Im Hotel Eden erwartete mich eine Nachricht: »Frau von Üxküll«, erklärte mir der Portier. »Hier ist die Nummer, unter der Sie sie erreichen können.« Ich ging in mein Zimmer hinauf und ließ mich völlig erschlagen auf das Sofa fallen, ohne auch nur meine Uniformjacke aufzuknöpfen. Warum nahm sie nach all den Jahren in dieser Weise Verbindung zu mir auf? Warum gerade jetzt? Ich hätte nicht sagen können, ob ich sie wiederzusehen wünschte; aber ich wusste, dass es mir, wenn sie es wünschte, ebenso unmöglich war, sie nicht wiederzusehen, wie mit dem Atmen aufzuhören. In dieser Nacht schlief ich gar nicht oder wenig. Brutal überschwemmten mich die Erinnerungen; anders als die, die in Stalingrad in großen Wellen anrollten, waren diese hier nicht mehr strahlend und von der Kraft des Glückes erfüllt, sondern schon in das kalte Licht des Vollmondes getaucht, weiß und bitter. Im Frühling, vom Wintersport zurückgekehrt, hatten wir unsere Spiele auf dem Dachboden wieder aufgenommen, nackt und schimmernd im staubigen Licht, zwischen den Puppen, den Kofferstapeln und den mit alten Kleidungsstücken überladenen Garderobenständern, hinter denen wir uns versteckten. Nach dem Winter war ich blass und noch unbehaart; bei ihr zeigte sich schon der Schatten eines Flaums zwischen den Beinen, und winzige Brüste begannen ihren Oberkörper zu entstellen, den ich flach und glatt liebte. Doch es gab keinen Weg zurück. Es war noch kalt, wir hatten Gänsehaut. Sie kletterte über mich, aber ein Blutfaden lief ihr an der Innenseite der Schenkel entlang. Sie weinte: »Es beginnt, der Verfall beginnt.« Ich nahm sie in meine mageren Arme und weinte mit ihr. Wir waren noch keine dreizehn. Es war ungerecht, ich wollte sein wie sie. Warum konnte ich nicht auch bluten, das mit ihr teilen? Warum konnten wir nicht gleich sein? Ich hatte noch keine Ejakulationen, unsere Spiele gingen weiter; aber vielleicht fingen wir jetzt an, uns gegenseitig zu beobachten, uns etwas mehr zu beobachten, und das brachte schon eine Distanz hinein, die sicherlich nur gering war, uns aber möglicherweise zwang, die Dinge hin und wieder etwas zu forcieren. Dann trat das Unvermeidliche ein: Eines Tages hatte ich die weißliche Soße auf meiner Hand, meinen Schenkeln. Ich sagte es Una und zeigte es ihr. Es faszinierte sie, aber sie bekam Angst, man hatte ihr die Gesetze der Mechanik erklärt. Und zum ersten Mal erschien uns der Dachboden freudlos, staubig, voller Spinnweben. Ich wollte ihre inzwischen rund gewordene Brust küssen, aber das interessierte sie nicht, sie kniete sich nieder, bot mir ihre schmalen jugendlichen Gesäßbacken dar. Sie hatte die Coldcream aus dem Badezimmer unserer Mutter mitgebracht: »Schau her«, erklärte sie. »Da kann nichts passieren.« Mehr als das Gefühl ist mir der herbe, betäubende Geruch der Creme in Erinnerung geblieben. Wir bewegten uns zwischen dem goldenen Zeitalter und dem Sündenfall.

Als ich sie am späten Vormittag anrief, war ihre Stimme vollkommen ruhig. »Wir sind im Kaiserhof.« – »Hast du Zeit?« – »Ja. Können wir uns treffen?« – »Ich komme dich abholen.« Sie erwartete mich im Foyer und stand auf, als sie mich sah. Ich nahm meine Mütze ab, und sie küsste mich zart auf die Wange. Dann trat sie einen Schritt zurück und betrachtete mich. Mit dem Nagel eines ausgestreckten Fingers klopfte sie auf einen der silbernen Knöpfe meines Waffenrocks: »Steht dir ziemlich gut, diese Uniform.« Ich sah sie an, ohne einen Ton zu sagen: Sie hatte sich nicht verändert, sie war ein wenig reifer geworden, gewiss, aber so schön wie immer. »Was tust du hier?«, fragte ich. »Berndt hat etwas bei seinem Notar zu erledigen. Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht in Berlin bist, und hatte Lust, dich zu sehen.« – »Wie hast du mich gefunden?« – »Ein Freund von Berndt im OKW hat mit der Prinz-Albrecht-Straße telefoniert, dort hat man ihm gesagt, wo du wohnst. Was wollen wir machen?« – »Hast du Zeit?« – »Den ganzen Tag.« – »Dann lass uns nach Potsdam fahren. Wir gehen essen und im Park spazieren.«

Es war einer der allerersten schönen Tage des Jahres. Die Luft war mild, und die Bäume trieben unter einer noch blassen Sonne ihre Knospen. Im Zug sprachen wir kaum; sie wirkte distanziert, und um ehrlich zu sein, ich hatte große Angst. Das Gesicht dem Fenster zugewandt, betrachtete sie die vorbeifliegenden noch kahlen Bäume des Grunewalds; ich betrachtete ihr Gesicht. Unter dem schweren tiefschwarzen Haar erschien es fast durchscheinend, lange blaue Adern zeichneten sich deutlich unter der milchigen Haut ab. Eine begann an der Schläfe, berührte den Augenwinkel und überquerte dann in einer langen Krümmung, wie ein Schmiss, die Wange. Ich stellte mir das langsam pulsierende Blut unter dieser Oberfläche vor, die so dicht und tief war wie die opalisierenden Farben eines flämischen Meisters. Am Ansatz des Halses entsprang ein weiteres Netz von Adern, breitete sich über das zarte Schlüsselbein aus und verschwand unter ihrer Strickjacke, um, wie ich wusste, in der Form zweier offener Hände ihre Brüste mit Blut zu versorgen. Ihre Augen sah ich im Fenster gespiegelt, vor dem braunen Hintergrund der dicht stehenden Bäume, farblos, fern, abwesend. In Potsdam kannte ich ein kleines Restaurant in der Nähe der Garnisonskirche. Das Glockenspiel ließ sein kleines melancholisches Lied nach einer Mozartmelodie erklingen. Das Restaurant war geöffnet: »Goebbels’ fixe Ideen gelten nicht für Potsdam«, sagte ich; doch selbst in Berlin öffneten die meisten Restaurants bereits wieder. Ich bestellte Wein und fragte meine Schwester nach der Gesundheit ihres Mannes. »Es geht«, antwortete sie einsilbig. Sie waren nur für einige Tage in Berlin; dann wollten sie in ein Schweizer Sanatorium, wo Üxküll eine Kur machen sollte. Zögernd versuchte ich, etwas über ihr Leben in Pommern zu erfahren. »Ich kann mich nicht beklagen«, versicherte sie und sah mich mit ihren großen hellen Augen an. »Berndts Pächter liefern uns Lebensmittel, wir haben alles, was wir brauchen. Sogar Fisch bekommen wir. Ich lese viel und gehe spazieren. Der Krieg scheint sehr weit weg zu sein.« – »Er kommt näher«, sagte ich trocken. »Du glaubst doch nicht etwa, dass sie bis nach Deutschland kommen?« Ich zuckte die Achseln: »Alles möglich.« Unsere Worte blieben kalt, künstlich, ich bemerkte es, wusste aber nicht, wie ich diese Kälte überwinden sollte, die sie nicht zu kümmern schien. Wir tranken und aßen ein wenig. Schließlich sagte sie leise, vorsichtig: »Ich habe gehört, dass du verwundet worden bist. Berndt hat Freunde bei der Wehrmacht, die haben es uns erzählt. Wir leben zwar ziemlich zurückgezogen, halten aber Kontakt. Ich konnte keine Einzelheiten in Erfahrung bringen und habe mir Sorgen gemacht. Aber wenn ich dich jetzt so sehe, kann es ja nicht allzu schlimm gewesen sein.« Da erzählte ich ihr in nüchternen Worten, was geschehen war, und zeigte ihr das Loch. Sie ließ das Besteck fallen und wurde bleich; sie hob die Hand, ließ sie aber wieder sinken. »Entschuldige. Das wusste ich nicht.« Mit den Fingern berührte ich ihren Handrücken; sie zog die Hand langsam zurück. Ich sagte nichts. Ich wusste auch gar nichts zu sagen: Alles, was ich ihr hätte sagen wollen, alles, was ich ihr hätte sagen müssen, konnte ich nicht sagen. Kaffee gab es nicht; wir beendeten unsere Mahlzeit, und ich zahlte. Potsdams Straßen waren ruhig: Soldaten, Frauen mit Kinderwagen, kaum Autos. Ohne zu reden, wandten wir uns in Richtung Park. Der Marlygarten, durch den wir hineingingen, verlängerte und vertiefte noch die Stille der Straßen; von Zeit zu Zeit sahen wir ein Pärchen oder einige rekonvaleszente Kriegsversehrte auf Krücken oder in Rollstühlen. »Das ist ja schrecklich«, murmelte Una. »Was für eine Vergeudung.« – »Es ist unumgänglich«, sagte ich. Sie antwortete nicht: Wir redeten noch immer aneinander vorbei. Zutrauliche Eichhörnchen huschten durchs Gras; rechts von uns holte sich eines Brotkrumen aus der Hand eines kleinen Mädchens, sprang ein Stück davon, kam zurück, knabberte, und das Mädchen lief mit einem fröhlichen Lachen fort. Stockenten und andere Wasservögel schwammen oder landeten auf den Teichen: Kurz bevor sie aufsetzten, schlugen sie wild mit fast senkrecht aufgestellten Flügeln, um zu bremsen, und streckten ihre Schwimmfüße gegen das Wasser aus; sobald sie die Oberfläche berührten, zogen sie die Füße ein und beendeten die Landung auf ihrem gewölbten Bauch, wobei eine kleine Wasserfontäne aufspritzte. Die Sonne blinzelte durch die Kiefern und kahlen Äste der Eichen; an den Wegkreuzungen standen auf kleinen Sockeln Putten oder Nymphchen aus grauem Stein, überflüssig und lächerlich. Am Mohrenrondell – im Kreis aufgestellte Büsten vor gestutzten Sträuchern, darüber terrassenförmig angelegte Weinstöcke und Gewächshäuser – raffte Una ihren Rock zusammen und setzte sich auf die Bank, behände wie ein junges Mädchen. Ich zündete mir eine Zigarette an, sie nahm sie mir aus der Hand und rauchte einige Züge, bevor sie sie mir zurückgab. »Erzähl mir von Russland!« In kurzen, nüchternen Worten setzte ich ihr auseinander, worin die Arbeit des Sicherheitsdienstes in der Etappe hinter der Front bestand. Wortlos hörte sie zu. Schließlich fragte sie: »Und du, hast du auch Menschen getötet?« – »Einmal, da musste ich den Nachschuss übernehmen. Meistens war ich mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit beschäftigt, ich habe Berichte geschrieben.« – »Und was hast du empfunden, als du auf diese Menschen geschossen hast?« Ohne zu zögern antwortete ich: »Nichts anderes, als wenn ich andere schießen sah. In dem Augenblick, wo es getan werden muss, spielt es kaum eine Rolle, wer es tut. Im Übrigen denke ich, dass ich beim Zuschauen genauso verantwortlich bin, wie wenn ich es selber tue.« – »Aber muss es denn getan werden?« – »Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, ganz bestimmt.« Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich bin froh, dass ich kein Mann bin.« – »Und ich habe mir oft gewünscht, dein Glück zu haben.« Sie streckte den Arm aus und strich mir nachdenklich mit der Hand über die Wange: Ich glaubte, das Glück müsse mich ersticken, und wollte mich wie ein Kind in ihre Arme schmiegen. Doch sie stand auf, und ich folgte ihr. Langsam stieg sie die Terrassen zum gelben Schlösschen hinauf. »Hast du Nachricht von Mama?«, fragte sie über die Schulter. »Nein. Wir schreiben uns schon seit Jahren nicht mehr. Was macht sie?« – »Sie lebt noch immer mit Moreau in Antibes. Er macht Geschäfte mit der Wehrmacht. Inzwischen stehen sie unter italienischer Kontrolle. Es scheint ihnen sehr gut zu gehen, aber Moreau ist wütend, weil er überzeugt ist, dass Mussolini die Côte d’Azur annektieren will.« Wir waren auf der obersten Terrasse angelangt, einer kiesbestreuten Fläche, die bis zum Schloss reichte. Von dort ging der Blick über den Park, die Dächer und die Kirchtürme von Potsdam, die sich hinter den Bäumen abzeichneten. »Papa hat diese Stelle sehr geliebt«, sagte Una leise. Das Blut stieg mir ins Gesicht, und ich packte sie am Arm: »Woher weißt du das?« Sie zuckte die Achseln: »Ich weiß es eben.« – »Das hast du nie …« Sie sah mich traurig an: »Max, er ist tot. Mach dir das endlich klar!« – »Auch du sagst das?«, stieß ich hasserfüllt hervor. Doch sie blieb ruhig: »Ja, auch ich sage das.« Und sie rezitierte diese englischen Verse:

 

Full fathom five thy father lies;
Of his bones are coral made;
Those are pearls that were his eyes:
Nothing of him that doth fade,
But doth suffer a sea-change
Into something rich and strange.

