; die Front folgte jetzt dem Verlauf der Flüsse Terek und Baksan, und die 111. Infanteriedivision schickte sich an, über den Terek zu setzen und in Richtung Grosny vorzustoßen. Unsere Kommandos waren nicht untätig: In Krasnodar hatte das Sk 10a neben den dreihundert Patienten der psychiatrischen Klinik des Bezirks auch noch die einer psychiatrischen Kinderklinik liquidiert; in der KMW bereitete Dr. Müller eine größere Aktion vor und hatte bereits in jeder Stadt einen Judenrat bilden lassen; die Juden von Kislowodsk, deren Rat von einem Zahnarzt geleitet wurde, hatten sich so beflissen gezeigt, dass sie uns ihre Teppiche, ihren Schmuck und ihre warme Kleidung übergaben, noch bevor sie den Befehl dazu erhalten hatten. Der HSSPF Korsemann erreichte Woroschilowsk mit seinem Stab am Tag meiner Rückkehr und lud uns am Abend zu seiner Begrüßungsrede ein. Ich hatte schon in der Ukraine von Korsemann gehört: Er war alter Freikorpskämpfer und SA-Mann, vorwiegend im Hauptamt Orpo tätig gewesen und erst spät, kurz vor dem Krieg, in die SS eingetreten. Es hieß, Heydrich habe ihn nicht haben wollen und ihn einen SA-Agitator genannt; doch er wurde von Daluege und Bach-Zelewski protegiert, und daher hatte der Reichsführer beschlossen, ihn zum HSSPF zu machen, indem er ihn nach und nach die Leiter hinaufklettern ließ. In der Ukraine diente er bereits als HSSPF z. b. V., zur besonderen Verwendung, war aber weitgehend im Schatten Prützmanns geblieben, der Jeckeln im November 1941 als HSSPF Russland-Süd nachgefolgt war. Korsemann hatte sich also noch immer nicht bewähren können; die Offensive im Kaukasus gab ihm Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Das schien eine Begeisterung in ihm geweckt zu haben, die sich auch in seiner Rede mitteilte. Die SS habe, so verkündete er markig, nicht nur negative Aufgaben wahrzunehmen, also Sicherung und Bestrafung, sondern auch positive Aufgaben, an denen die Einsatzgruppe beteiligt sein könne und müsse: so zum Beispiel positive Propaganda bei den Einheimischen; Kampf gegen Infektionskrankheiten; Instandsetzung der Genesungsheime für die Verwundeten der Waffen-SS; produktive Tätigkeit in der Wirtschaft, vor allem der Erdölindustrie, aber auch in anderen, noch nicht zugewiesenen Montanbetrieben, deren Leitung die SS im Rahmen ihrer eigenen Firmen übernehmen könnte. Großen Wert legte er auch auf das Kapitel der Beziehungen zur Wehrmacht: »Sie sind vermutlich alle über die diesbezüglichen Probleme informiert, die die Arbeit der Einsatzgruppe am Anfang des Feldzugs beeinträchtigt haben. Um alle weiteren Zwischenfälle zu vermeiden, werden die Beziehungen der SS zum Stab der Heeresgruppe und den AOKs zentral von meiner Dienststelle geregelt. Kein SS-Offizier unter meinem Kommando ist befugt, Fragen von Bedeutung, die über die üblichen Kontakte und Arbeitsbeziehungen hinausgehen, direkt mit der Wehrmacht zu verhandeln. Sie können davon ausgehen, dass ich gegen jeden, der hier unbedacht handelt, mit aller Härte vorgehen werde.« Doch trotz dieser ungewöhnlichen Schroffheit, die wohl vor allem aus der Unsicherheit des Neuankömmlings erwuchs, der sich in seiner Rolle noch nicht ganz zu Hause fühlte, sprach Korsemann sehr gewandt und entwickelte großen persönlichen Charme; der allgemeine Eindruck war eher positiv. Später am Abend, bei einer zwanglosen Zusammenkunft der Leutnants, lieferte Remmer eine Erklärung für die sehr strikte Haltung Korsemanns: den beunruhige nämlich, dass er praktisch immer noch keine echte Befehlsgewalt habe. Nach dem Prinzip der doppelten Unterordnung war die Einsatzgruppe direkt dem RSHA unterstellt, sodass Bierkamp auf diesem Umweg jeden Befehl Korsemanns konterkarieren konnte, der ihm nicht behagte; Gleiches galt für die SS-Ökonomen des WVHA und natürlich auch für die Waffen-SS, die militärisch der Wehrmacht unterstellt war. In der Regel verfügte ein HSSPF, um seine Autorität durchsetzen und sich auf eigene Truppen stützen zu können, über einige Orpo-Bataillone; nun hatte Korsemann aber noch keine solchen Truppen zugeteilt bekommen, sodass er im Grunde ein HSSPF »ohne besondere Verwendung« blieb: Er konnte Vorschläge äußern, aber Bierkamp brauchte sie nicht zu befolgen, wenn sie ihm nicht passten.
In der KMW ließ Dr. Müller seine Aktion anlaufen, und Prill bat mich, sie zu inspizieren. Mir kam das allmählich merkwürdig vor: Ich hatte nichts gegen die Inspektionen, aber Prill schien alles zu tun, um mich aus Woroschilowsk zu entfernen. Wir erwarteten täglich die Ankunft von Seiberts Nachfolger Dr. Leetsch; vielleicht befürchtete Prill, der den gleichen Dienstgrad hatte wie ich, ich könnte meine Beziehungen zu Ohlendorf spielen lassen und in einer Intrige mit Leetsch dafür sorgen, dass ich an seiner, Prills, statt zum Stellvertreter ernannt würde. Wenn er das wirklich befürchtete, war es einfältig: Ich hatte in dieser Hinsicht nicht die geringsten Ambitionen, und Prill hatte nichts von mir zu befürchten. Aber vielleicht machte ich mir auch völlig grundlos Gedanken? Es war schwer zu sagen. Es war mir nie gelungen, die verschrobenen Rangordnungsrituale der SS zu durchschauen, daher irrte ich mich leicht in der einen wie der anderen Richtung; in diesem Punkt waren der Instinkt und die Ratschläge von Thomas immer von großem Wert für mich gewesen. Aber Thomas war weit weg, und ich hatte keinen Vertrauten in der Gruppe. Offen gestanden, waren dies nicht die Art Leute, mit denen ich gern nähere Beziehungen eingehe. Sie kamen aus den entlegensten Winkeln des RSHA, und der größte Teil von ihnen war sehr ehrgeizig, sie betrachteten die Tätigkeit in der Einsatzgruppe nur als Sprungbrett; fast alle nahmen sie die Vernichtungsarbeit von Anfang an als selbstverständlich hin und stellten sich nicht einmal mehr die Fragen, die den Männern des ersten Jahres so zu schaffen gemacht hatten. Inmitten dieser Leute galt ich als etwas komplizierter Intellektueller und blieb ziemlich isoliert. Das störte mich nicht: Die Freundschaft primitiver Menschen hatte ich noch nie gebraucht. Aber ich musste auf der Hut sein.
