Am Tag nach dem Abendessen mit Oberländer ging ich, sobald ich aufgewacht war, zu Hennicke, dem Chef des Gruppenstabs. »Ah, Obersturmführer Aue. Die Depeschen für Luzk sind fast fertig. Melden Sie sich beim Brigadeführer. Er hält sich im Gefängnis Brygidki auf. Untersturmführer Beck bringt Sie hin.« Dieser Beck war noch sehr jung, eine stattliche Erscheinung, schien aber irgendwie verstimmt, als unterdrücke er einen geheimen Zorn. Nachdem er mich begrüßt hatte, sprach er kaum mit mir. Die Menschen auf der Straße wirkten noch erregter als am Vortag, Gruppen bewaffneter Nationalisten patrouillierten, der Verkehr stockte. Man sah auch mehr deutsche Soldaten. »Ich muss am Bahnhof vorbeifahren und ein Paket abholen«, sagte Beck. »Das würde Sie nicht stören?« Sein Fahrer kannte sich schon gut aus; um der Menschenmenge auszuweichen, nahm er eine Abkürzung durch eine Querstraße; ein Stück weiter schlängelte sie sich einen kleinen Hang empor, an gutbürgerlichen Häusern eines ruhigen und begüterten Viertels entlang. »Eine schöne Stadt«, sagte ich. »Natürlich«, erwiderte Beck, »im Grunde ist es eine deutsche Stadt.« Ich schwieg. Am Bahnhof ließ er mich im Wagen warten und verschwand in der Menge. Straßenbahnen spuckten ihre Fahrgäste aus, nahmen neue auf, fuhren wieder ab. Unter den Bäumen eines kleinen Parks linker Hand hatten sich, gleichgültig gegenüber dem Getümmel auf den Straßen, einige Zigeunerfamilien niedergelassen, schmutzig, dunkelhäutig, in bunte Lumpen gekleidet. Andere hielten sich in der Nähe des Bahnhofs auf, ohne zu betteln; selbst die Kinder spielten nicht. Beck kam mit einem kleinen Paket zurück. Er folgte meinem Blick und bemerkte die Zigeuner. »Statt unsere Zeit mit den Juden zu vergeuden, sollten wir uns lieber mit denen da befassen«, stieß er zornig hervor. »Die sind viel gefährlicher. Wussten Sie, dass sie für die Roten arbeiten? Aber wir werden es ihnen schon heimzahlen.« Als wir die lange Straße entlangfuhren, die hinter dem Bahnhof wieder anstieg, ergriff er erneut das Wort: »Die Synagoge liegt hier gleich nebenan. Ich würde sie mir gern ansehen. Danach fahren wir zum Gefängnis.« Die Synagoge befand sich etwas zurückgesetzt in einer Seitengasse, links von der breiten Zufahrtsstraße, die ins Stadtzentrum führte. Vor dem Eingangstor standen zwei deutsche Soldaten Wache. Die baufällige Fassade sah nicht sehr vertrauenerweckend aus; nur ein Davidstern auf dem Giebeldreieck verriet die Bestimmung des Gebäudes; kein Jude war zu sehen. Ich folgte Beck durch die kleine Tür. Der große Innenraum war zwei Stockwerke hoch und oben von einer Galerie umgeben, vermutlich für die Frauen; schöne Malereien in lebhaften Farben schmückten die Wände, naiv, aber kraftvoll in ihrem Stil, ein Löwe von Juda, groß, von Judensternen, Papageien und Schwalben umgeben und teilweise von Einschüssen zernarbt. Statt Bänken gab es kleine Stühle, die fest mit Schulpulten verbunden waren. Lange betrachtete Beck die Malereien, dann ging er wieder hinaus. Auf der Straße vor dem Gefängnis herrschte dichtes Gedränge, ein ungeheurer Auflauf. Die Menschen schrien und kreischten, Frauen zerrissen hysterisch ihre Kleider und wälzten sich auf dem Boden; Juden, von Feldgendarmen bewacht, rutschten auf Knien und schrubbten den Gehsteig; von Zeit zu Zeit versetzte ihnen jemand aus der aufgebrachten Menge einen Fußtritt, ein Feldwebel brüllte mit hochrotem Kopf: »Juden kaputt!«, woraufhin ihm die Ukrainer bewundernd Beifall spendeten. Am Gefängnistor musste ich einer Kolonne Juden Platz machen, die, im Hemd oder mit nacktem Oberkörper und größtenteils blutüberströmt, unter Aufsicht deutscher Soldaten verwesende Leichen herausschleppten und auf Karren luden. Schwarz gekleidete alte Frauen warfen sich laut aufschreiend auf die Leichname, um sich anschließend auf die Juden zu stürzen und sie zu zerkratzen, bis ein Soldat versuchte, sie zurückzustoßen. Währenddessen hatte ich Beck aus den Augen verloren, ich betrat den Gefängnishof, wo mich das gleiche Schauspiel erwartete: Zu Tode geängstigte Juden sortierten Leichen, während andere unter den Flüchen der Soldaten das Pflaster schrubbten; diese sprangen von Zeit zu Zeit vor und schlugen die Juden mit der bloßen Faust oder dem Gewehrkolben, die Juden heulten auf, brachen zusammen, mühten sich, wieder hochzukommen und die Arbeit fortzusetzen, andere Soldaten fotografierten die Szene, wieder andere krakeelten fröhlich Beleidigungen oder Anfeuerungsrufe, gelegentlich auch kam einer der Juden nicht mehr hoch, dann bearbeiteten ihn mehrere Uniformierte mit ihren Stiefeln, ein oder zwei Juden mussten die Leiche an den Füßen zur Seite ziehen, andere wurden wieder zum Schrubben eingesetzt. Endlich stieß ich auf einen SS-Mann: »Wissen Sie, wo ich Brigadeführer Rasch finde?« – »Ich glaube, er ist im Gefängnisbüro, dort entlang, ich habe ihn eben die Treppe hochgehen sehen.« Obwohl auf dem langen Korridor ein ständiges Kommen und Gehen von Soldaten herrschte, war es ruhiger hier, allerdings waren die schmutzig grünen glänzenden Wände mit mehr oder weniger frischen Blutflecken bespritzt, darauf klebten Fetzen von Hirnmasse, mit Haaren und Knochensplittern vermengt; auf dem Boden, wo man die Leichen entlanggezogen hatte, waren breite Spuren geblieben, in die man hineinplatschte. Am Ende des Korridors kam Rasch mit einem großen pausbäckigen Oberführer und mehreren anderen Offizieren der Einsatzgruppe die Treppe herunter. Ich grüßte. »Ah, Sie sind es. Sehr schön. Ich habe einen Bericht von Radetzky erhalten; bitten Sie ihn herzukommen, sobald es ihm möglich ist. Und Sie machen Obergruppenführer Jeckeln persönlich Meldung über die Aktion hier. Heben Sie hervor, dass die Initiative von den Nationalisten und dem Volk ausgegangen ist. Das NKWD und die Juden haben in Lemberg dreitausend Menschen ermordet. Jetzt rächt sich das Volk, das ist normal. Wir haben das AOK gebeten, ihnen ein paar Tage Zeit zu lassen.« – »Zu Befehl, Brigadeführer.« Ich trat hinter ihnen ins Freie. Rasch und der Oberführer diskutierten lebhaft. Im Hof wurde der Leichengestank deutlich von dem schweren, widerlichen Geruch frischen Blutes überlagert. Beim Hinausgehen begegnete ich zwei Juden, die unter Bewachung von der Straße zurückkehrten; einer von ihnen, ein sehr junger Mann, blutete heftig, gab aber keinen Laut von sich. Beck wartete am Wagen, und wir kehrten zum Gruppenstab zurück. Ich befahl Höfler, den Opel fertig zu machen und Popp zu suchen, dann machte ich mich auf den Weg, die Depeschen und den Brief bei Leiter III abzuholen. Ich erkundigte mich auch nach Thomas’ Verbleib, ich wollte ihm vor der Abfahrt guten Tag sagen. »Sie finden ihn in der Nähe des Boulevards«, sagte man mir. »Schauen Sie ins Café Metropolis, in der Sykstuska.« Unten standen Popp und Höfler schon abfahrbereit. »Kann’s losgehen, Obersturmführer?« – »Ja, aber wir halten unterwegs noch mal. Nehmen Sie den Boulevard.« Das Metropolis war rasch entdeckt. Drinnen standen die Männer in Grüppchen beisammen und diskutierten lärmend, einige, schon betrunken, grölten; an der Theke tranken durchreisende Frontoffiziere Bier und erörterten die Ereignisse. Ich traf Thomas weiter hinten in Gesellschaft eines jungen blonden Mannes mit aufgeschwemmtem, missmutigem Gesicht und in Zivil an. Sie tranken Kaffee. »Grüß dich, Max! Darf ich dich mit Oleg bekannt machen. Er ist sehr gebildet, sehr intelligent.« Oleg erhob sich und schüttelte mir beflissen die Hand; er schien eher ein ziemlicher Trottel zu sein. »Hör mal, ich fahr jetzt zurück.« Thomas antwortete mir auf Französisch: »In Ordnung. Wir sehen uns sowieso bald wieder: Wenn alles nach Plan geht, wird euer Kommandostab mit uns in Shitomir stationiert.« – »Ausgezeichnet.« Auf Deutsch fuhr er fort: »Mach’s gut! Halt die Ohren steif.« Ich nickte Oleg zu und verließ das Café. Unsere Truppen waren noch weit von Shitomir entfernt, aber Thomas schien sehr zuversichtlich, offenbar hatte er Informationen aus erster Hand. Während der Rückfahrt genoss ich wieder die Lieblichkeit der galizischen Landschaft; im Staub der Lkw-Kolonnen und des Geräts, die auf dem Weg an die Front waren, kamen wir nur langsam voran; vereinzelt durchbrach die Sonne die weißen Wolken, die in langen Reihen am Himmel aufmarschierten, in einer riesigen Schattenkuppel, heiter und still.

 

Nachmittags traf ich in Luzk ein. Laut von Radetzky wurde Blobel nicht so bald zurückerwartet; Häfner teilte uns vertraulich mit, dass man den Standartenführer schließlich in die geschlossene Abteilung eines Wehrmachtslazaretts eingewiesen habe. Die Vergeltungsaktion war reibungslos über die Bühne gegangen, doch schien niemand besondere Lust zu haben, darüber zu sprechen: »Seien Sie froh, dass Sie nicht hier waren«, ließ mich Zorn wissen. Am 6. Juli verlegte das Sonderkommando, immer der vorrückenden 6. Armee dicht auf den Fersen, seinen Sitz nach Rowno, kurz darauf nach Swjagel, das die Sowjets Nowograd-Wolynski nennen. Jedes Mal wurden Teilkommandos abkommandiert, die den Befehl hatten, potenzielle Gegner aufzuspüren, festzunehmen und zu exekutieren. Größtenteils waren es zwar Juden, aber wir erschossen auch Kommissare oder Funktionäre der bolschewistischen Partei, wenn wir sie erwischten, Diebe, Plünderer, Bauern, die ihr Getreide versteckten, auch Zigeuner – Beck war sicherlich zufrieden. Radetzky hatte uns erläutert, dass wir in den Kategorien objektiver Bedrohung denken müssten: Da es faktisch unmöglich sei, jeden einzelnen Schuldigen zu entlarven, müsse man anhand soziopolitischer Kriterien bestimmen, wer uns am ehesten schaden könnte, und entsprechend handeln. In Lemberg war es General Rentz, dem neuen Ortskommandanten, nach und nach gelungen, die Ordnung wiederherzustellen und die Ausschreitungen einzudämmen; trotzdem hatte das Einsatzkommando 6, später das Kommando 5, das jenes ersetzt hatte, auch weiterhin Hunderte von Menschen vor der Stadt exekutiert. Allmählich bekamen wir auch Ärger mit den Ukrainern. Am 9. Juni fand der kurze Flirt mit der Unabhängigkeit ein jähes Ende: Die Sipo verhaftete Bandera und Stezko, schickte sie unter Bewachung nach Krakau und entwaffnete ihre Männer. Doch andernorts lehnte sich die OUN-B auf; in Drohobytsch eröffneten sie das Feuer auf unsere Truppen, mehrere Deutsche wurden getötet. Von da an begann man Banderas Parteigänger ebenfalls als objektive Bedrohung zu behandeln; begeistert halfen uns die Melnykisten, sie zu identifizieren, und übernahmen die lokalen Verwaltungen. Am 11. Juli tauschte unser Gruppenstab, dem wir untergeordnet waren, die Bezeichnung mit jenem Stab, welcher der Heeresgruppe Mitte zugeordnet war: Fortan waren wir die »Einsatzgruppe C«; am selben Tag fuhr eines unserer Vorkommandos mit den Panzern der 6. Armee in Shitomir ein. Einige Tage darauf wurde ich zu dessen Verstärkung abkommandiert, bis der restliche Führungsstab zu uns aufgeschlossen hätte.

 

Ab Swjagel veränderte sich die Landschaft vollständig. Jetzt fuhren wir durch die ukrainische Ebene, eine endlos wogende Prärie, die landwirtschaftlich intensiv genutzt wurde. Auf den Getreidefeldern war der Klatschmohn verblüht, doch Roggen und Gerste reiften gerade, und kilometerweit richteten Sonnenblumen ihre goldenen Blütenkränze himmelwärts und folgten dem Lauf der Sonne. Hier und da, wie zufällig hingeworfen, unterbrach eine langgezogene Reihe von Isbas im Schatten von Robinien oder Eichen-, Ahorn- und Eschenwäldchen die eintönige Perspektive. Die Feldwege waren mit Linden gesäumt, die Flüsse mit Espen und Weiden; in den Städten hatte man entlang den Boulevards Kastanien gepflanzt. Unsere Karten erwiesen sich als vollkommen unbrauchbar: Die eingezeichneten Straßen existierten nicht oder endeten im Nirgendwo; umgekehrt entdeckten unsere Patrouillen dort, wo sich der Karte zufolge leere Steppe befand, Kolchose mit riesigen Baumwoll-, Melonen- und Rübenfeldern; aus winzigen Gemeinden waren hochentwickelte Industriezentren geworden. Doch während Galizien uns fast unversehrt in die Hände gefallen war, hatte die Rote Armee hier eine systematische Politik der verbrannten Erde praktiziert. Die Dörfer und Felder standen in Flammen, die Brunnen waren gesprengt oder zugeschüttet, die Straßen vermint, die Gebäude mit Sprengfallen versehen; in den Kolchosen trafen wir Vieh, Geflügel und Frauen an, aber keine Männer und Pferde; in Shitomir hatten sie alles in Brand gesetzt, was brennbar war: Glücklicherweise waren zwischen den rauchenden Ruinen noch zahlreiche Wohngebäude stehen geblieben. Die Stadt befand sich immer noch unter ungarischem Kommando, und Callsen kochte vor Wut: »Ihre Offiziere pflegen freundschaftlichen Umgang mit den Juden, sie essen sogar bei den Juden zu Abend!« Bohr, ein anderer Offizier, fügte hinzu: »Anscheinend sind einige ihrer Offiziere selber Juden. Können Sie sich das vorstellen? Deutschlands Verbündete! Ich wage nicht mehr, ihnen die Hand zu geben.« Die Einheimischen hatten uns freundlich empfangen, beklagten sich aber über den Vormarsch der Honvéd auf ukrainisches Gebiet: »Die Deutschen sind von jeher unsere Freunde«, sagten sie. »Die Magyaren wollen uns einfach annektieren.« Täglich entluden sich diese Spannungen in kleineren Zusammenstößen. Eine Pionierkompanie hatte zwei Ungarn getötet; einer unserer Generale musste den Ungarn unsere Entschuldigung überbringen. Andererseits hinderten die Honvéd unsere örtliche Polizei an ihrer Arbeit, sodass sich das Vorkommando gezwungen sah, über den Gruppenstab beim Oberkommando der Heeresgruppe Süd zu protestieren. Am 15. Juli wurden die Ungarn endlich abgezogen, woraufhin sich das AOK 6 in Shitomir einrichtete, dicht gefolgt von unserem Kommando und dem Gruppenstab C. Unterdessen hatte man mich als Verbindungsoffizier nach Swjagel befohlen. Die Teilkommandos unter Callsen, Hans und Janssen hatten jeweils einen Sektor zugewiesen bekommen und schwärmten fächerartig aus, nachdem die Front vor Kiew zum Stillstand gekommen war; da unser Abschnitt im Süden an den des Ek 5 grenzte, mussten wir unsere Aktionen koordinieren, denn jedes Teilkommando operierte selbstständig. So kam es, dass ich mich mit Janssen zusammen in der Region zwischen Swjagel und Rowno, an der Grenze Galiziens, befand. Die kurzen Sommerunwetter schlugen immer häufiger in anhaltende Regengüsse um, die den Lössstaub, der fein wie Mehl war, in einen zähen, klebrig schwarzen Schlamm verwandelten, im Landserjargon »Buna« genannt. Endlose Sumpfflächen bildeten sich, in denen sich die Leichen und Pferdekadaver, die die vorrückende Front dort zurückgelassen hatte, langsam auflösten. Die Männer erlagen einem nicht enden wollenden Durchfall; Läuse tauchten auf; sogar die Lkws blieben im Schlamm stecken, und es wurde immer schwieriger, sich fortzubewegen. Zur Unterstützung der Sonderkommandos warben wir zahlreiche ukrainische Hilfswillige an, die von ehemaligen Angehörigen der afrikanischen Schutztruppe »Askaris« genannt wurden; ihren Sold bekamen sie von den örtlichen Gemeinden und aus dem beschlagnahmten jüdischen Vermögen. Viele von ihnen waren Bulbowizi, jene wolynischen Extremisten, von denen Oberländer gesprochen hatte (ihr Name leitete sich von Taras Bulba her): Nach der Auflösung der OUN-B hatte man sie vor die Wahl »deutsche Uniform« oder »Lager« gestellt; die meisten waren in der ukrainischen Bevölkerung untergetaucht, einige aber hatten sich bei uns gemeldet. Höher im Norden, zwischen Pinsk, Mosyr und Olewsk, hatte die Wehrmacht dafür eine »Ukrainische Republik Polesien« ausrufen lassen, die von einem gewissen Taras Borowez regiert wurde, vormals Besitzer eines von den Bolschewiken verstaatlichten Steinbruchs in Kostopol; er jagte versprengte Einheiten der Roten Armee und polnische Partisanen, was auf unserer Seite Truppen freisetzte – im Gegenzug ließen wir ihn unbehelligt; doch die Einsatzgruppe befürchtete, er könne feindselige Elemente der OUN-B schützen, wir nannten sie scherzhaft die »OUN-Bolschewiken« im Gegensatz zu den »Menschewiken« von Melnyk. Wir zogen auch die Volksdeutschen heran, die wir in den Ortschaften antrafen, um sie als Bürgermeister und Polizisten einzusetzen. Die Juden wurden fast überall zur Zwangsarbeit eingesetzt; und wir gingen dazu über, die Juden, die nicht arbeitsfähig waren, systematisch zu erschießen. Doch auf der ukrainischen Seite des Sbrutschs scheiterten unsere Bemühungen häufig an der Apathie der einheimischen Bevölkerung, die uns die Absetzbewegungen der Juden nicht meldete, was diese nutzten, um sich unerlaubt wegzubewegen und in den Wäldern des Nordens zu verstecken. Daraufhin gab Brigadeführer Rasch den Befehl, die Juden vor den Exekutionen öffentlich aufmarschieren zu lassen, um in den Augen der ukrainischen Landbevölkerung den Mythos von der politischen Macht der Juden zu zerstören. Allerdings schienen diese Maßnahmen recht wirkungslos zu verpuffen.