 

Empört wandte ich mich ab und entfernte mich. Sie holte mich ein und fasste mich am Arm. »Komm, wir besichtigen das Schloss.« Der Kies knirschte unter unseren Schritten, wir umrundeten das Gebäude und gingen unter der Rotunde hindurch. Im Inneren betrachtete ich zerstreut die vergoldeten Arabesken, die kleinen kostbaren Möbel, die sinnenfreudigen Gemälde des 18. Jahrhunderts; etwas lebhafter wurden meine Gedanken nur im Musikzimmer, als ich das Hammerklavier betrachtete und mich fragte, ob es das Instrument sei, auf dem der alte Bach am Tag seiner Ankunft vor dem König jenes Stück improvisierte, das später das Musikalische Opfer werden sollte: Wäre der Wärter nicht gewesen, ich hätte die Hand ausgestreckt und die Tasten angeschlagen, die vielleicht einmal Bachs Finger gespürt hatten. Das berühmte Gemälde von Menzels, das Friedrich den Großen mit der Querflöte unter Kerzenkathedralen zeigt – ganz so wie an dem Tag, als er Bach empfing –, war abgehängt worden, sicherlich aus Angst vor Bombenangriffen. Ein Stück weiter sahen wir das Gästezimmer, das Voltairezimmer, mit einem winzigen Bett, in dem der große Mann in den Jahren geschlafen haben sollte, in denen er Friedrich in der Aufklärung und im Judenhass unterwies; in Wahrheit scheint er aber in der Stadt Potsdam gewohnt zu haben. Amüsiert studierte Una die frivolen Verzierungen: »Für einen König, der nicht einmal mehr seine Stiefel ausziehen konnte, geschweige denn seine Hose, hatte er eine erstaunliche Vorliebe für nackte Frauen. Das ganze Schloss wirkt erotisiert.« – »Damit wollte er sich an all das erinnern, was er vergessen hatte.« Am Ausgang wies sie auf den Hügel, auf dem sich die künstlichen Ruinen abzeichneten, die zu den Schrullen dieses etwas wunderlichen Monarchen gehört hatten: »Möchtest du da hinauf?« – »Nein, lass uns lieber zur Orangerie gehen.« Träge schlenderten wir weiter, ohne sonderlich auf unsere Umgebung zu achten. Wir setzten uns einen Augenblick auf die Terrasse der Orangerie, dann stiegen wir die Stufen hinunter, die die großen Becken und Beete mit ihrer regelmäßigen klassischen, vollkommen symmetrischen Anordnung einrahmten. Dahinter begann wieder der Park, und wir gingen aufs Geratewohl weiter, durch eine der langen Alleen. »Bist du glücklich?«, fragte sie mich. »Glücklich? Ich? Nein. Ich war einmal glücklich. Heute bin ich mit dem zufrieden, was ist, und beklage mich nicht. Warum fragst du mich das?« – »Einfach so, ohne Grund.« Nach einer Weile fuhr sie fort: »Kannst du mir sagen, warum wir seit acht Jahren kein Wort gewechselt haben?« – »Du hast geheiratet«, erwiderte ich und unterdrückte eine zornige Regung. »Ja, aber das war später. Außerdem ist das kein Grund.« – »Für mich schon. Warum hast du ihn geheiratet?« Sie blieb stehen und sah mich aufmerksam an: »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Aber wenn du es wissen willst, ich liebe ihn.« Jetzt blickte ich sie an: »Du hast dich verändert.« – »Alle verändern sich. Auch du hast dich verändert.« Wir gingen weiter. »Und du, hast du niemanden geliebt?«, fragte sie. »Nein, ich halte meine Versprechen.« – »Ich habe dir nie welche gemacht.« – »Das stimmt«, räumte ich ein. »Auf jeden Fall ist dein verbohrtes Festhalten an alten Versprechen keine Tugend. Die Welt verändert sich, und wir müssen uns mit ihr ändern. Du bleibst ein Gefangener der Vergangenheit.« – »Ich würde eher von Treue sprechen.« – »Die Vergangenheit ist vorbei, Max.« – »Die Vergangenheit ist nie vorbei.«

Wir hatten das Chinesische Teehaus erreicht. Auf dem höchsten Punkt der Rotunde thronte ein Mandarin unter einem Sonnenschirm, über einem blaugoldenen, teilweise auf vergoldeten palmenförmigen Säulen ruhenden Vordach. Ich warf einen Blick ins Innere: ein runder Saal, fernöstliche Bilder. Draußen, am Fuß jeder Palmsäule, saßen exotische Figuren, auch sie vergoldet. »Was für eine Verrücktheit«, meinte ich. »Davon haben die Großen der Welt also einmal geträumt. Etwas lächerlich.« – »Nicht lächerlicher als die Obsessionen der Mächtigen von heute«, antwortete sie ruhig. »Ich mag dieses Jahrhundert sehr. Es ist das einzige, von dem sich wenigstens sagen lässt, dass es kein Jahrhundert des Glaubens war.« – »Von Watteau bis Robespierre«, erwiderte ich ironisch. Sie verzog das Gesicht: »Robespierre ist schon 19. Jahrhundert. Fast ein deutscher Romantiker. Hast du noch immer diese Vorliebe für die französische Musik – Rameau, Forqueray, Couperin?« Mein Gesicht verdüsterte sich, ihre Frage hatte mich jäh an Jakow erinnert, den kleinen jüdischen Pianisten in Shitomir. »Ja«, antwortete ich schließlich. »Aber ich habe schon lange keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu hören.« – »Berndt spielt sie von Zeit zu Zeit. Vor allem Rameau. Er sagt, er sei nicht schlecht, es gebe Klavierstücke, die fast mit Bach mithalten könnten.« – »Das finde ich auch.« Fast die gleiche Unterhaltung hatte ich mit Jakow geführt. Ich sagte nichts mehr. Wir waren am Ende des Parks angekommen; wir machten kehrt und bogen wie auf ein geheimes Zeichen in Richtung Friedenskirche und Ausgang ab. »Und du?«, fragte ich. »Bist du glücklich in deinem pommerschen Nest?« – »Ja, ich bin glücklich.« – »Langweilst du dich nicht? Du musst dich dort doch manchmal einsam fühlen.« Wieder sah sie mich lange an, bevor sie antwortete: »Ich brauche nichts.« Dieser Satz ließ mich innerlich erstarren. Wir fuhren mit dem Bus bis zum Bahnhof. Während wir auf den Zug warteten, kaufte ich mir den Völkischen Beobachter; Una lachte, als sie mich mit der Zeitung zurückkommen sah. »Warum lachst du?« – »Ich musste an einen Witz von Berndt denken. Er nennt den VB das Verblödungsblatt.« Finster erwiderte ich: »Er sollte aufpassen, was er sagt.« – »Mach dir keine Sorgen. Er ist kein Dummkopf, und seine Freunde sind intelligente Menschen.« – »Ich mach mir keine Sorgen, ich warne dich nur, das ist alles.« Ich betrachtete die erste Seite: Abermals hatten die Briten Köln bombardiert, es hatte zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben. Ich zeigte ihr den Artikel: »Diese Luftmörder schämen sich wirklich nicht«, sagte ich. »Sie behaupten, die Freiheit zu verteidigen, und dann bringen sie Frauen und Kinder um.« – »Wir auch, wir bringen auch Frauen und Kinder um«, antwortete sie leise. Ihre Worte beschämten mich, doch augenblicklich verwandelte sich meine Scham in Wut: »Wir töten unsere Feinde, um unser Land zu verteidigen.« – »Auch sie verteidigen ihr Land.« – »Sie bringen unschuldige Zivilisten um!« Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, aber sie blieb ruhig. »Die Menschen, die ihr exekutiert, hatten auch nicht alle eine Waffe in der Hand, als sie gefasst wurden. Auch ihr habt Kinder getötet.« Die Wut erstickte mich, ich konnte es ihr nicht erklären; der Unterschied schien mir auf der Hand zu liegen, aber sie spielte die Eigensinnige, tat so, als verstünde sie es nicht. »Du nennst mich einen Mörder!«, rief ich aus. Sie nahm mich bei der Hand: »Aber nein. Beruhige dich.« Ich rauchte eine Zigarette, dann stiegen wir in den Zug. Wie auf der Hinfahrt schaute sie auf den vorbeifliegenden Grunewald, und während ich sie ansah, glitt ich, langsam zunächst, dann mit schwindelerregendem Tempo, in die Erinnerung an unsere letzte Begegnung ab. Das war 1934 gewesen, kurz nach unserem einundzwanzigsten Geburtstag. Endlich frei, hatte ich meiner Mutter angekündigt, dass ich Frankreich verlassen würde; auf der Reise nach Deutschland machte ich einen Umweg über Zürich; ich nahm ein Zimmer in einem kleinen Hotel und suchte Una auf, die dort studierte. Sie war überrascht, mich zu sehen. Trotzdem wusste sie bereits über den Auftritt in Paris mit Moreau und meiner Mutter und über meine Entscheidung Bescheid. Ich führte sie zum Abendessen in ein recht bescheidenes, aber ruhiges Restaurant. Es gefalle ihr in Zürich, erklärte sie mir, sie habe Freunde und Jung sei ein fantastischer Mensch. Bei diesen letzten Worten sträubte sich alles in mir, es musste etwas in ihrem Ton gewesen sein, aber ich sagte nichts. »Und du?«, fragte sie mich. Da berichtete ich ihr von meinen Hoffnungen, meiner Immatrikulation in Kiel, auch von meinem Eintritt in die NSDAP (der bereits auf meine zweite Reise nach Deutschland im Jahr 1932 zurückging). Sie hörte mir zu, während sie dem Wein zusprach; ich trank auch, aber langsamer. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich deine Begeisterung für diesen Hitler teile«, meinte sie. »Er kommt mir neurotisch vor, voller ungelöster Komplexe, Frustrationen und gefährlicher Ressentiments.« – »Wie kannst du so was sagen!« Ich erging mich in einer langen Tirade. Doch ihr Gesicht wurde missmutig und verschlossen. Ich verstummte, während sie sich ein neues Glas einschenkte, und ergriff ihre Hand auf dem karierten Tischtuch. »Una, das ist das, was ich tun will, was ich tun muss. Unser Vater ist Deutscher. Meine Zukunft ist Deutschland, nicht das verkommene französische Bürgertum.« – »Vielleicht hast du Recht. Aber ich habe Angst, dass du bei diesen Menschen deine Seele verlierst.« Der Zorn trieb mir das Blut ins Gesicht, ich schlug auf den Tisch. »Una!« Es war das erste Mal, dass ich in diesem Ton mit ihr sprach. Durch die Erschütterung fiel ihr Glas um, rollte über den Tisch, zersprang zu ihren Füßen und hinterließ eine Rotweinpfütze. Ein Kellner kam mit Scheuertuch und Besen herbeigelaufen, und Una, die bis dahin mit gesenktem Blick dagesessen hatte, schaute mich an. Ihr Blick war klar, fast durchscheinend. »Weißt du, ich habe endlich Proust gelesen. Erinnerst du dich an diese Stelle über die zerbrochene Vase?« Klopfenden Herzens zitierte ich: »Sie soll etwas sein wie im Tempel das Symbol der unzerstörbaren Einheit.« Sie hob die Hand. »Nein, nein, Max. Du begreifst gar nichts, hast nie etwas begriffen.« Sie war rot im Gesicht, sie hatte offenbar viel getrunken. »Du hast das immer viel zu ernst genommen. Das waren Spiele, Kinderspiele. Wir waren Kinder.« Mir brannten die Augen, die Brust wurde mir eng. Ich bemühte mich, meine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. »Du täuschst dich, Una. Du hast nichts begriffen.« Sie trank wieder. »Werd endlich erwachsen, Max.« Damals waren wir seit sieben Jahren getrennt. »Niemals«, stieß ich hervor, »niemals.« Und dieses Versprechen habe ich gehalten, selbst wenn sie es mir nicht zu danken wusste.