In Pjatigorsk traf ich früh am Morgen ein. Es war Anfang September, und das Blaugrau des Himmels war noch schwer vom Dunst und Staub des Sommers. Die Straße nach Woroschilowsk kreuzte die Eisenbahnlinie kurz vor Mineralnyje Wody und schlängelte sich dann parallel zu ihr zwischen den fünf vulkanischen Berggipfeln hindurch, denen Pjatigorsk seinen Namen verdankt. Man kam von Norden her in die Stadt hinein, wobei man das Massiv des Maschuk umfuhr; an dieser Stelle stieg die Straße an, und die Ortschaft lag plötzlich zu meinen Füßen; dahinter erstreckten sich die Hügel der Gebirgsausläufer, übersät mit Vulkanen, deren umgekehrte Kuppeln unregelmäßig über die Landschaft verstreut waren. Das Einsatzkommando hatte seine Dienststelle in einem der Sanatorien vom Anfang des Jahrhunderts eingerichtet, die im Ostteil der Stadt am Fuße des Maschuk aufgereiht sind; Kleists AOK hatte das riesige Sanatorium Lermontow requiriert, doch die SS hatte sich das Wojennaja Sanatorija sichern können, das der Waffen-SS als Lazarett dienen sollte. Die Leibstandarte kämpfte übrigens in der Gegend, und ich dachte mit einem Anflug von Wehmut an Partenau; aber es bringt nichts, alte Geschichten aufzuwärmen, und ich wusste, dass ich keinerlei Anstrengungen unternehmen würde, ihn wiederzusehen. Pjatigorsk blieb weitgehend intakt; nach einem kurzen Scharmützel mit der Betriebskampfgruppe einer Fabrik wurde die Stadt kampflos genommen; auf den Straßen herrschte ein Treiben wie in den amerikanischen Goldgräberstädten Mitte des 19. Jahrhunderts. Fast überall stellten sich Karren und sogar Kamele quer vor Militärfahrzeuge und verursachten Verkehrsstockungen, die von den Feldgendarmen mit reichlich Flüchen und Knüppelhieben aufgelöst wurden. Gegenüber dem weitläufigen Zwetnik-Park wiesen die untadelig aufgereihten Motorräder vor dem Hotel Bristol unverkennbar auf den Sitz der Feldkommandantur hin; die Dienststelle des Einsatzkommandos lag im tieferen Teil der Stadt, auf dem Kirow-Boulevard, in einem zweistöckigen ehemaligen Institut. Die Bäume des Boulevards verdeckten seine hübsche Fassade; eingehend betrachtete ich die Blumenornamente aus Keramik, die unter Stuckfiguren eingelassen waren, die einen Cherub mit einem Blumenkorb auf dem Kopf darstellten, der oberhalb von zwei Tauben saß; ganz oben ein in einem Ring hockender Papagei und ein traurig dreinblickender Mädchenkopf mit schmaler Nase. Rechts davon ein Torbogen, der in einen Innenhof führte. Dort hielt mein Fahrer neben dem Saurer-Lkw, während ich den Wachen meine Papiere zeigte. Dr. Müller war beschäftigt, daher wurde ich von Obersturmführer Dr. Bolte, einem Offizier der Geheimen Staatspolizei, empfangen. Die unteren Dienstgrade belegten große Säle mit hohen Decken, die dank der hohen Sprossenfenster sehr hell waren; Dr. Bolte hatte sein Dienstzimmer in einem hübschen kleinen Rundzimmer, hoch oben in einem der beiden Türme, die das Gebäude zu beiden Seiten flankierten. In dürren Worten skizzierte er den Ablauf der Aktion: Jeden Tag wurde nach einem Zeitplan, der anhand der vom Judenrat gelieferten Zahlen festgelegt wurde, ein Teil oder die Gesamtheit der Juden eines der KMW-Orte per Bahn evakuiert; die Plakate, in denen sie zur »Umsiedlung in die Ukraine« aufgefordert wurden, hatte die Wehrmacht gedruckt, die auch den Zug und die Begleittruppen zur Verfügung stellte; sie wurden nach Mineralnyje Wody transportiert, wo man sie in einer Glasfabrik unterbrachte, bevor sie ein Stück weiter an einen sowjetischen Panzergraben geführt wurden. Wie sich zeigte, waren die Zahlen größer als angenommen: Es hatten sich viele Juden gefunden, die aus der Ukraine oder Weißrussland evakuiert worden waren, außerdem die Dozenten und Studenten der Universität Leningrad, die im Jahr zuvor zu ihrer eigenen Sicherheit in die KMW geschickt worden waren und von denen viele entweder Juden oder Parteimitglieder waren oder doch Intellektuelle, die wir als gefährlich einstuften. Das Einsatzkommando nutzte die Gelegenheit, um verhaftete Kommunisten, Komsomolzen, Zigeuner, gewöhnliche Kriminelle, die man in den Gefängnissen antraf, und das Personal und die Patienten mehrerer Sanatorien zu liquidieren. »Wissen Sie«, erläuterte mir Bolte, »die Infrastruktur ist hier ideal für unsere Verwaltung. So haben uns beispielsweise die Abgesandten des Reichskommissars gebeten, das Sanatorium des Volkskommissariats für die Petroindustrie in Kislowodsk zu räumen.« Die Aktion war bereits in vollem Gange: Schon am ersten Tag waren sie mit den Juden von Minwody fertig geworden, dann mit denen aus Jessentuki und Shelesnowodsk; tags darauf sollten die aus Pjatigorsk folgen, und beenden würde man die Aktion mit den Juden aus Kislowodsk. Jedes Mal war der Evakuierungsbefehl zwei Tage vor der Operation angeschlagen worden. »Da sie nicht zwischen den Städten hin und her reisen können, ahnen sie nichts.« Er lud mich ein, mir die gerade laufende Aktion mit ihm zusammen anzusehen; ich erwiderte, lieber erst die anderen Städte der KMW besichtigen zu wollen. »Dann kann ich Sie leider nicht begleiten: Sturmbannführer Müller erwartet mich.« – »Das macht nichts. Sie brauchen mir nur einen Mann mitzugeben, der die Dienststellen Ihrer Teilkommandos kennt.«
Die Straße führte westwärts, am Beschtau, dem größten der fünf Vulkane, vorbei aus der Stadt hinaus; weiter unten öffnete sich der Blick auf die Biegungen des Podkumok und sein graues schlammiges Wasser. Ich hatte, ehrlich gesagt, nichts Besonderes in den anderen Städten zu tun, aber ich war neugierig, sie kennenzulernen, und brannte nicht eben darauf, mir die Aktion anzuschauen. Jessentuki hatte sich unter den Sowjets in eine ziemlich uninteressante Industriestadt verwandelt; dort suchte ich die Offiziere des Teilkommandos auf, wir sprachen über ihre Maßnahmen und Pläne, und ich blieb nicht lange. Kislowodsk dagegen erwies sich als sehr ansprechend, ein traditionelles Kurbad von altmodischem Charme, das begrünter und hübscher war als Pjatigorsk. Die wichtigsten Heilquellen waren in einem merkwürdigen Gebäude untergebracht, das einem indischen Tempel aus den Anfängen des Jahrhunderts nachempfunden war; dort kostete ich von dem Wasser, das sie Narsan nennen, ich fand es zwar angenehm prickelnd, aber ein bisschen zu herb. Nach den Besprechungen ging ich im großen Park spazieren, dann kehrte ich nach Pjatigorsk zurück.
Die Offiziere aßen gemeinsam im Speisesaal des Sanatoriums zu Abend. Das Gespräch kreiste vor allem um das militärische Geschehen, die meisten Anwesenden trugen den gebotenen Optimismus zur Schau. »Jetzt, wo Schweppenburgs Panzer den Terek überquert haben«, meinte Wiens, Müllers Adjutant, ein verbitterter Volksdeutscher, der die Ukraine erst mit vierundzwanzig Jahren verlassen hatte, »werden unsere Truppen bald in Grosny sein. Baku ist danach nur noch eine Frage der Zeit. Die meisten von uns werden Weihnachten zu Hause feiern können.« – »Die Panzer des Generals Schweppenburg kommen nicht von der Stelle«, warf ich höflich ein. »Sie haben Mühe, einen Brückenkopf zu bilden. Der sowjetische Widerstand in Tschetscheno-Inguschien ist viel hartnäckiger als erwartet.« – »Ach was!«, widersprach Pfeiffer, ein dicker rotgesichtiger Untersturmführer, sichtlich erbost. »Das ist ihr letztes Aufbäumen. Ihre Divisionen sind ausgeblutet. Sie haben eine dünne Streitmacht vor uns aufgezogen, um uns ins Bockshorn zu jagen, aber beim ersten ernsthaften Stoß brechen sie zusammen oder laufen wie die Hasen.« – »Woher wissen Sie das?«, fragte ich neugierig. »Das sagen sie beim AOK«, antwortete Wiens für ihn. »Seit Beginn des Sommers werden in den Kesseln, zum Beispiel bei Millerowo, kaum noch Gefangene gemacht. Daraus schließen sie, dass die Reserven der Bolschewiken erschöpft sind, wie es das Oberkommando vorausgesagt hat.« – »Wir haben diese Auffassung im Gruppenstab und mit der Heeresgruppe auch ausführlich erörtert«, sagte ich. »Ihre Meinung wird nicht von allen geteilt. Einige meinen, die Sowjets hätten aus den fürchterlichen Verlusten des letzten Jahres gelernt und ihre Strategie geändert: Sie ziehen sich geordnet vor uns zurück, um eine Gegenoffensive einzuleiten, wenn unsere Nachschublinien überdehnt und verwundbar sind.« – »Ich finde Ihre Einstellung ziemlich pessimistisch, Hauptsturmführer Aue«, knurrte Müller, der Chef des Kommandos, den Mund voller Hühnchen. »Ich bin nicht pessimistisch, Sturmbannführer«, erwiderte ich. »Ich stelle nur fest, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, das ist alles.« – »Glauben Sie, dass unsere Linien überdehnt sind?«, fragte Bolte neugierig. »Das hängt davon ab, was wir tatsächlich vor uns haben. Die Front der Heeresgruppe B folgt dem gesamten Lauf des Dons, wo es immer noch sowjetische Brückenköpfe gibt, die wir nicht haben beseitigen können, angefangen bei Woronesh, das die Russen trotz all unserer Anstrengungen halten, bis Stalingrad.« – »Stalingrad gibt es nicht mehr lange«, verkündete Wiens dröhnend, nachdem er seinen Bierseidel geleert hatte. »Unsere Luftwaffe hat die Verteidiger letzten Monat ausradiert, die 6. Armee braucht nur noch aufzuräumen.« – »Vielleicht. Aber gerade weil alle unsere Kräfte vor Stalingrad konzentriert sind, werden die Flanken der Heeresgruppe B am Don und in der Steppe nur von unseren Verbündeten gehalten. Sie wissen so gut wie ich, dass die Qualität der rumänischen oder italienischen Truppen nicht an die der deutschen Streitkräfte heranreicht; und die Ungarn mögen zwar gute Soldaten sein, aber ihnen fehlt es an allem. Hier im Kaukasus ist es genauso, wir haben nicht genügend Männer, um auf dem Gebirgskamm eine geschlossene Front zu bilden. Und zwischen den beiden Heeresgruppen verliert sich die Front in der Kalmückensteppe; dort schicken wir nur Patrouillen hin und sind nie gegen böse Überraschungen gefeit.