Eines Morgens schlug Janssen mir vor, an einer dieser Aktionen teilzunehmen. Früher oder später musste es dazu kommen, ich wusste es und hatte daran gedacht. Ich darf mit Fug und Recht behaupten, dass ich Zweifel an unseren Methoden hegte: Mir wollte ihre Logik nicht recht einleuchten. Ich hatte mit jüdischen Häftlingen gesprochen; die hatten mir versichert, für sie sei alles Schlechte von jeher aus dem Osten gekommen und alles Gute aus dem Westen. 1918 hätten sie unsere Truppen als Befreier und Retter empfangen; die hätten sich sehr human verhalten; nach dem Abzug der Deutschen seien Petljuras Ukrainer zurückgekehrt und hätten sie, die Juden, abgeschlachtet. Die bolschewistischen Machthaber wiederum hätten das Volk verhungern lassen. Und jetzt würden wir sie töten. Und es war nicht zu leugnen, wir töteten viele Menschen. Ich empfand das als Unglück, selbst wenn es unvermeidlich und notwendig war. Doch dem Unglück haben wir uns zu stellen; wir müssen stets bereit sein, dem Unvermeidlichen und Notwendigen ins Gesicht zu sehen und vor den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, nicht die Augen zu verschließen; den Kopf in den Sand zu stecken ist niemals eine angemessene Reaktion. So nahm ich Janssens Angebot an. Die Aktion wurde von Untersturmführer Nagel, seinem Adjutanten, befehligt; ich brach mit ihm zusammen aus Swjagel auf. Tags zuvor hatte es geregnet, aber die Straße befand sich noch in gutem Zustand, wir fuhren langsam zwischen zwei hohen Mauern aus lichtüberflutetem Pflanzgrün dahin, die die Felder vor unserem Blick verbargen. Das Dorf, der Name ist mir entfallen, lag am Ufer eines breiten Flusses, einige Kilometer jenseits der früheren sowjetischen Grenze; es war ein größerer Flecken mit gemischter Einwohnerschaft, auf der einen Seite wohnten die galizischen Bauern, auf der anderen die Juden. Bei unserer Ankunft waren die Absperrungen schon gezogen worden. Nagel hatte mich auf einen Wald hinter dem Ort aufmerksam gemacht: »Da soll es stattfinden.« Er wirkte nervös, unsicher, offenbar hatte auch er bislang noch niemals getötet. Auf dem Dorfplatz brachten unsere Askaris die Juden zusammen, Männer fortgeschrittenen Alters und Jugendliche; sie führten sie durch die jüdischen Gassen heran, gelegentlich schlugen sie sie, auf dem Platz mussten sich die Juden hinhocken und wurden von Orpos bewacht. Auch einige Deutsche begleiteten diese Grüppchen, einer von ihnen, ein gewisser Gnauk, prügelte mit einer Reitpeitsche auf die Juden ein, um sie vorwärts zu treiben. Doch von den Schreien abgesehen ging alles relativ ruhig und geordnet vonstatten. Es gab keine Schaulustigen; von Zeit zu Zeit erschien ein Kind am Rande des Platzes, betrachtete die hockenden Juden und verschwand wieder. »Ich denke, es wird noch eine halbe Stunde dauern«, meinte Nagel. »Kann ich mich ein bisschen umschauen?«, fragte ich ihn. »Selbstverständlich, aber nehmen Sie Ihren Burschen mit.« Damit war Popp gemeint, der mir seit Lemberg nicht mehr von der Seite wich, sich um meine Unterkunft und den Kaffee kümmerte, meine Stiefel putzte und meine Uniformen in Schuss hielt; dabei hatte ich ihn nicht darum gebeten. Ich wandte mich in Richtung der kleinen galizischen Höfe, zum Fluss hin, Popp, das Gewehr umgehängt, folgte mir im Abstand von einigen Schritten. Die Häuser waren lang und niedrig, die Türen blieben fest verschlossen, ich sah niemanden in den Fenstern. Vor einem Holztor mit einem notdürftigen hellblauen Anstrich schnatterten laut etwa dreißig Gänse, sie warteten darauf, wieder reingelassen zu werden. Ich ließ die letzten Häuser hinter mir und ging zum Fluss hinab, doch das Ufer wurde sumpfig, ich stieg wieder ein bisschen höher hinauf; in einiger Entfernung erblickte ich den Wald. Die Luft war erfüllt vom durchdringenden, quälenden Gequake liebeskranker Frösche. Weiter oben, zwischen durchweichten Äckern, in deren Wasserpfützen sich das Sonnenlicht spiegelte, marschierte ein Dutzend weißer Gänse, fett und stolz, hintereinander vorbei, gefolgt von einem verschreckten Kalb. Ich hatte schon einige ukrainische Dörfer gesehen: Sie waren mir alle erheblich ärmer und bedürftiger erschienen als dieses hier, und ich befürchtete, Oberländers Theorien würden ins Wanken geraten. Ich trat den Rückweg an. Vor dem blauen Tor warteten noch immer die Gänse und beäugten eine Kuh, deren Augen tränten und von wimmelnden Fliegen förmlich verklebt waren. Auf dem Dorfplatz ließen die Askaris die Juden mit Gebrüll und Stockschlägen auf die Lastwagen steigen; dabei leisteten die Juden überhaupt keinen Widerstand. Unmittelbar vor mir schleiften zwei Ukrainer einen alten Mann mit Holzbein über den Boden, seine Prothese löste sich, rücksichtslos warfen sie ihn auf den Lastwagen. Nagel war fortgegangen, ich packte einen der Askaris am Arm und wies auf das Holzbein: »Leg das zu ihm auf den Lastwagen.« Der Ukrainer zuckte die Achseln, hob das Bein auf und warf es dem Alten hinterher. Auf jedem Lastwagen pferchte man ungefähr dreißig Juden zusammen; insgesamt mochten es hundertfünfzig sein, doch uns standen nur drei Lkws zur Verfügung, wir mussten also zweimal fahren. Als die Wagen beladen waren, bedeutete mir Nagel, in den Opel zu steigen, und fuhr in Richtung Wald, gefolgt von den Lastwagen. Man hatte die Lichtung bereits abgesperrt. Wir ließen absitzen, dann befahl Nagel, die Juden zu bestimmen, die graben sollten; die anderen hatten an Ort und Stelle zu warten. Ein Hauptscharführer nahm die Selektion vor, Schaufeln wurden verteilt; Nagel stellte eine Eskorte zusammen, und die Gruppe verschwand im Wald. Die Lastwagen waren wieder abgefahren. Ich betrachtete die Juden: Die in meiner Nähe erschienen blass, aber ruhig. Nagel trat zu mir und erklärte nachdrücklich, indem er auf die Juden wies: »Das ist notwendig, verstehen Sie? Bei alledem darf das menschliche Leid überhaupt keine Rolle spielen.« – »Sicher, aber trotzdem zählt es irgendwie.« Genau das war es, was mir unbegreiflich blieb: die Kluft, die absolute Unverhältnismäßigkeit zwischen der Leichtigkeit, mit der es sich tötet, und der unendlichen Schwierigkeit, mit der gestorben wird. Für uns war es ein schmutziges Tagewerk unter vielen, für sie das Ende von allem.

Schreie drangen aus dem Wald. »Was ist da los?«, fragte Nagel. »Ich weiß nicht, Untersturmführer«, erwiderte ein Unterführer, »ich gehe mal nachschauen.« Er verschwand seinerseits im Wald. Einige Juden gingen schleppenden Schrittes hin und her, den Blick zu Boden gerichtet, dumpf und schweigend wie beschränkte Menschen, die auf den Tod warten. Ein auf seinen Fersen hockender Jugendlicher summte einen Abzählvers vor sich hin und betrachtete mich neugierig; er führte zwei Finger an die Lippen; ich gab ihm eine Zigarette und Streichhölzer: Er dankte mir mit einem Lächeln. Der Unterführer tauchte am Waldrand auf und rief: »Sie haben ein Massengrab gefunden, Untersturmführer.« – »Was soll das heißen, ein Massengrab?« Nagel ging auf den Wald zu, und ich folgte ihm. Unter den Bäumen ohrfeigte der Hauptscharführer einen der Juden und schrie: »Das hast du doch gewusst, oder? Dreckskerl! Warum hast du uns nichts gesagt?« – »Was geht hier vor?«, fragte Nagel. Der Hauptscharführer hörte auf, den Juden zu ohrfeigen, und antwortete: »Sehen Sie hier, Untersturmführer! Wir sind auf ein Massengrab der Bolschewiki gestoßen.« Ich trat an den Rand des Grabens, den die Juden ausgehoben hatten; am Boden erkannte ich modernde, eingefallene, fast mumifizierte Leichen. »Sie müssen im Winter erschossen worden sein«, meinte ich. »Deshalb sind sie noch nicht verwest.« Ein Soldat am Boden des Grabens richtete sich auf. »Scheint so, als hätten sie eine Kugel ins Genick bekommen, Untersturmführer. Das muss das NKWD gewesen sein.« Nagel rief den Dolmetscher: »Fragen Sie ihn, was passiert ist.« Der Dolmetscher übersetzte, dann redete der Jude. »Er sagt, die Bolschewiki hätten viele Männer im Dorf festgenommen. Aber er behauptet, sie hätten nicht gewusst, dass sie hier vergraben wurden.« – »Klar, diese Lumpen haben nichts gewusst!«, der Hauptscharführer explodierte. »Sie haben sie selbst umgebracht, so war es!« – »Beruhigen Sie sich, Hauptscharführer. Lassen Sie dieses Grab zuschütten und woanders graben. Aber kennzeichnen Sie den Ort, für den Fall, dass man wegen einer Untersuchung wiederkommen muss.« Wir kehrten zur Absperrung zurück; die Lastwagen brachten die übrigen Juden heran. Zwanzig Minuten später tauchte der Hauptscharführer mit hochrotem Kopf wieder auf. »Wir sind auf weitere Gräber gestoßen, Untersturmführer. Es ist unglaublich, der ganze Wald ist voller Leichen.« Nagel setzte eine kurze Besprechung an. »Es gibt nicht viele Lichtungen in diesem Wald«, meinte ein Unterführer, »deshalb graben wir an denselben Stellen wie sie.« Während ihrer Diskussion bemerkte ich, dass mir lange, sehr dünne Holzsplitter direkt unter den Nägeln in die Finger eingedrungen waren; beim Abtasten stellte ich fest, dass sie unmittelbar unter der Haut bis zum zweiten Fingerglied reichten. Das war merkwürdig. Wie waren sie dorthin gekommen? Ich hatte nichts gespürt. Ich begann, sie behutsam herauszuziehen, einen nach dem anderen, versuchte zu vermeiden, dass Blut floss. Glücklicherweise glitten sie ziemlich leicht heraus. Nagel schien einen Entschluss gefasst zu haben: »Es gibt einen anderen, tiefer gelegenen Teil des Waldes. Wir wollen es da versuchen.« – »Ich warte hier auf Sie«, sagte ich. »Gut, Obersturmführer. Ich schick jemanden, der Sie holt.« Noch immer mit meinem Problem beschäftigt, krümmte ich die Finger mehrfach: Alles schien in Ordnung zu sein. Ich entfernte mich von der Absperrung über einen flachen Hang mit wilden Kräutern und fast trockenen Blumen. Weiter unten begann ein Getreidefeld, bewacht von einem Raben, der mit gespreizten Flügeln, an den Füßen hängend, gekreuzigt worden war. Ich legte mich ins Gras und blickte in den Himmel. Dann schloss ich die Augen.

Popp kam mich holen. »Sie sind so gut wie fertig, Obersturmführer.« Der Kessel mit den Juden war in den unteren Teil des Waldes verlegt worden. Die Verurteilten warteten geduldig unter den Bäumen, in kleinen Gruppen, einige hatten sich gegen Baumstämme gelehnt. Ein Stück weiter, im Wald, wartete Nagel mit seinen Ukrainern. Einige Juden standen in einem Graben von mehreren Metern Länge und schaufelten noch immer Schlamm über den Aushub. Ich beugte mich vor: Wasser stand im Graben, die Juden schaufelten, bis zu den Knien im Schlammwasser stehend. »Das ist kein Grab, das ist ein Schwimmbecken«, sagte ich unwirsch zu Nagel. Der reagierte gereizt: »Was soll ich machen, Obersturmführer? Wir sind auf Grundwasser gestoßen, je tiefer sie graben, desto mehr läuft nach. Wir sind zu nahe am Fluss. Aber ich habe nicht vor, den ganzen Tag Löcher in diesen Wald graben zu lassen.« Er wandte sich an den Hauptscharführer. »Gut, das reicht. Lassen Sie sie rausklettern.« Er war aschfahl. »Sind Ihre Schützen bereit?«, fragte er. Da begriff ich, dass die Ukrainer schießen sollten. »Jawoll, Untersturmführer«, erwiderte der Hauptscharführer. Er wandte sich dem Dolmetscher zu und erklärte ihm den Ablauf. Der Dolmetscher übersetzte es den Ukrainern. Zwanzig von ihnen stellten sich in Linie vor der Grube auf; die fünf restlichen packten die Juden, die gegraben hatten und von oben bis unten mit Schlamm bespritzt waren, und ließen sie, mit dem Rücken zu den Schützen, am Rand der Grube niederknien. Auf Kommando des Hauptscharführers legten die Askaris ihre Karabiner an und zielten auf die Nacken der Juden. Doch die Rechnung ging nicht auf, es sollten pro Jude zwei Schützen sein, man hatte jedoch fünfzehn Juden graben lassen. Der Hauptscharführer zählte noch einmal durch, befahl dann den Ukrainern die Gewehre abzusetzen und ließ fünf Juden wieder aufstehen, die zur Seite traten, um dort zu warten. Mehrere von ihnen rezitierten etwas mit leiser Stimme, vermutlich Gebete, sonst sagte niemand ein Wort. »Besser, wir nehmen noch ein paar Askaris hinzu«, schlug ein anderer Unterführer vor. »Dann geht es schneller.« Es folgte ein kurze Diskussion; wir hatten insgesamt nur fünfundzwanzig Ukrainer; der Unterführer schlug vor, fünf Orpos hinzuzuziehen; der Hauptscharführer meinte, man dürfe die Bewachung nicht schwächen. Gereizt beendete Nagel das Hin und Her: »Machen Sie weiter wie gehabt!« Der Hauptscharführer brüllte ein Kommando, und die Askaris legten wieder an. Nagel trat einen Schritt vor. »Alles hört auf mein Kommando …« Seine Stimme war tonlos, er machte einen Versuch, sie unter Kontrolle zu bringen. »Gebt … Feuer!« Die Salve krachte, und ich sah hinter den dünnen Rauchfähnchen der Gewehre etwas Rotes aufspritzen. Die meisten Erschossenen flogen nach vorn, mit dem Gesicht ins Wasser; zwei blieben am Rand der Grube liegen, in sich zusammengekrümmt. »Säubern Sie das und bringen Sie die Nächsten!«, befahl Nagel. Einige Ukrainer fassten die toten Juden an Armen und Beinen und schwangen sie in die Grube; laut klatschend schlugen sie auf dem Wasser auf, das Blut, das in Strömen aus ihren zerschmetterten Köpfen floss, war über die Stiefel und grünen Uniformen der Ukrainer gespritzt. Zwei Männer mit Schaufeln traten vor und säuberten den Rand der Grube, schaufelten die blutdurchtränkte Erde mitsamt Brocken weißer Hirnmasse auf die Toten. Ich trat näher, um hinabzublicken: Die Leichen trieben im schlammigen Wasser, die einen auf dem Bauch, andere auf dem Rücken, nur noch ihre Nasen und Bärte ragten aus dem Wasser; das Blut aus ihren Schädeln breitete sich auf der Oberfläche wie ein dünner Ölfilm aus, von einem leuchtenden Rot, auch ihre weißen Hemden waren rot, und auf Haut und Bärten liefen dünne rote Rinnsale. Die zweite Gruppe wurde gebracht, die letzten fünf, die gegraben hatten, und fünf andere vom Waldrand, man ließ sie ebenfalls niederknien, mit dem Gesicht zur Grube und zu den schwimmenden Leichen ihrer Nachbarn; einer von ihnen wandte sich den Schützen zu, den Kopf erhoben, und blickte sie schweigend an. Nachdenklich betrachtete ich diese Ukrainer: Wie waren sie dazu gekommen? Die meisten von ihnen hatten gegen die Polen gekämpft, dann gegen die Sowjets, sicherlich hatten sie von einer besseren Zukunft geträumt, für sich und für ihre Kinder, und jetzt fanden sie sich in einem Wald wieder, in einer fremden Uniform und damit beschäftigt, Menschen umzubringen, die ihnen nichts getan hatten, ohne einen Grund, den sie hätten verstehen können. Wie mochten sie darüber denken? Trotzdem, wenn man es ihnen befahl, drückten sie ab, stießen die Leichen in die Grube, führten die nächsten herbei und protestierten nicht. Wie würden sie später über all das denken? Wieder hatten sie geschossen. Jetzt wurden Schmerzensschreie aus der Grube vernehmbar. »Verdammte Scheiße, da leben noch welche«, knurrte der Hauptscharführer. – »Worauf warten Sie? Erledigen Sie sie!«, schrie Nagel. Der Hauptscharführer ließ zwei Askaris vortreten und wieder in die Gruppe feuern. Die Schreie verstummten nicht. Sie feuerten ein drittes Mal. Neben ihnen wurde der Rand gesäubert. Ein Stück weiter wurden wieder zehn herangeführt. Ich bemerkte Popp: Er hatte eine Handvoll Erde aus dem großen Haufen neben der Grube genommen und betrachtete sie, zerrieb sie zwischen seinen dicken Fingern, roch an ihr und nahm sogar etwas davon in den Mund. »Was soll das, Popp?« Er trat zu mir: »Schauen Sie sich diese Erde an, Obersturmführer. Das ist gute Erde. Wäre nicht das Schlechteste, hier zu leben.« Die Juden knieten nieder. »Werfen Sie das weg, Popp!«, wies ich ihn an. »Man hat uns gesagt, wir können uns hier später niederlassen und kriegen eigene Höfe. Das ist eine gute Gegend, mehr sage ich doch gar nicht.« – »Halten Sie den Mund, Popp!« Die Askaris hatten wieder eine Salve abgefeuert. Abermals ertönten durchdringende Schreie aus der Grube, Stöhnen. »Bitte schön, Herren Deutsche! Bitte schön!« Der Hauptscharführer befahl den Gnadenschuss; aber die Schreie verstummten nicht, man hörte Männer dort unten im Wasser um sich schlagen, auch Nagel schrie: »Ihre Männer schießen jämmerlich! Sie sollen in das Loch runterklettern.« – »Aber, Untersturmführer …« – »Sie sollen runterklettern!« Der Hauptscharführer ließ den Befehl übersetzen. Aufgeregt begannen die Ukrainer zu palavern. »Was sagen sie?«, wollte Nagel wissen. »Sie wollen nicht runter, Herr Untersturmführer«, erläuterte der Dolmetscher. »Sie sagen, es ist nicht nötig, sie können vom Rand aus schießen.« Nagel hatte jetzt einen hochroten Kopf. »Sie sollen runter!« Der Hauptscharführer packte einen Askari beim Arm und zog ihn zum Graben; der Ukrainer wehrte sich. Alles schrie jetzt auf Ukrainisch und Deutsch durcheinander. Ein Stück weiter wartete die nächste Gruppe. Wütend warf der Askari sein Gewehr zu Boden und sprang in die Grube, rutschte aus und sackte zwischen den Toten und Sterbenden zusammen. Sein Kamerad kletterte hinter ihm hinab, wobei er sich am Rand der Grube festhielt, und half ihm beim Aufstehen. Der Ukrainer, mit Schlamm und Blut bedeckt, fluchte und spuckte aus. Der Hauptscharführer reichte ihm das Gewehr hinunter. Linker Hand hörte man mehrere Schüsse, Schreie; die Bewacher feuerten in den Wald: Einer der Juden hatte sich das Durcheinander zunutze gemacht und Reißaus genommen. »Haben Sie ihn erwischt?«, rief Nagel. »Ich weiß nicht, Herr Untersturmführer«, erwiderte einer der Polizisten aus der Ferne. »Worauf warten Sie, gehen Sie nachschauen!« Auf der anderen Seite ergriffen plötzlich zwei weitere Juden die Flucht; wieder schossen die Orpos: Der eine sackte sofort zusammen, der andere verschwand im Wald. Nagel hatte seine Pistole gezogen, fuchtelte wild damit herum und brüllte unsinnige Befehle. In der Grube versuchte der Askari, einem verwundeten Juden das Gewehr an die Stirn zu setzen, doch der wälzte sich im Wasser umher, und sein Kopf verschwand unter der Oberfläche. Schließlich feuerte der Ukrainer aufs Geratewohl, der Schuss riss dem Juden den Unterkiefer ab, tötete ihn aber nicht, er schlug um sich, ergriff die Beine des Ukrainers. »Nagel«, sagte ich. »Was?« Sein Gesicht war verstört, die Hand mit der Pistole hing schlaff herunter. »Ich warte im Wagen.« Im Wald hörte man Schüsse, die Orpos schossen auf Flüchtlinge; ich warf einen flüchtigen Blick auf meine Finger, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich alle Splitter herausgezogen hatte. In der Nähe der Grube begann einer der Juden zu weinen.

 

Ein solcher Dilettantismus wurde rasch zur Ausnahme. Im Laufe der Wochen sammelten die Offiziere Erfahrung, gewöhnten die Soldaten sich an das Verfahren; gleichzeitig war zu beobachten, dass alle ihren Platz in dem Geschehen suchten, jeder auf seine Weise bemüht, sich über das, was da passierte, klar zu werden. Bei Tisch, am Abend, diskutierten die Männer über die Aktionen, erzählten sich Anekdoten, verglichen ihre Erfahrungen, einige bedrückt, andere fröhlich. Wieder andere schwiegen, auf sie galt es zu achten. Es hatte bereits zwei Selbstmorde gegeben; eines Nachts war ein Mann davon erwacht, dass er das Magazin seines Gewehrs in die Zimmerdecke entleerte, wir hatten ihn gewaltsam bändigen müssen, ein Unterführer wäre dabei fast umgekommen. Einige reagierten mit Brutalität, gelegentlich sogar Sadismus, sie schlugen die Opfer, quälten sie, bevor sie sie töteten; die Offiziere versuchten, solche Auswüchse zu verhindern, aber es war schwierig, es gab Ausschreitungen. Sehr häufig fotografierten unsere Männer die Erschießungen; in ihren Unterkünften tauschten sie Fotos gegen Tabak, sie hefteten sie an die Wand, jeder konnte Abzüge bestellen. Da die Feldpost zensiert wurde, wussten wir, dass viele ihren Familien in Deutschland diese Fotos schickten, einige sogar in Gestalt kleiner Alben, mit Bildunterschriften geschmückt; diese Gewohnheit beunruhigte die vorgesetzten Stellen, war aber nicht zu unterbinden. Selbst die Offiziere ließen sich gehen. Einmal, als Juden wieder eine Grube aushoben, hörte ich, wie Bohr vor sich hin trällerte: »Die Erde ist kalt, die Erde ist sanft, grab, kleiner Jude, grab zu.« Der Dolmetscher übersetzte es, was mich zutiefst schockierte. Ich kannte Bohr nun seit einiger Zeit, er war ein ganz gewöhnlicher Mann, der keine besondere Feindseligkeit gegen Juden hegte, er tat seine Pflicht, wie es von ihm verlangt wurde; doch offensichtlich setzte ihm die Arbeit zu, er reagierte besorgniserregend. Natürlich gab es beim Kommando auch richtige Antisemiten; Lübbe beispielsweise, ein anderer Untersturmführer, nutzte jede Gelegenheit, um geifernde Hasstiraden gegen Israel vom Stapel zu lassen, als hätte sich das Weltjudentum gegen ihn, Lübbe, persönlich verschworen. Er ging damit allen auf die Nerven. Doch seine Haltung zu den Aktionen war widersprüchlich: Manchmal verhielt er sich brutal, aber manchmal bekam er auch am Morgen heftigen Durchfall, ließ sich plötzlich krankschreiben und musste ersetzt werden. »Mein Gott, wie hasse ich dieses Ungeziefer«, sagte er, während er ihnen beim Sterben zusah, »aber was für eine scheußliche Aufgabe.« Und als ich ihn fragte, ob ihm seine Überzeugung nicht hülfe, das zu ertragen, erwiderte er: »Hören Sie, nur weil ich Fleisch esse, muss ich an der Arbeit in einer Abdeckerei noch lange nicht Gefallen finden.« Er wurde übrigens einige Monate später versetzt, als Dr. Thomas, der Brigadeführer Rasch ablöste, die Kommandos säuberte. Aber Offiziere wie einfache Soldaten ließen sich immer schwerer unter Kontrolle halten, sie glaubten, sich über Verbote hinwegsetzen zu können, leisteten sich Unerhörtes, und es ist sicherlich normal, dass bei Arbeiten dieser Art die Grenzen verschwimmen, unscharf werden, und dann bestahlen einige die Juden auch, behielten deren goldene Uhren, die Ringe, das Geld, während doch alles beim Kommandostab abgeliefert werden musste, um nach Deutschland geschickt zu werden. Bei den Aktionen waren die Offiziere angewiesen, die Orpos, die Waffen-SS-Männer, die Askaris zu überwachen, um sicherzustellen, dass sie nichts entwendeten. Aber selbst die Offiziere eigneten sich Wertsachen an. Und dann tranken sie, was auf Kosten der Disziplin ging. Eines Abends, wir hatten uns in einem Dorf einquartiert, brachte Bohr zwei ukrainische Bauernmädchen in die Unterkunft und Wodka. Zorn, Müller und er tranken mit den Mädchen, begannen sie zu betatschen, schoben ihnen die Hände unter die Röcke. Ich saß auf meinem Bett und versuchte zu lesen. Bohr rief mir zu: »Kommen Sie, nutzen Sie die Gelegenheit!« – »Nein, danke.« Die Kleidung des einen Mädchens war aufgeknöpft, sie war halbnackt, ihre wabbeligen Brüste hingen herab. Die primitive Geilheit, das fette Fleisch stießen mich ab, aber ich konnte mich nirgendwohin zurückziehen. »Sie sind ’ne trübe Tasse, Doktor!«, warf Bohr mir vor. Ich betrachtete sie wie mit Röntgenaugen: Unter dem Fleisch erkannte ich deutlich die Skelette; als Zorn eines der Mädchen umschlang, war es, als ob die Knochen, durch einen dünnen Schleier getrennt, aneinanderschlügen; als sie lachten, drang der schollernde Laut zwischen den Kieferknochen des Schädels hervor; morgen würden sie schon alt sein, die Mädchen fett oder umgekehrt, ihre Haut faltig und um die Knochen schlackernd, die Brüste trocken wie leere Schläuche herunterbaumelnd, und dann würden auch Bohr und Zorn und diese Mädchen sterben und unter der kalten, der sanften Erde liegen, ganz wie die Juden, die in der Blüte ihrer Jahre dahingerafft wurden, das Lachen in den mit Erde gefüllten Mündern verstummt, wozu also diese traurigen Ausschweifungen? Wenn ich Zorn diese Frage gestellt hätte, wusste ich, hätte er mir geantwortet: »Um noch mal auf den Putz zu hauen, bevor ich krepier, um noch ein bisschen Spaß zu haben«, aber es war nicht der Spaß, der mich störte, auch ich hatte meinen Spaß, wenn mir danach zumute war, nein, es war wohl eher ihr erschreckender Mangel an Bewusstsein, diese erstaunliche Art, nie über die Dinge nachzudenken, weder die guten noch die schlechten, sich einfach dem Gang der Ereignisse zu überlassen, zu töten, ohne zu begreifen, warum, vollkommen unbedenklich, die Frauen zu betatschen, nur weil es denen gefiel, und zu trinken, ohne den Wunsch zu verspüren, das Fleisch zu erlösen. Das war es, was ich nicht verstand, aber niemand verlangte von mir, es zu verstehen.