Im Zug, auf der Rückfahrt von Potsdam, betrachtete ich sie, beherrscht von dem Gefühl des Verlustes, als wäre ich untergegangen und nie wieder aufgetaucht. Und sie, woran dachte sie? Ihr Gesicht hatte sich seit jenem Abend in Zürich nicht verändert, nur ein wenig voller war es geworden; aber es blieb mir verschlossen, unzugänglich; dahinter verbarg sich ein anderes Leben. Wir fuhren durch die eleganten Wohngebiete von Charlottenburg; dann kamen Zoo und Tiergarten. »Weißt du«, sagte ich, »dass ich seit meiner Ankunft in Berlin noch nicht im Zoo gewesen bin.« – »Dabei magst du doch Zoos so gern.« – »Ja. Ich müsste da mal spazieren gehen.« Wir stiegen am Lehrter Bahnhof aus, und ich brachte sie mit einem Taxi zum Wilhelmplatz. »Willst du mit mir zu Abend essen?«, fragte ich sie am Portal des Kaiserhofs. – »Gern«, antwortete sie, »aber jetzt muss ich zu Berndt.« Wir vereinbarten, uns in zwei Stunden wiederzutreffen, und ich kehrte in mein Hotel zurück, um zu baden und mich umzuziehen. Ich fühlte mich erschöpft. Ihre Worte vermischten sich mit meinen Erinnerungen, meine Erinnerungen mit meinen Träumen und meine Träume mit meinen aberwitzigsten Gedanken. Ich rief mir ihr grausames Shakespeare-Zitat ins Gedächtnis: War auch sie ins Lager meiner Mutter übergelaufen? Das war sicherlich der Einfluss ihres Mannes, des baltischen Barons. Wütend sagte ich mir: Sie hätte Jungfrau bleiben müssen wie ich. Die Unlogik dieses Gedankens ließ mich in Gelächter ausbrechen, in ein langes, hemmungsloses Gelächter; gleichzeitig war mir nach Weinen zumute. Zur verabredeten Zeit fand ich mich im Kaiserhof ein. Una traf mich in der Eingangshalle, zwischen ausladenden bequemen Sesseln und kleinen Topfpalmen; sie trug die gleiche Kleidung wie am Nachmittag. »Berndt ruht«, sagte sie. Auch sie war müde, und wir beschlossen, im Hotel zu essen. Seit die Restaurants wieder geöffnet waren, schrieb eine neue Verordnung von Goebbels vor, den Gästen Feldküchengerichte anzubieten – aus Solidarität mit den Soldaten an der Front; während der Oberkellner uns das erklärte, haftete sein Blick auf meinen Orden und Ehrenzeichen, und mein Gesichtsausdruck brachte ihn ins Stottern; Unas fröhliches Lachen beendete seine Verlegenheit: »Ich glaube, mein Bruder hat sie schon zur Genüge gegessen.« – »Ja, gewiss«, beeilte er sich zu versichern. »Wir haben außerdem Wild aus dem Schwarzwald. An einer Zwetschensoße. Sehr zu empfehlen.« – »Sehr schön«, sagte ich, »und französischen Wein.« – »Burgunder zum Wild?« Während des Essens sprachen wir über alles Mögliche und mieden das, was uns am meisten interessierte. Ich erzählte ihr wieder von Russland, nicht von den Schrecken, sondern den menschlicheren Erfahrungen: vom Tode Hanikas und vor allem Vossens: »Du hast ihn gern gemocht.« – »Ja, er war ein feiner Kerl.« Sie erzählte von den Matronen, die ihr seit ihrer Ankunft in Berlin auf die Nerven gingen. Sie hatte mit ihrem Mann einen Empfang und einige mondäne Abendessen besucht. Dort zogen die Frauen der Parteibonzen über die Fahnenflüchtigen an der Gebärfront her, die kinderlosen Frauen, die mit ihrem Bauchstreik Verrat an der Natur begingen. Sie lachte: »Natürlich hatte niemand die Unverfrorenheit, mich direkt anzugreifen, weil jeder sehen kann, in welchem Zustand sich Berndt befindet. Zum Glück, denn ich hätte sie geohrfeigt. Aber sie kamen um vor Neugier, strichen um mich herum, wagten aber nicht, mich offen zu fragen, ob es noch klappt.« Wieder lachte sie und trank einen Schluck Wein. Ich sagte nichts, hatte ich mir doch die gleiche Frage gestellt. »Stell dir vor, eine dicke diamantenbehängte Gauleitergattin mit bläulicher Dauerwelle hatte sogar die Frechheit, mir anzubieten, sie werde mir – falls es sich als notwendig erweise – einen schönen SS-Mann für meine Befruchtung suchen. Einen Mann – wie hat sie sich noch mal ausgedrückt? –, der anständig, langköpfig, Träger eines völkischen Willens und gesund an Körper und Seele sei. Sie hat mir erklärt, es gebe eine SS-Dienststelle, die sich mit rassenhygienischer Hilfe dieser Art beschäftige und an die ich mich getrost wenden könne. Stimmt das?« – »Ich habe so was läuten hören. Es ist ein Projekt des Reichsführers und nennt sich Lebensborn. Aber ich weiß nicht, wie das abläuft.« – »Sie sind wirklich krank. Bist du sicher, dass es nicht einfach ein Bordell für SS-Männer und Frauen aus besseren Kreisen ist?« – »Nein, nein, das ist es nicht.« Skeptisch wiegte sie den Kopf. »Jedenfalls wird dir die Schlusspointe gefallen: Vom Heiligen Geist werden Sie bestimmt kein Kind bekommen, hat sie zu mir gesagt. Ich musste mich zusammennehmen, um nicht zu antworten, dass ich mir keinen SS-Mann vorstellen könnte, der patriotisch genug wäre, um sie zu schwängern.« Wieder lachte sie und trank. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt, aber fast eine ganze Flasche Wein allein geleert; trotzdem blieb ihr Blick klar, sie war nicht betrunken. Zum Dessert schlug uns der Kellner Pampelmuse vor: Seit Kriegsbeginn hatte ich keine mehr gegessen. »Sie kommen aus Spanien«, erläuterte er. Una wollte keine; sie sah mir zu, wie ich meine schälte und probierte; ich gab ihr einige leicht gezuckerte Stücke zu kosten. Dann brachte ich sie in die Eingangshalle zurück. Ich betrachtete sie, auf der Zunge hatte ich immer noch den süßen Geschmack der Pampelmuse: »Schlaft ihr in einem Zimmer?« – »Nein«, antwortete sie, »das wäre zu kompliziert.« Sie zögerte, berührte dann meinen Handrücken mit ihren ovalen Fingernägeln: »Wenn du möchtest, komm auf ein Glas mit rauf. Aber keine Dummheiten, hörst du? Danach gehst du.« Auf ihrem Zimmer legte ich meine Mütze ab und setzte mich in einen Sessel. Una zog die Schuhe aus und ging auf Seidenstrümpfen über den Teppich, um mir einen Kognak einzugießen; dann setzte sie sich mit gekreuzten Beinen aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. »Ich wusste gar nicht, dass du rauchst.« – »Von Zeit zu Zeit«, erwiderte sie, »wenn ich trinke.« Ich fand sie schöner als alles auf der Welt. Ich erzählte ihr von meiner Absicht, einen Posten in Frankreich anzunehmen, und von den Schwierigkeiten, auf die ich stieß. »Du solltest Berndt fragen«, sagte sie. »Er hat viele hochrangige Freunde bei der Wehrmacht, Kameraden aus dem Weltkrieg. Vielleicht kann er etwas für dich tun.« Diese Worte entfachten wieder meine unterdrückte Wut: »Berndt! Du redest von nichts anderem.« – »Beruhige dich, Max. Er ist mein Mann.« Ich stand auf und ging mit raschen Schritten im Zimmer hin und her. »Das ist mir scheißegal! Er ist ein Eindringling, er soll sich gefälligst nicht zwischen uns drängen.« – »Max.« Sie blieb ruhig, ihr Blick gelassen. »Er steht nicht zwischen uns. Das Uns, von dem du sprichst, gibt es nicht, gibt es nicht mehr, das hat sich aufgelöst. Berndt ist mein Leben, mein tägliches Leben, das musst du endlich begreifen.« Meine Wut hatte sich so sehr mit meinem Verlangen vermischt, dass ich nicht mehr wusste, wo das eine begann und das andere endete. Ich trat zu ihr und fasste sie an beiden Armen: »Küss mich!« Sie schüttelte den Kopf; zum ersten Mal sah ich einen harten Blick an ihr. »Fang nicht wieder an!« Ich fühlte mich schlecht, bekam keine Luft; völlig gebrochen ließ ich mich neben ihr Bett fallen, den Kopf auf ihren Knien wie auf einem Richtblock. »In Zürich hast du mich geküsst«, schluchzte ich. »In Zürich bin ich betrunken gewesen.« Sie rückte ein Stück zur Seite und klopfte mit der Hand auf die Bettdecke. »Komm, leg dich neben mich.« Immer noch gestiefelt und gespornt, kletterte ich zu ihr ins Bett und rollte mich an ihren Beinen zusammen. Ich glaubte, sie durch die Strümpfe zu riechen. Sie strich mir übers Haar. »Mein armer kleiner Bruder«, murmelte sie. Unter Tränen lachend, brachte ich hervor: »So nennst du mich, weil du eine Viertelstunde vor mir geboren bist, weil sie dir den roten Faden ums Handgelenk gebunden haben.« – »Ja, aber es gibt noch einen anderen Unterschied: Ich bin jetzt eine Frau, und du bist ein kleiner Junge geblieben.« In Zürich war es anders gelaufen. Sie hatte viel getrunken, ich hatte getrunken. Nach dem Essen waren wir hinausgegangen. Draußen war es kalt, und sie fröstelte. Da sie ein bisschen torkelte, fasste ich sie unter dem Arm, und sie hakte sich bei mir ein. »Komm mit zu mir«, hatte ich zu ihr gesagt, »in mein Hotel.« Mit etwas belegter Stimme hatte sie protestiert: »Sei nicht dumm, Max. Wir sind keine Kinder mehr.« – »Komm!«, hatte ich nachgehakt. »Nur ein bisschen reden.« Aber wir waren in der Schweiz, und selbst in einem solchen Hotel machten die Angestellten Schwierigkeiten: »Tut mir leid, mein Herr. Nur Hotelgäste dürfen auf die Zimmer. Sie können in die Bar gehen, wenn Sie möchten.« Una wollte die angegebene Richtung einschlagen, aber ich hielt sie zurück. »Nein. Ich mag nicht unter Menschen. Lass uns zu dir gehen.«

Sie widersetzte sich nicht und führte mich in ihre Studentenbude – klein, vollgestopft mit Büchern, eisig kalt. »Warum heizt du nicht?«, fragte ich und kratzte den Ofen aus, um ein Feuer zu machen. Sie zuckte die Achseln und zeigte mir eine Flasche Weißwein, Fendant aus dem Wallis. »Das ist alles, was ich habe. Ist er dir recht?« – »Alles ist mir recht.« Ich öffnete die Flasche und füllte zwei Gläser, die sie lachend hielt, bis zum Rand. Sie trank, dann setzte sie sich aufs Bett. Ich war angespannt, verkrampft; ich ging zum Tisch und entzifferte die Rückentitel der aufeinandergestapelten Bücher. Die meisten Namen kannte ich nicht. Wahllos griff ich eines heraus. Una sah es und lachte wieder, ein schrilles Lachen, das mir durch Mark und Bein ging. »Ah, Rank! Rank ist gut.« – »Wer ist das?« – »Ein ehemaliger Schüler von Freud und ein Freund von Ferenczi. Hat ein schönes Buch über den Inzest geschrieben.« Ich wandte mich zu ihr um und blickte sie an. Sie hörte auf zu lachen. »Warum sagst du dieses Wort?«, fragte ich sie schließlich. Sie zuckte die Achseln und hielt mir ihr Glas hin. »Hör mit deinen Dummheiten auf«, sagte sie. »Gieß mir lieber noch Wein ein.« Ich legte das Buch fort und ergriff die Flasche: »Das sind keine Dummheiten.« Sie zuckte erneut die Achseln. Ich schenkte ihr nach, und sie trank. Ich näherte mich ihr, die Hand ausgestreckt, um ihr dichtes Haar zu berühren, ihr schönes schwarzes Haar. »Una …« Sie schob meine Hand fort. »Hör auf, Max!« Sie schwankte etwas, und ich schob ihr die Hand unter das Haar, streichelte ihr die Wange, den Hals. Sie versteifte sich, stieß die Hand aber nicht mehr zurück, trank wieder. »Was willst du, Max?« – »Ich möchte, dass alles wieder ist wie vorher«, sagte ich mit klopfendem Herzen. »Das ist unmöglich.« Sie klapperte ein bisschen mit den Zähnen, trank erneut. »Schon vorher war es nicht wie vorher. Ein Vorher hat es nie gegeben.« Sie fantasierte, die Augen geschlossen. »Gib mir noch Wein.« – »Nein.« Ich nahm ihr das Glas weg und beugte mich vor, um sie auf die Lippen zu küssen. Heftig stieß sie mich zurück, dabei verlor sie das Gleichgewicht und fiel rücklings aufs Bett. Ich stellte ihr Glas ab und näherte mich ihr. Sie rührte sich nicht, ihre bestrumpften Beine hingen zum Bett hinaus, der Rock war ihr über die Knie hinaufgerutscht. Das Blut pochte mir in den Schläfen, ich war verstört, in diesem Augenblick liebte ich sie mehr als jemals zuvor, mehr noch als im Bauch unserer Mutter, und sie, sie musste mich ebenfalls lieben, so und auf ewig. Ich beugte mich über sie, sie wehrte sich nicht.