« – »In diesem Punkt«, warf Dr. Strohschneider ein, ein ungeheuer langer Mensch, dessen wulstige Lippen unter einem struppigen Schnurrbart hervortraten und der ein in Budjonnowsk stationiertes Teilkommando befehligte, »hat Hauptsturmführer Aue nicht ganz Unrecht. Die Steppe steht weit offen. Ein entschlossener Angriff könnte unsere Stellung empfindlich schwächen.« – »Ach was«, meinte Wiens und nahm ein neues Bier, »das sind doch alles nur Mückenstiche. Und wenn sie was gegen unsere Verbündeten unternehmen, werden die deutschen ›Korsettstangen‹ mehr als ausreichen, um die Situation in den Griff zu bekommen.« – »Ich hoffe, Sie haben Recht«, sagte ich. »Auf jeden Fall«, schloss Dr. Müller salbungsvoll, »wird der Führer diesen reaktionären Generalen schon die richtigen Entscheidungen vorschreiben.« So konnte man die Dinge natürlich sehen. Doch schon drehte sich das Gespräch um die Aktion des Tages. Ich hörte schweigend zu. Wie immer folgten die unvermeidlichen Anekdoten über das Verhalten der Verurteilten, die beteten, weinten, die Internationale sangen oder schwiegen, und die Bemerkungen über organisatorische Probleme und die Reaktionen unserer Männer. Voller Überdruss ließ ich all das über mich ergehen; selbst die alten Hasen wiederholten nur, was ich schon seit einem Jahr zu hören bekam, keine einzige ehrliche Reaktion war unter all den Angebereien und Plattitüden zu hören. Ein Offizier tat sich allerdings durch seine wüsten und vulgären Beschimpfungen der Juden besonders hervor. Es war Hauptsturmführer Turek, der Leiter IV des Kommandos, ein unangenehmer Mensch, dem ich bereits im Gruppenstab begegnet war. Dieser Turek gehörte zu den seltenen eingefleischten und obszönen Antisemiten vom Schlage Streichers, die ich in den Einsatzgruppen kaum angetroffen hatte; bei der Sipo und dem SD wurde herkömmlicherweise ein intellektueller, abstrakter Antisemitismus gepflegt und solche emotionalen Äußerungen wurden übel vermerkt. Doch Turek war mit einer bemerkenswert jüdischen Physiognomie geschlagen: Er hatte schwarzes Kraushaar, eine auffällig vorspringende Nase, sinnliche Lippen; hinter seinem Rücken nannten ihn einige grausamerweise »Jud Süß«, während andere andeuteten, er habe Zigeunerblut in den Adern. Er musste seit seiner Kindheit darunter gelitten haben, und bei jeder sich bietenden Gelegenheit brüstete er sich mit seiner arischen Abstammung: »Ich weiß wohl, dass man es nicht sieht«, pflegte er zu sagen, bevor er erklärte, er habe für seine Heirat, die kürzlich stattgefunden habe, umfängliche Ahnenforschung betreiben müssen und seinen Stammbaum bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt; er ging sogar so weit, den Arierpass hervorzuholen, mit dem ihm das Reichssippenamt bescheinigte, dass er reinrassig und berechtigt sei, deutsche Kinder zu zeugen. Dafür hatte ich Verständnis und hätte durchaus Mitleid mit ihm empfinden können; aber seine Entgleisungen und Obszönitäten gingen entschieden zu weit: Es hieß, bei den Exekutionen solle er sich über die beschnittenen Glieder der Männer lustig machen und die Frauen zwingen, sich nackt auszuziehen, um ihnen zu sagen, dass ihre jüdischen Fotzen nie wieder Kinder gebären würden. Ohlendorf hätte ein solches Verhalten nie geduldet, doch Bierkamp sah darüber hinweg; und Müller, der ihn hätte zur Ordnung rufen müssen, sagte nichts. Jetzt unterhielt sich Turek mit Pfeiffer, der während der Aktion die Erschießungskommandos befehligte; Pfeiffer lachte über seine Ausfälle und ermunterte ihn obendrein. Angeekelt entschuldigte ich mich noch vor dem Dessert und ging auf mein Zimmer. Der Brechreiz setzte mir wieder zu; seit Woroschilowsk, vielleicht auch früher, litt ich erneut unter diesen Übelkeitsattacken, die mich in der Ukraine so gequält hatten. Nur ein einziges Mal hatte ich mich übergeben, in Woroschilowsk nach einer etwas schweren Mahlzeit, aber ich musste mich gelegentlich sehr zusammennehmen, um der Übelkeit Herr zu werden: Ich hustete viel und bekam einen roten Kopf, fand das peinlich und zog mich lieber zurück.
Am nächsten Morgen fuhr ich mit den anderen Offizieren nach Minwody, um die Aktion in Augenschein zu nehmen. Ich war bei der Ankunft und der Entladung des Zuges dabei: Die Juden schienen erstaunt zu sein, so bald wieder auszusteigen, da sie doch gemeint hatten, man würde sie in die Ukraine bringen, blieben aber ruhig. Die Kommunisten wurden von den anderen getrennt, damit jegliche Unruhe vermieden wurde. In der großen überfüllten Halle der Glasfabrik mussten die Juden ihre Kleidung, ihr Gepäck, ihre persönliche Habe und ihre Wohnungsschlüssel abgeben. Das verursachte Aufregung, zumal der Boden der Fabrikhalle mit Glasscherben übersät war und sie sich auf Strümpfen die Füße zerschnitten. Ich wies Dr. Bolte darauf hin, aber er zuckte die Achseln. Die Orpos schlugen mit aller Kraft auf sie ein, zu Tode erschrocken setzten sich die Juden in ihrem Unterzeug hin, die Frauen versuchten, die Kinder zu beruhigen. Draußen wehte eine frische Brise; doch die Sonne knallte auf das Glasdach, sodass es drinnen stickig und heiß war wie in einem Treibhaus. Ein Mann mittleren Alters von gepflegtem Äußeren, mit Brille und kleinem Schnurrbart, trat auf mich zu. Er hielt einen sehr kleinen Jungen auf dem Arm. Er zog den Hut und sprach mich in perfektem Deutsch an: »Darf ich einige Worte an Sie richten, Herr Offizier?« – »Sie sprechen sehr gut Deutsch«, antwortete ich. »Ich habe in Deutschland studiert«, antwortete er würdevoll und reserviert. »Das war früher ein großes Land.« Er musste einer der Leningrader Professoren sein. »Was wollen Sie mir sagen?«, fragte ich schroff. Der kleine Junge, der den Mann um den Hals gefasst hatte, betrachtete mich aus großen blauen Augen. Er mochte zwei Jahre alt sein. »Ich weiß, was Sie hier tun«, sagte der Mann ruhig. »Es ist ungeheuerlich. Ich wollte Ihnen nur wünschen, dass Sie diesen Krieg überleben, damit Sie in zwanzig Jahren Nacht für Nacht schreiend aus dem Schlaf schrecken. Ich hoffe, dass Sie Ihre Kinder dann nicht anblicken können, ohne die unseren zu sehen, die Sie ermordet haben.« Er wandte sich um und entfernte sich, bevor ich antworten konnte. Über seine Schulter starrte mich das Kind unverwandt an. Bolte kam zu mir herüber: »Was für eine Unverschämtheit! Wie kann er es wagen? Sie hätten reagieren müssen.« Ich zuckte die Achseln. Was sollte es. Bolte wusste doch genau, was wir mit dem Mann und seinem Kind machen würden. Es war natürlich, dass er den Wunsch hatte, uns zu beleidigen. Ich ging fort und wandte mich zum Ausgang. Orpos umringten eine Gruppe in Unterzeug und trieben sie zum Panzergraben, der einen Kilometer entfernt war. Ich sah ihnen nach. Der Graben war so abgelegen, dass die Schüsse nicht zu hören waren; aber diese Menschen mussten ahnen, welches Schicksal sie erwartete. Bolte rief mir zu: »Kommen Sie?« Unser Fahrzeug überholte die Gruppe, deren Abmarsch ich beobachtet hatte; die Frauen hielten ihre Kinder fest an der Hand, sie zitterten vor Kälte. Dann tauchte der Graben vor uns auf. Soldaten und Orpos standen mit höhnischen Gesichtern untätig herum; ich hörte Lärm und Schreie. Ich drängte mich durch die Soldaten und sah Turek, der mit einer Schaufel auf einen fast nackten Mann am Boden einschlug. Zwei weitere blutüberströmte Leichen lagen vor ihm; ein Stück weiter standen entsetzte Juden, von Soldaten beaufsichtigt. »Ungeziefer!«, brüllte Turek mit herausquellenden Augen. »Kriech, Jude!« Er traf den Kopf mit der Kante der Schaufel; der Schädel des Mannes gab nach, Blut und Hirnmasse spritzten auf Tureks Stiefel; deutlich sah ich, wie ein Auge, durch den Hieb hinausgeschleudert, ein paar Schritte weit flog. Die Männer wieherten. Mit zwei Sprüngen erreichte ich Turek und packte ihn grob am Arm: »Sind Sie verrückt geworden? Hören Sie sofort damit auf!« Ich war aschfahl und zitterte am ganzen Leib. Wutentbrannt drehte Turek sich zu mir um und machte Miene, die Schaufel gegen mich zu erheben; dann ließ er sie sinken und befreite seinen Arm mit einem Ruck. Auch er zitterte. »Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die Sie nichts angehen«, stieß er hervor. Sein Gesicht war scharlachrot, er schwitzte und blickte wild umher. Dann warf er die Schaufel zu Boden und ging fort. Bolte war zu mir getreten; mit ein paar scharfen Worten befahl er Pfeiffer, der schwer atmend in der Nähe stand, die Leichen fortzuräumen und mit der Exekution fortzufahren. »Sie hatten kein Recht einzugreifen«, warf er mir vor. »Na hören Sie, solche Dinge sind doch unmöglich!« – »Vielleicht, aber das Kommando untersteht Sturmbannführer Müller. Sie sind nur als Beobachter hier.« – »Gut. Wo ist dann bitte Sturmbannführer Müller?« Ich zitterte noch immer. Ich ging zum Wagen zurück und befahl dem Fahrer, nach Pjatigorsk zurückzukehren. Ich wollte mir eine Zigarette anzünden; meine Hände zitterten weiter, ich bekam sie nicht unter Kontrolle und hatte Mühe mit dem Feuerzeug. Schließlich schaffte ich es und machte ein paar Züge, bevor ich die Zigarette aus dem Fenster warf. Abermals, nur in entgegengesetzter Richtung, begegneten wir der Kolonne, die im Gleichschritt marschierte; aus dem Augenwinkel sah ich einen Jugendlichen aus der Reihe laufen und meine Kippe aufheben, um gleich darauf wieder seinen Platz einzunehmen.