 

Anfang August nahm das Sonderkommando eine erste Säuberung von Shitomir vor. Nach unseren statistischen Unterlagen lebten dort vor dem Krieg dreißigtausend Juden; doch die meisten waren mit der Roten Armee geflohen, es waren nicht mehr als fünftausend geblieben, neun Prozent der gegenwärtigen Bevölkerung. Rasch hatte entschieden, dass das noch zu viel war. General Reinhardt, der Kommandeur der 99. Division, stellte uns Soldaten für die Durchkämmung zur Verfügung, ein hübsches deutsches Wort, für das mir keine französische Übersetzung einfällt. Alle waren ein wenig mit den Nerven herunter: Am 1. August war Galizien dem Generalgouvernement eingegliedert worden, woraufhin die Einheiten des Bataillons »Nachtigall« bis Winniza und Tiraspol meuterten. Wir mussten bei unseren Hilfstruppen alle Offiziere und Unteroffiziere der OUN-B aussondern und festsetzen und mit den Offizieren von »Nachtigall« Bandera nach Sachsenhausen hinterherschicken. Fortan galt es, die Verbliebenen im Auge zu behalten, sie waren nicht alle zuverlässig. In Shitomir selbst hatten die Banderisten zwei von Melnyks Leuten ermordet, die wir als Beamte eingesetzt hatten; zuerst hatten wir die Kommunisten in Verdacht gehabt; dann erschossen wir alle Parteigänger der OUN-B, deren wir habhaft werden konnten. Glücklicherweise erwiesen sich die Beziehungen zur Wehrmacht als ausgezeichnet. Die Teilnehmer des Polenfeldzugs zeigten sich davon überrascht; sie hatten bestenfalls mit einer feindseligen Übereinkunft gerechnet, doch unsere Beziehungen zu den Generalstäben gestalteten sich ausgesprochen herzlich. Sehr häufig ergriff die Armee jetzt die Initiative bei den Aktionen, sie forderte uns auf, in den Dörfern, in denen es Sabotageakte gegeben hatte, die Juden als Partisanen oder im Rahmen von Vergeltungsaktionen zu liquidieren, und sie führten uns Juden und Zigeuner zur Exekution zu. Von Roques, Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Süd, hatte für den Fall, dass die Urheber von Sabotageakten nicht zweifelsfrei ermittelt werden konnten, angeordnet, Vergeltungsmaßnahmen an Juden oder Russen vorzunehmen, da es nicht angehe, alles den Ukrainern anzulasten: Wir müssen den Eindruck vermitteln, dass wir gerecht sind. Natürlich billigten nicht alle Offiziere der Wehrmacht diese Maßnahmen, besonders den älteren Offizieren fehlte es noch, laut Rasch, an dem nötigen Verständnis. Die Einsatzgruppe hatte auch Probleme mit gewissen Dulag-Kommandanten, die uns die Kommissare und jüdischen Kriegsgefangenen nicht ohne weiteres ausliefern wollten. Aber von Reichenau war bekannt dafür, dass er die Sipo nach Kräften unterstützte. Gelegentlich übertraf uns die Wehrmacht sogar noch an Eifer. Ein Divisionsstab wollte in einem Dorf Stellung beziehen, aber es fehlte an Unterkünften: »Da sind noch Juden«, ließ uns der Chef des Stabes wissen. Und das AOK unterstützte seinen Antrag, wir mussten alle männlichen Juden des Dorfes erschießen und die Frauen und Kinder in einigen Häusern zusammenfassen, um Unterkünfte für die Offiziere zu schaffen. Im Bericht wurde das als Vergeltungsaktion dargestellt. Eine andere Division ging sogar so weit, uns zu bitten, die Patienten einer Nervenklinik zu liquidieren, in der sie Unterkunft beziehen wollte; verärgert erwiderte der Gruppenstab, dass die Männer der Staatspolizei nicht die Schlächter der Wehrmacht seien: »Eine solche Aktion dient nicht im Mindesten den Interessen der Sipo. Machen Sie es selbst.« (Ein anderes Mal aber ließ Rasch die Insassen einer Nervenheilanstalt erschießen, weil alle Wärter und Krankenschwestern geflohen waren und nach seiner Einschätzung die Kranken ein Sicherheitsrisiko darstellen könnten, wenn sie die Gelegenheit zur Flucht ergreifen würden.) Im Übrigen hatte es den Anschein, als sollten sich die Dinge in Bälde zuspitzen. Aus Galizien erreichten uns Gerüchte, die von neuen Methoden sprachen; Jeckeln hatte offenbar erhebliche Verstärkung erhalten und nahm Durchkämmungsaktionen vor, die sehr viel weiter gingen als alles, was bisher unternommen wurde. Callsen, von einem Auftrag in Tarnopol zurück, hatte andeutungsweise von einer neuen Ölsardinenmanier berichtet, wollte sich aber nicht genauer darüber auslassen, sodass niemand so richtig verstand, wovon er sprach. Und dann war Blobel zurückgekommen. Er galt als geheilt und schien tatsächlich weniger zu trinken, war aber immer noch so unleidlich wie zuvor. Ich verbrachte jetzt den größten Teil meiner Zeit in Shitomir. Auch Thomas war dort, und ich sah ihn fast jeden Tag. Es war sehr warm. In den Obstgärten bogen sich die Äste unter dem Gewicht der Zwetschen und Aprikosen; auf den Eigenlandparzellen am Rande des Dorfes sah man massige Riesenkürbisse, einige bereits vertrocknete Maiskolben, vereinzelte Reihen Sonnenblumen, welche die Köpfe bis zum Boden hängen ließen. Wenn Thomas und ich frei hatten, verließen wir die Stadt, um auf dem Teterew Boot zu fahren und zu schwimmen; anschließend lagen wir unter Apfelbäumen, tranken schlechten Weißwein aus Weißrussland und aßen einen reifen Apfel, nach dem man im Gras nur die Hand auszustrecken brauchte. Damals gab es noch keine Partisanen in der Gegend, alles war ruhig. Manchmal lasen wir uns wie Studenten aus irgendwelchen Büchern merkwürdige oder amüsante Stellen vor. Thomas hatte eine französische Broschüre des Institut d’études des questions juives aufgetrieben. »Hör dir diese umwerfende Prosa an. Aus dem Artikel Biologie und Kollaboration eines gewissen Charles Laville. Hier: Eine Politik muss biologisch sein oder gar nicht. Oder noch besser: Wollen wir ein primitiver Polypenstock bleiben? Oder wollen wir uns vielmehr zu einem höheren Organisations-stadium fortentwickeln?« Er las Französisch mit einem fast singenden Akzent. »Und die Antwort: Zellzusammenschlüsse von Elementen mit komplementären Tendenzen sind jene, welche die Entstehung höherer Tiere, einschließlich des Menschen, ermöglicht haben. Würden wir nun den Zusammenschluss verweigern, der sich uns bietet, wäre das in gewisser Weise ebenso sehr ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie gegen die Biologie.« Ich für meinen Teil las lieber Stendhals Briefwechsel. Eines Tages luden uns Pioniere zu einem Ausflug in ihrem Sturmboot ein; Thomas, der schon etwas angetrunken war, hatte sich eine Kiste mit Handgranaten zwischen die Beine geklemmt und fischte diese nun, lässig in den Bug gefläzt, eine nach der anderen heraus, entsicherte sie und warf sie träge über den Kopf ins Wasser; die durch die Unterwasserexplosionen emporgeschleuderten Fontänen spritzten uns nass, die Pioniere versuchten mit ihren Netzen, die toten Fische zu erwischen, die zu Dutzenden in unserem Kielwasser dümpelten, sie lachten, und ich bewunderte ihre bronzefarbene Haut und ihre sorglose Jugend. Abends kam Thomas gelegentlich in unserer Unterkunft vorbei, um Musik zu hören. Bohr hatte einen jüdischen Waisenjungen aufgetan und als Maskottchen adoptiert: Der Junge wusch die Fahrzeuge, putzte die Stiefel und reinigte die Pistolen der Offiziere, vor allem aber spielte er Klavier wie ein junger Gott, leicht, behände, mühelos. »Ein solcher Anschlag entschuldigt alles, selbst Jude zu sein«, sagte Bohr. Er ließ ihn Beethoven oder Haydn spielen, aber der Junge, Jakow, zog Bach vor. Er schien alle Suiten auswendig zu können, es war unglaublich. Sogar Blobel duldete ihn. Wenn Jakow nicht spielte, unterhielt ich mich gelegentlich damit, meine Kameraden auf den Arm zu nehmen, indem ich ihnen Stendhals Berichte über den Rückzug aus Russland vorlas. Einige waren empört: »Ja, die Franzosen vielleicht, die sind Nieten. Aber wir sind schließlich Deutsche.« – »Gewiss, aber die Russen sind immer noch Russen.« – »Eben nicht!«, ließ sich Blobel vernehmen. »Siebzig oder achtzig Prozent der sowjetischen Völker sind mongolischer Herkunft. Das ist bewiesen. Und die Bolschewiken haben eine vorsätzliche Politik der Rassenmischung betrieben. Im Weltkrieg, ja, da haben wir noch gegen echte russische Mushiks gekämpft, das waren wirklich zähe Burschen, diese Kerle, aber die Bolschewiken haben sie ausgerottet! Es gibt kaum noch echte Russen, echte Slawen. Auf jeden Fall«, fuhr er ohne jede Logik fort, »sind die Slawen definitionsgemäß eine Rasse von Untermenschen, von Sklaven. Bankerte. Nicht ein einziger ihrer Fürsten war wirklich russisch, immer war da normannisches, mongolisches, auch deutsches Blut im Spiel. Selbst ihr Nationaldichter war ein negroider Mischling, und das haben sie hingenommen, wenn das kein Beweis ist …« – »Auf jeden Fall«, fügte Vogt salbungsvoll hinzu, »ist Gott mit dem deutschen Volk und Reich. Wir können diesen Krieg nicht verlieren.« – »Gott?«, stieß Blobel wütend hervor. »Gott ist Kommunist. Wenn der mir über den Weg läuft, ergeht es ihm wie seinen Kommissaren.«

Er wusste, wovon er sprach. In Tschernjachowsk hatte die Sipo den Präsidenten der regionalen Troika des NKWD mit einem seiner Genossen verhaftet und sie nach Shitomir geschickt. Von Vogt und seinen Kameraden verhört, gestand dieser Richter – Wolf Kieper –, die Exekution von mehr als eintausenddreihundertfünfzig Menschen veranlasst zu haben. Er war ein Jude von ungefähr sechzig Jahren, Kommunist seit 1905 und Richter am Volksgericht seit 1918; der andere, Mosche Kogan, war jünger, aber auch Tschekist und Jude. Blobel hatte den Fall mit Rasch und Oberst Heim besprochen, und sie hatten sich auf eine öffentliche Hinrichtung geeinigt. Kieper und Kogan wurden vor ein Militärgericht gestellt und zum Tode verurteilt. Am frühen Morgen des 7. August gingen Offiziere des Sonderkommandos, unterstützt von Orpos und unseren Askaris, dazu über, Juden zu verhaften und auf dem Marktplatz zusammenzuführen. Die 6. Armee hatte einen Lautsprecherwagen der Propagandakompanie zur Verfügung gestellt, der durch die Straßen der Stadt fuhr und die Hinrichtung auf Deutsch und Ukrainisch ankündigte. Am späten Vormittag traf ich mit Thomas auf dem Platz ein. Mehr als vierhundert Juden waren dort versammelt und gezwungen worden, sich auf den Boden zu setzen, die Hände im Nacken, neben dem am Vorabend von den Kraftfahrern des Sonderkommandos errichteteten hohen Galgen. Hinter den aufgezogenen Wachen der Waffen-SS hatten sich Hunderte von Schaulustigen versammelt, vor allem Soldaten, aber auch Männer der Organisation Todt und des NSKK sowie zahlreiche ukrainische Zivilisten. Diese Zuschauer füllten den Platz auf allen Seiten, es war schwierig, sich einen Weg zu bahnen; rund dreißig Soldaten hatten sich sogar auf das Wellblechdach eines benachbarten Gebäudes gesetzt. Die Männer lachten, rissen Witze; viele fotografierten das Schauspiel. Blobel stand mit Häfner, der aus Belaja Zerkow zurückgekehrt war, am Fuße des Galgens. Neben den Reihen von Juden stand Radetzky und wandte sich auf Ukrainisch an die Menge: »Ist hier noch jemand, der eine Rechnung mit einem Juden offen hat?«, fragte er. Daraufhintrat ein Mann aus der Menge und versetzte blitzschnell einem der sitzenden Männer einen Fußtritt, dann ging er wieder zurück; andere warfen mit verfaultem Obst und Tomaten nach ihnen. Ich betrachtete die Juden: Ihre Gesichter waren grau, ängstlich schossen ihre Blicke umher, sie fragten sich, was nun käme. Unter ihnen waren viele alte Männer mit dichten weißen Bärten und schmutzigen Kaftanen, aber auch ziemlich junge Männer. Ich bemerkte, dass sich in der Postenkette mehrere Landser befanden. »Was tun die denn hier?«, fragte ich Häfner. »Das sind Freiwillige. Sie haben gefragt, ob sie helfen dürfen.« Ich verzog das Gesicht. Es waren zahlreiche Offiziere zu sehen, aber ich erkannte niemanden vom AOK. Ich ging auf die Postenkette zu und wandte mich an einen der Wehrmachtssoldaten: »Was machen Sie hier? Wer hat Ihnen befohlen, hier Wache zu stehen?« Er machte ein verlegenes Gesicht. »Wo ist Ihr Vorgesetzter?« – »Ich weiß nicht, Herr Obersturmführer«, antwortete er schließlich und kratzte sich die Stirn unter seinem Schiffchen. »Was tun Sie hier?«, wiederholte ich. »Ich bin heute Morgen mit meinen Kameraden ins Getto gegangen, Herr Obersturmführer. Nun ja, da haben wir unsere Hilfe angeboten, Ihre Kameraden haben Ja gesagt. Ich habe ein paar Lederstiefel bei einem Juden in Auftrag gegeben, und ich wollte ihn aufsuchen, bevor … bevor …« Er wagte noch nicht einmal das Wort auszusprechen. »Bevor man ihn erschießt. Meinen Sie das?«, warf ich bitter ein. »Jawohl, Herr Obersturmführer.« – »Und? Haben Sie ihn gefunden?« – »Er ist da drüben. Aber ich habe nicht mit ihm sprechen können.« Ich kehrte zu Blobel zurück. »Standartenführer, wir müssen die Männer von der Wehrmacht wegschicken. Es geht nicht an, dass sie ohne Befehl an der Aktion teilnehmen.« – »Lassen Sie sie nur, Obersturmführer. Ist doch schön, dass sie Begeisterung zeigen. Das sind gute Nationalsozialisten, die möchten auch ihren Beitrag leisten.« Ich zuckte die Achseln und schloss mich wieder Thomas an. Mit einer Kinnbewegung wies er auf die Menge: »Wenn wir Eintrittskarten verkauft hätten, wären wir jetzt reich.« Er lachte spöttisch. »Beim AOK nennen sie das Exekutionstourismus.« Der Lastwagen war eingetroffen und manövrierte hin und her, bis er unter dem Galgen stand. Zwei Männer der Waffen-SS ließen Kieper und Kogan absteigen. Sie trugen Bauernhemden, die Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Kiepers Bart war in der Haft weiß geworden. Unsere Fahrer legten ein Brett über den Kasten des Lastwagens, erklommen es und banden die Taue fest. Ich bemerkte, dass Häfner abseits blieb, er rauchte mit verdrossener Miene; Bauer dagegen, Blobels etatmäßiger Fahrer, überprüfte die Knoten. Dann kletterte auch Zorn hinauf, und die Männer von der Waffen-SS zogen ihre beiden Verurteilten nach oben. Sie stellten sie unter den Galgen, und Zorn hielt eine Rede; er sprach auf Ukrainisch, offenbar erklärte er das Urteil. Die Zuschauer brüllten und pfiffen, er konnte sich kaum verständlich machen; mehrfach versuchte er, sie durch Handbewegungen zum Schweigen zu bringen, doch niemand kümmerte sich darum. Die Soldaten machten Aufnahmen, zeigten lachend auf die Verurteilten. Dann legten Zorn und einer der SS-Männer ihnen die Schlingen um den Hals. Die beiden Verurteilten blieben stumm, in sich versunken. Zorn und die anderen kletterten von dem Brett herunter, und Bauer ließ den Motor des Lkw an. »Langsamer, nicht so schnell«, riefen die fotografierenden Landser. Der Lastwagen fuhr an, die beiden Männer versuchten, das Gleichgewicht zu bewahren, dann rutschten sie nacheinander ab und pendelten noch mehrere Male vor und zurück. Kieper war die Hose auf die Knöchel gefallen; unter dem Hemd war er nackt, mit Grauen sah ich sein pralles Glied, er ejakulierte noch. »Nix kultura!«, grölte ein Landser, andere griffen den Ruf auf. Zorn nagelte Anschläge an die Pfosten des Galgens, auf denen die Verurteilung erklärt wurde; dort stand zu lesen, dass die eintausenddreihundertfünfzig Opfer Kiepers alle Volksdeutsche und Ukrainer gewesen seien.

Anschließend befahlen die Soldaten der Postenkette den Juden, aufzustehen und sich in Marsch zu setzen. Blobel stieg mit Häfner und Zorn in sein Fahrzeug; Radetzky lud mich und Thomas ein, mit ihm zu fahren. Die Menge folgte den Juden, es herrschte ein ungeheures Stimmengewirr. Alles bewegte sich zur Stadt hinaus zum so genannten Pferdefriedhof: Dort war bereits ein Graben ausgehoben, dahinter ein Stapel Balken als Kugelfang. Obersturmführer Grafhorst, Chef unserer Kompanie der Waffen-SS, wartete mit etwa zwanzig seiner Männer. Blobel und Häfner inspizierten den Graben, dann warteten wir. Ich dachte nach, dachte an mein Leben, an die Beziehung, die es wohl zwischen dem Leben gab, das ich geführt hatte – einem ganz normalen Leben, einem Allerweltsleben, das zwar seine außergewöhnlichen, aus dem Rahmen fallenden Seiten gehabt haben mochte, aber im Großen und Ganzen doch sehr gewöhnlich gewesen war –, und dem, was hier geschah. Es musste einen Zusammenhang geben, und natürlich gab es einen. Gewiss, ich nahm an den Exekutionen nicht teil, ich kommandierte keine Erschießungskommandos; doch das änderte nicht viel, denn ich wohnte ihnen regelmäßig bei, ich half bei den Vorbereitungen und ich schrieb die Berichte; im Übrigen war es eher zufällig, dass ich zum Stab und nicht zu einem der Teilkommandos abkommandiert war. Und wenn man mir ein Teilkommando gegeben hätte, hätte ich dann auch, wie Nagel oder Häfner, Razzien durchführen, Gruben ausheben, die Verurteilten Aufstellung nehmen lassen und »Feuer« schreien können? Ja, ganz bestimmt. Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt. Ich war immer bestrebt gewesen, radikal zu denken; nun hatten auch der Staat, die Nation die Radikalität und das Absolute für sich entdeckt; wie also hätte ich mich in diesem Augenblick verweigern, Nein sagen und mich stattdessen für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden können? Das war natürlich unmöglich. Und wenn sich die Radikalität als die des Abgrunds und das Absolute als das absolut Schlechte erwies, so galt es trotzdem – zumindest war ich davon in meinem Innersten überzeugt –, ihnen offenen Auges bis zum bitteren Ende zu folgen. Jetzt traf die Menge ein und überschwemmte den Friedhof; ich erblickte Soldaten in Badehose, auch Frauen und Kinder. Man trank Bier und reichte Zigaretten herum. Mein Blick fiel auf eine Gruppe von Generalstabsoffizieren: Oberst von Schuler, der IIa, stand dort mit mehreren anderen Offizieren. Grafhorst, der Kompanieführer, ließ seine Männer Aufstellung nehmen. Es wurde jetzt mit einem Gewehr pro Juden geschossen, ein Schuss auf die Brust in die Herzgegend. Oft genügte das nicht, um den Verurteilten zu töten, dann musste ein Mann in die Grube klettern, um ihn zu erledigen; die Schreie mischten sich mit dem Geschwätz und Gelärme der Menge. Häfner, der die Aktion mehr oder minder offiziell befehligte, bekam einen roten Kopf. Zwischen den Salven traten Männer aus der Menge hervor und baten die Angehörigen der Waffen-SS, ihnen ihren Platz zu überlassen; Grafhorst erhob keine Einwände, und seine Männer reichten ihre Karabiner diesen Landsern, die ein oder zwei Schüsse abgaben, bevor sie sich wieder zu ihren Kameraden stellten. Grafhorsts SS-Männer waren ziemlich jung und ließen seit Beginn der Exekution eine gewisse Erregung erkennen. Wütend brüllte Häfner einen von ihnen an, der bei jeder Salve seine Waffe einem freiwilligen Soldaten überließ und ganz bleich zur Seite trat. Außerdem gab es zu viele ungenaue Schüsse, was zu einem erheblichen Problem wurde. Häfner unterbrach die Exekutionen und beriet sich mit Blobel und zwei Wehrmachtsoffizieren. Ich kannte sie nicht, aber nach der Farbe ihrer Kragenspiegel zu urteilen, handelte es sich um einen Kriegsrichter und einen Arzt. Dann ging Häfner zu Grafhorst und diskutierte mit diesem. Ich sah, dass Grafhorst Häfner widersprach, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Schließlich ließ Grafhorst einen neuen Schub Juden bringen. Sie wurden mit dem Gesicht zur Grube aufgestellt, doch dieses Mal zielten die Schützen der Waffen-SS nicht auf die Brust, sondern auf den Kopf; das Ergebnis war entsetzlich: Das Schädeldach flog in die Luft, und den Schützen spritzte die Hirnmasse ins Gesicht. Einer der freiwilligen Wehrmachtsschützen übergab sich unter dem Spott seiner Kameraden. Grafhorst war krebsrot im Gesicht und beschimpfte Häfner, dann wandte er sich an Blobel, und die Debatte begann von Neuem. Noch einmal änderte man die Methode: Blobel ließ weitere Schützen antreten, und jetzt zielten sie, wie im Juli, zu zweit auf das Genick; wenn erforderlich, setzte Häfner selbst den Gnadenschuss.