Ich musste eingeschlafen sein; als ich aufwachte, war das Zimmer dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, in Zürich oder Berlin. Die schwarzen Verdunklungsvorhänge ließen kein Licht durch. Verschwommen nahm ich eine Gestalt neben mir wahr: Una war unter die Bettdecke gekrochen und schlief. Lange lauschte ich ihren leisen gleichmäßigen Atemzügen. Unendlich langsam strich ich ihr dann eine Haarsträhne vom Ohr und beugte mich über ihr Gesicht. So verharrte ich, ohne sie zu berühren, nur den Duft ihrer Haut und ihren noch leicht nach Zigaretten riechenden Atem einsaugend. Schließlich stand ich auf, ging leise über den Teppich und verließ das Zimmer. Auf der Straße bemerkte ich, dass ich meine Mütze vergessen hatte, aber ich ging nicht wieder hinauf, sondern bat den Portier, mir ein Taxi zu rufen. In meinem Hotelzimmer stürmten die Erinnerungen weiter auf mich ein und nährten meine Schlaflosigkeit, doch jetzt waren es brutale, verstörende, abscheuliche Erinnerungen. Als Erwachsene besichtigten wir eine Art museale Folterkammer; dort gab es alle möglichen Peitschen, Zangen, eine »Eiserne Jungfrau« und, im letzten Raum, eine Guillotine. Beim Anblick dieses Geräts wurde meine Schwester hochrot im Gesicht: »Ich will mich da drunterlegen.« Der Raum war leer; ich ging zum Wärter und steckte ihm einen Geldschein zu. »Hier, lassen Sie uns zwanzig Minuten allein.« – »In Ordnung, mein Herr«, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns. Ich schloss die Tür und hörte, wie er den Schlüssel herumdrehte. Una hatte sich schon auf der Wippe ausgestreckt; ich öffnete die Lünette, ließ sie den Kopf hineinlegen und schloss sie um ihren langen Hals, nachdem ich sorgsam ihr schweres Haar hochgehoben hatte. Sie keuchte. Mit meinem Gürtel band ich ihr die Hände hinterm Rücken zusammen, dann schlug ich ihr den Rock hoch. Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe, ihr den Schlüpfer herunterzuziehen, sondern schob das Spitzengewebe einfach zur Seite und zog mit beiden Händen die Gesäßbacken auseinander: In der Spalte, zwischen den Härchen versteckt, zog sich ihr Anus langsam zusammen. Ich spuckte darauf. »Nein«, protestierte sie. Ich holte meinen Schwanz heraus, legte mich über sie und drang ein. Sie stieß einen langen unterdrückten Schrei aus. Ich lastete mit meinem ganzen Gewicht auf ihr; infolge der unbequemen Stellung – die Hose fesselte meine Beine – konnte ich mich nur ruckweise bewegen. Über die Lünette gebeugt, meinen eigenen Hals unter dem Fallbeil, flüsterte ich ihr zu: »Ich zieh den Hebel, ich lass das Beil fallen.« Sie flehte mich an: »Bitte, fick meine Muschi, bitte.« – »Nein.« Unvermittelt kam es mir, eine Erschütterung, die mir den Kopf leerte, wie man mit einem Löffel ein weich gekochtes Ei aus der Schale kratzt. Aber diese Erinnerung täuscht mich vielleicht, seit unserer Kindheit hatten wir uns nur ein einziges Mal gesehen, eben in Zürich, und in Zürich gab es keine Guillotine; sicherlich ist es ein Traum, vielleicht ein alter Traum, an den ich mich in meiner Verwirrung, allein in dem dunklen Zimmer des Hotels Eden, erinnerte, oder sogar auch ein Traum, den ich in dieser Nacht geträumt habe, während eines kurzen Schlafs, den ich gar nicht bemerkt habe. Ich war wütend, denn dieser Tag hatte in mir trotz all meiner Verstörtheit einen Eindruck von Reinheit hinterlassen, und jetzt wurde er von diesen hässlichen Bildern beschmutzt. Das ekelte mich an und beunruhigte mich zugleich, weil ich nun wusste, dass auch das – egal ob Erinnerung, Vorstellung, Fantasie oder Traum – in mir lebte und dass meine Liebe auch daraus bestand.

Am Morgen gegen zehn Uhr klopfte ein Page an meine Tür: »Herr Sturmbannführer, ein Anruf für Sie.« Ich ging hinunter zur Rezeption und nahm den Hörer auf; am anderen Ende der Leitung erklang Unas fröhliche Stimme: »Max! Isst du mit uns zu Mittag? Sag ja. Berndt möchte dich kennenlernen.« – »Einverstanden. Wo?« – »Im Borchardt. Kennst du es? In der Französischen Straße. Um ein Uhr. Wenn du vor uns da bist, nenn unseren Namen, ich habe einen Tisch bestellt.« Ich ging wieder nach oben, rasierte mich und duschte. Da ich meine Mütze nicht mehr hatte, kleidete ich mich in Zivil, mit dem Eisernen Kreuz auf der Brusttasche meines Jacketts. Ich kam zu früh und fragte nach dem Tisch des Freiherrn von Üxküll: Ich wurde an einen etwas abseitsstehenden Tisch geführt und bestellte ein Glas Wein. In mich gekehrt, noch immer traurig wegen der Bilder dieser Nacht, dachte ich an die seltsame Ehe meiner Schwester, an ihren seltsamen Mann. Sie hatten 1938 geheiratet, als ich mein Studium abschloss. Seit der Nacht in Zürich schrieb meine Schwester mir nur noch selten; in diesem Frühjahr hatte ich jedoch einen langen Brief von ihr bekommen. Sie berichtete mir, sie sei im Herbst 1935 sehr krank geworden. Sie habe sich einer Analyse unterzogen, doch ihre Depression habe sich dadurch nur noch verschlimmert, daraufhin sei sie zur Erholung in ein Sanatorium bei Davos geschickt worden. Sie sei mehrere Monate geblieben und habe dort Anfang 1936 einen Mann kennengelernt, einen Komponisten. Seither hätten sie sich regelmäßig wiedergesehen und wollten nun heiraten. Ich hoffe, du freust dich für mich, schrieb sie.

Dieser Brief hatte mich für mehrere Tage völlig aus der Bahn geworfen. Ich ging nicht mehr zur Universität, verließ mein Zimmer nicht, blieb im Bett liegen, mit dem Gesicht zur Wand. Na also, sagte ich mir, darauf läuft es eben hinaus. Sie erzählen dir was von Liebe, doch bei der erstbesten Gelegenheit, bei der Aussicht auf eine gute Partie, hopp!, legen sie sich auf den Rücken und machen die Beine breit. Meine Bitterkeit war grenzenlos. Das schien mir das unvermeidliche Ende einer alten Geschichte zu sein, die mich unaufhörlich verfolgte: meiner Familiengeschichte, die es von jeher, oder fast von jeher, hartnäckig darauf angelegt hatte, jede Spur von Liebe in meinem Leben zu vernichten. Noch nie hatte ich mich so allein gefühlt. Als ich mich ein wenig erholt hatte, schrieb ich ihr einen steifen, höflichen Brief, in dem ich ihr gratulierte und viel Glück wünschte.

Zu der Zeit begann meine Freundschaft mit Thomas, wir waren schon per Du, und ich bat ihn, Erkundigungen über ihren Verlobten, Karl Berndt Egon Wilhelm, Freiherr von Üxküll, einzuholen. Dieser deutschbaltische Aristokrat war erheblich älter als sie und obendrein gelähmt. Ich verstand das nicht. Thomas brachte Einzelheiten in Erfahrung: Üxküll hatte sich während des Weltkriegs ausgezeichnet und ihn als Oberst mit dem Pour le Mérite beendet; anschließend hatte er in Kurland ein Regiment der Landeswehr gegen die roten Letten geführt. Dort, auf seinen Gütern, hatte ihn eine Kugel ins Rückgrat getroffen, und von der Tragbahre aus hatte er, bevor er zum Rückzug gezwungen war, Feuer an den Stammsitz seiner Familie legen lassen, damit die Bolschewiken ihn nicht mit ihren Ausschweifungen und ihrer Scheiße besudeln. Seine Akte beim SD war ziemlich umfangreich: Ohne direkt als Opponent zu gelten, war er offenbar bestimmten Behörden ein Dorn im Auge. In der Weimarer Republik hatte er es als Komponist moderner Musik zu europäischem Ruhm gebracht, wurde zu einem Freund und Bewunderer Schönbergs und hatte mit Musikern und Schriftstellern in der Sowjetunion korrespondiert. Nach der Machtergreifung hatte er außerdem Strauss’ Angebot zum Eintritt in die Reichsmusikkammer abgelehnt, was praktisch das Ende seiner öffentlichen Karriere bedeutete; ebenso hatte er sich geweigert, Parteimitglied zu werden. Er lebte zurückgezogen auf dem Gut seiner Familie mütterlicherseits, einem pommerschen Herrenhaus, das er nach der Niederlage der Bermondt-Armee und der Räumung Kurlands als Wohnsitz gewählt hatte. Er verließ es nur, um in der Schweiz zu kuren; die Berichte der Partei und der örtlichen SD-Dienststelle besagten, dass er selten Gäste empfing und noch seltener ausging. Er vermied jeden gesellschaftlichen Verkehr, auch in der näheren Umgebung. »Ein höchst seltsamer Bursche«, meinte Thomas abschließend. »Ein verbitterter und verklemmter Aristokrat, ein Relikt. Und warum hat deine Schwester einen Krüppel geheiratet? Hat sie einen Krankenschwester-Komplex?« In der Tat, warum? Als ich eine Einladung zur Hochzeit bekommen hatte, die in Pommern gefeiert werden sollte, hatte ich meine Studien vorgeschoben. Wir waren damals fünfundzwanzig Jahre alt, und ich hatte das Gefühl, dass alles, was wirklich unser gewesen war, starb. Das Restaurant füllte sich: Ein Kellner schob Üxküll im Rollstuhl herein, und Una trug meine Mütze unter dem Arm. »Hier!«, sagte sie fröhlich und küsste mich auf die Wange. »Die hast du vergessen.« – »Ja, danke«, sagte ich und spürte, dass ich rot wurde. Ich gab Üxküll die Hand; während der Kellner einen Stuhl fortnahm, erklärte ich etwas feierlich: »Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron.« – »Ganz meinerseits, Herr Sturmbannführer, ganz meinerseits.« Una schob ihn an seinen Platz, und ich wählte den Stuhl ihm gegenüber; Una setzte sich zwischen uns. Üxküll hatte ein strenges Gesicht, sehr schmale Lippen, das graue Haar im Bürstenschnitt. Doch seine braunen Augen erschienen manchmal überraschend heiter, von Lachfältchen umgeben. Er war einfach gekleidet, in einem Anzug aus grauem Wollstoff, mit Strickkrawatte, ohne Orden und mit einem goldenen Siegelring als einzigem Schmuck, den ich bemerkte, als er seine Hand auf die Unas legte: »Was möchtest du trinken, meine Liebe?« – »Wein.« Una wirkte sehr fröhlich, glücklich; ich fragte mich, ob sie sich dazu zwang. Üxkülls Steifheit dagegen schien vollkommen natürlich zu sein. Der Wein kam, und Üxküll fragte mich nach meiner Verwundung und Genesung. Er trank, während er mir zuhörte, aber sehr langsam, in kleinen Schlucken. Da ich nicht recht wusste, was ich sagen sollte, fragte ich ihn, ob er seit seiner Ankunft in Berlin schon im Konzert gewesen sei. »Es gibt nichts, was mich interessiert«, erwiderte er. »Dieser junge Karajan gefällt mir nicht besonders. Er ist noch zu sehr von sich eingenommen, zu anmaßend.« – »Dann ist Ihnen Furtwängler also lieber?« – »Furtwängler hat nur selten Überraschungen zu bieten. Aber er ist sehr zuverlässig. Leider lässt man ihn keine Mozartopern mehr dirigieren, obwohl er das am besten kann. Offenbar war Lorenzo Da Ponte ein Halbjude und die Zauberflöte eine Freimaureroper.« – »Glauben Sie das nicht?« – »Vielleicht, aber zeigen Sie mir einen einzigen deutschen Opernbesucher, der von sich aus darauf kommen würde. Meine Frau hat mir gesagt, dass Sie alte französische Musik mögen?« – »Ja, vor allem die Instrumentalmusik.« – »Sie haben einen guten Geschmack. Rameau und der große Couperin werden noch immer vernachlässigt. Es gibt nach wie vor musikalische Schätze für die Viola da Gamba aus dem 17. Jahrhundert; sie sind noch unerforscht, aber ich habe einige Handschriften zu Gesicht bekommen. Ganz herrlich. Doch das frühe 18. Jahrhundert Frankreichs ist wahrhaftig ein Höhepunkt. Solche Musik können wir heute nicht mehr schreiben. Die Romantiker haben alles verdorben, wir bemühen uns noch immer, uns davon wieder zu befreien.« – »Du weißt, dass Furtwängler gerade in dieser Woche dirigiert hat«, unterbrach ihn Una. »Im Admiralspalast. Mit dieser Tiana Lemnitz, die gar nicht so schlecht ist. Aber wir sind nicht hingegangen. Es gab Wagner, und Berndt mag Wagner nicht.« – »Das ist sehr vorsichtig ausgedrückt«, sagte dieser. »Ich verabscheue ihn. Technisch sind ihm einige höchst ungewöhnliche Entdeckungen gelungen, wirklich neue, objektiv wichtige Dinge, aber all das verliert sich in Pathos, Megalomanie und plumper Manipulation von Gefühlen, wie der größte Teil der deutschen Musik seit 1815. Sie ist für Leute geschrieben, deren wichtigster musikalischer Bezugspunkt im Grunde genommen immer noch die Militärkapelle ist. Wagners Partituren zu lesen fasziniert mich, aber ich kann ihn nicht hören.« – »Gibt es denn keinen deutschen Komponisten, der Gnade vor Ihren Augen findet?« – »Nach Mozart und Beethoven? Einige Stücke von Schubert, stellenweise Mahler. Und eigentlich bin ich da schon wieder viel zu nachsichtig. Im Grunde genommen gibt es nur Bach … Und heute natürlich Schönberg.« – »Verzeihung, Herr Baron, aber es erscheint mir doch etwas fragwürdig, Schönbergs Musik als deutsche Musik zu bezeichnen.« – »Junger Mann«, erwiderte von Üxküll kalt, »versuchen Sie nicht, mich den Antisemitismus zu lehren. Ich war schon antisemitisch, da waren Sie noch gar nicht geboren, trotzdem bin ich altmodisch genug, um zu glauben, dass das Sakrament der Taufe in der Lage ist, vom Makel des Judentums reinzuwaschen. Schönberg ist ein Genie, das größte seit Bach. Wenn die Deutschen ihn nicht wollen, ist das ihr Problem.« Una brach in ein helles Lachen aus: »Sogar der VB nennt Berndt noch immer einen der größten Vertreter der deutschen Kultur. Doch wäre er Schriftsteller, wäre er entweder mit Schönberg und den Manns in den Vereinigten Staaten oder in Sachsenhausen.« – »Ist das der Grund, warum Sie seit zehn Jahren nichts zur Aufführung gebracht haben?«, fragte ich. Von Üxküll fuhr mit der Gabel durch die Luft, während er antwortete: »Zunächst einmal, weil ich kein Mitglied der Musikkammer bin, darf ich es gar nicht. Und ich weigere mich, meine Musik im Ausland zu spielen, wenn ich sie nicht in meinem Heimatland zu Gehör bringen darf.« – »Und warum treten Sie der Kammer nicht bei?« – »Aus Prinzip. Wegen Schönberg. Als sie ihn aus der Akademie geworfen haben und er Deutschland verlassen musste, haben sie mir seinen Platz angeboten: Ich habe sie zum Teufel gejagt. Strauss hat mich persönlich aufgesucht. Er hatte gerade den Platz von Bruno Walter eingenommen, einem hervorragenden Dirigenten. Ich habe ihm gesagt, er solle sich schämen, das sei eine Regierung aus Verbrechern und verbitterten Proletariern, die sich nicht lange halten werde. Im Übrigen haben sie Strauss zwei Jahre später wegen seiner jüdischen Schwiegertochter rausgeschmissen.« Ich rang mir ein Lächeln ab: »Ich möchte mich nicht auf eine politische Diskussion einlassen. Aber wenn ich Sie so reden höre, begreife ich nicht ganz, wie Sie sich für einen Antisemiten halten können.« – »Ganz einfach«, erwiderte von Üxküll hochmütig. »Ich habe gegen die Juden und die Roten in Kurland und im Memelgebiet gekämpft. Ich bin dafür eingetreten, die Juden von deutschen Universitäten und aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen. Ich habe auf die Gesundheit der Männer getrunken, die Rathenau getötet haben. Aber mit der Musik ist es etwas anderes. Es genügt, die Augen zu schließen und zuzuhören, um sogleich zu wissen, ob sie gut oder schlecht ist. Das hat nichts mit dem Blut zu tun, und alle große Musik ist gleich viel wert, egal, ob sie deutsch, französisch, englisch, italienisch, russisch oder jüdisch ist. Meyerbeer ist nichts wert, nicht weil er Jude war, sondern weil er nichts wert ist. Und Wagner, der Meyerbeer hasste, weil er Jude war und weil er ihm geholfen hatte, ist nach meinem Geschmack kaum besser.« – »Wenn Max seinen Kameraden erzählt, was du hier von dir gibst«, sagte Una lachend, »wirst du Ärger kriegen.« – »Du hast mir gesagt, er sei ein intelligenter Mensch«, erwiderte er, wobei er sie ansah. »Und ich pflege dir aufs Wort zu glauben.« – »Ich bin kein Musiker«, sagte ich, »und daher ist es für mich ein wenig schwierig, Ihnen zu antworten. Was ich bisher von Schönberg habe hören können, fand ich unerträglich. Aber eines ist sicher: Sie befinden sich gewiss nicht im Einklang mit der Stimmung in Ihrer Heimat.« – »Junger Mann«, gab er mit einem Achselzucken zurück, »das liegt auch nicht in meiner Absicht. Ich mische mich schon lange nicht mehr in staatliche Angelegenheiten ein, und ich erwarte im Gegenzug, dass der Staat sich nicht in meine einmischt.« Man hat nicht immer die Wahl, wollte ich antworten, verkniff es mir aber.