In Pjatigorsk konnte ich Müller nicht finden. Die Wache glaubte, er sei beim AOK, war sich aber nicht sicher; ich überlegte, ob ich auf ihn warten sollte, beschloss dann aber abzufahren: Ich wollte Bierkamp lieber direkt von dem Zwischenfall berichten. Ich fuhr im Sanatorium vorbei, um meine Sachen abzuholen, und schickte meinen Fahrer zum AOK tanken. Es war nicht ganz korrekt, ohne Abschied abzufahren; aber ich hatte keine Lust, mich von ihnen zu verabschieden. In Mineralnyje Wody führte die Straße nicht weit an der Fabrik vorbei, die jenseits der Eisenbahnlinie unterhalb des Gebirges lag; ich ließ nicht halten. Zurück in Woroschilowsk, setzte ich meinen Bericht auf, wobei ich mich im Wesentlichen auf die technischen und organisatorischen Aspekte der Aktion beschränkte. Aber ich flocht auch einen Satz ein über »bestimmte bedauerliche Exzesse vonseiten der Offiziere, die doch eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen sollten«. Ich wusste, dass das genügen würde. Und tatsächlich kam Thielecke am folgenden Tag in meinem Büro vorbei, um mir auszurichten, dass Bierkamp mich zu sehen wünsche. Prill hatte mir bereits Fragen nach der Lektüre meines Berichts gestellt: Ich hatte mich geweigert, sie zu beantworten, und gesagt, das gehe nur den Kommandeur an. Bierkamp empfing mich höflich, bat mich, Platz zu nehmen, und fragte mich, was sich zugetragen habe; auch Thielecke nahm an der Unterredung teil. Ich schilderte ihnen den Zwischenfall so objektiv wie möglich. »Und was sollte Ihrer Meinung nach geschehen?«, fragte Thielecke, als ich fertig war. »Ich meine, Sturmbannführer, er gehört vor das SS-Gericht oder zumindest in die Psychiatrie.« – »Sie übertreiben«, sagte Bierkamp. »Hauptsturmführer Turek ist ein ausgezeichneter Offizier, sehr befähigt. Seine Empörung und Wut auf die Juden, die Träger des stalinistischen Systems, ist nur allzu verständlich. Und dann geben Sie selbst zu, dass Sie erst gegen Ende des Zwischenfalls hinzugekommen sind. Zweifellos ist eine Provokation vorausgegangen.« – »Selbst wenn diese Juden unverschämt geworden sind oder einen Fluchtversuch unternommen haben, ist seine Reaktion eines SS-Offiziers unwürdig. Vor allem vor den Mannschaften.« – »In dem Punkt haben Sie zweifellos Recht.« Thielecke und er blickten sich einen Moment an, dann wandte er sich an mich: »Ich habe ohnehin vor, in einigen Tagen nach Pjatigorsk zu fahren. Dort rede ich selbst mit Hauptsturmführer Turek über den Zwischenfall. Jedenfalls danke ich Ihnen, dass Sie mich von den Vorkommnissen in Kenntnis gesetzt haben.«
Am selben Tag traf Sturmbannführer Dr. Leetsch, der Nachfolger von Dr. Seibert, in Begleitung des Obersturmbannführers Paul Schultz ein, der Dr. Braune in Maikop ablösen sollte; doch noch bevor ich ihn zu sehen bekam, forderte Prill mich auf, nach Mosdok aufzubrechen und das Sk 10b zu inspizieren, das dort gerade eingetroffen war. »So haben Sie dann alle Kommandos gesehen«, sagte er. »Bei Ihrer Rückkehr erstatten Sie dem Sturmbannführer Bericht.« Nach Mosdok über Minwody und Prochladny musste man mit etwa sechs Stunden Fahrzeit rechnen; daher setzte ich die Abfahrt auf den nächsten Morgen fest, sah aber Leetsch nicht mehr. Mein Fahrer weckte mich kurz vor dem Morgengrauen. Wir hatten die Hochebene von Woroschilowsk schon hinter uns, als die Sonne aufging, Felder und Obstgärten in ein sanftes Licht tauchte und in der Ferne die ersten Vulkane der KMW erkennen ließ. Hinter Mineralnyje Wody führte die von Linden gesäumte Straße an den Ausläufern der Kaukasus-Kette entlang, die noch immer kaum sichtbar war; nur die gerundeten schneebedeckten Formen des Elbrus tauchten im Grau des Himmels auf. Nördlich der Straße erstreckten sich Felder, in denen hier und da ärmliche moslemische Dörfer lagen. Wir fuhren hinter den Lkws langer Nachschubkolonnen her, die schwer zu überholen waren. In Mosdok herrschte hektische Unruhe, der militärische Verkehr verstopfte die staubigen Straßen; ich ließ den Opel stehen und machte mich zu Fuß auf die Suche nach dem Stab des LII. Korps. Ich wurde von einem äußerst erregten Abwehroffizier in Empfang genommen: »Haben Sie nicht gehört? Heute Morgen ist Generalfeldmarschall List geschasst worden.« – »Warum das denn?!«, rief ich aus. List, der neu an der Ostfront war, hatte gerade zwei Monate überstanden. Der AO zuckte die Achseln: »Wir mussten den Rückzug antreten, nachdem unser Durchbruchsversuch am rechten Ufer des Terek gescheitert war. Das ist höheren Orts übel vermerkt worden.« – »Warum konnten wir nicht vorrücken?« Er hob die Arme: »Ganz einfach, wir hatten nicht genügend Kräfte! Die Zweiteilung der Heeresgruppe Süd war ein verhängnisvoller Fehler. Jetzt haben wir weder für das eine noch das andere Ziel ausreichend Kräfte. In Stalingrad hängen sie noch immer in den Vororten fest.« – »Und wer ist anstelle des Feldmarschalls ernannt worden?« Er lachte laut auf und sagte: »Sie werden es nicht glauben: Der Führer hat den Oberbefehl selbst übernommen!« Das war in der Tat unglaublich: »Der Führer hat persönlich den Oberbefehl über die Heeresgruppe A übernommen?« – »Genau das. Ich weiß nicht, wie er das anstellen will; der Stab der Heeresgruppe bleibt in Woroschilowsk, und der Führer sitzt in Winniza. Aber da er ja ein Genie ist, wird er schon eine Lösung finden.« Sein Tonfall wurde immer ätzender. »Er befehligt ja bereits das Reich, die Wehrmacht und das Heer. Nun auch noch eine Heeresgruppe. Glauben Sie, er wird so weitermachen? Er könnte das Kommando einer Armee, dann eines Korps, dann einer Division übernehmen. Wer weiß, am Ende wäre er vielleicht wieder Gefreiter an der Front, wie zu Anfang.« – »Ich finde Sie ziemlich unverschämt«, sagte ich kühl. – »Und Sie, mein Bester, können sich zum Teufel scheren. Sie befinden sich hier in einem Frontabschnitt, hier ist die SS nicht mehr zuständig.« Eine Ordonnanz trat ein. »Ihr Führer«, informierte mich der Offizier. »Einen schönen Tag noch.« Wortlos ging ich hinaus. Ich war empört, aber auch beunruhigt: Wenn unsere Offensive im Kaukasus, auf die wir alles gesetzt hatten, stecken blieb, war das ein schlechtes Zeichen. Die Zeit arbeitete nicht für uns. Der Winter rückte näher und der Endsieg in immer weitere Ferne, genauso wie die magischen Gipfel des Kaukasus. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass wenigstens Stalingrad in Bälde fallen würde; das würde Kräfte freisetzen, mit denen sich der Vormarsch hier wieder aufnehmen ließe.