Am Abend dieser Hinrichtungen begleitete ich Thomas ins Kasino. Lebhaft diskutierten die Offiziere des AOK über die Ereignisse des Tages; sie begrüßten uns höflich, schienen aber befangen zu sein, sich unbehaglich zu fühlen. Thomas begann eine Unterhaltung; ich zog mich in einen leeren Alkoven zurück und rauchte. Nach dem Essen lebten die Diskussionen wieder auf. Ich bemerkte den Kriegsrichter, der mit Blobel gesprochen hatte; er schien besonders erregt zu sein. Ich schloss mich der Gruppe an. Wie ich dem Gespräch entnahm, hatten die Offiziere keine Einwände gegen die Aktion an sich, sondern nur gegen die Anwesenheit so vieler Wehrmachtssoldaten und ihrer Mitwirkung an den Erschießungen. »Wenn sie den Befehl erhalten, ist es eine andere Sache«, erklärte der Richter, »aber so ist das vollkommen unzulässig. Das ist eine Schande für die Wehrmacht.« – »Was soll das heißen«, entgegnete Thomas, »die SS darf die Erschießungen vornehmen, die Wehrmacht aber noch nicht einmal zuschauen?« – »Darum geht es nicht, darum geht es überhaupt nicht. Das ist eine Frage der militärischen Ordnung. Solche Aufgaben sind für niemanden angenehm. Aber es dürfen nur die Männer daran teilnehmen, die den Befehl dazu erhalten haben. Wenn nicht, bricht die ganze militärische Disziplin zusammen.« – »Ich stimme Dr. Neumann zu«, rief Niemeyer, der Abwehroffizier, dazwischen. »Das ist keine Sportveranstaltung. Die Männer führen sich auf, als wären sie beim Pferderennen.« – »Aber, Herr Oberstleutnant«, wandte ich ein, »das AOK war doch einverstanden damit, dass wir die Aktion öffentlich ankündigten. Sie haben uns doch sogar ein Fahrzeug Ihrer PK zur Verfügung gestellt.« – »Es liegt mir fern, die SS zu kritisieren, die eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen hat«, antwortete Niemeyer, ein wenig in Verteidigungshaltung. »Wir haben die Frage tatsächlich im Vorfeld erörtert und waren uns einig, dass es ein gutes Beispiel für die Zivilbevölkerung wäre, dass es nützlich wäre, wenn sie mit eigenen Augen sieht, wie wir die Macht der Juden und Bolschewiken brechen. Aber das geht dann doch ein bisschen zu weit. Ihre Männer dürfen ihre Waffen nicht aus der Hand geben und unseren Leuten überlassen.« – »Ihre Leute hätten sie nicht verlangen dürfen«, erwiderte Thomas scharf. »Dann sollten wir die Frage auf jeden Fall dem Generalfeldmarschall vorlegen«, meinte Neumann, der Richter, verärgert.

 

All das führte zu einem Befehl, wie er typisch für von Reichenau war: Unter Bezug auf unsere notwendigen Exekutionen von Kriminellen, Bolschewiken und im wesentlichen jüdischen Elementen verbot er den Soldaten der 6. Armee, ohne Befehl eines höheren Offiziers den Aktionen beizuwohnen, sie zu fotografieren und oder an ihnen teilzunehmen. An sich hätte das wahrscheinlich nicht viel geändert, aber Rasch befahl uns, die Aktionen außerhalb der Ortschaften durchzuführen und das Gebiet weiträumig abzusperren, um die Anwesenheit von Zuschauern zu unterbinden. Fortan schien Diskretion geboten zu sein. Aber auch der Wunsch, diese Dinge zu sehen, lag in der menschlichen Natur. Als ich meinen Platon durchblätterte, fand ich im Staat den Abschnitt, an den ich bei meiner Reaktion auf die Leichen in der Burg von Luzk hatte denken müssen: Leontios, Aglaions Sohn, wie er vom Peiraieus her die nördliche Mauer entlang außen heraufging und bemerkte, daß bei dem Scharfrichter Leichname liegen, begehrte einerseits, sie zu sehen, und empfand andererseits doch Abscheu und wandte sich ab und kämpfte eine Weile und verhüllte sich, lief zuletzt dann aber, von der Begierde überwältigt, mit weit aufgerissenen Augen zu den Leichnamen hin und rief aus: »Da habt ihr’s denn, ihr Unseligen! Seht euch satt an dem edlen Anblick!« Um ehrlich zu sein, die Soldaten schienen selten den Abscheu des Leontios zu verspüren, nur seine Begierde, und das war es offenbar, was die Heeresführung störte, der Gedanke, dass die Männer an solchen Aktionen Gefallen finden könnten. Trotzdem, allen, die daran teilnahmen, gefiel es, das schien mir auf der Hand zu liegen. Einige genossen erkennbar die Tat an sich, doch diese Soldaten konnte man wohl als krank betrachten, es war völlig richtig, sie abzuziehen und mit anderen Aufgaben zu betrauen oder sogar zu verurteilen, wenn sie zu weit gegangen waren. Was die anderen betraf, die angewidert oder gleichgültig reagierten, sie entledigten sich ihrer Aufgabe aus Pflichtgefühl, fanden Freude an ihrer Hingabe, an ihrer Fähigkeit, eine so schwierige Arbeit trotz ihres Widerwillens und ihrer Ängste so vorbildlich zu erledigen: »Aber das Töten macht mir überhaupt keinen Spaß«, war häufig von ihnen zu hören, für sie bestand das Vergnügen eben in ihrer strengen Dienstauffassung und ihrer Tugend. Die Höhere Führung musste diese Probleme natürlich in ihrer Gesamtheit betrachten, sodass die offiziellen Reaktionen notgedrungen etwas pauschal und summarisch ausfielen. Einzelaktionen wurden selbstverständlich zu Recht als Mord angesehen und verurteilt. Der Berück von Roques hatte, als er den Befehl zur Disziplin des OKW bekannt gab, festgesetzt, dass Soldaten, die aus eigenem Antrieb auf Juden schossen, sechzig Tage Arrest wegen Gehorsamsverweigerung erhielten; in Lemberg, so hieß es, habe ein Unteroffizier sechs Monate Bau wegen Mordes an einer alten Jüdin bekommen. Doch je umfangreicher diese Aktionen wurden, desto schwieriger wurde es, die Kontrolle über all ihre Auswüchse zu behalten. Am 11. und 12. August versammelte Brigadeführer Rasch in Shitomir alle Chefs der Sonder- und Einsatzkommandos: Neben Blobel waren Hermann vom Einsatzkommando 4b, Schulz von 5 und Kröger von 6 anwesend. Auch Jeckeln war dabei. Blobel hatte am 13. August Geburtstag, und die Offiziere hatten beschlossen, eine Feier für ihn zu veranstalten. An diesem Tag war seine Laune noch abscheulicher als gewöhnlich, und er zog sich stundenlang allein in sein Büro zurück. Ich selbst war ziemlich beschäftigt: Wir hatten gerade einen Befehl von Gruppenführer Müller erhalten, dem Chef der Geheimen Staatspolizei, Bildmaterial über unsere Tätigkeit – Fotografien, Filme, Plakate, Anschläge – zu sammeln, die dem Führer vorgelegt werden sollten. Ich hatte mir von Hartl, dem Verwaltungsführer des Gruppenstabs, ein kleines Budget bewilligen lassen, um den Männern Abzüge ihrer Fotos abkaufen zu können; er hatte sich zunächst geweigert, indem er sich auf einen Befehl des Reichsführers berief, der den Angehörigen der Einsatzgruppen untersagte, aus den Exekutionen in irgendeiner Weise Gewinn zu ziehen; Hartl selbst hielt den Verkauf der Fotografien durchaus für eine gewinnträchtige Möglichkeit. Schließlich konnte ich geltend machen, dass wir von den Männern nicht verlangen könnten, die Arbeit der Einsatzgruppe aus eigener Tasche zu finanzieren, und dass wir ihnen, wenn wir schon Abzüge ihrer Fotos archivieren wollten, zumindest die entstandenen Kosten erstatten müssten. Er erklärte sich einverstanden, aber unter der Bedingung, dass nur für die Fotos der Unterführer und Soldaten bezahlt würde; die Offiziere müssten ihre Fotos, sofern sie welche machten, auf eigene Kosten entwickeln lassen. Mit dieser Zusage versehen, verbrachte ich den Rest des Tages in den Mannschaftsunterkünften, sah die Fotosammlungen der Männer durch und bestellte Abzüge. Einige von ihnen waren übrigens bemerkenswert gute Fotografen; aber ihre Arbeit hinterließ bei mir einen unangenehmen Nachgeschmack, während ich gleichzeitig die Augen nicht abwenden konnte, ich war wie versteinert. Am Abend versammelten sich die Offiziere im Kasino, das aus diesem Anlass von Strehlke und seinen Leuten geschmückt worden war. Als Blobel zu uns stieß, hatte er bereits getrunken, seine Augen waren blutunterlaufen, doch er hatte sich noch unter Kontrolle und sprach wenig. Vogt, der dienstälteste Offizier, gratulierte in unserem Namen und brachte einen Toast auf Blobels Gesundheit aus; dann wurde dieser aufgefordert, eine Rede zu halten. Blobel zögerte, stellte sein Glas ab und wandte sich an die Anwesenden, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre wohlmeinenden Wünsche! Ich darf Ihnen sagen, Ihr Vertrauen ehrt mich. Aber ich habe Ihnen eine bedauerliche Mitteilung zu machen. Gestern hat HSSPF Russland-Süd, Obergruppenführer Jeckeln, uns einen neuen Befehl übermittelt. Dieser Befehl kam direkt vom Reichsführer SS und stammt – ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, wie er uns darauf hingewiesen hat – vom Führer persönlich.« Er zitterte, während er sprach, und kaute in den Pausen an den Innenseiten seiner Backen herum. »Unsere Aktionen gegen die Juden werden fortan die Gesamtheit der Bevölkerung erfassen; und zwar aus-nahms-los.« Die anwesenden Offiziere reagierten fassungslos; mehrere setzten gleichzeitig zu sprechen an. Ungläubig erhob sich Callsens Stimme über den Lärm: »Alle?« – »Alle«, bestätigte Blobel. »Aber hören Sie, das ist unmöglich«, erwiderte Callsen. Seine Stimme klang fast flehentlich. Ich schwieg, es überkam mich wie eine große Kälte, Herr des Himmels, sagte ich mir, auch das werden wir nun tun müssen, es ist gesagt, und uns wird nichts anderes übrig bleiben, als es zu tun. Grenzenloses Grauen erfüllte mich, aber ich blieb ruhig, ließ mir nichts anmerken, atmete gleichmäßig weiter. Callsen machte weitere Einwände geltend: »Aber Standartenführer, die meisten von uns sind verheiratet, wir haben Kinder. Das kann nicht von uns verlangt werden.« – »Meine Herren«, Blobel schnitt ihm mit scharfer, aber ebenso tonloser Stimme das Wort ab, »es handelt sich um einen ausdrücklichen Befehl unseres Führers Adolf Hitler. Wir sind Nationalsozialisten und SS-Männer, wir werden gehorchen. Verstehen Sie doch: In Deutschland ließ sich die gesamte Judenfrage ohne Auswüchse und in Einklang mit den Erfordernissen der Menschlichkeit lösen. Aber als wir Polen eroberten, haben wir weitere drei Millionen Juden geerbt. Niemand weiß, was wir mit ihnen anfangen oder wohin wir sie bringen sollen. Hier, in diesem unendlich weiten Land, wo wir einen unbarmherzigen Vernichtungskrieg gegen die stalinistischen Horden führen, haben wir von Beginn an radikale Maßnahmen ergreifen müssen, um für die Sicherheit der Etappe zu sorgen. Ich glaube, Sie haben alle verstanden, wie notwendig und nützlich diese Maßnahmen sind. Wir haben nicht genügend Kräfte, um in jedem Dorf Patrouille zu gehen und gleichzeitig zu kämpfen; und wir können es uns nicht erlauben, potenzielle Feinde von solcher Gerissenheit und Arglist in unserem Rücken zu dulden. Im Reichssicherheitshauptamt erörtert man die Möglichkeit, nach gewonnenem Krieg alle Juden in einem großen Reservat in Sibirien oder im Norden zusammenzufassen. Dann können sie in Ruhe leben und wir auch. Zuerst aber müssen wir den Krieg gewinnen. Wir haben schon Tausende von Juden exekutiert, und es sind immer noch Zehntausende von ihnen übrig; je weiter unsere Truppen vorrücken, desto mehr Juden werden es. Doch wenn wir die Männer erschießen, bleibt niemand, der Frauen und Kinder ernähren kann. Die Wehrmacht hat nicht die Mittel, um Zehntausende von nutzlosen Jüdinnen und ihre Gören zu ernähren. Wir können sie aber auch nicht verhungern lassen, das sind bolschewistische Methoden. Angesichts dieser Umstände ist es tatsächlich die humanste Lösung, sie zusammen mit ihren Männern und Söhnen in unsere Aktionen einzubeziehen. Außerdem wissen wir aus Erfahrung, dass die fruchtbaren Ostjuden die Brutstätte sind, aus der sich die Kräfte des jüdischen Bolschewismus und der kapitalistischen Plutokraten ständig erneuern. Wenn wir einige am Leben lassen, werden diese Produkte der natürlichen Zuchtwahl zum Ursprung eines Erneuerungsprozesses werden, der für uns noch gefährlicher werden könnte als die gegenwärtige Bedrohung. Die Judenkinder von heute sind die Saboteure, Partisanen und Terroristen von morgen.« Bedrückt schwiegen die Offiziere; ich sah, wie Kehrig ein Glas nach dem anderen hinunterschüttete. Blobels blutunterlaufene Augen waren glasig, vom Alkohol verschleiert. »Wir sind alle Nationalsozialisten«, fuhr er fort, »SS-Männer im Dienst an Volk und Führer. Ich darf Sie daran erinnern, dass Führerworte Gesetzeskraft haben. Sie müssen der Versuchung widerstehen, menschlich zu sein.« Blobel war keine Geistesleuchte; auf diese markigen Formulierungen war er sicherlich nicht selbst gekommen. Trotzdem glaubte er an sie; noch wichtiger, er wollte an sie glauben, und er gab sie seinerseits an die Menschen weiter, die ihrer bedurften, an die, denen sie helfen konnten. Für mich waren diese Worte nicht von großem Nutzen, ich konnte nicht andere für mich denken lassen, ich musste mir meine Gedanken selber machen. Aber es fiel mir schwer, mir dröhnte der Kopf, ein unerträglicher Druck, ich wollte schlafen gehen. Callsen spielte mit seinem Trauring, ich war mir sicher, dass er sich dessen nicht bewusst war; er wollte etwas sagen, besann sich aber anders. »Schweinerei, das ist eine große Schweinerei«, murmelte Häfner, und niemand widersprach ihm. Blobel schien leer zu sein, seinen Vorrat an Ideen erschöpft zu haben, doch alle spürten, wie die Macht seines Willens uns noch gebannt und gepackt hielt, so wie ihn der Wille anderer gepackt hielt. In einem Staat wie dem unseren war jedem seine Rolle zugewiesen: Du bist das Opfer und du der Henker, und niemand hatte die Wahl, niemand wurde um sein Einverständnis gebeten, weil alle austauschbar waren, die Opfer wie die Henker. Gestern hatten wir jüdische Männer getötet, morgen würden es Frauen und Kinder sein, übermorgen wieder andere; und uns würde man, wenn wir unsere Rolle gespielt hätten, ersetzen. Deutschland liquidierte seine Henker zumindest nicht, im Gegenteil, es kümmerte sich um sie, anders als Stalin mit seinem krankhaften Hang zu Säuberungen; aber auch das lag in der Logik der Sache. Für die Russen wie für uns zählte der Mensch nicht, die Nation, der Staat waren alles, insofern war der eine das Spiegelbild des anderen. Auch die Juden hatten dieses starke Gemeinschaftsgefühl, sahen sich als Volk: Sie beweinten ihre Toten, sie begruben sie, wenn sie konnten, und sprachen das Kaddisch; doch solange ein einziger am Leben blieb, lebte Israel. Das war zweifellos der Grund, warum sie unsere bevorzugten Feinde waren, sie waren uns zu ähnlich.

Es handelte sich nicht um ein Humanitätsproblem. Natürlich gab es Menschen, die unsere Aktionen im Namen religiöser Werte kritisieren mochten, aber zu denen gehörte ich nicht, überhaupt dürfte es in der SS nicht viele von ihnen gegeben haben; oder im Namen demokratischer Werte, aber über das, was sich Demokratie nennt, waren wir ja in Deutschland hinaus, jedenfalls seit einiger Zeit. Blobels Argumente waren gar nicht so dumm: Wenn der höchste Wert das Volk ist, zu dem man gehört, und wenn der Wille dieses Volkes in seinem Führer verkörpert ist, dann, in der Tat, haben Führerworte Gesetzeskraft. Trotzdem war es von entscheidender Bedeutung, die Notwendigkeit der Führerbefehle für sich selbst zu verstehen und anzunehmen: Wenn man ihnen bloß aus preußischem Gehorsam, aus knechtischer Gesinnung folgte, ohne sie zu verstehen und zu akzeptieren, das heißt, ohne sich ihnen zu unterwerfen, war man lediglich ein Schaf, ein Sklave und kein Mensch. Wenn sich der Jude dem Gesetz unterwarf, spürte er, dass das Gesetz in ihm lebte, und je schrecklicher, härter, anspruchsvoller es war, desto teurer war es ihm. Genau das sollte auch der Nationalsozialismus sein: ein lebendiges Gesetz. Töten war schrecklich; die Reaktion der Offiziere zeigte es deutlich, auch wenn nicht alle Konsequenzen aus ihrer eigenen Reaktion zogen; und wer es nicht schrecklich fand zu töten, einen Mann, sei er bewaffnet oder nicht, zu töten, eine Frau und ihr Kind, der war nicht besser als ein Tier, unwürdig, einer Gemeinschaft von Männern anzugehören. Aber vielleicht war auch dieses Schreckliche notwendig; und in diesem Falle galt es, sich dieser Notwendigkeit zu unterwerfen. Unsere Propaganda wiederholte ohne Unterlass, dass die Russen Untermenschen seien; doch ich weigerte mich, das zu glauben. Ich hatte gefangene Offiziere verhört, Kommissare, und ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, dass auch sie Menschen wie wir waren, Menschen, die nur das Beste wollten, die ihre Familie und ihr Vaterland liebten. Trotzdem hatten diese Kommissare und Offiziere den Tod von Millionen ihrer eigenen Landsleute verschuldet, sie hatten Kulaken deportiert, die ukrainische Landbevölkerung verhungern lassen, die Bourgeois und Abweichler unterdrückt und erschossen. Unter ihnen gab es natürlich Sadisten und Verrückte, aber auch gute Menschen, ehrliche und anständige, die aufrichtig das Beste für ihr Volk und die Arbeiterklasse wollten, und wenn sie irrten, so blieben sie doch guten Glaubens. Auch sie waren größtenteils überzeugt von der Notwendigkeit dessen, was sie taten, sie waren nicht alle Verrückte, Opportunisten und Kriminelle wie dieser Kieper; auch bei unseren Feinden vermochte sich ein guter und ehrlicher Mensch davon zu überzeugen, dass er schreckliche Dinge tun müsse. Was man jetzt von uns verlangte, stellte uns vor das gleiche Problem.