Gegen Ende der Mahlzeit hatte ich, von Una gedrängt, Üxküll von meinem Wunsch nach einem Posten in Frankreich erzählt. Una hatte hinzugefügt: »Kannst du ihm nicht helfen?« Üxküll hatte überlegt: »Ich kann es versuchen. Meine Freunde bei der Wehrmacht hegen allerdings keine besonders freundlichen Gefühle für die SS.« Das wurde mir allmählich auch klar, und ich sagte mir gelegentlich, dass Blobel, als er in Charkow so die Fassung verloren hatte, im Grunde Recht gehabt hatte. Alle meine Versuche schienen in einer Sackgasse zu enden: Best hatte mir zwar seine Festgabe geschickt, aber Frankreich mit keinem Wort erwähnt; Thomas versuchte mir Mut zuzusprechen, erreichte aber nichts für mich. Und ich, der ich vollkommen von der Gegenwart meiner Schwester und den Gedanken an sie in Anspruch genommen war, unternahm überhaupt keine Anstrengung mehr, ich versank in meinem Kummer, erstarrt, versteinert, eine traurige Salzsäule an den Ufern des Toten Meeres. An diesem Abend waren meine Schwester und ihr Mann zu einem Empfang eingeladen, Una schlug mir vor mitzukommen. Ich lehnte ab, ich wollte sie so nicht sehen: unter leichtfertigen, arroganten betrunkenen Aristokraten, die Champagner schlürften und Witze rissen über alles, was mir heilig war. Ich war mir sicher, unter diesen Leuten würde ich mir ohnmächtig, linkisch, wie ein Bauerntölpel vorkommen; ihre Sarkasmen würden mich verletzen und meine ängstliche Befangenheit mich daran hindern, ihnen zu antworten; ihre Welt war Menschen wie mir verschlossen, und sie verstanden sich gut darauf, das auch deutlich zu machen. Ich verkroch mich in meinem Zimmer und versuchte, die Festgabe durchzublättern, die Worte ergaben aber keinen Sinn. Da überließ ich mich der süßen Verführung törichter Illusionen: Von Gewissensbissen gepackt, verließ Una die Abendgesellschaft, kam in mein Hotel, öffnete die Tür, lächelte mir zu, und mit einem Schlag stand die Vergangenheit wieder wie befreit vor mir. All das war vollkommen idiotisch, und ich wusste es, aber je mehr Zeit verstrich, desto gründlicher gelang es mir, mich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich so geschehen würde, hier und jetzt. Ich saß im Dunkeln auf dem Sofa, bei jedem Geräusch auf dem Flur, bei jedem Läuten des Fahrstuhls machte mein Herz einen Satz, ich wartete. Doch es war immer eine andere Tür, die sich öffnete und schloss, und die Verzweiflung stieg wie schwarzes Wasser, wie das kalte, erbarmungslose Wasser, das die Ertrinkenden umhüllt und ihnen den Atem, die kostbare Luft des Lebens, raubt. Am folgenden Tag reisten Una und Üxküll in die Schweiz ab.

Am Morgen, kurz bevor sie in den Zug stieg, rief sie mich an. Ihre Stimme war sanft, zärtlich, warm. Das Gespräch war kurz, ich achtete nicht recht auf das, was sie sagte, sondern lauschte dieser Stimme, das Ohr an den Hörer gepresst, verloren in meiner Verzweiflung. »Wir können uns wiedersehen«, sagte sie, »du kannst uns besuchen kommen.« – »Warten wir es ab«, antwortete der andere, der durch meinen Mund sprach. Die Übelkeit überfiel mich wieder, ich glaubte, mich übergeben zu müssen, krampfhaft schluckte ich meinen Speichel hinunter, atmete durch die Nase und konnte den Anfall unterdrücken. Dann hängte sie ein, und ich war wieder allein.

 

Schließlich war es Thomas doch gelungen, mir einen Termin bei Schulz zu besorgen. »Da die Sache nicht richtig vorankommt, ist es, denke ich, einen Versuch wert. Geh rücksichtsvoll mit ihm um.« Das kostete mich keine sonderliche Mühe: Schulz, ein kleiner, schmächtiger Mann, der in seinen Schnurrbart nuschelte und einen tiefen Schmiss quer über den Mund hatte, drückte sich so gewunden aus, dass es manchmal schwer war, ihm zu folgen; unablässig in meiner Akte blätternd, ließ er mich kaum zu Wort kommen. Es gelang mir, etwas über mein Interesse an der Außenpolitik des Reiches einzuflechten, doch er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Gespräch ergab sich lediglich, dass man sich höheren Ortes für mich interessierte und nach Abschluss meines Genesungsurlaubs weitersehen werde. Das war wenig ermutigend, und Thomas bestätigte meine Auffassung: »Die da unten müssen dich für einen konkreten Posten anfordern. Sonst schickt man dich wer weiß wohin, nach Bulgarien vielleicht. Gut, da ist es ruhig, aber der Wein ist nicht besonders.« Best hatte mir vorgeschlagen, mich mit Knochen in Verbindung zu setzen, doch Thomas’ Worte hatten mich auf eine bessere Idee gebracht: Schließlich hatte ich Urlaub, nichts zwang mich, in Berlin zu bleiben.