Das Sonderkommando hatte sich in einem teilweise in Trümmern liegenden Flügel einer russischen Kaserne eingerichtet; einige Säle waren noch zu benutzen, andere mit Brettern vernagelt. Ich wurde von dem Chef des Kommandos empfangen, einem dürren Österreicher mit Führerbärtchen, Sturmbannführer Alois Persterer. Er war ein SD-Mann, ehemals Leiter in Hamburg, als Bierkamp dort der Kripo vorgestanden hatte; aber er schien keine besonders enge Beziehung zu Bierkamp bewahrt zu haben. Knapp und prägnant skizzierte er mir die Lage: In Prochladny hatte ein Teilkommando Kabardiner und Balkaren, die mit den bolschewistischen Behörden zusammengearbeitet hatten, sowie Juden und Partisanen liquidiert; in Mosdok hatte man, abgesehen von einigen verdächtigen Fällen, die vom LII. Korps überstellt worden waren, noch nicht richtig begonnen. Es gab Berichte über einen jüdischen Kolchos in der Gegend; er würde Nachforschungen anstellen und sich darum kümmern. Jedenfalls gab es nicht allzu viele Partisanen, und die Einheimischen im Kampfgebiet schienen den Roten gegenüber feindselig eingestellt zu sein. Ich fragte ihn nach der Beziehung zur Wehrmacht. »Ich kann noch nicht einmal mittelmäßig sagen«, erwiderte er schließlich. »Ich habe den Eindruck, dass sie uns kaum beachten.« – »Ja, das Scheitern der Offensive scheint sie zu beunruhigen.« Die Nacht verbrachte ich in Mosdok, auf einem Feldbett, das man in einem der Büros aufgeschlagen hatte, und brach am folgenden Morgen wieder auf; Persterer hatte mir vorgeschlagen, einer Exekution mit ihrem Gas-Lkw in Prochladny beizuwohnen, aber ich hatte höflich dankend abgelehnt. In Woroschilowsk stellte ich mich Dr. Leetsch vor, einem älteren Offizier mit schmalem, kantigem Gesicht, ergrauendem Haar und einem missmutigen Zug um den Mund. Nachdem er meinen Bericht gelesen hatte, begann er ein Gespräch. Ich schilderte ihm meine Eindrücke von der Moral der Wehrmacht. »Ja«, sagte er schließlich, »Sie haben vollkommen Recht. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir unsere Beziehungen zu ihnen wieder verbessern. Ich werde mich selbst um das Verhältnis zum Stab der Heeresgruppe kümmern, aber ich möchte einen guten Verbindungsoffizier nach Pjatigorsk abkommandieren, zum Ic des AOK. Ich wollte Sie bitten, diesen Posten zu übernehmen.« Ich zögerte einen Augenblick; ich fragte mich, ob die Idee wirklich von ihm kam oder ob sie ihm während meiner Abwesenheit von Prill eingeflüstert worden war. Schließlich erwiderte ich: »Meine Beziehungen zum Einsatzkommando 12 sind nicht die besten. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem seiner Offiziere und befürchte, das könnte Komplikationen geben.« – »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Sie werden nicht viel mit ihnen zu tun haben. Sie nehmen Quartier beim AOK und erstatten mir persönlich Bericht.«
So kehrte ich nach Pjatigorsk zurück, wo man mir eine Unterkunft etwas außerhalb des Zentrums anwies, in einem Sanatorium am Fuße des Maschuk (dem höchstgelegenen Teil der Stadt). Mein Zimmer hatte eine Terrassentür und einen kleinen Balkon, von dem aus ich den langen kahlen Kamm des Gorjatschaja-Bergs mit seinem chinesischen Pavillon und spärlichen Baumbewuchs erblickte, dann die Ebene und dahinter, im Dunst, die stufenförmig ansteigenden Vulkane. Wenn ich mich umwandte und nach hinten lehnte, konnte ich über dem Dach noch ein Stückchen des Maschuk erblicken, von einer Wolke verdeckt, die fast auf meiner Höhe zu treiben schien. In der Nacht hatte es geregnet, und die Luft roch rein und frisch. Nachdem ich das AOK aufgesucht und mich dem Ic, Oberst von Gilsa, und seinen Kameraden vorgestellt hatte, ging ich spazieren. Ein langer gepflasterter Weg führte vom Zentrum aus an der Flanke des Bergmassivs entlang bergan; hinter dem Lenin-Standbild musste man einige steile Stufen erklimmen, dann, nach Wasserbecken zwischen Reihen junger Eichen und duftenden Tannen, wurde die Steigung flacher. Zu meiner Linken passierte ich das Sanatorium Lermontow, in dem Kleist und sein Generalstab Quartier bezogen hatten; meine Dienststelle lag etwas abseits, in einem separaten Flügel, direkt an den Berg gebaut, der jetzt fast ganz von Wolken verhüllt war. Weiter oben verbreiterte sich der Weg zu einer Straße, die um den Maschuk herumführte und eine ganze Kette von Sanatorien miteinander verband; dort entschied ich mich für den kleinen Pavillon, die so genannte Äolsharfe, von wo aus man einen weiten Blick auf die Ebene im Süden hatte, die mit unwirklichen Höckern übersät war: ein Vulkan nach dem anderen, alle längst erloschen und friedlich. Zu meiner Rechten glänzte die Sonne auf den Wellblechdächern der im dichten Grün verstreuten Häuser; in der Ferne, ganz hinten, formierten sich die Wolken wieder und verhüllten die Massive des Kaukasus. Hinter mir ertönte eine heitere Stimme: »Aue! Sind Sie schon lange hier?« Ich wandte mich um: Voss näherte sich lächelnd unter den Bäumen. Herzlich schüttelte ich ihm die Hand. »Ich bin gerade angekommen. Man hat mich als Verbindungsoffizier zum AOK abkommandiert.« – »Sehr schön! Ich bin auch beim AOK. Haben Sie schon gegessen?« – »Noch nicht.« – »Dann kommen Sie. Gleich da unten gibt es ein ordentliches Lokal.« Er schlug einen schmalen, in den Fels gehauenen Weg ein, ich folgte ihm. Unten, den Beginn der langen Schlucht versperrend, die den Maschuk vom Gorjatschaja trennte, erhob sich eine lange Säulengalerie aus Rosengranit in italienischem Stil, schwerfällig und leichtfertig zugleich. »Das ist die Akademische Galerie«, belehrte mich Voss. »Ah!«, rief ich aus, äußerst erregt. »Dann ist das die alte Elisabethgalerie! Hier hat Petschorin Prinzess Mary zum ersten Mal erblickt.« Voss brach in Lachen aus: »Dann kennen Sie also Lermontow? Hier liest ihn jeder.« – »Natürlich! Ein Held unserer Zeit war einmal mein Lieblingsbuch.« Der Weg hatte uns auf die Höhe der Galerie geführt, die als Schutz über einer Schwefelquelle erbaut worden war. Blasse Kriegsinvaliden gingen hier langsam spazieren oder saßen auf den Bänken gegenüber dem langen Einschnitt, der sich zur Stadt hin öffnete; ein russischer Gärtner jätete die Beete mit Tulpen und roten Nelken entlang der großen Treppe, die zur Kirow-Straße auf der Talsohle hinabführte. Die zwischen den Bäumen hervorragenden Kupferdächer der an den Gorjatschaja geschmiegten Badehäuser glänzten in der Sonne. Jenseits des Kamms war nur einer der Vulkane zu sehen. »Kommen Sie?«, fragte Voss. »Einen Augenblick.« Ich betrat die Galerie, um mir die Quelle anzusehen, wurde aber enttäuscht: Der Saal war nackt und leer, und das Wasser floss aus einem ordinären Wasserhahn. »Das Café liegt dahinter«, sagte Voss. Er ging durch den Bogen, der den linken Flügel vom Mittelstück der Galerie trennte; dahinter bildete die Wand mit dem Felsen eine große Nische, in die man ein paar Tische und Hocker gestellt hatte. Wir nahmen Platz, und ein hübsches junges Mädchen kam durch eine Tür. Voss wechselte ein paar Worte Russisch mit ihr. »Heute gibt es kein Schaschlik. Aber sie haben Kotelett nach Kiewer Art.« – »Sehr schön.« – »Möchten Sie Quellwasser oder Bier?« – »Ich glaube, lieber Bier. Ist es kalt?« – »Fast. Aber ich warne Sie, es ist kein deutsches Bier.« Ich steckte mir eine Zigarette an und lehnte mich an die Wand der Galerie. Es war angenehm kühl; Wasser lief über den Felsen, zwei bunte Vögelchen pickten am Boden. »Pjatigorsk gefällt Ihnen also?«, fragte mich Voss. Ich lächelte, ich freute mich, ihn hier anzutreffen. »Ich habe noch nicht viel gesehen«, sagte ich. »Wenn Sie Lermontow mögen, ist die Stadt eine echte Pilgerstätte. Die Sowjets haben in seinem Haus ein hübsches kleines Museum eingerichtet. Wenn Sie mal einen freien Nachmittag haben, gehen wir es besichtigen.« – »Gerne. Wissen Sie denn auch, wo das Duell stattgefunden hat?« – »Das von Petschorin oder das von Lermontow?« – »Das von Lermontow.« – »Hinter dem Maschuk. Da gibt es natürlich ein grässliches Denkmal. Und stellen Sie sich vor, wir haben sogar einen seiner Nachkommen ausfindig gemacht.« Ich lachte: »Nicht möglich.« – »Doch, doch. Eine Frau Jewgenija Akimowna Schan-Girej. Sie ist sehr alt. Der General hat ihr eine Pension ausgesetzt, großzügiger bemessen als die der Sowjets.« – »Hat sie ihn gekannt?« – »Wo denken Sie hin! Die Russen schickten sich am Tage unseres Einmarsches gerade an, seinen hundertsten Todestag zu feiern. Frau Schan-Girej ist zehn oder fünfzehn Jahre später geboren worden, in den fünfziger Jahren, glaube ich.« Die Kellnerin kam mit zwei Tellern und den Bestecken zurück. Die »Koteletts« waren in Wirklichkeit Hühnchenröllchen, mit zerlassener Butter gefüllt und paniert, dazu gab es ein Frikassee aus Waldpilzen mit Knoblauch. »Ausgezeichnet. Und selbst das Bier ist nicht zu verachten.« – »Hab ich doch gesagt, oder? Ich komme immer her, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Es ist nie voll.« Ich aß schweigend, mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit. »Haben Sie viel zu tun?«, fragte ich ihn schließlich. »Sagen wir so: Mir bleibt freie Zeit für meine Forschungen. Letzten Monat habe ich die Puschkin-Bibliothek in Krasnodar geplündert und sehr interessante Dinge gefunden. Es gab vor allem Arbeiten über die Kosaken, aber ich habe auch kaukasische Grammatiken und einige ziemlich seltene kleine Schriften über Trubezkoi aufgetrieben. Ich muss unbedingt noch nach Tscherkessk, ich bin sicher, dass dort Arbeiten über die Zirkassier und Karatschaier vorhanden sind. Mein Traum ist es, einen Ubychen aufzutreiben, der noch seine Sprache spricht. Doch im Augenblick gibt es keine Möglichkeit. Ansonsten schreibe ich Flugblätter für das AOK.