 

Am nächsten Tag wachte ich verstört auf, als hätten sich Hass und Trauer in meinem Kopf festgefressen. Ich suchte Kehrig auf und schloss die Tür seines Büros hinter mir: »Kann ich Sie sprechen, Sturmbannführer?« – »Worum geht es denn, Obersturmführer?« – »Um den Vernichtungsbefehl des Führers.« Er hob seinen Vogelkopf und betrachtete mich durch seine Nickelbrille: »Da gibt es nichts zu diskutieren, Obersturmführer. Im Übrigen reise ich sowieso ab.« Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Sie verlassen uns? Wie das?« – »Das habe ich dank der Vermittlung eines Freundes mit Brigadeführer Streckenbach geregelt. Ich kehre nach Berlin zurück.« – »Wann?« – »Bald, in einigen Tagen.« – »Und Ihr Nachfolger?« Er zuckte die Achseln: »Der kommt, wenn er kommt. In der Zwischenzeit schmeißen Sie den Laden.« Er fixierte mich von Neuem: »Hören Sie, wenn Sie ebenfalls fortwollen, das lässt sich arrangieren. Ich kann Ihretwegen mal bei Streckenbach in Berlin vorsprechen, wenn Sie es wünschen.« – »Danke, Sturmbannführer, aber ich bleibe.« – »Und wozu?«, fragte er heftig. »Um wie Häfner oder Hans zu enden? Um sich weiter in diesem Schmutz zu suhlen?« – »Sie sind doch auch bis jetzt geblieben«, wandte ich vorsichtig ein. Er lachte trocken auf: »Ich habe meine Versetzung schon im Juli beantragt. In Luzk. Aber Sie wissen ja, wie das ist. So etwas braucht seine Zeit.« – »Ich finde es sehr schade, dass Sie gehen, Sturmbannführer.« – »Ich nicht. Was sie da vorhaben, ist vollkommen verrückt. Und ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Schulz, vom Einsatzkommando 5, ist zusammengeklappt, als er vom Führerbefehl erfahren hat. Er hat um seine sofortige Versetzung gebeten, und der Obergruppenführer war einverstanden.« – »Vielleicht haben Sie Recht. Aber wenn Sie gehen, wenn Oberführer Schulz geht, wenn alle anständigen Männer gehen, bleiben nur noch die Schlächter, der Abschaum. Das können wir doch nicht zulassen.« Angewidert verzog er das Gesicht: »Weil Sie glauben, Sie ändern etwas, wenn Sie bleiben? Sie allein?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Doktor, folgen Sie meinem Rat und gehen Sie. Überlassen Sie das Schlachten den Schlächtern.« – »Nochmals vielen Dank, Sturmbannführer.« Ich schüttelte ihm die Hand und ging hinaus. Ich ging zum Gruppenstab, um Thomas aufzusuchen. »Kehrig ist ein Schlappschwanz«, stieß er kurz und bündig hervor, als ich ihm von dem Gespräch berichtete. »Schulz genauso. Auf Schulz haben wir schon seit einiger Zeit ein Auge. In Lemberg hat er eigenmächtig Verurteilte frei gelassen. Umso besser, wenn er geht, solche Typen brauchen wir nicht.« Er musterte mich nachdenklich. »Natürlich ist das schrecklich, was man da von uns verlangt. Aber du wirst sehen, wir schaffen das.« Seine Miene wurde ernst. »Ich persönlich halte es für keine glückliche Lösung. Das ist eine improvisierte Maßnahme, aus der Not geboren, wegen des Krieges. Wir müssen diesen Krieg rasch gewinnen; danach können wir die Dinge in Ruhe erörtern und planvolle Entscheidungen treffen. Dann können wir auch differenziertere Ansichten berücksichtigen. Im Krieg ist das unmöglich.« – »Glaubst du, er wird noch lange dauern? Nach fünf Wochen hätten wir in Moskau sein sollen. Nun sind es schon zwei Monate, und wir haben noch nicht einmal Kiew oder Leningrad genommen.« – »Das lässt sich schwer sagen. Zweifellos haben wir ihr Industriepotenzial unterschätzt. Jedes Mal, wenn wir glauben, ihre Reserven wären erschöpft, werfen sie uns frische Divisionen entgegen. Aber jetzt dürften sie am Ende sein. Und dann wird die Entscheidung des Führers, uns Guderian zu schicken, die Front rasch wieder in Bewegung bringen. Die Heeresgruppe Mitte hat seit Anfang des Monats vierhunderttausend Gefangene gemacht. Und bei Uman sind wir auf dem besten Wege, zwei Armeen einzukesseln.«

Ich kehrte zum Kommando zurück. Im Kasino war nur Jakow, Bohrs kleiner Jude, und spielte Klavier. Ich setzte mich auf eine Bank und hörte zu. Er spielte Mozart, das Andante einer seiner Sonaten, es schnitt mir ins Herz und stürzte mich noch tiefer in meine Traurigkeit. Als er fertig war, fragte ich ihn: »Jakow, kennst du Rameau? Couperin?« – »Nein, Herr Offizier. Was ist das?« – »Französische Musik. Du musst sie lernen. Ich werde versuchen, die Noten zu besorgen.« – »Ist sie schön?« – »Vielleicht die schönste Musik überhaupt.« – »Schöner als Bach?« Ich dachte nach. »Fast so schön wie Bach«, räumte ich ein. Dieser Jakow mochte zwölf Jahre alt sein, aber er hätte in jedem Konzertsaal Europas spielen können. Er stammte aus der Gegend von Czernowitz und war in einer deutschsprachigen Familie aufgewachsen; nach der Besetzung der Bukowina im Jahr 1940 fand er sich plötzlich in der UdSSR wieder; sein Vater war von den Sowjets deportiert worden, seine Mutter bei einem unserer Bombardements umgekommen. Er war wirklich ein ausgesprochen schöner Junge: ein längliches, schmales Gesicht, üppige Lippen, schwarzes, wild gelocktes Haar, lange Finger mit bläulichen Adern. Alle Welt mochte ihn hier; selbst Lübbe misshandelte ihn nicht. »Herr Offizier?«, fragte Jakow. Er hob den Blick nicht von den Tasten. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« – »Natürlich.« – »Stimmt es, dass Sie alle Juden töten wollen?« Ich fuhr auf: »Wer hat dir das gesagt?« – »Gestern Abend habe ich Herrn Bohr gehört, der mit den anderen Offizieren sprach. Sie haben sehr laut geschrien.« – »Sie hatten getrunken. Du hättest nicht zuhören dürfen.« Er hielt die Augen noch immer gesenkt, ließ aber nicht locker: »Also werden Sie auch mich töten?« – »Aber nicht doch.« Ich spürte ein Kribbeln in den Händen, zwang mich aber zu einem normalen, fast heiteren Tonfall: »Wie kommst du denn darauf, dass wir dich töten?« – »Ich bin auch ein Jude.« – »Das hat nichts zu sagen, du arbeitest für uns. Du bist jetzt ein Hiwi.« Leicht schlug er eine Taste an, einen hohen Ton: »Die Russen haben uns immer gesagt, dass die Deutschen böse sind. Aber ich glaube das nicht. Ich mag euch gern.« Ich sagte nichts. »Möchten Sie, dass ich spiele?« – »Spiel!« – »Was soll ich spielen?« – »Spiel, was du möchtest.«

Die Stimmung im inneren Kreis des Kommandos wurde unerträglich; die Offiziere waren nervös, sie fingen bei jeder Nichtigkeit an zu brüllen. Callsen und die anderen kehrten zu ihren Teilkommandos zurück; jeder behielt seine Meinung für sich, aber man sah ihnen deutlich an, dass die neuen Aufgaben sie belasteten. Kehrig reiste eilig ab, fast ohne sich zu verabschieden. Lübbe war häufig krank. Aus ihren Einsatzgebieten schickten die Teilkommandoführer sehr negative Berichte über die Moral ihrer Truppen: Es gab Fälle von nervöser Erschöpfung, die Männer weinten; laut Sperath litten viele unter Impotenz. Es kam zu einer Reihe von Zusammenstößen mit der Wehrmacht: Bei Korosten hatte ein Hauptscharführer jüdische Frauen gezwungen, sich auszuziehen und nackt vor einem Maschinengewehr zu laufen; er hatte Fotos gemacht, und diese Bilder waren vom AOK abgefangen worden. In Belaja Zerkow hatte Häfner eine Auseinandersetzung mit einem Generalstabsoffizier einer Frontdivision, der eingegriffen hatte, um die Exekution jüdischer Waisenkinder zu verhindern; Blobel begab sich an den Ort des Geschehens, und die Angelegenheit gelangte bis zu Reichenau, der die Erschießung billigte und den Offizier rügte; doch kam deshalb erhebliche Unruhe auf, außerdem weigerte sich Häfner, seinen Männern das zuzumuten, und wälzte die Sache stattdessen auf seine Askaris ab. Andere Offiziere verfuhren ebenso; doch da die Schwierigkeiten mit der OUN-B anhielten, schuf diese Vorgehensweise ihrerseits neue Probleme, die angewiderten Ukrainer desertierten oder verrieten uns sogar. Andere dagegen nahmen die Exekutionen widerspruchslos vor, bestahlen die Juden jedoch schamlos und vergewaltigten die Frauen, bevor sie sie töteten; gelegentlich mussten wir unsere eigenen Männer erschießen. Kehrigs Nachfolger erschien nicht, und ich versank in Arbeit. Ende des Monats schickte mich Blobel nach Korosten. Die »Republik Polesien« im Nordosten der Stadt war uns auf Befehl der Wehrmacht verwehrt, aber es gab trotzdem viel Arbeit in der Region. Verantwortlich war Kurt Hans. Den mochte ich nicht besonders, ein bösartiger, launischer Mensch; er mochte mich auch nicht. Trotzdem mussten wir zusammenarbeiten. Die Methoden hatten sich verändert, wir hatten sie aufgrund der neuen Erfordernisse rationalisiert, systematisiert. Allerdings erleichterten diese Veränderungen den Männern nicht immer die Arbeit. Fortan mussten die Verurteilten sich vor der Hinrichtung ausziehen, weil man ihre Kleidung für die Winterhilfe und die Umsiedler wiederverwertete. In Shitomir hatte uns Blobel die neue, von Jeckeln entwickelte Methode der »Sardinenpackung« erläutert, die Callsen bereits kannte. Infolge des beträchtlich gestiegenen Durchlaufs, der seit Juli in Galizien anfiel, war Jeckeln zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gruben sich zu rasch füllten; die Leichen fielen, wie es sich gerade ergab, kreuz und quer übereinander, Platz wurde verschwendet, und wir verloren also zu viel Zeit beim Graben; die neue Methode sah vor, dass sich die entkleideten Verurteilten am Boden der Grube flach auf den Bauch legten und einige Schützen ihnen einen aufgesetzten Schuss in den Nacken verpassten. »Ich bin zwar immer gegen den Genickschuss gewesen«, rief uns Blobel in Erinnerung, »aber jetzt bleibt uns nichts anderes übrig.« Nach jeder Reihe musste ein Offizier sich davon überzeugen, dass alle Verurteilten auch wirklich tot waren; dann wurden sie mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, und die nächste Gruppe musste sich entgegengesetzt auf sie legen; wenn man auf diese Weise fünf oder sechs Lagen aufgeschichtet hatte, schüttete man die Grube zu. Die Teilkommandoführer waren der Meinung, die Männer fänden das zu schwierig, doch Blobel wollte keine Einwände hören: »In meinem Kommando wird es gemacht, wie es der Obergruppenführer verlangt.« Kurt Hans allerdings schien das nicht sonderlich zu stören; ihm war offenbar alles gleichgültig. Ich wohnte mit ihm zusammen mehreren Hinrichtungen bei. Ich konnte bei meinen Kameraden jetzt der Wesensart nach drei Gruppen unterscheiden. Da waren zunächst diejenigen, denen das Töten, selbst wenn sie es zu verbergen trachteten, eine Wollust bereitete; von ihnen war bereits die Rede, sie waren Kriminelle, denen der Krieg gestattete, ihr wahres Ich zu entdecken. Dann gab es diejenigen, die das Ganze anwiderte, die aber, ihren Widerwillen überwindend, aus Pflichtgefühl töteten, aus Ordnungsliebe. Schließlich gab es noch diejenigen, welche die Juden als Tiere ansahen und sie töteten, wie ein Metzger eine Kuh schlachtet, eine vergnügliche oder schwierige Arbeit, je nach Laune oder Naturell. Kurt Hans gehörte offensichtlich zur letzten Kategorie: Für ihn zählte allein die exakte Durchführung, der Nutzeffekt, die Leistung. Jeden Abend zog er peinlich genau Bilanz. Und wie stand es mit mir? Ich rechnete mich keinem dieser drei Typen zu, aber viel mehr wusste ich eigentlich nicht; hätte man mich ein wenig gedrängt, hätte ich Mühe gehabt, eine aufrichtige Antwort zu finden. Denn ich war noch immer auf der Suche nach dieser Antwort. Die Leidenschaft für das Absolute war daran genauso beteiligt wie – eines Tages stellte ich es mit Entsetzen fest – die Neugier: Hier wie bei so vielen anderen Dingen meines Lebens war ich neugierig, bestrebt herauszufinden, wie sich das alles auf mich auswirkte. Unablässig beobachtete ich mich: als wäre eine Filmkamera über mir angebracht und ich wäre gleichzeitig diese Kamera, der Mensch, der filmte, und der Mensch, der den Film anschließend auswertete. Das brachte mich gelegentlich aus der Fassung, und oft fand ich in der Nacht keinen Schlaf und starrte an die Decke, das Objektiv ließ mich nicht in Frieden. Doch immer wieder zerrann mir die Antwort auf diese Frage zwischen den Fingern.

Die Frauen, vor allem die Kinder erschwerten uns die Arbeit manchmal sehr, es versetzte einem jedes Mal einen Stich ins Herz. Die Männer beklagten sich unablässig, vor allem die älteren, die Familie hatten. Angesichts dieser wehrlosen Menschen, dieser Mütter, die zusehen mussten, wie ihre Kinder umgebracht wurden, ohne dass sie sie beschützen konnten, die nur mit ihnen sterben konnten, litten unsere Männer unter dem Gefühl extremer Ohnmacht, fühlten auch sie sich wehrlos. »Ich möchte nur nicht daran zerbrechen«, sagte mir eines Tages ein junger Sturmmann der Waffen-SS, und ich konnte seinen Wunsch sehr gut verstehen, ihm aber nicht helfen. Die Haltung der Juden erleichterte uns die Aufgabe nicht. Blobel musste einen dreißigjährigen Rottenführer, der mit einem Verurteilten gesprochen hatte, nach Deutschland zurückschicken; der Jude, der etwa so alt war wie der Rottenführer, trug ein Kind von ungefähr zweieinhalb Jahren auf dem Arm, seine Frau neben ihm ein Neugeborenes mit blauen Augen; der Mann hatte dem Rottenführer direkt in die Augen geblickt und in akzentfreiem Deutsch gesagt: »Ich bitte Sie, mein Herr, wenn Sie die Kinder erschießen, machen Sie es ordentlich.« – »Er kam aus Hamburg«, hatte der Rottenführer später Sperath erklärt, von dem wir die Geschichte dann hörten, »er war fast mein Nachbar, seine Kinder waren so alt wie meine.« Ich selbst verlor den Boden unter den Füßen. Bei einer Exekution fiel mein Blick auf einen sterbenden kleinen Jungen in einem Graben: Der Schütze hatte wohl gezögert, jedenfalls hatte die Kugel ihn zu tief, in den Rücken, getroffen. Der Junge zuckte mit den Gliedern, die Augen offen, glasig; und diese grausige Szene überlagerte eine andere aus meiner Kindheit: Ein Freund und ich spielten mit Blechpistolen Cowboy und Indianer. Das war kurz nach dem Ersten Weltkrieg, mein Vater war zurückgekehrt, ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, wie der Junge in dem Graben. Ich hatte mich hinter einem Baum versteckt; als mein Freund sich näherte, sprang ich hervor und leerte das Magazin meiner Pistole in seinen Bauch, indem ich schrie: »Paff! Paff!« Er ließ seine Waffe fallen, griff sich mit beiden Händen in die Magengegend, brach zusammen und krümmte sich. Ich hob seine Pistole auf und wollte sie ihm zurückgeben: »Hier, nimm! Komm, wir spielen weiter.« – »Ich kann nicht. Ich bin tot.« Ich schloss die Augen, das Kind vor mir röchelte noch immer. Nach der Aktion besuchte ich das Stetl, das jetzt leer und verlassen war, ich betrat die Isbas, die niedrigen Hütten der armen Leute, an den Wänden sowjetische Kalender und Bilder, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatten, einige religiöse Gegenstände, einfache Möbel. Das hatte ganz gewiss wenig mit dem internationalen Finanzjudentum zu tun. In einem Haus fand ich einen großen Kübel Wasser auf dem Herd, das noch kochte; auf der Erde standen Töpfe mit kaltem Wasser und eine Wanne. Ich schloss die Tür, zog mich aus und wusch mich mit diesem Wasser und einem Stück Kernseife. Ich gab nur wenig kaltes Wasser hinzu: Es war kochend heiß, meine Haut wurde krebsrot. Dann zog ich mich wieder an und ging hinaus; am Ortseingang standen die Häuser bereits in Flammen. Doch meine Frage ließ mich nicht los, sie beschäftigte mich wieder und wieder: Einmal, am Rande eines anderen Massengrabes, fasste mich ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren vertrauensvoll an der Hand. Ich versuchte mich loszumachen, aber es klammerte sich fest. Vor uns erschoss man die Juden. »Gde Mama?«, fragte ich die Kleine auf Ukrainisch. Sie zeigte mit dem Finger in die Grube. Ich streichelte ihr Haar. So blieben wir einige Minuten. Alles drehte sich um mich, ich wollte weinen. »Komm mit mir«, sagte ich auf Deutsch zu ihr, »hab keine Angst, komm.« Ich wandte mich dem Eingang der Grube zu; sie blieb stehen, hielt mich an der Hand zurück, folgte mir dann. Ich hob sie hoch und reichte sie einem SS-Mann: »Seien Sie lieb zu ihr«, sagte ich völlig idiotisch zu ihm. Ich hatte eine schreckliche Wut im Bauch, wollte sie aber weder an der Kleinen noch an dem Soldaten auslassen. Der stieg, das Mädchen auf dem Arm, in die Grube hinab, ich wandte mich abrupt ab und ging in den Wald. Es war ein hoher, heller Kiefernbestand, zwischen den weiträumig stehenden Bäumen herrschte weiches Licht. Hinter mir krachten die Salven. Als ich klein war, spielte ich häufig in ähnlichen Wäldern in der Umgebung von Kiel, wo wir nach dem Krieg wohnten, ziemlich eigenartige Spiele übrigens. Zum Geburtstag hatte mein Vater mir einen Schuber mit mehreren Tarzan-Bänden des amerikanischen Schriftstellers E. R. Burroughs geschenkt, die ich immer wieder leidenschaftlich verschlang, bei Tisch, auf der Toilette, nachts mit einer Taschenlampe, und im Wald zog ich mich ganz nackt aus, wie mein Held, schlich zwischen den Bäumen, den hohen Farnen hindurch, legte mich auf das Bett aus trockenen spitzen Nadeln, genoss die kleinen Stiche auf der Haut, kauerte mich hinter einem Busch oder einem umgestürzten Baum auf einer Anhöhe nieder, oberhalb eines Weges, um die zu belauern, die dort spazieren gingen, die anderen, die Menschen. Das waren keine ausgesprochen erotischen Spiele, dazu war ich zu jung, wahrscheinlich hatte ich noch nicht einmal einen Steifen; doch für mich war der ganze Wald zu einer erogenen Zone geworden, einer riesigen Hautfläche, so empfindlich wie meine kindliche Haut, die die Kälte in eine Gänsehaut verwandelt hatte. Wie ich zugeben muss, nahmen die Spiele später eine noch seltsamere Wendung, es war noch in Kiel, aber sicherlich nach dem Fortgang meines Vaters, ich war wohl höchstens neun, zehn Jahre alt: Nackt hängte ich mich mit meinem um den Hals gelegten Gürtel an einem Ast auf und ließ mich mit meinem ganzen Gewicht sacken; in Panik schoss mir das Blut ins Gesicht, meine Schläfenadern pochten, als wollten sie zerspringen, mein Atem wurde zu einem dünnen Pfeifen, schließlich richtete ich mich wieder auf, schöpfte wieder Atem und begann dann von Neuem. Solche Spiele, intensive Lust, grenzenlose Freiheit – das bedeuteten die Wälder einst für mich; jetzt machten sie mir Angst.

Ich kehrte nach Shitomir zurück. Im Kommandostab herrschte helle Aufregung: Bohr befand sich in Arrest und Lübbe im Krankenhaus. Bohr hatte ihn im Kasino – vor den anderen Offizieren – angegriffen, zunächst mit einem Stuhl, dann mit einem Messer. Sechs Mann waren erforderlich gewesen, um ihn zu bändigen, Strehlke, der Verwaltungsführer, hatte eine Schnittwunde an der Hand davongetragen, nicht tief, aber schmerzhaft. »Er ist durchgedreht«, sagte er, indem er mir die Stiche der Naht zeigte. »Was ist denn um Himmels willen passiert?« – »Es ging um seinen Judenbengel. Den, der Klavier gespielt hat.« Jakow hatte einen Unfall gehabt, als er Bauer bei der Reparatur eines Fahrzeugs half: Der schlecht angebrachte Wagenheber war abgerutscht, Jakows Hand zerquetscht worden. Sperath hatte sie untersucht und erklärt, er müsse sie amputieren. »Dann ist er vollkommen unnütz«, hatte Blobel entschieden und befohlen, ihn zu liquidieren. »Vogt hat sich darum gekümmert«, sagte Strehlke, der mir die Geschichte erzählte. »Bohr hat nichts gesagt. Aber beim Abendessen hat Lübbe Streit mit ihm angefangen. Sie kennen ihn ja. ›Aus und vorbei mit dem Klavier‹, hat er mit lauter Stimme gesagt. Da hat Bohr ihn angegriffen. Wenn Sie mich fragen«, fügte er hinzu, »hat Lübbe nur gekriegt, was er verdient. Aber um Bohr ist es schade: ein guter Offizier und ruiniert seine Laufbahn für einen kleinen Juden. Schließlich herrscht hier doch kein Mangel an Juden.« – »Was passiert nun mit Bohr?« – »Das hängt vom Bericht des Standartenführers ab. Im schlimmsten Fall geht er ins Gefängnis. Ansonsten wird er degradiert und kommt zur Bewährung zur Waffen-SS.« Ich verließ ihn, ging nach oben und vergrub mich angeekelt in meinem Zimmer. Ich konnte Bohr nur zu gut verstehen; natürlich hatte er sich ins Unrecht gesetzt, aber ich verstand ihn. Lübbe hätte sich nicht über ihn lustig machen dürfen, das war infam. Auch ich hatte den kleinen Jakow ein wenig ins Herz geschlossen; insgeheim hatte ich einem Freund in Berlin geschrieben, dass er mir die Noten für Stücke von Rameau und Couperin schicken sollte, Jakow sollte sie einüben, sollte Le Rappel des oiseaux, Les Trois Mains, Les Barricades mystérieuses und all die anderen wunderbaren Sachen entdecken. Jetzt würden die Noten niemand mehr nützen: Ich spiele nicht Klavier. In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich stand auf und ging zur Tür, aber eine Frau stand mir im Weg. Sie hatte weißes Haar und trug eine Brille: »Nein«, sagte sie. »Du kannst nicht hinaus. Setz dich hin und schreib.« Ich wandte mich zu meinem Schreibtisch um: Ein Mann saß auf meinem Stuhl und hämmerte auf meiner Schreibmaschine. »Entschuldigen Sie«, sagte ich schüchtern. Die Tasten verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm, er hörte mich nicht. Zaghaft tippte ich ihn auf die Schulter. Er drehte sich um und schüttelte den Kopf: »Nein«, sagte er und wies mir die Tür. Ich ging zu meinem Bücherregal, aber auch da war schon jemand und riss in aller Ruhe die Seiten aus meinen Büchern und warf die Einbände in eine Ecke. »Na gut«, sagte ich mir, »dann gehe ich eben schlafen.« Eine junge Frau lag nackt in meinem Bett, unter der Decke. Als sie mich sah, zog sie mich an sich, bedeckte mein Gesicht mit Küssen, schlang ihre Beine um die meinen und versuchte, meinen Gürtel zu lösen. Nur mit großer Mühe gelang es mir, mich ihrer zu erwehren; die Anstrengung hatte mich verstört. Ich dachte daran, mich aus dem Fenster zu stürzen; es ließ sich nicht öffnen, die Farbe hatte es verklebt. Glücklicherweise war das Klo frei, rasch schloss ich mich ein.