Ich nahm den Nachtexpress und kam kurz nach Morgengrauen in Paris an. Die Kontrollen bereiteten keine Schwierigkeiten. Vor dem Bahnhof nahm ich voll Freude den blassen grauen Stein, die Hektik der Straßen in mich auf, wegen der Sprit-Rationierung waren nur wenige Kraftfahrzeuge unterwegs, aber die Fahrbahnen waren mit Zwei- und Dreirädern verstopft, zwischen denen sich die deutschen Autos nur mühsam einen Weg bahnen konnten. Von der Heiterkeit angesteckt, betrat ich das erstbeste Café und trank, an der Theke stehend, einen Kognak. Ich trug Zivil, und niemand hatte Grund, mich für etwas anderes als einen Franzosen zu halten, was mir ein seltsames Vergnügen bereitete. Langsam schlenderte ich zum Montmartre hinauf und quartierte mich in einem kleinen, unauffälligen Hotel ein, an der Flanke der Butte, oberhalb von Pigalle; ich kannte diese Gegend: Die Zimmer waren einfach und sauber und der Wirt ohne jede Neugier, was mir gefiel. Am ersten Tag wollte ich niemanden sehen. Ich ging spazieren. Es war April, der Frühling war überall zu ahnen, im zarten Blau des Himmels, den Knospen und Blüten, die sich auf den Zweigen zeigten, und in einer gewissen Ausgelassenheit oder zumindest Beschwingtheit in den Schritten der Menschen. Ich wusste, das Leben war hart in Paris, der gelbliche Teint vieler Gesichter verriet den Nahrungsmangel. Trotzdem schien sich seit meinem letzten Besuch nichts verändert zu haben, abgesehen vom Verkehr und den Graffiti: Auf den Wänden las man jetzt Stalingrad oder 1918, meist abgewaschen und manchmal durch 1763 ersetzt, ganz gewiss ein geistreicher Einfall unserer Dienste. Ich schlenderte zur Seine hinab und stöberte bei den Bouquinisten an den Quais: Zu meiner Überraschung verkauften sie neben Céline, Drieu, Mauriac, Bernanos oder Montherlant auch ganz offen Kafka, Proust und sogar Thomas Mann; solche Laxheit schien an der Tagesordnung zu sein. Fast alle Händler hatten ein Exemplar von Rebatets im Vorjahr erschienenen Buch Les décombres vorliegen: Ich blätterte es aus Neugier durch, verschob den Kauf aber auf später. Am Ende entschied ich mich für eine Aufsatzsammlung von Maurice Blanchot, einem Kritiker der NRF, von dem ich vor dem Krieg einige Artikel gelesen hatte, die mir gefallen hatten; es waren broschierte Fahnen, die vermutlich von einem Journalisten weiterverkauft worden waren; der Titel lautete Faux pas; der Bouquinist erklärte mir, die Veröffentlichung des Buchs sei wegen Papiermangels verschoben worden, wobei er mir versicherte, das sei das beste Buch, das in letzter Zeit geschrieben worden sei, es sei denn, mir gefiele Sartre, was er von sich nicht behaupten könne (ich hatte bis dahin noch nie von Sartre gehört). Auf der Place Saint-Michel setzte ich mich auf eine Caféterrasse in der Nähe des Brunnens und bestellte ein Sandwich und ein Glas Wein. Der Vorbesitzer des Buchs hatte nur den ersten Druckbogen aufgeschnitten; ich ließ mir ein Messer bringen, und während ich auf das Sandwich wartete, schnitt ich die restlichen Seiten auf, ein langsames, friedliches Ritual, das ich immer genoss. Das Papier war von miserabler Qualität; ich musste aufpassen und durfte nicht zu ungeduldig sein, um die Blätter nicht zu zerreißen. Nachdem ich gegessen hatte, ging ich zum Luxembourg hinauf. Ich hatte von jeher eine Schwäche für diesen kalten geometrischen lichten Park, der von einer stillen Geschäftigkeit erfüllt ist. Um den großen Kreis des zentralen Wasserbeckens, auf den strahlenförmig auseinanderlaufenden Wegen, zwischen den noch kahlen Bäumen und Beeten überall Menschen, die gingen, liefen, sich unterhielten, lasen oder sich mit geschlossenen Augen von der blassen Sonne bräunen ließen – ein fortwährendes friedliches Geraune. Ich setzte mich auf einen Metallstuhl, dessen grüne Farbe abblätterte, und las einige zufällig ausgewählte Essays, zunächst den über Orest, der im Übrigen eher von Sartre handelte; der hatte offenbar ein Stück geschrieben, in dem er sich der Figur des unseligen Muttermörders bediente, um seine Ideen über die Freiheit des Menschen im Verbrechen darzulegen; Blanchot kritisierte ihn harsch, und ich musste ihm Recht geben. Vor allem aber gefiel mir ein Artikel über Moby Dick, in dem Blanchot von diesem unmöglichen Buch sprach, das einen Abschnitt meiner Jugend geprägt hatte, von diesem schriftlichen Äquivalent des Universums, geheimnisvoll wie ein Werk, das den ironischen Charakter eines Rätsels bewahrt und sich nur in den Fragen offenbart, die es aufwirft. Um ehrlich zu sein, ich verstand nicht viel von dem, was er da geschrieben hatte. Aber es weckte in mir die Sehnsucht nach einem Leben, das ich hätte führen können: die Freude am freien Spiel der Gedanken und der Sprache, statt der drückenden Strenge des Gesetzes; glücklich ließ ich mich auf die verschlungenen Wege dieser bedächtigen, geduldigen Gedanken entführen, die sich durch die Ideen gruben, wie sich ein unterirdischer Fluss langsam einen Weg durch den Stein bahnt. Schließlich schloss ich das Buch und nahm meinen Spaziergang wieder auf, zuerst zum Odéon, wo die Parolen auf den Mauern überhandnahmen, dann über den fast leeren Boulevard Saint-Germain zur Nationalversammlung. Jeder dieser Orte weckte ganz bestimmte Erinnerungen in mir, an die Jahre in den Vorbereitungsklassen und an die Zeit danach an der ELSP; ich musste damals ziemlich aufgewühlt gewesen sein, und ich erinnerte mich an meinen rasch wachsenden Hass auf Frankreich, doch aus der Rückschau erschienen mir diese Erinnerungen abgemildert, fast glücklich – in ein heiteres, sicherlich entstellendes Licht getaucht. Ich setzte meinen Weg in Richtung der Esplanade des Invalides fort, wo Passanten sich versammelt hatten, um den Arbeitern zuzuschauen, die mit Zugpferden den Rasen für den Gemüsebau umpflügten; etwas weiter, in der Nähe eines leichten Panzers tschechischer Herkunft mit aufgemaltem Balkenkreuz, spielten Kinder unbeeindruckt Ball. Dann ging ich über den Pont Alexandre III. Am Grand Palais kündigten Plakate zwei Ausstellungen an: eine mit dem Titel Warum hat der Jude den Krieg gewollt?, die andere eine Sammlung griechischer und römischer Kunstwerke. Ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, meine antisemitische Erziehung zu vervollkommnen, aber die Antike reizte mich, ich kaufte mir eine Karte und ging hinein. Es wurden zahlreiche herrliche Exponate gezeigt, die meisten vermutlich Leihgaben aus dem Louvre. Lange bewunderte ich die kalte, ruhige, unmenschliche Schönheit eines Apollo mit Kithara aus Pompeji, eine große, mittlerweile grünlich verfärbte Bronzestatue. Er hatte einen zierlichen Leib, noch nicht ganz ausgebildet, mit dem Geschlecht eines Kindes und schmalen runden Gesäßbacken. Ich ging von einem Ende der Ausstellung zum anderen, kehrte aber ständig zu dem Apollo zurück: Seine Schönheit faszinierte mich. Das hätte einfach ein anmutiger banaler Jüngling sein können, doch der Grünspan schälte ihm die Haut in großen Stücken ab, was ihm eine verblüffende Tiefe verlieh. Ein Detail fiel mir besonders auf: Egal, aus welchem Blickwinkel ich seine Augen ansah, die ganz realistisch auf die Bronze gemalt waren, er blickte mir nie in die Augen; es war unmöglich, seinen Blick aufzufangen, diesen verschwommenen Blick, der sich in der Leere seiner Ewigkeit verlor. Der metallische Aussatz ließ Gesicht, Brust und Hintern anschwellen, fraß seine linke Hand fast ganz auf, die eigentlich das verschwundene Instrument hätte halten sollen. Sein Gesicht wirkte oberflächlich, fast blasiert. Bei seinem Anblick packte mich das Verlangen, die unbändige Lust, ihn zu lecken; er aber zerfiel vor meinen Augen in stiller unendlicher Gemächlichkeit. Danach mied ich die Champs-Élysées und ging durch die ruhigen Gassen des 8. Arrondissements, dann ging ich langsam wieder zum Montmartre empor. Es wurde Abend, die Luft roch gut. Im Hotel empfahl mir der Wirt ein kleines Schwarzmarktrestaurant, in dem ich ohne Lebensmittelmarken essen konnte: »Da verkehrt übles Gesindel, aber die Küche ist gut.« Die Gäste schienen tatsächlich vor allem Kollaborateure und Schwarzmarktschieber zu sein; ich bekam Bandnudeln mit Schalotten und grünen Bohnen, dazu eine Karaffe guten Bordeaux; zum Dessert gab es eine Tarte Tatin mit Crème fraîche und, höchster Luxus, echten Bohnenkaffee. Doch der Apollo im Grand Palais hatte andere Gelüste in mir geweckt. Ich stieg nach Pigalle hinunter und suchte eine kleine Bar auf, die ich gut kannte. An der Theke bestellte ich mir einen Kognak und wartete. Es dauerte nicht lange, und ich nahm den Kellner mit ins Hotel. Unter seiner Mütze hatte er wüste Locken; der leichte Flaum, der seinen Bauch bedeckte, verdichtete sich auf seiner Brust zu braunen Locken; seine matte Haut weckte meinen Mund und Arsch zu wilder Lust. Er war so, wie ich sie mag, schweigsam und gefügig. Mein Arsch öffnete sich für ihn wie eine Blüte, und als er endlich eindrang, wuchs eine Kugel aus weißem Licht am unteren Ende meines Rückgrats, kletterte mir langsam den Rücken hoch und löschte den Kopf aus. An diesem Abend hatte ich mehr denn je das Gefühl, unmittelbar mit meiner Schwester verbunden zu sein, sie mir einzuverleiben, ob es ihr passte oder nicht. Was unter den Händen und dem Schwanz dieses unbekannten Burschen in meinem Körper geschah, wühlte mich auf. Als es vorbei war, schickte ich ihn fort, schlief aber nicht ein, sondern blieb auf dem zerwühlten Bettzeug liegen, nackt und hingestreckt wie ein Kind, das vom Glück überwältigt ist.

 

Am nächsten Tag ging ich in der Redaktion von Je Suis Partout vorbei. Alle meine Pariser Freunde arbeiteten dort oder bewegten sich in deren Umkreis. Das reichte weit zurück. Als ich mit siebzehn Jahren nach Paris kam, um meine Vorbereitungsklassen zu absolvieren, kannte ich niemanden. Ich besuchte das Gymnasium Janson-de-Sailly als Internatsschüler; Moreau hatte mir einen kleinen Monatswechsel zugestanden, unter der Bedingung, dass ich gute Noten hatte, und ich war relativ frei; nach dem Albtraum der drei letzten Kerkerjahre hätte es weniger gebraucht, um mir zu Kopf zu steigen. Trotzdem fühlte ich mich gut und machte keine Dummheiten. Nach dem Unterricht ging ich an die Seine, um bei den Bouquinisten zu stöbern; dort traf ich auch meine Kameraden in einer kleinen Kneipe des Quartier Latin, wo wir gewöhnlichen Rotwein tranken und die Welt neu erfanden. Doch diese Klassenkameraden erschienen mir ziemlich langweilig. Fast alle kamen sie aus dem Großbürgertum und bereiteten sich blindlings darauf vor, in die Fußstapfen ihrer Väter zu treten. Sie hatten Geld und früh gelernt, wie die Welt funktionierte und welcher Platz ihnen darin gebührte: der an der Spitze. Arbeitern gegenüber empfanden sie nichts als Verachtung – oder Furcht; die Gedanken, die ich von meiner ersten Reise nach Deutschland mitgebracht hatte, dass die Arbeiter ebenso ein Teil des Volkes seien wie die Bürger, dass die Gesellschaftsordnung harmonisch zum Vorteil aller gestaltet werden müsse und nicht nur den Interessen einiger weniger Besitzender dienen dürfe, dass die Arbeiter sich nicht unterdrückt fühlen dürften, sondern dass ihnen stattdessen Gelegenheit zu einem Leben in Würde und ein Platz innerhalb dieser Ordnung gewährt werden müsse, um sie gegen die Verlockungen des Bolschewismus zu feien – das alles blieb ihnen fremd. Ihre politischen Ansichten waren ebenso engstirnig wie ihre Vorstellungen von bürgerlicher Wohlanständigkeit, daher erschien es mir sinnlos, mit ihnen über den Faschismus oder den deutschen Nationalsozialismus zu diskutieren (der gerade, im September jenes Jahres, einen überwältigenden Wahlsieg errungen hatte und zur zweitstärksten Partei des Landes geworden war, was Schockwellen durch das Europa der Sieger gesandt hatte) oder ihnen die Ideen der Jugendbewegung nahezubringen, wie sie Hans Blüher predigte. Freud war für sie (wenn sie denn überhaupt von ihm gehört hatten) ein Erotomane, Spengler ein verrückter und vergrübelter Preuße, Jünger ein Kriegstreiber, der gefährlich mit dem Bolschewismus flirtete, und selbst Péguy war ihnen verdächtig. Nur einige Stipendiaten aus der Provinz schienen etwas anders zu sein, daher gab ich mich vor allem mit ihnen ab. Einer dieser Jungen, Antoine F., hatte einen älteren Bruder an der ENS, an der ich einst auch hatte studieren wollen, und er war es auch, der mich zum ersten Mal in diese Kneipe führte, wo wir Grog tranken und über Nietzsche und Schopenhauer diskutierten, den ich gerade mit seinem Bruder und seinen Zimmergenossen entdeckte. Dieser Bertrand F. war ein carré, das heißt ein Student im zweiten Jahr; die schönsten thurnes mit Sofas, Stichen an den Wänden und Öfen waren zumeist im Besitz der cubes, der Studenten im dritten Jahr. Eines Tages, als ich an einem solchen Zimmer vorbeikam, bemerkte ich eine griechische Inschrift auf dem Türbalken: »In dieser thurne arbeiten sechs Schöne und Gute (hex kaloi kagathoi) – und ein gewisser anderer (kai tis allos).« Die Tür war offen, ich stieß sie ganz auf und fragte auf Griechisch: »Und wer ist dieser andere?« Ein junger Mann mit rundem Gesicht hob seine dicken Brillengläser von seinem Buch und erwiderte in der gleichen Sprache: »Ein Hebräer, der kein Griechisch kann. Und wer bist du?« – »Auch ein anderer, aber aus besserem Holz geschnitzt als dein Hebräer: ein Deutscher.« – »Ein Deutscher, der Griechisch kann?« – »Welche Sprache wäre besser, um mit einem Franzosen zu sprechen?« Er brach in schallendes Gelächter aus und stellte sich vor: Es war Robert Brasillach. Ich erzählte ihm, dass ich in Wahrheit Halbfranzose sei und seit 1924 in Frankreich lebe; er fragte mich, ob ich inzwischen schon einmal nach Deutschland zurückgekehrt sei, und ich berichtete ihm von meiner Reise im Sommer; schon bald unterhielten wir uns über den Nationalsozialismus. Aufmerksam hörte er sich meine Beschreibungen und Erklärungen an. »Komm wieder vorbei, wenn du Lust hast«, sagte er zum Schluss. »Ich habe Freunde, die dich bestimmt gern kennenlernen würden.« Durch ihn entdeckte ich eine andere Welt, die nichts mit der der künftigen Staatsbeamten zu tun hatte. Diese jungen Menschen diskutierten eindringlich über ihre Vorstellungen von der Zukunft ihres Landes und Europas und untermauerten sie mit fundierten historischen Kenntnissen. Ihre Gedanken und Interessen erstreckten sich in alle Richtungen. Zusammen mit seinem späteren Schwager Maurice Bardèche hatte Brasillach ein leidenschaftliches Interesse fürs Kino entwickelt und machte mich mit ihm vertraut, mit den Filmen nicht nur von Chaplin oder René Clair, sondern auch von Eisenstein, Lang, Pabst, Dreyer. Er nahm mich mit in die Redaktionsräume der Action française und in ihre Druckerei in der Rue Montmartre, ein schönes schmales Haus mit einer Renaissancetreppe, in dem die Rotationsmaschinen dröhnten. Einige Male sah ich Maurras, er kam erst spät, gegen elf Uhr abends, halb taub, verbittert, aber immer bereit, sein Herz und seine Galle gegen die Marxisten, die Bourgeois, die Republikaner und die Juden auszuschütten. Brasillach stand damals vollkommen unter seinem Einfluss, doch Maurras’ sturer Hass auf Deutschland bildete für mich ein unüberwindliches Hindernis, ein Thema, über das Robert und ich uns häufig stritten. Wenn es Hitler gelänge, an die Macht zu kommen, so beteuerte ich, wenn er die deutschen Arbeiter mit der Mittelschicht vereinen und damit die rote Gefahr endgültig bannen könnte, wenn Frankreich das Gleiche täte und wenn es die beiden Länder mit vereinten Kräften schafften, den verderblichen Einfluss der Juden zu beseitigen, dann würde das zugleich nationalistische und sozialistische Herz Europas zusammen mit Italien einen unbesiegbaren Interessenblock bilden. Stattdessen aber verzettelten sich die Franzosen mit ihrem Krämergeist und ihrem rückständigen Revanchismus. Natürlich werde Hitler die ungerechten Bedingungen von Versailles vom Tisch fegen, das sei eine historische Notwendigkeit; doch wenn es die gesunden Kräfte Frankreichs zustande brächten, die verkommene Republik und ihre jüdischen Drahtzieher zu beseitigen, dann wäre eine deutsch-französische Allianz nicht mehr nur eine Möglichkeit, sondern eine unvermeidliche Realität, eine neue europäische Entente, die den britischen Plutokraten und Imperialisten die Flügel schon stutzen und binnen Kurzem in der Lage sein werde, den Bolschewisten die Stirn zu bieten und Russland in das Konzert der zivilisierten europäischen Mächte zurückzuholen (wie man sieht, hatte meine Reise nach Deutschland meiner intellektuellen Erziehung erheblich auf die Sprünge geholfen; Moreau wäre entsetzt gewesen, hätte er gewusst, welchen Nutzen ich aus seinem Geld zog). Im Allgemeinen teilte Brasillach meine Meinung: »Ja«, sagte er, »die Nachkriegszeit ist schon zu Ende. Wir müssen uns beeilen, wenn wir einen weiteren Krieg vermeiden wollen. Er wäre eine Katastrophe, das Ende der europäischen Kultur, der Triumph der Barbarei.« Die meisten Jünger Maurras’ dachten wie er. Einer ihrer glänzendsten und sarkastischsten Köpfe war Lucien Rebatet, der unter dem Namen François Vinneuil für die Literatur- und Filmkritik der Action française zuständig war. Er war zehn Jahre älter als ich, doch wir schlossen unter dem Eindruck seiner Sympathie für Deutschland rasch Freundschaft. Außerdem waren da noch Maxence, Blond, Jacques Talagrand – der spätere Thierry Maulnier –, Jules Supervielle und viele andere. Wir trafen uns in der Brasserie Lipp, wenn jemand bei Kasse war, wenn nicht, in einer Studentenkneipe des Quartier Latin. Mit Feuereifer diskutierten wir über Literatur und versuchten eine »faschistische« Literatur zu definieren: Rebatet schlug Plutarch, Corneille, Stendhal vor. »Der Faschismus ist die Poesie des 20. Jahrhunderts«, verkündete Brasillach eines Tages, und ich konnte ihm nur beipflichten: Faschist, fascio, Faszination (später, klüger oder vorsichtiger geworden, behauptete er allerdings das Gleiche vom Kommunismus).