« – »Was für Flugblätter?« – »Propagandaflugblätter. Sie werfen sie vom Flugzeug aus über den Bergen ab. Ich habe mit Hilfe von Einheimischen je eins auf Karatschaisch, Kabardinisch und Balkarisch verfasst, sie waren natürlich sehr komisch: Bergbewohner – Einst hattet ihr alles, aber die Sowjetmacht hat Euch alles genommen! Heißt Eure deutschen Brüder willkommen, die wie die Adler über die Berge geflogen sind, um Euch zu befreien! und so weiter.« Ich stimmte in sein Lachen ein. »Ich habe auch Passierscheine aufgesetzt, die man den Partisanen zukommen lässt, um sie zu einem Wechsel der Seiten zu ermuntern. Dort steht, dass wir sie als Sojusniki im allgemeinen Kampf gegen den Judäo-Bolschewismus freudig begrüßen werden. Die Juden unter ihnen werden sich weglachen. Diese Propuska bleiben bis zum Kriegsende gültig.« Die Kellnerin räumte ab und brachte uns zwei türkische Mokkas. »Die haben hier ja alles!«, rief ich aus. »Aber ja. Die Märkte sind geöffnet, und man kann in den Läden Lebensmittel kaufen.« – »Das ist nicht wie in der Ukraine.« – »Nein. Und mit ein bisschen Glück wird es auch nicht so werden.« – »Was soll das heißen?« – »Nun, bestimmte Dinge werden hier vielleicht anders.« Wir zahlten und gingen wieder unter dem Bogen hindurch. Die Kriegsinvaliden wandelten noch immer vor der Galerie auf und ab, tranken dabei ihr Wasser in kleinen Schlucken. »Tut das wirklich gut?«, fragte ich Voss und zeigte auf ein Glas. »Die Region hat einen guten Ruf. Wussten sie, dass man hier schon lange vor der russischen Zeit Trinkkuren machte? Kennen Sie Ibn Battuta?« – »Den arabischen Reisenden? Ich habe von ihm gehört.« – »Er ist um 1375 hier gewesen. Er war auch auf der Krim, bei den Tataren, wo er auf der Durchreise geheiratet hat. Damals lebten die Tataren noch in großen Nomadenlagern, einer Art Städte auf Rädern, Zeltsiedlungen, die auf riesigen Karren aufgeschlagen waren, mit Moscheen und Läden. Jedes Jahr im Sommer, wenn es auf der Krim zu heiß wurde, zog der nogaische Khan mit seiner ganzen mobilen Stadt über die Landenge von Perekop bis hierher. Ibn Battuta beschreibt den Ort sehr genau und preist die medizinischen Vorzüge des Schwefelwassers. Er nannte den Ort Bisch oder Besch Dagh, was, wie das russische Pjatigorsk, ›fünf Berge‹ heißt.« Erstaunt lachte ich auf: »Und was ist aus Ibn Battuta geworden?« – »Hinterher? Er hat seine Reise fortgesetzt und kam über Dagestan und Afghanistan bis nach Indien. Lange Zeit war er Kadi in Delhi, wo er Mohammed Tughluq, dem paranoischen Sultan, sieben Jahre lang diente, bevor er in Ungnade fiel. Anschließend war er Kadi auf den Malediven und ist sogar bis Ceylon, Indonesien und China gekommen. Dann ist er nach Marokko heimgekehrt, um sein Buch zu schreiben, bevor er starb.«
Am Abend in der Messe war ich überzeugt, dass es sich bei Pjatigorsk tatsächlich um einen Ort der Wiederbegegnungen handelte: An einem Offizierstisch erblickte ich Dr. Hohenegg, den gutmütig-zynischen Arzt, den ich im Zug zwischen Charkow und Simferopol kennengelernt hatte. Ich begrüßte ihn: »Ich stelle fest, Herr Oberstarzt, dass General von Kleist sich nur mit guten Leuten umgibt.« Er stand auf, um mir die Hand zu geben: »Sehr liebenswürdig, aber ich gehöre nicht zu Generaloberst von Kleist, sondern noch immer zur 6. Armee, zu General Paulus.« – »Und was tun Sie dann hier?« – »Das OKH hat beschlossen, die Gegebenheiten der KMW zu nutzen, um auf der Ebene der Armeen eine medizinische Tagung zu veranstalten. Einen höchst nützlichen Informationsaustausch. Es geht darum, wer die scheußlichsten Geschichten erzählen kann.« – »Ich bin sicher, dass Ihnen diese Ehre zuteil werden wird.« – »Hören Sie, ich esse mit meinen Kollegen zu Abend; aber wenn Sie wollen, kommen Sie doch nachher zu einem Kognak in meinem Zimmer vorbei.« Ich ging mit den Abwehroffizieren essen. Das waren realistische und sympathische Männer, aber fast genauso kritisch wie der Offizier in Mosdok. Einige behaupteten unverhohlen, wenn man nicht bald Stalingrad nehme, sei der Krieg verloren; Gilsa trank französischen Wein und widersprach ihnen nicht. Anschließend ging ich allein im Zwetnik-Park spazieren, hinter der Lermontow-Galerie, einem merkwürdigen Pavillon aus blassblau bemaltem Holz in mittelalterlichem Stil, mit spitzen Erkertürmchen und Jugendstilfenstern in Rosa, Rot und Weiß: Das wirkte zwar bunt zusammengewürfelt, passte aber wunderbar hierher. Ich rauchte, betrachtete zerstreut die verblühten Tulpen, dann stieg ich den Hügel wieder bis zum Sanatorium hinauf und klopfte an Hoheneggs Tür. Er empfing mich auf seinem Sofa liegend, mit nackten Füßen, die Hände auf seinem dicken runden Bauch gekreuzt. »Entschuldigen Sie, wenn ich nicht aufstehe.« Mit dem Kopf deutete er auf einen kleinen runden Tisch. »Da steht der Kognak. Seien Sie so freundlich und schenken Sie mir auch einen ein.« Ich goss uns beiden einen ordentlichen Schluck ein und reichte ihm eines der Gläser; dann setzte ich mich auf einen Stuhl und schlug die Beine übereinander. »Also, was ist die scheußlichste Sache, die Sie je gesehen haben?« Er machte eine Handbewegung: »Der Mensch natürlich!« – »Ich meinte, medizinisch.« – »Medizinisch sind die scheußlichen Sachen nicht von Interesse. Dagegen sieht man höchst merkwürdige Dinge, die unsere Vorstellung von dem, was unsere armen Leiber erleiden können, vollkommen auf den Kopf stellen.« – »Was zum Beispiel?« – »Nun, ein Mann bekommt einen winzigen Granatsplitter in die Wade, der ihm die Arteria peronea durchtrennt, und stirbt binnen zwei Minuten, immer noch aufrecht stehend, während ihm sein Blut in die Stiefel läuft, ohne dass er es merkt. Ein anderer dagegen hat einen glatten Schläfendurchschuss, steht auf und geht selbst zur Verbandstation.« – »Wir sind nicht viel«, sagte ich. »Genau.« Ich probierte Hoheneggs Kognak: ein armenischer Weinbrand, etwas süß, aber trinkbar. »Sehen Sie mir den Kognak nach«, sagte er, ohne den Kopf zu wenden, »aber ich habe in dieser lausigen Stadt keinen Rémy Martin auftreiben können. Um auf unser Thema zurückzukommen, fast alle meine Kollegen kennen solche Geschichten. Im Übrigen ist das nichts Neues: Ich habe die Memoiren eines Militärarztes in der Großen Armee gelesen, und er berichtet das Gleiche. Natürlich verlieren wir noch immer viel zu viele Männer. Die Militärmedizin hat seit 1812 zwar Fortschritte gemacht, aber die Werkzeuge des Gemetzels auch. Wir hinken ständig hinterher. Doch nach und nach vervollkommnen wir uns, da sieht man mal wieder, dass Gatling mehr für die moderne Chirurgie getan hat als Dupuytren.« – »Trotzdem vollbringen Sie wahre Wunderdinge.« Er seufzte: »Vielleicht. Jedenfalls kann ich keine Schwangere mehr sehen. Es deprimiert mich zu sehr, wenn ich daran denke, was auf diesen Fötus wartet.« – »Es stirbt stets nur, was geboren wird«, zitierte ich. »Die Geburt ist eine Schuld gegenüber dem Tod.« Er stieß einen kurzen Schrei aus, richtete sich unvermittelt auf und schüttete seinen Kognak in einem Zug hinunter. »Sehen Sie, das schätze ich an Ihnen, Aue. Ein Angehöriger des Sicherheitsdienstes, der Tertullian statt Rosenberg oder Hans Frank zitiert, ist immer willkommen. Aber ich könnte Ihre Übersetzung kritisieren: Mutuum debitum est nativitati cum mortalitate, ich würde eher sagen: ›In wechselseitiger Schuld stehen Geburt und Tod zueinander‹ oder ›Wechselseitig ist die Schuld der Geburt mit dem Tod‹.« – »Sie haben sicherlich Recht. Im Griechischen bin ich immer besser gewesen. Ich werde einen sprachwissenschaftlichen Freund fragen, der hier ist.« Er reichte mir sein Glas zum Nachfüllen. »Da wir gerade von der Sterblichkeit reden«, fragte er in heiterem Ton, »bringen Sie noch immer arme wehrlose Leute um?« Ich reichte ihm sein Glas, ohne die Fassung zu verlieren. »Da Sie es sind, Herr Oberstarzt, der das fragt, nehme ich es nicht übel. Außerdem bin ich nur noch ein Verbindungsoffizier, was mir zusagt. Ich beobachte und tue nichts, das ist meine Lieblingsrolle.« – »Dann hätten Sie einen miserablen Arzt abgegeben. Beobachtung ohne Praxis ist nicht viel wert.« – »Deshalb bin ich Jurist geworden.« Ich stand auf, um die Balkontür zu öffnen. Die Luft war mild, aber man sah keine Sterne, und ich spürte den Regen nahen. Ein schwacher Wind raschelte in den Bäumen. Ich kehrte zum Sofa zurück, auf dem sich Hohenegg wieder ausgestreckt hatte, sein Waffenrock war jetzt aufgeknöpft. »Ich kann Ihnen allerdings versichern«, sagte ich, vor ihm stehend, »dass einige meiner geschätzten Kameraden hier ausgemachte Lumpen sind.« – »Daran zweifele ich keinen Augenblick. Es ist ein allgemein verbreiteter Fehler bei Leuten, die etwas tun, ohne zu beobachten. Das gibt es sogar bei Ärzten.« Ich drehte mein Glas zwischen den Fingern. Plötzlich fühlte ich mich unnütz, unbeholfen. Ich leerte das Glas und fragte ihn: »Bleiben Sie länger?« – »Es finden zwei Tagungen statt: Dieses Mal befassen wir uns mit Verwundungen, Ende des Monats kommen wir wieder her und beschäftigen uns mit den Krankheiten. Ein Tag für die Geschlechtskrankheiten und zwei volle Tage für Läuse und Krätze.« – »Dann sehen wir uns ja noch einmal. Guten Abend, Herr Oberstarzt.« Er gab mir die Hand, und ich schüttelte sie. »Sie entschuldigen, wenn ich liegen bleibe«, sagte er.