 

Die Wehrmacht hatte endlich den Vormarsch wieder aufgenommen, was uns vor neue Aufgaben stellte. Guderian gelang der Durchbruch, er umfasste bei Kiew die sowjetischen Armeen, vielleicht waren diese auch wie gelähmt und konnten nicht mehr reagieren. Die 6. Armee setzte sich wieder in Bewegung, der Dnepr wurde überquert; weiter im Süden setzte auch die 17. Armee über den Dnepr. Es war heiß und trocken, und die Truppenbewegungen wirbelten haushohe Staubwolken auf; als der Regen einsetzte, freuten sich die Soldaten zunächst, dann verwünschten sie den Morast. Niemand hatte Zeit, sich zu waschen, und die Männer waren grau von Staub und Schlamm. Die Regimenter rückten wie kleine isolierte Schiffe auf einem Meer von reifem Mais und Getreide vor; tagelang sahen sie keine Menschenseele, die einzigen Nachrichten erhielten sie von Fahrern der Konvois, die auf der Rollbahn an die Front unterwegs waren; um sie herum erstreckte sich, flach und leer, die endlose Landschaft: Gibt es einen Menschen, der auf dieser Ebene lebt? singt der Held der russischen Geschichte. Gelegentlich begegneten wir einer dieser Einheiten, wenn wir mit einem Auftrag unterwegs waren, die Offiziere luden uns zum Essen ein, sie waren froh, uns zu sehen. Am 16. September vereinigte Guderian seine Panzer bei Lochwiza, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kiew, mit der Panzergruppe Kleist und kesselte dadurch laut Angaben der Abwehr vier sowjetische Armeen ein; von Norden und Süden aus schickten sich Luftwaffe und Infanterie an, sie zu vernichten. Kiew stand weit offen. In Shitomir hatten wir Ende August die Tötung der Juden eingestellt und die Überlebenden in einem Getto zusammengepfercht; am 17. September verließ Blobel die Stadt mit seinen Offizieren, zwei Einheiten des Polizeiregiments Süd und unseren Askaris, sodass nur die Ordonnanzen, die Küche und das Kfz-Ersatzteillager zurückblieben. Der Kommandostab sollte sich so rasch wie möglich in Kiew einrichten. Doch am folgenden Tag änderte Blobel seine Meinung oder erhielt einen Gegenbefehl: Er kehrte nach Shitomir zurück, um das Getto zu vernichten. »Ihre unverschämte Haltung hat sich nicht verändert, trotz aller unserer Warnungen und Sondermaßnahmen. Wir können sie nicht in unserem Rücken zurücklassen.« Er bildete ein Vorkommando unter dem Befehl von Häfner und Janssen, das mit der 6. Armee in Kiew einmarschieren sollte. Ich meldete mich freiwillig, und Blobel war einverstanden.

In dieser Nacht kampierte das Vorkommando in einem kleinen verlassenen Dorf vor der Stadt. Das nervtötende Krächzen der Krähen draußen klang wie das Schreien hungriger Säuglinge. Als ich mich auf einen Strohsack in der Isba legte, die ich mit den anderen Offizieren teilte, verirrte sich ein kleiner Vogel, vielleicht ein Spatz, in den Raum und flog blind gegen die Wände und geschlossenen Fenster. Halb betäubt blieb er einige Sekunden liegen, atemlos, die Flügel über Kreuz, dann tobte er wieder zu einer kurzen und nutzlosen Raserei herum. Er musste dem Tode nahe sein. Die anderen schliefen bereits oder reagierten nicht. Schließlich gelang es mir, ihn unter einem Stahlhelm einzufangen, draußen ließ ich ihn frei: Er schwirrte in die Nacht davon, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Bei Tagesanbruch waren wir schon wieder unterwegs. Der Krieg war jetzt unmittelbar vor uns, wir kamen nur sehr langsam voran. Verstreut am Wegesrand lagen die schlaflosen Toten mit offenen leeren Augen. Der Ehering eines deutschen Soldaten glänzte in der frühen Morgensonne; sein Gesicht war rot und verquollen, Mund und Augen voller Fliegen. Zwischen den Menschen verendete Pferde, einige, durch Kugeln oder Granatsplitter verwundet, wieherten noch im Todeskampf, schlugen mit den Hufen in die Luft und wälzten sich rasend über die anderen Kadaver oder die Leichen ihrer Reiter. Nahe einer Behelfsbrücke trug die Strömung drei Soldaten an uns vorbei, von der Uferböschung aus waren einen langen Augenblick hindurch die durchtränkten Uniformen zu erkennen, die bleichen Gesichter der Ertrunkenen, die sich langsam entfernten. In den leeren, von ihren Bewohnern verlassenen Dörfern brüllten die Kühe mit geschwollenen Eutern vor Schmerz, verrückt gewordene Gänse schnatterten in den kleinen Gärten der Isbas zwischen Kaninchen, Hühnern und Hunden, die an ihren Ketten zum Hungertod verurteilt waren; die Häuser standen sperrangelweit offen, in ihrer Panik hatten die Menschen ihre Bücher, billigen Reproduktionen, Radios und Federbetten zurückgelassen. Dann kamen die Außenbezirke von Kiew, von den Kämpfen verwüstet, und danach gleich das Stadtzentrum, fast intakt. Entlang dem Boulevard Schewtschenko spielten die ausladenden Linden und Kastanien unter der schönen Herbstsonne schon ins Gelbliche; auf dem Kreschtschatik, der großen Hauptstraße, mussten wir um die Barrikaden und Panzersperren herumfahren, die erschöpfte deutsche Soldaten mühsam aus dem Weg zu räumen suchten. Häfner hielt Verbindung mit dem XXIX. Korps, von wo man uns zum Sitz des NKWD dirigierte, auf einem Hügel über dem Kreschtschatik, mit Blick über das Stadtzentrum. Das war einmal ein sehr schöner Palast aus dem frühen 19. Jahrhundert gewesen, mit einer langgestreckten gelben Fassade, Gesimsen, hohen weißen Säulen zu beiden Seiten des Portals und einem Giebeldreieck darüber; doch er war zunächst von uns bombardiert und dann, um reinen Tisch zu machen, vom NKWD in Brand gesteckt worden. Laut unseren Informanten hatte er früher als Heim für arme Jungfrauen gedient; 1920 hatten sich dort die sowjetischen Institutionen eingerichtet; seither hatte sein Name Angst und Schrecken verbreitet, im Garten hinter dem zweiten Flügel wurden die Erschießungen vorgenommen. Häfner schickte einen Zug Männer fort, Juden aufzutreiben, die das Gebäude so weit wie möglich säubern und instand setzen sollten; wir richteten unsere Büros und die Registratur ein, wo es möglich war, einige nahmen schon die Arbeit auf. Ich stieg in unser Hauptquartier hinab und verlangte nach Pionieren: Das Gebäude musste untersucht werden, wir mussten sichergehen, dass es nicht vermint war, man versprach mir ein Kommando für den folgenden Tag. Im Jungfrauenpalast trafen die ersten Juden unter Bewachung ein und begannen aufzuräumen; Häfner hatte außerdem Matratzen und Federbetten requirieren lassen, damit wir nicht auf der harten Erde schlafen mussten. Am nächsten Morgen, einem Samstag, hatte ich nicht einmal die Zeit gehabt, mich nach meinen Pionieren zu erkundigen, als eine gewaltige Explosion das Stadtzentrum erschütterte und auch die wenigen noch intakten Fensterscheiben zerstörte, die uns geblieben waren. Rasch verbreitete sich die Nachricht, die Zitadelle der Festung Nowo-Petscherskaja sei in die Luft gejagt worden, wobei unter anderem der Kommandeur der Artilleriedivision und sein Generalstabschef ums Leben gekommen seien. Alle sprachen von Sabotage und Zeitzündern; die Wehrmacht blieb vorsichtig und schloss die Möglichkeit eines durch falsch gelagerte Munition verursachten Unfalls nicht aus. Häfner und Janssen begannen Juden zu verhaften, während ich mich bemühte, ukrainische Informanten anzuwerben. Es gestaltete sich schwierig, wir wussten nichts über sie: Die Männer, die sich bereit erklärten, hätten ebenso gut russische Agenten sein können. Die verhafteten Juden wurden in einem Kino auf dem Kreschtschatik festgesetzt; hastig überprüfte ich die Informationen, die mich von allen Seiten erreichten: Alles schien darauf hinzudeuten, dass die Sowjets die Stadt sorgfältig vermint hatten; unsere Pioniere waren noch immer nicht eingetroffen. Nach einer massiven Beschwerde schickte man uns endlich drei; nach zwei Stunden zogen sie wieder ab, ohne etwas gefunden zu haben. Nachts färbte die Unruhe auf meinen Schlaf ab und infizierte meine Träume: Ich wurde von einem heftigen Stuhldrang gepackt und lief auf die Toilette, die Scheiße quoll dickflüssig heraus, ein ununterbrochener Strom, der die Schüssel rasch füllte, er stieg, während ich unablässig weiter schiss, die Scheiße berührte bereits die Unterseite meiner Schenkel, bedeckte Hintern und Sack, aber mein Darm entleerte sich unablässig weiter. Panisch fragte ich mich, wie ich die ganze Scheiße entsorgen sollte, aber ich vermochte nicht aufzuhören, ihr scharfer, gemeiner, ekelerregender Geschmack füllte mir den Mund, drehte mir den Magen um. Ich erwachte mit dem Gefühl zu ersticken, mein Mund war ausgetrocknet, pelzig und bitter. Der Morgen graute, ich kletterte auf die Steilküste und betrachtete den Sonnenaufgang über dem Fluss, den verbogenen Brückengerüsten, der Stadt und der Ebene dahinter. Zu meinen Füßen machte sich der Dnepr breit, träge, das Wasser mit grünen Schaumspiralen bedeckt; in der Mitte, unter der gesprengten Eisenbahnbrücke, zogen sich, von Schilfgürteln und See-rosen umgeben, einige kleine Inseln mit ein paar herrenlosen Fischerbooten hin; ein Sturmboot der Wehrmacht überquerte den Fluss; drüben, ein Stück weiter, halb auf dem Uferstreifen gestrandet und auf der Seite liegend, rostete ein Schiff vor sich hin. Die Bäume verdeckten die Lawra, ich konnte nur die goldene Kuppel ihres Glockenturms erkennen, die das kupferfarbene Licht der aufgehenden Sonne gedämpft zurückwarf. Ich kehrte zum Palast zurück: Sonntag oder nicht, wir hatten alle Hände voll zu tun; zu allem Überfluss traf auch noch das Vorkommando des Gruppenstabs ein. Es war Obersturmführer Dr. Krieger, dem Leiter V, unterstellt und tauchte am späten Vormittag auf; zu Kriegers Begleitung gehörten Obersturmführer Breun, ein gewisser Braun und der Hauptmann der Schutzpolizei Krumme, der unsere Orpos befehligte; Thomas war in Shitomir geblieben, er sollte einige Tage später mit Dr. Rasch nachkommen. Krieger und seine Kameraden hatten einen anderen Flügel des Palastes belegt, den wir schon ein wenig in Ordnung gebracht hatten; unsere Juden arbeiteten ohne Pause; nachts sperrten wir sie in einen Keller unweit der ehemaligen NKWD-Zellen. Nach dem Mittagessen stattete uns Blobel einen Besuch ab und beglückwünschte uns zu unseren Fortschritten, dann fuhr er nach Shitomir zurück. Er hatte allerdings nicht vor, dort zu bleiben, denn die Stadt war judenrein; das Kommando hatte das Getto am Tag unserer Ankunft in Kiew geräumt und die verbliebenen dreitausendeinhundertfünfundvierzig Juden liquidiert. Eine Zahl mehr für unsere Berichte, bald würden weitere hinzukommen. Wer, so fragte ich mich, wird all diese getöteten Juden beweinen, all diese jüdischen Kinder, die mit offenen Augen unter der fetten schwarzen Erde der Ukraine begraben liegen, wenn man auch ihre Schwestern und Mütter tötet? Wenn man sie alle tötete, bliebe niemand, um sie zu beweinen, und das war vielleicht der Gedanke dahinter. Meine Arbeit machte Fortschritte: Man hatte mir vertrauenswürdige Melnykisten geschickt, sie hatten meine Informanten überprüft und sogar drei Bolschewiken entlarvt, darunter eine Frau, die man auf der Stelle erschossen hatte; auf Anraten der Melnykisten rekrutierte ich Dworniki, die sowjetische Spielart der Hausmeister, die vorher als Informanten für den NKWD gearbeitet hatten, nun aber ohne Zögern bereit waren, für kleine Vergünstigungen oder Geld das Gleiche für uns zu tun. Schon bald denunzierten sie Offiziere der Roten Armee in Zivil, Kommissare, Banderisten und jüdische Intellektuelle, die ich nach einem raschen Verhör an Häfner oder Janssen überstellte. Die fuhren ihrerseits damit fort, das Goskino 5 mit verhafteten Juden zu füllen. Seit der Explosion der Zitadelle war die Stadt ruhig, die Wehrmacht richtete sich ein, der Nachschub klappte besser. Doch die Durchsuchungen waren zu flüchtig gewesen. Am Mittwochvormittag, am 24. also, zerfetzte eine erneute Explosion die Feldkommandantur, die im Hotel Continental, Ecke Kreschtschatik und Proresnaja, untergebracht war. Ich ging hinunter, um nachzusehen. Auf der Straße wimmelte es von Schaulustigen und dienstfreien Soldaten, die den Brand des Gebäudes begafften. Feldgendarmen begannen, Zivilisten zur Beseitigung der Trümmer einzuteilen; Offiziere räumten den unversehrten Flügel des Hotels, trugen ihr Gepäck, Decken und Grammofone hinaus. Glas knirschte unter den Stiefeln: In mehreren Straßen der Nachbarschaft waren die Fensterscheiben infolge der Druckwelle zersprungen. Zahlreiche Offiziere mussten ums Leben gekommen sein, aber niemand wusste die genaue Zahl. Plötzlich ertönte eine weitere Detonation, ein Stück weiter unten, in Richtung Tolstoi-Platz; dann explodierte noch eine große Bombe in einem Gebäude gegenüber dem Hotel und überschüttete uns mit Schuttteilen und einer Staubwolke. Von Panik ergriffen, stoben die Leute in alle Richtungen auseinander, Mütter schrien nach ihren Kindern; deutsche Feldgendarmen fuhren mit ihren Beiwagenmaschinen zwischen den Panzersperren den Kreschtschatik hoch und gaben aufs Geratewohl Feuerstöße aus ihren Maschinenpistolen ab. Rasch war die Straße in schwarzen Rauch gehüllt, mehrere Brände waren ausgebrochen, ich bekam keine Luft mehr. Wehrmachtsoffiziere brüllten sich widersprechende Befehle; niemand schien zu wissen, wer das Kommando hatte. Der Kreschtschatik war jetzt von Trümmern und umgestürzten Fahrzeugen völlig blockiert, die zerrissenen Oberleitungen der Trolleybusse hingen auf die Straße herab; zwei Meter von mir entfernt ging der Tank eines Opels in die Luft, das Fahrzeug fing Feuer. Ich kehrte zum Palast zurück; von oben schien die ganze Straße in Flammen zu stehen, man hörte weitere Explosionen. Inzwischen war Blobel eingetroffen, ich schilderte ihm die Situation. Auch Häfner tauchte auf und teilte mit, dass die meisten der in dem unweit des Continentals gelegenen Kino eingesperrten Juden sich die allgemeine Verwirrung zunutze gemacht hätten und geflohen seien. Blobel befahl, sie wieder aufzuspüren; ich wandte ein, es sei vielleicht dringlicher, unsere Unterkünfte von oben bis unten zu durchsuchen. Daraufhin teilte Janssen die Orpos und die Waffen-SS-Angehörigen in Dreiertrupps ein und schickte sie zu allen Eingängen mit dem Befehl, jede verschlossene Tür aufzubrechen und vor allem die Keller und die Dachböden zu durchsuchen. Keine Stunde später entdeckte einer der Männer im Kellergeschoss Brandflaschen. Ein Scharführer der Waffen-SS, der als Pionier gedient hatte, ging nachschauen: Es handelte sich um rund sechzig mit Benzin gefüllte Flaschen, »Molotow-Cocktails« nannten die Finnen sie seit ihrem Winterkrieg; offenbar waren sie hier nur gelagert, aber man konnte ja nie wissen, ein Fachmann musste her. Es herrschte allgemeine Panik. Janssen brüllte Befehle und traktierte unsere Arbeitsjuden mit der Reitpeitsche; Häfner, wie gewohnt mit der Miene des Tüchtigen, erteilte nutzlose Befehle, um Gelassenheit zu demonstrieren. Blobel beriet sich rasch mit Dr. Krieger und befahl die Evakuierung des Gebäudes. Ein Ausweichquartier war nicht vorgesehen, und niemand wusste nun, wohin; während die Fahrzeuge in aller Eile beladen wurden, nahm ich Verbindung mit dem Stab des Armeekorps auf; aber die Offiziere dort waren völlig überlastet und erklärten, ich müsse selber sehen, wie ich zurechtkäme. Ich stieß wieder durch lodernde Brände und heilloses Durcheinander zum Palast durch. Wehrmachtspioniere versuchten, mit Feuerspritzen zu löschen, doch die Flammen gewannen an Boden. Da fiel mir das große Dynamo-Stadion ein; es lag weit von den Bränden entfernt, unweit der Lawra, auf der Höhe von Petschersk, und es war kaum damit zu rechnen, dass die Rote Armee sich die Mühe gemacht hatte, es zu verminen. Blobel billigte meinen Vorschlag und dirigierte die Autos und beladenen Lastwagen dorthin; die Offiziere richteten sich in den verlassenen Büros und den Umkleidekabinen ein, die noch nach Schweiß und Desinfektionsmitteln stanken; die Männer nahmen die Tribünen in Beschlag, während die Juden sich, gut bewacht, auf den Rasen setzen mussten. Während wir abladen ließen, unsere Akten, Kisten und Schreibmaschinen ordneten, während die Fernmelder ihre Apparate installierten, begab sich Blobel nun seinerseits zum Armeekorps; bei seiner Rückkehr befahl er uns, alles wieder abzubauen und aufzuladen: Die Wehrmacht überließ uns Unterkünfte in einer talwärts gelegenen ehemaligen Zarenresidenz. Alles musste wieder auf den Fahrzeugen verstaut werden; der Tag verstrich mit diesen Umzügen. Nur Radetzky schien der ganze Trubel nichts auszumachen, allen, die sich bei ihm beklagten, schrie er hochmütig zu: »Krieg ist Krieg und Schnaps ist Schnaps.« Am Abend konnte ich mich endlich mit meinen melnykistischen Mitarbeitern um die Informationen kümmern. Es galt, ihnen so viel wie möglich über die Pläne der Roten zu entnehmen; offenbar waren die Explosionen koordiniert, wir mussten also die Saboteure fassen und ihren Rostoptschin entlarven. Nach Informationen der Abwehr kam ein gewisser Friedmann in Betracht, ein berühmter NKWD-Agent, Chef eines Spionage- und Sabotagenetzes, das vor dem Rückzug der Roten Armee eingerichtet worden war; die Pioniere behaupteten, es habe sich einfach um vorher ausgelegte Sprengsätze mit Zeitzündern gehandelt. Das Stadtzentrum glich einem Inferno. Immer noch Explosionen, der ganze Kreschtschatik, vom Duma-Platz bis zum Tolstoi-Platz, wurde jetzt von Bränden verwüstet; auf Dachböden gelagerte Molotow-Cocktails zersprangen unter der Einwirkung der Hitze, das eingedickte Benzin floss die Treppen hinunter und gab den Flammen neue Nahrung, die nach und nach auf die Parallelstraßen übergriffen, die Puschkin-Straße auf der einen Seite, dann die Mehring-, die Karl-Marx-Straße, die Engels-Straße bis zur Straße der Oktoberrevolution zu Füßen unseres Palastes. Die beiden Kaufhäuser ZUM waren von der in Schrecken versetzten Bevölkerung gestürmt worden; die Feldgendarmerie nahm viele Plünderer fest und wollte sie uns übergeben, andere waren in den Flammen umgekommen. Alle Bewohner des Stadtzentrums waren auf der Flucht, sie schleppten schwere Bündel und schoben Kinderwagen, die mit Radios, Teppichen und Haushaltsgegenständen beladen waren, während die Säuglinge auf den Armen ihrer Mütter aus vollem Halse schrien. In der Menge befanden sich auch zahlreiche deutsche Soldaten, die auf ungeordneter Flucht waren. Von Zeit zu Zeit stürzte mit großem Getöse im Innern eines Gebäudes das Dachgebälk ein. Stellenweise konnte ich nur mit einem nassen Taschentuch vor dem Mund atmen, ich wurde von Hustenkrämpfen geschüttelt und spuckte dicken Schleim aus.