Im Frühjahr 1932, als ich meine Aufnahmeprüfung bestand, beendeten die meisten meiner ENS-Freunde ihr Studium; nach dem Sommer zerstreuten sie sich über ganz Frankreich, die einen, um ihren Militärdienst abzuleisten, die anderen, um eine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Ich verbrachte meine Ferien wieder in Deutschland, das damals in wildem Aufruhr war: Die Produktion der deutschen Wirtschaft war gegenüber 1929 um die Hälfte zurückgegangen, und Brüning regierte mit Hindenburgs Unterstützung durch Notverordnungen. Diese Situation konnte nicht von Dauer sein. Auch andernorts war die herrschende Ordnung ins Wanken geraten. In Spanien war die Monarchie durch ein Komplott von Freimaurern, Revolutionären und Pfaffen gestürzt worden. Amerika war fast am Boden. In Frankreich waren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise weniger zu spüren, aber auch dort war die Lage nicht rosig, und die Kommunisten setzten ihre Wühlarbeit heimlich und beharrlich fort. Ohne es jemandem zu sagen, beantragte ich die Aufnahme in die (für Reichsdeutsche geschaffene) Auslandsorganisation der NSDAP, die rasch bewilligt wurde. Als ich im Herbst mein Studium an der ELSP begann, traf ich mich weiterhin mit meinen Freunden von der École Normale und der Action française, die zum Wochenende regelmäßig nach Paris kamen. Meine Kommilitonen waren mehr oder weniger vom gleichen Schlag wie meine Schulkameraden am Janson, doch zu meiner Überraschung fand ich die Kurse interessant. Zu der Zeit, sicher unter dem Einfluss von Rebatet und seinem neuen Freund Louis Destouches, der damals noch kaum bekannt war (Reise ans Ende der Nacht war gerade erst erschienen, die begeisterte Aufnahme beschränkte sich auf die Zirkel der Eingeweihten, und Céline gefiel sich noch darin, mit den jungen Leuten zu verkehren), begann auch meine leidenschaftliche Liebe zur französischen Klaviermusik, die gerade wiederentdeckt und gespielt wurde; mit Céline besuchte ich die Konzerte von Marcelle Meyer; bitterer denn je bereute ich die Faulheit und den Leichtsinn, die mich bewogen hatten, das Klavier so rasch aufzugeben. Nach Neujahr forderte Reichspräsident Hindenburg Hitler auf, eine Regierung zu bilden. Meine Kommilitonen zitterten, meine Freunde warteten ab, ich frohlockte. Doch während meine Partei die Roten vernichtete, den Abschaum der Plutokratie beiseitefegte und schließlich die bürgerlichen Parteien auflöste, saß ich in Frankreich fest. Da fand, vor unseren Augen, in unserer Epoche, eine echte nationale Revolution statt, und ich konnte sie nur aus der Ferne, in Zeitungen und Wochenschauen, verfolgen. Auch in Frankreich brodelte es. Viele fuhren hinüber, um die Geschehnisse an Ort und Stelle zu beobachten, und alle schrieben und träumten von einem ähnlichen Wiedererstarken ihres Landes. Sie suchten Kontakt zu Deutschen, den neuen Repräsentanten des offiziellen Deutschlands, die sich eine französisch-deutsche Annäherung wünschten; Brasillach machte mich mit Otto Abetz bekannt, einem Mitarbeiter Ribbentrops (der in dieser Zeit noch außenpolitischer Berater der Partei war): Seine Ansichten unterschieden sich nicht von denen, die ich seit meiner ersten Deutschlandreise vertrat. Doch für viele blieb Maurras ein Hindernis; nur die Intelligentesten erkannten, dass es an der Zeit war, seine hypochondrischen Prophezeiungen zu überwinden, und selbst die konnten sich seinem Charisma und der von ihm ausgehenden Faszination kaum entziehen und zögerten. Zur gleichen Zeit offenbarte die Affäre Stavisky vor aller Augen die kriminellen Machenschaften und die Korruptheit der Mächtigen und gab der Action française eine moralische Autorität zurück, die sie seit 1918 nicht mehr besessen hatte. All das endete am 6. 2. 1934. In Wahrheit war es eine undurchsichtige Angelegenheit: Wir waren auch auf der Straße, außer mir noch Antoine F. (der sein Studium an der ELSP zur selben Zeit wie ich aufgenommen hatte), Blond, Brasillach und einige andere. Auf den Champs-Élysées hörten wir undeutlich Schüsse; ein Stück weiter unten, auf der Höhe der Place de la Concorde, rannten Menschen. Den Rest der Nacht verbrachten wir damit, durch die Straßen zu marschieren und Parolen zu intonieren, wenn wir anderen jungen Leuten begegneten. Erst am nächsten Tag hörten wir, dass es Tote gegeben hatte. Maurras, auf den sich instinktiv alle Blicke gerichtet hatten, hatte sofort die Flinte ins Korn geworfen. Die ganze Aktion war ein Windei gewesen. »Inaction française«, schäumte Rebatet, der Maurras das nie verzieh. Mir war das egal: Meine Entscheidung nahm Formen an, ich sah für mich keine Zukunft mehr in Frankreich.