Hoheneggs Kognak erwies sich als schlechter Digestif: Zurück in meinem Zimmer, erbrach ich das Abendessen. Die Übelkeit überkam mich so rasch, dass ich gerade noch die Badewanne erreichte. Da ich bereits verdaut hatte, ließ es sich leicht fortspülen; aber es hatte einen herben, sauren und widerwärtigen Nachgeschmack; mir wäre es immer noch lieber gewesen, mich gleich zu erbrechen, es war schwieriger und schmerzhafter hochzuwürgen, aber das Erbrochene hatte wenigstens keinen Geschmack oder nur den der Speisen. Ich überlegte, noch ein Glas bei Hohenegg zu trinken und ihn nach seiner Meinung zu fragen, aber schließlich spülte ich mir nur den Mund mit Wasser aus, rauchte eine Zigarette und legte mich hin. Am folgenden Tag musste ich unbedingt zu einem Höflichkeitsbesuch beim Kommando vorbeisehen; man erwartete Oberführer Bierkamp. Gegen elf ging ich hin. Vom Boulevard der Unterstadt aus war in der Ferne deutlich der zerklüftete Kamm des Beschtau zu erkennen, der sich wie ein schützendes Götzenbild erhob; es hatte nicht geregnet, aber die Luft blieb kühl. Beim Kommando teilte man mir mit, Müller habe mit Bierkamp zu tun. Ich wartete auf der Außentreppe des kleinen Hofs, einer der Fahrer wusch den Schlamm von den Stoßstangen und Rädern des Saurer-Lkw. Die Hecktür stand offen: Neugierig trat ich näher, um einen Blick ins Innere zu werfen, ich hatte es noch nie gesehen; ich schreckte zurück und begann sogleich zu husten; es stank entsetzlich, eine übel riechende Lache aus Erbrochenem, Exkrementen und Urin. Der Fahrer bemerkte mein Unbehagen und warf mir ein paar Worte auf Russisch zu: Ich hörte nur »Grjasno, kashdy ras«, verstand aber nicht, was er wollte. Ein Orpo, offenbar ein Volksdeutscher, kam näher und übersetzte: »Er sagt, so schrecklich sei das immer, Herr Hauptsturmführer, sehr schmutzig, aber man wird den Innenraum verändern, der Boden erhält eine Schräge, und in die Mitte kommt eine kleine Klappe. Dann ist es leichter zu säubern.« – »Ist er Russe?« – »Wer, Saizew? Der ist Kosak, Herr Hauptsturmführer, von denen haben wir ’n paar.« Ich ging auf die Treppe zurück und steckte mir eine Zigarette an; genau in diesem Augenblick rief man nach mir, und ich musste sie fortwerfen. Müller empfing mich im Beisein von Bierkamp. Ich begrüßte ihn und beschrieb ihm meine Aufgabe in Pjatigorsk. »Ja, ja«, sagte Müller, »der Oberführer hat es mir erklärt.« Sie stellten mir einige Fragen, und ich berichtete ihnen von dem Pessimismus, der bei den Wehrmachtsoffizieren vorzuherrschen schien. Bierkamp zuckte die Achseln: »Die Soldaten sind immer Schwarzseher gewesen. Schon beim Einmarsch ins Rheinland und Sudetenland haben sie geplärrt wie die Waschlappen. Sie haben die Kraft des Führerwillens und des Nationalsozialismus nie begriffen. Doch etwas anderes: Haben Sie schon mal von dieser geplanten Militärregierung munkeln hören?« – »Nein, Oberführer. Worum geht es?« – »Es gibt das Gerücht, der Führer habe für den Kaukasus eine Militärverwaltung anstelle einer Zivilverwaltung gebilligt. Doch wir bekommen keine offizielle Bestätigung. Bei der Heeresgruppe weichen sie uns aus.« – »Ich werde versuchen, mich beim AOK zu erkundigen, Oberführer.« Wir wechselten noch einige Worte, dann verabschiedete ich mich. Im Flur begegnete ich Turek. Er blickte mich geringschätzig und höhnisch an und warf mir eine unerhörte Flegelhaftigkeit an den Kopf: »Ach nee, der Papiersoldat. Du kriegst dein Fett noch ab!« Bierkamp hatte offensichtlich mit ihm gesprochen. Liebenswürdig lächelnd erwiderte ich: »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Hauptsturmführer.« Einen Augenblick lang maß er mich mit wütendem Blick, dann verschwand er in einem Büro. Schau an, sagte ich mir, da hast du dir einen Feind gemacht; war gar nicht so schwierig.
Beim AOK bat ich um eine Unterredung mit Gilsa und stellte ihm Bierkamps Frage. »Stimmt«, erwiderte er, »davon ist die Rede. Aber die Einzelheiten sind mir noch nicht ganz klar.« – »Und was wird dann aus dem Reichskommissariat?« – »Die Einrichtung des Reichskommissariats wird um einige Zeit verschoben.« – »Und warum sind die Vertreter der Sipo und des SD nicht informiert worden?« – »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich erwarte noch ergänzende Informationen. Aber wie Sie wissen, gehört diese Frage in die Zuständigkeit der Heeresgruppe. Oberführer Bierkamp müsste sich direkt dorthin wenden.« Ich verließ von Gilsas Büro mit dem Gefühl, dass er mehr wusste, als er sagte. Ich setzte einen kurzen Bericht auf und adressierte ihn an Leetsch und an Bierkamp. Das machte jetzt einen Großteil meiner Arbeit aus: Die Abwehr übermittelte mir nach Gutdünken Kopien von Berichten, die im Allgemeinen die Entwicklung des Partisanenproblems betrafen; ich fügte die Informationen hinzu, die ich mündlich aufgeschnappt hatte, meist während der Mahlzeiten, und schickte das Ganze nach Woroschilowsk; im Austausch erhielt ich andere Berichte, die ich von Gilsa oder einem der anderen Offiziere zukommen ließ. Ähnlich mussten die Berichte über die Tätigkeit des Ek 12, dessen Dienststelle fünfhundert Meter vom AOK entfernt war, zunächst nach Woroschilowsk gesandt werden, um dann, kollationiert mit denen des Sk 10 b (die anderen Kommandos richteten sich in den rückwärtigen Gebieten der 17. Armee ein), wieder teilweise zu mir zurückzukehren, woraufhin ich sie dann dem Ic aushändigte; gleichzeitig unterhielt das Einsatzkommando natürlich unmittelbare Beziehungen zum AOK. Ich hatte nicht übermäßig viel Arbeit, ein Umstand, den ich mir zunutze machte: Pjatigorsk war eine angenehme Stadt, es gab viel zu sehen. In Begleitung des immer neugierigen Voss besuchte ich das Landesmuseum, das etwas unterhalb des Hotels Bristol lag, gegenüber der Post und dem Zwetnik-Park. Seine schönen Sammlungen waren über Jahrzehnte vom Kawkasskoje gornoje obschtschestwo angelegt worden, einer Gesellschaft von Naturforschern, die zwar Laien gewesen waren, aber voller Enthusiasmus. Vieles hatten sie von ihren Reisen mitgebracht: ausgestopfte Tiere, Mineralien, Schädel, Pflanzen, getrocknete Blumen; Grabmale und heidnische Steingötzen; rührende Schwarzweißfotografien, die größtenteils elegante Herren mit Schlips und Kragen und Kreissäge zeigten, wie sie auf einem steil abfallenden Berghang hockten; entzückt fühlte ich mich an das Arbeitszimmer meines Vaters erinnert: eine ganze Wand mit großen Schmetterlingskästen, die Hunderte von Exemplaren enthielten, jedes beschriftet mit dem Ort und Datum des Fangs, dem Namen des Sammlers, dem Geschlecht und wissenschaftlichen Namen des Schmetterlings. Sie kamen aus Kislowodsk, Adygien, Tschetschenien, sogar aus Dagestan und Adsharien; die Daten waren 1923, 1915, 1909. Am Abend gingen wir gelegentlich ins kürzlich von der Wehrmacht wiedereröffnete Teatr operetty, ein weiteres Fantasiegebäude, an dem rote Keramikkacheln mit Reliefs von Büchern, Musikinstrumenten und Girlanden prangten; anschließend dinierten wir in der Messe, in einem Café oder im Kasino, das nichts anderes war als das ehemalige Restaurant, in dem Petschorin Mary getroffen und wo, wie einer russischen Gedenktafel zu entnehmen war, die Voss mir übersetzte, Lew Tolstoi seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Die Sowjets hatten daraus ein Staatliches Balneologisches Zentralinstitut gemacht; die Wehrmacht hatte die eindrucksvolle Inschrift auf dem Frontispiz gelassen, wo sie in Goldbuchstaben über massiven Säulen prunkte, das Gebäude aber wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Nun konnte man hier trockenen Wein aus Kachetien trinken und Schaschliks essen, manchmal gab es auch Wild. Dort stellte ich Voss Hohenegg vor, und sie verbrachten den Abend damit, in fünf Sprachen die Herkunft von Krankheitsnamen zu erörtern.