Am nächsten Morgen traf der Gruppenstab mit dem Gros unseres Kommandos ein, unter Befehl von Kuno Callsen. Inzwischen hatten Pioniere endlich unseren Palast untersucht und die Kisten mit den Molotow-Cocktails entfernt, sodass wir das Gebäude rechtzeitig wieder beziehen konnten, um den Gruppenstab in Empfang zu nehmen. Auch ein Vorkommando des HSSPF traf ein und nahm die Zarenresidenz in Beschlag, die wir gerade verlassen hatten; sie brachten zwei Orpo-Bataillone mit, für uns eine beträchtliche Verstärkung. Die Wehrmacht begann die Gebäude des Stadtzentrums zu sprengen, um die Brände einzudämmen. Im Lenin-Museum hatte man vier Tonnen Sprengstoff gefunden, der kurz vor der Explosion stand, doch den Pionieren war es gelungen, ihn zu entschärfen, und sie hatten ihn nun am Eingang gestapelt. Generalmajor Kurt Eberhard, der neue Stadtkommandant, hielt fast fortlaufend Besprechungen ab, an denen Vertreter der Gruppe und des Kommandos teilnehmen mussten. Da Kehrigs Nachfolger noch immer nicht eingetroffen war, war ich de facto bis auf Weiteres zum Leiter III des Kommandos avanciert, und Blobel forderte mich häufig auf, ihn zu begleiten, oder schickte mich als seinen Stellvertreter, wenn er zu viel zu tun hatte; der Gruppenstab sprach sich auch stündlich mit den Leuten des HSSPF ab, und Jeckeln selbst wurde am Abend oder am folgenden Tag erwartet. Am Morgen ging die Wehrmacht noch von zivilen Saboteuren aus und bat uns, ihr zu helfen, sie zu suchen und auszuschalten; im Laufe des Tages fand die Abwehr dann einen Plan der Roten Armee, auf dem fast sechzig Objekte verzeichnet waren, die vor dem sowjetischen Abzug zur Zerstörung vorbereitet werden sollten. Wir schickten Ingenieure zur Inspektion hin, und die Information schien sich zu bestätigen. Mehr als vierzig Objekte warteten noch auf die Sprengung, gelegentlich waren die Zünder mit einem drahtlosen Auslöser versehen; die Pioniere entschärften sie mit fliegenden Fingern, so rasch wie möglich. Die Wehrmacht wollte radikale Maßnahmen ergreifen; auch in der Einsatzgruppe wurde über Maßnahmen beraten.

Am Freitag nahm die Sicherheitspolizei ihre Tätigkeit auf. Mit Hilfe der Informationen, die ich erhielt, wurden im Laufe des Tages eintausendsechshundert Juden und Kommunisten festgesetzt. Vogt hatte in den Dulags, dem Lager für die Juden, dem Lager für Zivilisten und in der Stadt sieben Verhörgruppen eingerichtet, die die Masse der Gefangenen sieben und die gefährlichen Elemente aussondern sollten. Davon berichtete ich bei einer der Besprechungen mit Eberhard; er schüttelte den Kopf, aber die Armee war noch nicht zufrieden. Die Sabotageaktionen dauerten an: Ein junger Jude hatte versucht, einen der Feuerwehrschläuche zu zerschneiden, die man zur Löschwasserbeschaffung in den Dnepr gehängt hatte; das Sonderkommando erschoss ihn ebenso wie eine Zigeunerbande, die dabei erwischt wurde, wie sie ein etwas abgelegenes Stadtviertel in der Nähe einer orthodoxen Kirche durchstöberte. Auf Befehl von Blobel liquidierte einer unserer Züge die Geisteskranken des Pawlow-Krankenhauses, weil befürchtet wurde, sie könnten entweichen und zur allgemeinen Unordnung beitragen. Jeckeln war eingetroffen; am Nachmittag leitete er eine große Besprechung in der Ortskommandantur, an der General Eberhard und seine Offiziere vom Stab der 6. Armee sowie Offiziere der Einsatzgruppe, darunter Dr. Rasch, und Offiziere des Sonderkommandos teilnahmen. Rasch schien sich nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen: Er redete nicht, klopfte mit seinem Füller auf den Tisch, ließ seinen leeren Blick über die Gesichter um ihn herum wandern. Jeckeln dagegen barst vor Energie. Er hielt eine kurze Rede über die Sabotageakte, die Gefahr, die durch die große Zahl von Juden in der Stadt heraufbeschworen wurde, und die Notwendigkeit, die erforderlichen Vergeltungs- und Vorbeugemaßnahmen mit aller Härte durchzuführen. Sturmbannführer Hennicke, Leiter III der Einsatzgruppe, hielt ein Statistikreferat: Aus seinen Unterlagen ging hervor, dass sich in Kiew ungefähr hundertfünfzigtausend Juden aufhalten mussten, Ortsansässige oder Flüchtlinge aus dem Westen der Ukraine. Jeckeln schlug vor, zunächst einmal fünfzigtausend davon zu erschießen; Eberhard stimmte lebhaft zu und sicherte die logistische Unterstützung der 6. Armee zu. Jeckeln wandte sich nun an uns: »Meine Herren, ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, mir einen Plan auszuarbeiten.« Blobel sprang auf: »Zu Befehl, Obergruppenführer!« Rasch ergriff zum ersten Mal das Wort: »Auf Standartenführer Blobel können Sie sich hundertprozentig verlassen.« Der ironische Unterton in seinen Worten war kaum zu überhören, aber Blobel nahm es als Kompliment: »Hundertprozentig, Obergruppenführer, hundertprozentig.« – »Wir müssen einen entscheidenden Schlag führen«, schloss Eberhard und hob die Besprechung auf.

Ich arbeitete bereits Tag und Nacht und schlief höchstens zwei Stunden, wenn es sich einmal ergab; doch um ehrlich zu sein, trug ich nur unerheblich zur Planung bei: Darum kümmerten sich die Offiziere des Teilkommandos, die noch nicht überlastet waren (man erschoss die Politruks, die von Vogts Verhörspezialisten entlarvt worden waren, und einige zufällig aufgegriffene Verdächtige, mehr nicht). Die Besprechungen mit der 6. Armee und dem HSSPF wurden am folgenden Tag wieder aufgenommen. Das Sonderkommando schlug einen geeigneten Platz vor: Im Westen der Stadt, im Viertel Serez, unweit des jüdischen Friedhofs, aber trotzdem außerhalb der Wohngebiete, lagen einige große Schluchten, die in Frage kamen. »Dort gibt es auch einen Güterbahnhof«, fügte Blobel hinzu. »Mit seiner Hilfe können wir die Juden glauben machen, dass sie umgesiedelt werden sollen.« Die Wehrmacht schickte Landvermesser hin. Anhand ihres Berichts entschieden sich Jeckeln und Blobel für die Großmutter- oder Altweiberschlucht, an deren Grund ein kleiner Bach rieselte. Blobel rief all seine Offiziere zusammen: »Die Juden, die wir zu exekutieren haben, sind asoziale, wertlose, für Deutschland nicht tragbare Elemente. Außerdem berücksichtigen wir noch die Insassen von psychiatrischen Kliniken, Zigeuner und alle anderen nutzlosen Esser. Aber mit den Juden fangen wir an.« Aufmerksam studierten wir die Karten, es galt, die Postenketten aufzustellen, die Fahrtrouten festzulegen und die Transporte zu planen; wenn wir die Zahl der Lastwagen und die Entfernungen verringerten, konnten wir Benzin sparen; außerdem mussten wir an die Munition und die Truppenverpflegung denken; alles musste berechnet werden. In diesem Zusammenhang galt es auch, die Hinrichtungsmethode festzulegen: Blobel entschied sich schließlich für eine Variante der Sardinenpackung. Jeckeln bestand darauf, als Schützen und Wachpersonal seine beiden Orpo-Bataillone einzusetzen, was Blobel offensichtlich verdross. Außerdem gab es noch die Waffen-SS von Grafhorst und die Orpos von Hauptmann Krumme. Neben den Last-wagen stellte uns die 6. Armee auch mehrere Kompanien für die Absperrung zur Verfügung. Zwischen dem Lukjanowskoje- und dem jüdischen Friedhof, hundertfünfzig Meter von der Schlucht entfernt, wollte Häfner eine Sammelstelle für Wertsachen einrichten. Eberhard wollte unbedingt, dass die Wohnungsschlüssel eingesammelt und beschildert wurden, weil durch die Explosionen und Brände fünfundzwanzigtausend Zivilisten obdachlos geworden waren, und die Wehrmacht wollte sie schleunigst wieder unterbringen. Die 6. Armee lieferte uns hunderttausend Schuss Munition und druckte auf schlechtem grauem Packpapier Anschläge auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch. Wenn Blobel nicht über Karten gebeugt stand, suchte er sich rastlos andere Betätigungen; mit Hilfe von Pionieren ließ er am Nachmittag die orthodoxe Mariä-Entschlafens-Kathedrale sprengen, eine prachtvolle kleine Kirche aus dem 11. Jahrhundert, mitten in der Lawra. »Auch die Ukrainer müssen eine Kleinigkeit bezahlen«, erklärte er uns später selbstzufrieden. Ich unterhielt mich kurz mit Vogt darüber, weil ich den Sinn dieser Aktion überhaupt nicht begriff; Vogt meinte, das sei sicherlich nicht auf Blobels Mist gewachsen, aber er habe keine Ahnung, wer das genehmigt oder befohlen haben könnte. »Vermutlich der Obergruppenführer. Sieht ganz nach ihm aus.« Auf jeden Fall war es nicht Dr. Rasch, den wir kaum noch zu Gesicht bekamen. Als ich Thomas in einem Flur begegnete, fragte ich ihn verstohlen: »Was ist mit dem Brigadeführer? Da scheint die Zusammenarbeit nicht zu klappen.« – »Er hat sich mit Jeckeln gestritten. Mit Koch ebenfalls.« Erich Koch, Gauleiter von Ostpreußen, war einen Monat zuvor zum Reichskommissar der Ukraine ernannt worden. »Weswegen?«, fragte ich. – »Erzähl ich dir später. Auf jeden Fall wird er nicht mehr lange bleiben. Übrigens, eine Frage: Die Juden im Dnepr, wart ihr das?« Am Vorabend waren alle Juden verschwunden, die sich zum Sabbat in die Synagoge begeben hatten. Man hatte ihre Leichen am Morgen im Fluss entdeckt. »Die von der Sechsten beklagen sich«, fuhr er fort. »Sagen, solche Operationen würden die Zivilbevölkerung beunruhigen. Das ist unangenehm.« – »Ist denn das, was wir vorbereiten, angenehm? Ich denke, die Zivilbevölkerung wird bald ganz andere Gründe zur Beunruhigung haben.« – »Das ist was anderes. Ganz im Gegenteil, sie werden begeistert sein, ihre Juden loszuwerden.« Ich zuckte die Achseln: »Nein, soweit ich weiß, waren wir das nicht. Im Augenblick sind wir ziemlich beschäftigt, wir haben anderes zu tun. Es entspricht auch nicht ganz unseren Methoden.«

Am Sonntag hängten wir überall in der Stadt die Plakate auf. Die Juden wurden aufgefordert, sich am folgenden Morgen mit fünfzig Kilogramm Gepäck pro Person vor ihrem Friedhof Melnik-Straße einzufinden, von wo aus sie in verschiedenen Gebieten der Ukraine als Siedler untergebracht würden. Ich zweifelte am Erfolg dieser List: Wir waren nicht mehr in Luzk, ich wusste, dass Gerüchte über das Schicksal, das die Juden erwartete, der Front vorausgeeilt waren; je weiter wir nach Osten vordrangen, desto weniger Juden fanden wir, sie flohen jetzt mit der Roten Armee vor uns, während sie anfangs unserer Ankunft vertrauensvoll entgegengesehen hatten. Andererseits bewahrten die Bolschewiken, worauf mich Hennicke aufmerksam machte, ein bemerkenswertes Stillschweigen über unsere Exekutionen. In ihren Radiosendungen warfen sie uns übertriebene, himmelschreiende Gräueltaten vor, aber ohne die Juden jemals zu erwähnen; unsere Experten meinten, sie fürchteten vielleicht, die heilige Einheit des sowjetischen Volkes zu erschüttern. Von unseren Informanten wussten wir, dass zahlreiche Juden zur Evakuierung ins Hinterland ausgewählt wurden, aber sie wurden offenbar nach den gleichen Kriterien bestimmt wie die Ukrainer und die Russen, das heißt nach ihrer Eigenschaft als Ingenieure, Ärzte, Parteimitglieder oder Facharbeiter; die meisten Juden, die flohen, waren jedoch auf sich selbst gestellt. »Das ist merkwürdig«, fügte Hennicke hinzu. »Wenn die Juden wirklich die Kommunistische Partei beherrschen würden, müssten sie eigentlich größere Anstrengungen unternehmen, um ihre Glaubensbrüder zu retten.« – »Sie sind eben gerissen«, meinte Dr. von Scheven, ein anderer Offizier der Gruppe. »Sie wollen unserer Propaganda keine Angriffsfläche bieten, indem sie ihre Leute zu offen bevorzugen. Außerdem muss Stalin auf den großrussischen Nationalismus bauen. Um an der Macht zu bleiben, opfern sie ihre armen Vettern.« – »Damit haben Sie zweifellos Recht«, sagte Hennicke. Ich musste innerlich lächeln, aber nicht ohne Bitterkeit: Wie im Mittelalter argumentierten wir mit Syllogismen, wobei uns der eine jeweils zum Beweis des anderen diente. Und diese Beweise führten uns auf einen Weg, der keine Umkehr zuließ.

Die Große Aktion begann am Montag, dem 29. September, am Morgen von Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungs- oder Bußtag. Blobel hatte uns tags zuvor informiert: »Sie werden büßen, büßen.« Ich war in meinem Büro im Palast geblieben, um einen Bericht zu verfassen. Callsen erschien auf der Türschwelle: »Kommen Sie nicht mit? Sie wissen doch, der Brigadeführer hat die Teilnahme aller Offiziere befohlen.« – »Ich weiß. Ich beende nur noch diesen Bericht, dann komme ich.« – »Wie Sie wollen.« Er verschwand, und ich arbeitete weiter. Eine Stunde später stand ich auf, nahm Schiffchen und Handschuhe und suchte meinen Fahrer. Draußen war es kalt, ich überlegte, ob ich zurückgehen und mir einen Pullover überziehen sollte, verzichtete dann aber darauf. Der Himmel war bedeckt, der Herbst schon weit vorgerückt, bald würde es Winter sein. Ich fuhr an den noch rauchenden Ruinen des Kreschtschatik vorbei, dann den Boulevard Schewtschenko wieder hoch. In langen Kolonnen, familienweise zusammengefasst, marschierten die Juden ruhig nach Westen, sie trugen Ballen oder Rucksäcke. Größtenteils wirkten sie sehr ärmlich, vermutlich waren es Flüchtlinge; die Männer und Jungen trugen alle die Ballonmützen des sowjetischen Proletariats, hin und wieder sah man aber auch einen Schlapphut. Einige kamen mit Karren, die von abgemagerten Kleppern gezogen wurden und mit Alten und Gepäck beladen waren. Ich ließ meinen Fahrer einen Umweg machen, ich wollte mehr sehen; er bog nach links ein und fuhr, an der Universität vorbei, hinunter, dann bog er in die Saksaganskaja ein in Richtung Bahnhof. Überall traten die Juden mit ihren Habseligkeiten aus den Häusern und mischten sich unter den Menschenstrom, der friedlich murmelnd durch die Straßen floss. Man sah fast keinen deutschen Soldaten. An den Straßenecken vereinigten sich diese Menschenbäche, schwollen an und setzten ihren Lauf fort, ohne Strudel und Wogen. Wir fuhren den Hügel hinter dem Bahnhof hinauf und gelangten an der Ecke des großen Botanischen Gartens wieder auf den Boulevard. Dort hielt sich eine Gruppe deutscher Soldaten mit einigen ukrainischen Hilfswilligen auf und ließ ein ganzes Schwein an einem riesigen Spieß braten. Es roch sehr verlockend, die vorbeiziehenden Juden betrachteten es gierig, und die Soldaten machten sich lachend über sie lustig. Ich ließ halten und stieg aus. Die Menschen strömten aus allen Querstraßen herbei und vereinigten sich mit dem zentralen Strom wie Wasserläufe, die in einen Fluss münden. Von Zeit zu Zeit kam der endlose Zug zum Stillstand, dann setzte er sich wieder mit einem Ruck in Bewegung. Vor mir führten alte Frauen mit Zwiebelgirlanden um den Hals kleine Buben mit Rotznasen an der Hand, ein kleines Mädchen stand zwischen mehreren Einweckgläsern, die höher gestapelt waren als es selbst. Ich hatte den Eindruck, dass es vor allem Alte und Kinder waren, aber es ließ sich schwer beurteilen. Die gesunden Männer waren vermutlich zur Roten Armee eingezogen worden oder geflohen. Auf der rechten Seite, vor dem Botanischen Garten, lag ein Leichnam im Rinnstein, einen Arm vor dem Gesicht; die Menschen gingen vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ich trat zu den Soldaten, die sich um das Schwein drängten: »Was ist passiert?« Ein Feldwebel grüßte und antwortete: »Ein Krawallmacher, Herr Obersturmführer. Er hat rumgeschrien und die Menge aufgewiegelt, indem er die Wehrmacht verleumdete. Wir haben ihm gesagt, er soll den Mund halten, aber er hat einfach weitergeschrien.« Abermals betrachtete ich die Menge: Die Menschen erschienen friedlich, ein wenig beunruhigt vielleicht, aber passiv. Über mein Informantennetz hatte ich kräftig Gerüchte verbreiten lassen: Die Juden würden nach Palästina geschickt, kämen ins Getto, nach Deutschland, um zu arbeiten. Die von der Wehrmacht eingesetzten örtlichen Behörden hatten ihrerseits alle Anstrengungen unternommen, um eine Panik zu vermeiden. Ich wusste, dass es auch Gerüchte über Massaker gab, aber all diese Gerüchte hoben sich gegenseitig auf, die Leute wussten nicht mehr, was sie glauben sollten, und außerdem konnten wir auf ihre Erinnerungen an die deutsche Besetzung von 1918 setzen, auf ihr Vertrauen in Deutschland und auch auf ihre Hoffnung, die vergebliche Hoffnung.

Ich ging weiter. Meinem Fahrer hatte ich keine Anweisungen gegeben, aber er folgte dem Strom der Juden in Richtung Melnik-Straße. Noch immer waren kaum deutsche Soldaten zu erblicken, nur ein paar Kontrollpunkte an Straßenkreuzungen, etwa an der Ecke des Botanischen Gartens oder an der Kreuzung Artjomowsker- und Melnik-Straße. Dort sah ich zum ersten Mal an diesem Tag einen Zwischenfall. Feldgendarmen schlugen auf mehrere bärtige, nur mit Hemden bekleidete Juden mit langen Schläfenlocken ein, möglicherweise Rabbiner. Sie waren mit Blut verschmiert, ihre Hemden damit durchtränkt, Frauen schrien, in der Menge entstand große Unruhe. Dann packten die Feldgendarmen diese Rabbiner und führten sie fort. Ich betrachtete die Menschen. Sie wussten, dass diese Männer sterben würden, das erkannte ich an den verängstigten Blicken der Zurückbleibenden; aber sie hofften noch immer, dass es nur die Rabbiner, die Frommen, träfe.