Mitte des Monats trug ein Schreiben der Gruppe etwas zur Klärung der Lage bei. Der Führer hatte tatsächlich für den Kuban-Kaukasus die Einrichtung einer Militärverwaltung unter der Heeresgruppe A, geleitet vom General der Kavallerie Ernst Köstring, gebilligt. Das Ostministerium ordnete zwar dieser Verwaltung einen hochrangigen Beamten bei, doch die Schaffung des Reichskommissariats war auf unbestimmte Zeit verschoben. Noch überraschender war der Umstand, dass das OKH der Heeresgruppe A befohlen hatte, autonome Territorialeinheiten für die Kosaken und die verschiedenen Bergstämme zu bilden; die Kolchose sollten aufgelöst, die Zwangsarbeit verboten werden: Es war das genaue Gegenteil unserer Politik in der Ukraine. Das erschien mir zu intelligent, um wahr zu sein. Ich wurde eiligst zu einer Besprechung nach Woroschilowsk befohlen: Der HSSPF wollte die neuen Erlasse erörtern. Alle Kommandochefs waren anwesend, zumeist mit ihren Stellvertretern. Korsemann wirkte beunruhigt. »Merkwürdig ist, dass der Führer diese Entscheidung schon Anfang August getroffen hat; ich persönlich bin aber erst gestern von ihr in Kenntnis gesetzt worden. Unbegreiflich.« – »Offenbar fürchtet das OKH eine Einmischung der SS«, meinte Bierkamp. »Aber warum denn?«, jammerte Korsemann. »Unsere Zusammenarbeit ist doch ordentlich.« – »Die SS hat viel Zeit darauf verwandt, gute Beziehungen zum designierten Reichskommissar zu pflegen. Im Augenblick ist die ganze Mühe für die Katz.« – »In Maikop«, warf Schultz ein, Braunes Nachfolger, den man wegen seines Fetts Eisbein-Paule nannte, »heißt es, die Wehrmacht gebe die Kontrolle über die Erdöleinrichtungen nicht aus der Hand.« – »Ich möchte Sie auch darauf hinweisen, Brigadeführer«, fügte Bierkamp, an Korsemann gewandt, hinzu, »dass diese ›örtlichen Selbstverwaltungen‹, wenn sie denn ausgerufen werden, die Polizeigewalt auf ihrem Gebiet ausüben. Aus unserer Sicht ist das unannehmbar.« Auf diese Weise ging die Diskussion noch eine Weile fort; die allgemeine Auffassung schien zu sein, dass die SS regelrecht reingelegt worden war. Schließlich wurden wir mit der Aufforderung entlassen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln.
In Pjatigorsk begann ich zu einigen Offizieren des Kommandos leidliche Beziehungen zu knüpfen. Hohenegg war wieder fort, und außer den Offizieren der Abwehr sah ich praktisch nur Voss. Abends traf ich gelegentlich im Kasino SS-Offiziere. Turek sprach natürlich nicht mit mir; was Dr. Müller anging, so war ich, seit ich ihn öffentlich hatte erklären hören, er möge den Gas-Lkw nicht, weil er die Exekution durch Erschießungskommandos sehr viel angenehmer fände, zu der Überzeugung gelangt, dass wir uns nicht viel zu sagen hatten. Doch unter den Subalternoffizieren befanden sich ganz anständige Menschen, auch wenn sie häufig Langweiler waren. Eines Abends, als ich mit Voss einen Kognak trank, trat Obersturmführer Dr. Kern zu uns, und ich forderte ihn auf, uns Gesellschaft zu leisten. Ich stellte ihm Voss vor: »Ach, Sie sind der Sprachwissenschaftler vom AOK«, sagte Kern. »Vollkommen richtig«, erwiderte Voss amüsiert. »Das trifft sich gut«, sagte Kern, »ich wollte Ihnen gerade einen Fall unterbreiten. Ich habe gehört, dass Sie sich gut mit den Kaukasusvölkern auskennen.« – »Ein wenig«, räumte Voss ein. »Professor Kern lehrt in München«, unterbrach ich. »Er ist Spezialist für die Geschichte des Islams.« – »Ein hochinteressantes Gebiet«, sagte Voss. »Ja, ich habe sieben Jahre in der Türkei gelebt und kenne mich damit aus«, meinte Kern. »Wie sind Sie dann hierhergekommen?« – »Eingezogen wie alle anderen. Ich war schon SS-Angehöriger und korrespondierendes Mitglied des SD, und so bin ich beim Einsatzkommando gelandet.« – »Verstehe. Und Ihr Fall?« – »Eine junge Frau, die man mir gebracht hat. Rothaarig, sehr schön, charmant. Ihre Nachbarn haben sie als Jüdin denunziert. Sie hat mir einen sowjetischen Inlandspass vorgelegt, ausgestellt in Derbent, in dem ihre Nationalität mit tatka angegeben wird. Ich habe in unserer Kartei nachgesehen: Laut unseren Experten sind die Taten mit den Bergjuden gleichzusetzen. Doch die junge Frau hat mir versichert, dass ich mich täuschen würde und dass die Taten ein Turkvolk seien. Ich habe sie mir etwas vorsprechen lassen: Sie hatte einen merkwürdigen Dialekt, nicht ganz leicht zu verstehen, aber es war eindeutig Türkisch. Da habe ich sie gehen lassen.« – »Erinnern Sie sich noch an Wörter oder Wendungen, die sie gebraucht hat?« Es folgte eine lange Unterhaltung auf Türkisch: »Das kann es eigentlich nicht ganz sein«, sagte Voss, »sind Sie sicher?« Und sie begannen von vorn. Schließlich erklärte Voss: »Nach dem, was Sie mir gesagt haben, ähnelt es tatsächlich mehr oder weniger der türkischen Verkehrssprache, die im Kaukasus gesprochen wurde, bevor die Bolschewisten den Unterricht in russischer Sprache zur Pflicht machten. Ich habe gelesen, man habe sich ihrer noch in Dagestan bedient, vor allem in Derbent. Aber alle Völker dort unten sprechen sie. Haben Sie sich den Namen der Frau notiert?« Kern zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte es durch: »Hier. Zokota, Nina Scholowna.« – »Zokota?« Voss runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig.« – »Es ist der Name ihres Mannes«, erklärte Kern. »Ach so, verstehe. Und sagen Sie mir, wenn sie Jüdin ist, was machen Sie dann mit ihr?« Kern machte ein erstauntes Gesicht: »Nun ja, wir … wir …« Er zögerte sichtlich. Ich kam ihm zu Hilfe: »Sie wird in ein anderes Gebiet umgesiedelt.« – »Verstehe«, sagte Voss. Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er zu Kern: »Meines Wissens haben die Taten ihre eigene Sprache, einen iranischen Dialekt, der nichts mit den kaukasischen Sprachen oder den Turksprachen zu tun hat. Es müsste moslemische Taten geben; ob auch in Derbent, das weiß ich nicht, aber ich werde mich erkundigen.« – »Danke«, sagte Kern. »Meinen Sie, dass ich sie hätte dabehalten müssen?« – »Aber nein. Ich bin sicher, dass alles rechtens war.« Kern wirkte beruhigt; offenbar war ihm die Ironie in Vossens letzten Worten entgangen. Wir plauderten noch einen Augenblick, dann verabschiedete er sich. Voss sah ihm verblüfft nach. »Ihre Kameraden sind etwas merkwürdig«, meinte er schließlich. »Wieso?« – »Sie stellen manchmal Fragen, aus denen man nicht recht klug wird.« Ich zuckte die Achseln: »Sie tun ihre Arbeit.« Voss schüttelte den Kopf: »Ihre Methoden scheinen mir ein wenig willkürlich zu sein. Aber es geht mich schließlich nichts an.« Er schien ungehalten zu sein. »Wann gehen wir ins Lermontow-Museum?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln. »Wann Sie möchten. Sonntag?« – »Wenn das Wetter schön ist, führen Sie mich zum Ort des Duells.«