Am Ende der Melnik-Straße, vor dem jüdischen Friedhof, verengten Panzersperren und Stacheldrahtverhaue die Fahrbahn, die von Wehrmachtssoldaten und ukrainischen Polizisten gesichert wurde. Hier begann die Postenkette; sobald die Juden durch diesen Engpass geschleust worden waren, konnten sie nicht mehr umkehren. Die Sammelstelle für Wertsachen folgte ein Stück weiter, links auf dem freien Platz vor dem riesigen christlichen Lukjanowskoje-Friedhof. Eine lange, ziemlich niedrige Ziegelmauer umgab die Nekropole; dahinter wurde der Himmel von hohen Bäumen verdeckt, die zur Hälfte kahl waren oder noch rot und gelb. Auf der anderen Seite der Degtjarowska-Straße hatte man eine Reihe Tische aufgestellt, an denen die Juden vorbeidefilieren mussten. Dort stieß ich auf mehrere unserer Offiziere: »Hat es schon angefangen?« Häfner nickte in Richtung Norden: »Ja, schon seit einigen Stunden. Wo waren Sie? Der Standartenführer ist wütend.« Hinter jedem Tisch stand ein Unterführer des Kommandos, von einem Übersetzer und mehreren Soldaten flankiert; am ersten Tisch mussten die Juden ihre Papiere abgeben, am zweiten ihr Geld und ihre Wertsachen und Schmuck, dann ihre Wohnungsschlüssel, leserlich beschriftet, schließlich ihre Kleidung und ihre Schuhe. Sie ahnten wohl etwas, sagten aber nichts; auf alle Fälle war die Zone hinter der Postenkette abgeriegelt. Einige Juden versuchten mit den Polizisten zu diskutieren, doch die Ukrainer schrien sie an, schlugen sie, trieben sie in die Schlange zurück. Es wehte ein schneidender Wind, mir war kalt, ich bedauerte, meinen Pullover nicht doch geholt zu haben; von Zeit zu Zeit, wenn der Wind auflebte, hörte man schwaches Geknatter; die meisten Juden schienen es nicht zu bemerken. Hinter der Tischreihe stapelten unsere Askaris die konfiszierte Kleidung in großen Ballen auf Lastwagen, die damit in die Stadt zurückfuhren, wo wir eine zentrale Sammelstelle eingerichtet hatten. Ich ging die Papiere durchsehen, die man in der Mitte des Geländes auf einen Haufen geworfen hatte, um sie später zu verbrennen: zerrissene Pässe, Arbeitsbücher, Gewerkschaftsausweise, Lebensmittelkarten, Familienfotos; die leichteren Blätter wurden vom Wind davongetragen, der ganze Platz war mit ihnen bedeckt. Ich schaute mir einige Fotografien an: Negative, Atelieraufnahmen, Männer, Frauen und Kinder, Großeltern und pausbäckige Babys; hin und wieder ein Urlaubsbild, das das Glück und die Normalität ihres Lebens vor all diesem hier widerspiegelte. Das erinnerte mich an eine Fotografie, die ich in einer Schublade neben meinem Bett aufbewahrt hatte, damals im Internat. Es war die Aufnahme einer preußischen Familie vor dem Ersten Weltkrieg, drei Junker in Kadettenuniform und ein junges Mädchen, augenscheinlich ihre Schwester. Ich weiß nicht mehr, woher ich sie hatte, vielleicht von einem unserer seltenen Ausgänge, von einem Trödler oder Postkartenhändler. Damals war ich sehr unglücklich, man hatte mich wegen einer schweren Verfehlung in dieses scheußliche Internat verbannt (das war in Frankreich, wohin wir einige Jahre nach dem Verschwinden meines Vaters gezogen waren). Nachts studierte ich dieses Foto manchmal stundenlang – bei Mondlicht oder, unter der Bettdecke, beim Schein einer kleinen Taschenlampe. Warum, so fragte ich mich, hatte ich nicht in einer so vollkommenen Familie wie dieser aufwachsen können statt in dieser verderbten Hölle? Auch die jüdischen Familien auf den verstreut herumliegenden Fotos wirkten glücklich; für sie war die Hölle hier, jetzt, und die Vergangenheit verschwunden, sie konnten ihr nur noch nachtrauern. Jenseits der Tische standen die Juden in Unterwäsche und zitterten in der Kälte; die ukrainischen Polizisten trennten die Männer und Jungen von den Frauen und den Kleinkindern; die Frauen, Kinder und Alten lud man auf die Wehrmachts-Lkws, um sie zur Schlucht zu transportieren; die anderen mussten sich zu Fuß dorthin begeben. Häfner war zu mir getreten. »Der Standartenführer sucht Sie. Passen Sie auf, er ist wirklich in Fahrt.« – »Warum?« – »Er nimmt es dem Obergruppenführer übel, dass der ihm seine beiden Polizeibataillone aufs Auge gedrückt hat. Er glaubt, der Obergruppenführer will die ganze Anerkennung für die Aktion einheimsen.« – »Aber das ist dumm.« Blobel kam, er hatte getrunken, und sein Gesicht glänzte. Sobald er meiner ansichtig wurde, begann er mich auf übelste Art zu beschimpfen: »Was zum Teufel treiben Sie? Sie werden hier seit Stunden erwartet.« Ich nahm Haltung an: »Standartenführer! Der SD hat seine eigenen Aufgaben. Ich habe die Sicherheitsvorkehrungen überprüft, um jeden Zwischenfall auszuschließen.« Er beruhigte sich ein wenig: »Und?«, knurrte er. »Scheint alles in Ordnung zu sein, Standartenführer.« – »Gut. Fahren Sie nach oben. Der Brigadeführer will alle Offiziere sehen.«

Ich stieg wieder in meinen Wagen und folgte den Lkws; am Bestimmungsort ließen die Polizisten die Frauen und Kinder absitzen, die sich wieder den zu Fuß eintreffenden Männern anschlossen. Zahlreiche Juden sangen während des Marsches religiöse Lieder; nur wenige versuchten zu fliehen, sie wurden von den Posten schnell wieder eingefangen oder niedergeschossen. Vom Hügelkamm hörte man deutlich die Feuerstöße, vor allem die Frauen gerieten in Panik. Doch sie konnten nichts tun. Man teilte sie in kleine Gruppen ein, und ein Unterführer, der an einem Tisch saß, zählte sie durch; dann ergriffen unsere Askaris sie und führten sie über den Rand der Schlucht. Sobald eine Serie von Schüssen gefallen war, folgte die nächste Gruppe, das ging sehr rasch. Ich ging auf der Westseite um die Schlucht herum, um mich den anderen Offizieren anzuschließen, die oben auf dem Nordhang standen. Von dort aus sah ich die Schlucht vor mir liegen: Sie mochte etwa fünfzig Meter breit und vielleicht dreißig Meter tief sein und zog sich mehrere Kilometer weit hin; der kleine Bach an ihrem Grund mündete ein Stück weiter unten in den Syrez, der der ganzen Gegend seinen Namen gab. Man hatte Bretter über den Bach gelegt, damit ihn die Juden und die Schützen leichter überqueren konnten; auf der anderen Seite, fast durchgehend über die nackten Hänge der Schlucht verteilt, entstanden mehr und mehr weiße Häuflein. Die ukrainischen »Packer« trieben ihre Menschenfracht zu diesen Häufchen und zwangen sie, sich darüber- oder danebenzulegen; daraufhin traten die Männer des Erschießungskommandos vor und schritten langsam die Reihen der fast nackten, ausgestreckt liegenden Menschen entlang und schossen jedem aus ihren Maschinenpistolen eine Kugel ins Genick; insgesamt gab es drei Exekutionskommandos. Zwischen den Erschießungen untersuchten einige Offiziere die Opfer und gaben ihnen, falls nötig, den Gnadenschuss mit der Pistole. Oben, den ganzen Schauplatz überblickend, stand eine Gruppe von SS- und Wehrmachtsoffizieren. Unter ihnen Jeckeln mit seinem Gefolge, Dr. Rasch an seiner Seite; auch einige hohe Dienstgrade der 6. Armee erkannte ich. Ich sah Thomas, der mich seinerseits bemerkte, meinen Gruß aber nicht erwiderte. Gegenüber eilten kleine Gruppen die Hänge der Schlucht hinab und verschmolzen mit den Leichenhaufen, die unaufhaltsam anwuchsen. Die Kälte wurde beißend, aber man ließ Rumflaschen kreisen, ich trank etwas. Blobel kam mit dem Wagen direkt auf unsere Seite der Schlucht gefahren, er musste einen Riesenumweg gemacht haben; er trank aus einem Flachmann und schimpfte wüst, brüllte, dass alles nicht schnell genug gehe. Dabei war die Sequenz der Erschießungen schon extrem beschleunigt worden. Die Schützen wurden jede Stunde abgelöst, und wer nicht schoss, versorgte die anderen mit Rum und füllte die Magazine auf. Die Offiziere sprachen wenig, einige versuchten, ihre Betroffenheit zu verbergen. Die Ortskommandantur hatte eine Batterie Feldküchen geschickt, und ein Militärpfarrer kochte Tee, damit sich die Orpos und die Angehörigen des Sonderkommandos aufwärmen konnten. Zum Mittagessen kehrten die höheren Offiziere in die Stadt zurück, während die subalternen blieben und mit den Männern aßen. Da die Exekutionen ohne Unterbrechung weitergehen sollten, hatte man etwas tiefer in einer Bodensenke, von der aus man die Schlucht nicht sah, die Essenausgabe eingerichtet. Die Einsatzgruppe war für die Verpflegung zuständig; als die Konserven ausgepackt wurden und die Männer die Rationen Blutwurst erblickten, begannen sie zu toben und zu schreien. Häfner, der eine Stunde lang Gnadenschüsse verteilt hatte, schleuderte die geöffneten Dosen brüllend zu Boden: »Was ist denn das für eine Sauerei?« Geräuschvoll übergab sich hinter mir ein Mann der Waffen-SS. Auch mir war hundeelend, beim Anblick der Blutwurst drehte sich mir der Magen um. Ich wandte mich an Hartl, den Verwaltungsführer der Gruppe, und fragte ihn, was ihn auf diese aberwitzige Idee gebracht habe. Doch an Hartl, in seinen lächerlich groß bemessenen Reithosen verschanzt, glitt das alles ab. Daraufhin brüllte ich ihn an, es sei eine Schande: »In dieser Situation kann man doch wohl auf solche Nahrungsmittel verzichten!« Hartl wandte mir den Rücken zu und ging fort; Häfner warf die Konservendosen in einen Karton zurück, während ein anderer Offizier, der junge Nagel, versuchte, mich zu beruhigen: »Lassen Sie doch, Obersturmführer …« – »Nein, das ist nicht in Ordnung, an so was muss er einfach denken. Das gehört zu seinen Aufgaben.« – »Vollkommen richtig«, sagte Häfner und verzog angeekelt das Gesicht. »Ich hole was anderes.« Jemand reichte mir einen Becher Rum, den ich mit einem Schluck hinunterstürzte; er brannte, tat aber gut. Hartl war zurückgekommen und richtete seinen dicken Finger auf mich: »Obersturmführer, Sie haben nicht in einem solchen Ton mit mir zu reden.« – »Und Sie haben nicht zu … zu … zu …«, stammelte ich und wies auf die umgeworfenen Kisten. – »Ich darf doch bitten, meine Herren!«, fuhr Vogt scharf dazwischen. »Kein Skandal, wenn es beliebt.«

Wir waren alle offensichtlich mit unseren Nerven am Ende. Ich ging ein paar Schritte zur Seite und aß ein bisschen Brot und eine rohe Zwiebel; hinter mir begannen die Offiziere eine heftige Diskussion. Wenig später waren die höheren Offiziere zurück, Hartl musste Rapport erstattet haben, denn Blobel kam auf mich zu, um mir in Dr. Raschs Namen eine Rüge zu erteilen: »Unter diesen Umständen hat man sich als Offizier zu benehmen.« Er befahl mir, Janssen zu vertreten, sobald der in der Schlucht abgelöst werden müsste. »Haben Sie Ihre Waffe? Ja? Ich will keine Memmen in meinem Kommando, verstanden?« Er versprühte seinen Speichel, er war vollkommen betrunken und kaum noch Herr seiner selbst. Kurz darauf sah ich Janssen heraufsteigen. Er warf mir einen mürrischen Blick zu: »Sie sind dran.« Der Abhang war dort, wo ich mich befand, zu steil, um in die Schlucht hinabzuklettern, ich musste wieder ganz um sie herum und vom anderen Ende aus hinunter. In der Umgebung der Leichen war der sandige Boden von schwärzlichem Blut getränkt, auch der Bach war schwarz von Blut. Ein schrecklicher Gestank von Exkrementen überlagerte den Geruch des Blutes, viele mussten sich im Augenblick des Todes entleeren; glücklicherweise wehte ein kräftiger Wind und trug die Ausdünstungen teilweise davon. Aus der Nähe sah alles bei weitem nicht so ruhig aus: Die Juden, von den Askaris und Orpos getrieben, schrien vor Entsetzen auf, wenn sie oben an den Rand der Schlucht kamen und die Schreckensszenerie entdeckten, sie schlugen um sich, die »Packer« prügelten mit Stöcken und Kabelenden auf sie ein, um sie dazu zu zwingen, hinabzusteigen und sich hinzulegen, selbst am Boden schrien sie noch und versuchten, wieder hochzukommen, die Kinder klammerten sich genauso ans Leben wie die Erwachsenen, sie sprangen mit einem Satz auf und liefen davon, bis ein »Packer« sie wieder einfing und niederstreckte, häufig trafen die Schüsse nicht richtig und die Menschen waren nur verletzt, was die Schützen aber nicht kümmerte, die schon beim nächsten Opfer waren, die Verwundeten wälzten sich, krümmten sich, stöhnten in ihrer Qual, andere dagegen verstummten vor Schreck und waren wie gelähmt, die Augen weit aufgerissen. Die Soldaten kamen und gingen, feuerten Schuss um Schuss ab, fast ohne Unterbrechung. Ich war wie versteinert, wusste nicht, was ich tun sollte. Grafhorst kam zu mir und schüttelte mich am Arm: »Obersturmführer!« Er deutete mit seiner Pistole auf die Leiber. »Versuchen Sie, den Verwundeten den Rest zu geben.« Ich zog meine Pistole und ging auf eine Gruppe zu: Ein sehr junger Mann brüllte vor Schmerz, ich richtete die Pistole auf seinen Kopf und betätigte den Abzug, doch der Schuss löste sich nicht, ich hatte vergessen, die Waffe zu entsichern, ich legte den Sicherungshebel um und schoss dem Mann eine Kugel in die Stirn, er zuckte auf und verstummte augenblicklich. Manchmal musste man, um an die Verwundeten heranzukommen, über die Leichen gehen, das war entsetzlich glitschig, das weiche, weiße Fleisch verschob sich unter meinen Stiefeln, die trügerischen Knochen brachen unter meinen Schritten und ließen mich straucheln, ich versank bis zu den Knöcheln in Schlamm und Blut. Es war entsetzlich und erfüllte mich mit unüberwindlichem Ekel, wie an dem Abend in Spanien, in der Latrine mit den Küchenschaben, ich war noch klein, mein Stiefvater war in den Ferien mit uns nach Katalonien gefahren, wir wohnten in einem Dorf, und eines Nachts bekam ich Durchfall, lief, mit einer Taschenlampe bewaffnet, zur Latrine ganz hinten im Garten, und das Loch, das tagsüber sauber war, wimmelte von riesigen Küchenschaben, was mich in Schrecken versetzte, ich versuchte den Stuhldrang zu unterdrücken und ging wieder schlafen, aber das Rumoren im Bauch war zu stark, im Zimmer gab es keinen Nachttopf, ich fuhr in meine riesigen Gummistiefel und kehrte zur Latrine zurück, wobei ich mir sagte, ich könnte ja die Schaben mit Fußtritten verjagen und ganz schnell machen, ich streckte den Kopf durch die Tür, um den Boden zu beleuchten, als ich einen Widerschein an der Wand bemerkte, ich richtete den Strahl meiner Lampe darauf: Auch auf der Wand wimmelte es von Schaben, auf allen Wänden, selbst an der Decke über der Tür, langsam wandte ich den Kopf, den ich durch die Tür gestreckt hatte, da waren sie auch, eine schwarze wimmelnde Masse, und daraufhin zog ich den Kopf langsam, sehr langsam zurück und ging wieder in mein Zimmer und hielt den Stuhlgang bis zum Morgen zurück. Auf den Leichen der Juden zu gehen war dasselbe Gefühl, ich schoss fast aufs Geratewohl auf alles, was sich noch rührte, dann riss ich mich zusammen und versuchte, mich zu konzentrieren, immerhin ging es darum, den Menschen überflüssiges Leiden zu ersparen, allerdings konnte ich nur den zuoberst Liegenden den Gnadenschuss geben, unter ihnen lagen weitere Verletzte, die noch nicht ganz tot waren, es aber bald sein würden. Ich war nicht der Einzige, der die Fassung verlor, auch einige der Schützen zitterten und tranken zwischen den Schüben. Mir fiel ein junger Mann von der Waffen-SS auf, ich kannte seinen Namen nicht: Er begann, die Maschinenpistole im Hüftanschlag, wild um sich zu schießen, lachte grässlich und leerte sein Magazin planlos, ein Schuss nach links, dann nach rechts, dann zwei, dann drei, wie ein Kind, das nach einer geheimnisvollen inneren Topografie dem Muster eines Pflasters folgt. Ich trat zu ihm und schüttelte ihn, aber er hörte auch unmittelbar vor mir nicht auf, zu lachen und zu schießen, ich entriss ihm die Maschinenpistole und ohrfeigte ihn, dann schickte ich ihn zu den Männern, die die Magazine auffüllten; Grafhorst ließ einen anderen Mann als Ersatz kommen, ich drückte ihm die Maschinenpistole in die Hand und rief: »Machen Sie es ordentlich, verstanden?!« In der Nähe führten sie eine weitere Gruppe heran: Mein Blick begegnete dem eines schönen jungen Mädchens, das fast nackt war, aber sehr elegant, gefasst, die Augen voll unendlicher Traurigkeit. Ich entfernte mich. Als ich zurückkehrte, lebte sie noch, halb auf den Rücken zurückgedreht, die Kugel war ihr unter einer Brust ausgetreten, und sie keuchte, vollkommen starr, ihre hübschen Lippen zitterten und schienen ein Wort bilden zu wollen, sie starrte mich aus großen, überraschten Augen an, ungläubig, die Augen eines verletzten Vogels, und dieser Blick setzte sich in mir fest, zerriss mir den Bauch und ließ einen Strom von Sägemehl herausrieseln, ich war eine gewöhnliche Puppe und spürte nichts, gleichzeitig empfand ich den unwiderstehlichen Drang, mich zu ihr hinabzubeugen und ihr das Gemisch aus Schweiß und Erde von der Stirn zu wischen, ihr die Wange zu streicheln und zu versichern, dass es nicht so schlimm sei, dass alles gut werde, stattdessen riss ich mit einer krampfhaften Bewegung die Pistole hoch und schoss ihr eine Kugel in den Kopf, was im Grunde auf dasselbe hinauslief, auf jeden Fall für sie, wenn auch nicht für mich, denn ich wurde bei dem Gedanken an dieses sinnlos verschwendete Leben von einer ungeheuren, maßlosen Wut gepackt, schoss unaufhörlich weiter, ihr Kopf war längst wie eine überreife Frucht geplatzt, während mein Arm sich von mir löste und sich ganz allein durch die Schlucht davonmachte, hierhin und dorthin schießend, ich lief hinter ihm her, machte ihm mit meinem anderen Arm Zeichen, er solle auf mich warten, aber er wollte nicht, er verhöhnte mich und schoss ganz allein, ohne mich, auf die Verwundeten, bis ich schließlich, völlig außer Atem, stehen blieb und zu weinen begann. Jetzt ist alles vorbei, dachte ich, mein Arm wird nie wiederkommen, doch zu meiner großen Überraschung war er unversehens wieder dort, wo er hingehörte, fest verbunden mit meiner Schulter, und Häfner trat zu mir und sagte: »Es ist gut, Obersturmführer. Ich löse Sie ab.«

Ich stieg wieder hinauf, und jemand gab mir Tee; das warme Getränk stärkte mich ein wenig. Der Mond, drei viertel voll, war aufgegangen und hing im grauen Himmel, bleich und kaum sichtbar. Für die Offiziere war eine kleine Hütte errichtet worden. Ich trat ein und ließ mich ganz hinten auf einer Bank nieder, um zu rauchen und meinen Tee zu trinken. Es waren noch drei weitere Männer in der Hütte, aber niemand sprach. Unten hielt das Geknatter der Salven an: Unermüdlich, methodisch fuhr der von uns eingerichtete gigantische Apparat damit fort, diese Menschen zu vernichten. Es schien nie aufzuhören. Seit den Anfängen der menschlichen Geschichte war der Krieg stets als das größte aller Übel wahrgenommen worden. Doch wir, wir hatten etwas erfunden, neben dem der Krieg richtig und rein erschien, etwas, dem schon jetzt viele dadurch zu entgehen suchten, dass sie sich in die elementaren Sicherheiten von Krieg und Front flüchteten. Selbst die wahnwitzigen Schlächtereien des Ersten Weltkriegs, die unsere Väter und einige unserer älteren Offiziere miterlebt hatten, erschienen fast sauber und gerecht gegenüber dem, was wir in die Welt gebracht hatten. Ich fand das außerordentlich. Mir schien es etwas ganz Entscheidendes zu sein, etwas, was mir, wenn ich es verstünde, erlauben würde, alles zu verstehen und mich endlich auszuruhen. Doch es gelang mir nicht zu denken, meine Gedanken rüttelten und lärmten in meinem Kopf wie Metrozüge, die eine Station nach der anderen durchfuhren, in alle Richtungen und auf allen Ebenen. Doch was sollte es, es würde sich ohnehin niemand um das scheren, was ich denken mochte. Unser System, unser Staat machte sich nicht das Geringste aus dem, was seine Diener dachten. Es war ihm gleichgültig, ob man die Juden tötete, weil man sie hasste oder weil man Karriere machen wollte oder weil es einem, in gewissen Grenzen, sogar Spaß machte. Ebenso gleichgültig war es ihm, ob man die Juden und die Zigeuner und die Russen, die man tötete, nicht hasste und ob man keine Freude daran hatte, sie zu vernichten, nicht die geringste Freude. Im Grunde war es ihm sogar gleichgültig, wenn man sich weigerte, sie zu töten, dann wurden keine Sanktionen verhängt, weil er genau wusste, dass sein Vorrat an potenziellen Schlächtern unerschöpflich war, dass er sich daraus nach Belieben bedienen konnte und dass er einem andere Aufgaben zuweisen konnte, die seinen Fähigkeiten besser entsprachen. Schulz beispielsweise, der Kommandant von Ek 5, der nach Ausgabe des Führerbefehls um seine Versetzung gebeten hatte, war inzwischen abgelöst worden, und es hieß, er habe einen hübschen Posten bei der Staatspolizei in Berlin bekommen. Auch ich hätte um meine Ablösung bitten können und sicherlich eine günstige Beurteilung von Blobel oder Dr. Rasch erhalten. Warum tat ich es dann nicht? Zweifellos hatte ich noch nicht verstanden, was ich verstehen wollte. Würde ich es je verstehen? Nichts war ungewisser. Ein Satz von Chesterton ging mir nicht aus dem Kopf: Ich habe nie gesagt, dass es immer falsch ist, ins Märchenland zu gehen. Ich habe nur gesagt, dass es immer gefährlich ist. War das also der Krieg, ein pervertiertes Märchenland, der Spielplatz eines irrsinnigen Kindes, das unter hysterischem Gelächter sein Spielzeug zerschlägt und das Geschirr fröhlich zum Fenster hinauswirft?

Kurz vor 18 Uhr ging die Sonne unter, und Blobel befahl eine Ruhepause für die Dauer der Nacht: Die Schützen konnten ohnehin nichts mehr sehen. Er hielt eine rasche Besprechung mit seinen Offizieren ab, im Stehen hinter der Schlucht, um die aufgetretenen Probleme zu diskutieren. Tausende von Juden warteten noch auf dem Platz und in der Melnik-Straße; nach unseren Berechnungen waren schon fast zwanzigtausend erschossen worden. Mehrere Offiziere beklagten sich darüber, dass man die Verurteilten über den Rand der Schlucht schickte: Wenn sie die Szenerie zu ihren Füßen erblickten, gerieten sie in Panik und seien nur schwer unter Kontrolle zu halten. Daraufhin beschloss Blobel, von den Pionieren der Ortskommandantur Zugänge zu den kleineren Geländeeinschnitten graben zu lassen, die in die Hauptschlucht mündeten, und die Juden von dort heranzuführen; so würden sie die Leichen erst im letzten Moment erblicken. Außerdem befahl er, die Toten mit Kalk zu überschütten. Wir kehrten in unsere Unterkünfte zurück. Auf dem Platz vor dem Lukjanowskoje-Friedhof warteten Hunderte von Familien, auf ihren Koffern oder auf der Erde sitzend. Einige hatten Feuer gemacht und kochten sich etwas zu essen. Auf der Straße das gleiche Bild: Die Schlange reichte bis zur Stadt, nur von einer spärlichen Postenkette bewacht. Am nächsten Tag, im Morgengrauen, ging es weiter. Doch ich denke nicht, dass weitere Beschreibungen von Nutzen wären.