In der Redaktion des Je Suis Partout stieß ich ausgerechnet auf Rebatet. »Sieh da! Ein Gespenst.« – »Wie du siehst«, erwiderte ich. »Es scheint, als wärst du jetzt berühmt.« Er breitete die Arme aus und verzog das Gesicht: »Ich versteh das nicht. Dabei habe ich mir doch das Hirn zermartert, um bei meinen Beschimpfungen ja niemanden zu vergessen. Anfangs hat das auch geklappt: Grasset wollte das Buch nicht bringen, weil ich zu viele Freunde des Hauses beleidigt hatte, wie es hieß, und Gallimard bestand auf einschneidenden Kürzungen. Schließlich hat’s dieser Belgier angenommen, du erinnerst dich, der Céline gedruckt hat? Das Ergebnis: Er hat ein Vermögen gemacht und ich auch. Als ich im Rive Gauche signierte, hätte man glauben können, ich wäre ein Filmstar. Im Grunde haben es nur die Deutschen nicht gemocht.« Er warf mir einen misstrauischen Blick zu: »Hast du’s gelesen?« – »Noch nicht, ich warte, bis du es mir schenkst. Warum? Beschimpfst du mich auch?« Er lachte: »Nicht so, wie du’s verdienst, du elender Boche. Eigentlich haben alle geglaubt, du wärst auf dem Feld der Ehre geblieben. Trinken wir was?« Rebatet hatte etwas später eine Verabredung in der Nähe von Saint-Germain und führte mich ins Flore. »Es macht mir jedes Mal einen Heidenspaß, die blöden Visagen unserer Antifaschisten vom Dienst anzuschauen, vor allem wenn sie mich erblicken.« Tatsächlich zog er, als er eintrat, finstere Blicke auf sich; es standen aber auch mehrere Gäste auf, um ihn zu begrüßen. Lucien genoss seinen Erfolg sichtlich. Er trug einen gut geschnittenen hellen Anzug und eine gepunktete Fliege, die ein wenig schief saß; sein Gesicht unter dem zerzausten Schopf war schmal und beweglich. Er wählte einen etwas abseitsstehenden Tisch auf der rechten Seite, unter den Fenstern, und ich bestellte einen Weißwein. Als er seinen Tabak herausholte, um sich eine Zigarette zu drehen, bot ich ihm eine holländische an, die er gern nahm. Doch selbst wenn er lächelte, behielten seine Augen ihren sorgenvollen Ausdruck. »Dann erzähl mal«, sagte er. Wir hatten uns seit 1939 nicht gesehen, er wusste nur, dass ich bei der SS war. In aller Kürze erzählte ich ihm vom Russlandfeldzug, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Er riss die Augen auf: »Du bist in Stalingrad gewesen? Verdammte Scheiße!« Er warf mir einen seltsamen Blick zu, eine Mischung aus Furcht und Neid vielleicht. »Bist du verwundet worden? Lass mal sehen.« Ich zeigte ihm das Loch, und er stieß einen vielsagenden Pfiff aus: »Da hast du aber verdammtes Schwein gehabt.« Ich erwiderte nichts. »Robert geht bald nach Russland«, fuhr er fort, »mit Jeantet. Aber das ist nicht dasselbe.« – »Was wollen die dort?« – »Es ist eine offizielle Reise. Sie begleiten Doriot und Brinon, sie wollen die französische Freiwilligenlegion inspizieren, in der Nähe von Smolensk, glaube ich.« – »Und wie geht es Robert?« – »Wir sind im Augenblick etwas zerstritten. Er ist ein überzeugter Pétainist geworden. Wenn er so weitermacht, fliegt er noch beim JSP raus.« – »So schlimm?« Er bestellte noch zwei Glas Wein, und ich bot ihm eine weitere Zigarette an. »Hör zu!«, sagte er erbittert. »Du bist schon eine ganze Weile nicht in Frankreich gewesen: Glaub mir, hier hat sich einiges verändert. Sie sind alle wie ausgehungerte Hunde, die sich um den Kadaver der Republik streiten. Pétain ist senil, Laval führt sich schlimmer auf als ein Jude, Déat predigt den Sozialfaschismus, Doriot den Nationalbolschewismus. Eine Hündin fände da ihre eigenen Welpen nicht mehr wieder. Wir hätten einen Hitler gebraucht. Das ist die ganze Tragödie.« – »Und Maurras?« Rebatet verzog angewidert das Gesicht: »Maurras? Der steht jetzt für die Aktion itzig. Ich habe ihn mir in meinem Buch ordentlich vorgenommen; scheint ihn ziemlich umgehauen zu haben. Und noch eins will ich dir sagen: Seit Stalingrad ist hier alles in Auflösung. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Hast du die Wandschmierereien gesehen? Kein Collabo, der nicht einen Résistance-Kämpfer oder einen Juden versteckt hat, als eine Art Lebensversicherung.« – »Hör mal, wir sind noch lange nicht am Ende.« – »Das weiß ich doch. Aber was erwartest du? Die Welt ist feige. Ich habe meine Wahl getroffen und stehe dazu. Wenn das Schiff untergeht, gehe ich mit unter.« – »In Stalingrad habe ich einen Kommissar verhört, der hat Mathilde de la Mole zitiert, erinnerst du dich, aus Rot und Schwarz, ziemlich am Schluss?« Ich wiederholte den Satz für ihn, und er brach in schallendes Gelächter aus: »Wirklich, ein starkes Stück. Hat er es auf Französisch gesagt?« – »Nein, auf Deutsch. Er war ein eingefleischter Bolschewist, ein Aktivist, fabelhafter Kerl. Hätte dir gefallen.« – »Was habt ihr mit ihm gemacht?« Ich zuckte die Achseln. »Entschuldige«, sagte er. »Blöde Frage. Aber er hatte Recht. Weißt du, ich bewundere die Bolschewisten. Da gibt’s keine Schlamperei. Da herrscht Ordnung. Du spurst oder du musst dran glauben. Stalin ist ein ganz außerordentlicher Bursche. Hätt’s den Hitler nicht gegeben, wäre ich vielleicht Kommunist, wer weiß?« Wir tranken einen Schluck, und ich beobachtete das Kommen und Gehen der Leute. An einem Tisch im Hintergrund der Gaststube starrten mehrere Personen Rebatet an und tuschelten, doch ich kannte sie nicht. »Beschäftigst du dich noch immer mit dem Kino?«, fragte ich ihn. »Nicht mehr so sehr. Ich interessiere mich jetzt mehr für die Musik.« – »Ah, ja? Kennst du Berndt von Üxküll?« – »Natürlich. Warum?« – »Er ist mein Schwager. Ich habe ihn neulich kennengelernt.« – »Im Ernst? Was kennst du bloß für Leute! Was macht er?« – »Nichts Besonderes, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Er hat sich in den Schmollwinkel zurückgezogen, auf sein Gut in Pommern.« – »Schade. Er hat gute Sachen gemacht.« – »Ich kenne seine Musik nicht. Wir haben ziemlich heftig über Schönberg diskutiert, den er verteidigt.« – »Das überrascht mich nicht. Kein ernsthafter Komponist könnte anders darüber denken.« – »Was denn? Du ergreifst für ihn Partei?« Er zuckte die Achseln: »Schönberg hat sich nie um Politik gekümmert. Und seine bedeutendsten Schüler, Webern oder Üxküll zum Beispiel, sind doch Arier, oder? In Schönbergs Entdeckung, der Zwölftonreihe, offenbart sich eine Möglichkeit der Töne, die schon immer da war, eine Strenge, die, wenn du so willst, von der Unschärfe des temperierten Tonsystems verborgen wird. Nach ihm kann sich jeder dieser Technik bedienen und mit ihr machen, was er will. Das ist der erste ernsthafte musikalische Fortschritt seit Wagner.« – »Aber ausgerechnet den Wagner kann Üxküll nicht ausstehen.« – »Das ist doch nicht möglich!«, rief er entsetzt aus. »Unmöglich!« – »Und doch ist es wahr.« Und ich wiederholte, was Üxküll dazu gesagt hatte. »Absurd!«, erwiderte Rebatet. »Bach, gewiss … Es gibt nichts, was mit Bach zu vergleichen wäre. Er ist unerreichbar, übermenschlich. Ihm verdanken wir die endgültige Synthese des Horizontalen und des Vertikalen, der harmonischen Architektur mit dem melodischen Schub. Damit beendet er alles, was ihm voranging, und setzt einen Rahmen, dem sich alle, die nach ihm kommen, auf die eine oder andere Weise zu entziehen suchen, bis Wagner ihn endlich sprengt. Wie ist’s möglich, dass ein Deutscher, ein deutscher Komponist zumal, nicht vor Wagner auf den Knien liegt?« – »Und die französische Musik?« Er verzog das Gesicht: »Dein Rameau? Der ist unterhaltsam.« – »Du hast schon mal anders geredet.« – »Man wird erwachsen, oder?« Nachdenklich leerte er sein Glas. Ich dachte einen Augenblick daran, ihm von Jakow zu erzählen, überlegte es mir dann aber anders. »Und was gefällt dir noch an moderner Musik, von Schönberg mal abgesehen?«, fragte ich. »Vieles. Seit dreißig Jahren erlebt die Musik ein Erwachen. Das ist unglaublich interessant. Strawinsky, Debussy, einfach fabelhaft.« – »Und Milhaud, Satie?« – »Sei nicht töricht.« In diesem Augenblick trat Brasillach ein. Rebatet rief ihn quer durch den Raum an: »He, Robert! Schau mal, wer hier ist!« Brasillach musterte uns durch seine dicken runden Brillengläser, winkte uns flüchtig zu und setzte sich an einen anderen Tisch. »Er wird wirklich unausstehlich«, murmelte Rebatet. »Er mag nicht einmal mehr mit einem Boche gesehen werden. Dabei bist du gar nicht in Uniform.« In Wahrheit verhielt es sich etwas anders, wie ich wusste. »Als ich das letzte Mal in Paris war, hatten wir einen kleinen Streit«, sagte ich, um Rebatet zu beruhigen. Eines Abends nach einem Fest, bei dem Brasillach etwas mehr als üblich getrunken hatte, hatte er den Mut gefunden, mich zu sich einzuladen, und ich war ihm gefolgt. Aber er gehörte zu dieser Sorte verklemmter Schwuler, die sich am liebsten feige einen runterholen, während sie ihren Eromenos anschmachten; ich fand das langweilig und sogar ein wenig abstoßend, daher bereitete ich seiner Erregung ziemlich unvermittelt ein Ende. Ich dachte, wir könnten trotzdem Freunde bleiben. Offenbar hatte ich ihn verletzt, ohne es zu merken, und dabei einen besonders wunden Punkt getroffen: Robert hatte sich nie der schmutzigen und bitteren Wirklichkeit der Lust zu stellen vermocht, und er war auf seine Art der große Pfadfinder des Faschismus geblieben. Armer Brasillach! So eilfertig an die Wand gestellt, so rasch erledigt, damit all die braven Leute wieder mit gutem Gewissen ihre alten Positionen einnehmen konnten. Im Übrigen habe ich mich oft gefragt, ob seine Neigungen nicht etwas dazu beigetragen hatten: Die Kollaboration blieb letzten Endes eine Familienangelegenheit, doch die Päderastie, das war noch etwas anderes, für de Gaulle wie für die braven Arbeiter auf der Geschworenenbank. Wie dem auch sei, Brasillach wäre sicherlich lieber für seine Überzeugungen als für seine sexuellen Vorlieben gestorben. Aber hatte nicht er diesen unvergesslichen Satz über die Kollaboration geschrieben: Wir haben mit Deutschland geschlafen, und wir werden das in süßer Erinnerung behalten? Rebatet hatte es, ungeachtet seiner Bewunderung für Julien Sorel, schlauer angestellt: Er bekam seine Verurteilung und die Begnadigung gleich dazu; er wurde kein Kommunist; nach alldem fand er noch die Zeit, eine schöne Geschichte der Musik zu schreiben, und es gelang ihm, ein wenig in Vergessenheit zu geraten.

Als er aufbrach, schlug er mir für den Abend ein Treffen mit Cousteau in der Nähe von Pigalle vor. Im Hinausgehen gab ich Brasillach, der dort mit einer mir unbekannten Frau saß, die Hand; er tat so, als hätte er mich vorher nicht erkannt, und begrüßte mich mit einem Lächeln, allerdings ohne mich seiner Begleiterin vorzustellen. Ich erkundigte mich nach seiner Schwester und seinem Schwager; er fragte mich höflich nach den Lebensbedingungen in Deutschland; vage bekundeten wir unseren beiderseitigen Wunsch nach einem Wiedersehen, ohne einen genauen Termin zu vereinbaren. Ich kehrte in mein Hotelzimmer zurück, zog meine Uniform an, setzte eine kurze Nachricht an Knochen auf und gab sie in der Avenue Foch ab. Dann machte ich mich auf den Rückweg, zog mich erneut um und ging bis zum verabredeten Zeitpunkt spazieren. Rebatet und Cousteau traf ich im Liberty, einer Schwulenkneipe an der Place Blanche. Cousteau, der in dieser Hinsicht völlig unverdächtig war, kannte Tonton, den Wirt, und offenbar mindestens die Hälfte der Tunten, die er duzte; mehrere von ihnen, stolz und bizarr mit ihren Perücken, ihrer Schminke und ihrem Glasschmuck, wechselten Anzüglichkeiten mit ihm und Rebatet, während wir Martinis tranken. »Die da«, erklärte Cousteau und zeigte auf eine, »habe ich die Leichenbestatterin getauft, weil sie ihre Freier zu Tode lutscht.« – »Trottel! Das hast du bei Maxime Du Camp geklaut«, sagte Rebatet und verzog das Gesicht, bevor er sein umfangreiches literarisches Wissen ausbreitete, um ihn zu übertrumpfen. »Und du, mein Süßer, was machst du?«, fragte mich eine der Tunten, die eine Zigarettenspitze von beeindruckender Länge auf mich richtete. »Das ist ein Gestapo-Mann«, meinte Cousteau ironisch. Die Transe legte ihre spitzenbehandschuhten Finger auf den Mund und ließ ein langgezogenes »ooooh …« hören. Aber Cousteau hatte längst eine lange Geschichte über Doriots Bürschchen begonnen, die den deutschen Soldaten in den Pissoirs des Palais-Royal einen bliesen; die Pariser Polizisten, die regelmäßig Razzien in diesen Bedürfnisanstalten durchführten, wie auch in denen der Champs-Élysées, erlebten dort manch böse Überraschung; aber wenn die Präfektur geiferte, schienen sich die Herren im Majestic darüber nur lustig zu machen. Solche zweideutigen Äußerungen flößten mir Unbehagen ein: Was für ein Spiel trieben die beiden? Ich wusste, dass andere Kameraden weniger aufschnitten und mehr taten. Aber beide hatten nicht die geringsten Skrupel, in den Kolumnen von Je Suis Partout anonyme Denunziationen zu veröffentlichen; und wenn jemand nicht das Unglück hatte, Jude zu sein, konnte man immer noch einen Homosexuellen aus ihm machen. Auf diese Art waren etliche Karrieren, wenn nicht gar Leben, vernichtet worden. Ich hatte den Eindruck, Cousteau und Rebatet seien bestrebt, unter Beweis zu stellen, dass ihr revolutionärer Radikalismus über allen Vorurteilen stand (ausgenommen jene, die wissenschaftlich und rassisch waren, was für das gesamte französische Denken gelten sollte); im Grunde genommen ging es auch ihnen – wie den Surrealisten und André Gide, die sie so verabscheuten – nur um das épater le bourgeois, darum, den Spießer vor den Kopf zu stoßen. »Wusstest du, Max«, fragte mich Rebatet, »dass der wohltätige Phallus, den die Römer beim Fest der Liberalia im Frühjahr und zur Weinlese durch die Straßen trugen, Fascinus hieß? Vielleicht hat sich Mussolini daran erinnert.« Ich zuckte die Achseln: All das erschien mir verlogen, eine armselige Theaterinszenierung, während die Menschen überall tatsächlich starben. Ich aber hatte wirklich Lust auf einen Knaben, aber nicht um mit ihm anzugeben, sondern nur wegen der Wärme seiner Haut, des herben Geschmacks seines Schweißes, der Sanftheit seines Geschlechts, das wie ein kleines Tier zwischen seinen Beinen kauerte. Rebatet dagegen hatte Angst vor jedem Schatten, seinem eigenen, dem der Männer, der Frauen, vor der Gegenwart des eigenen Fleisches, vor allem außer vor den abstrakten Ideen, die ihm keinen Widerstand leisten konnten. Mehr denn je sehnte ich mich nach Ruhe, aber die schien mir verwehrt zu sein. Ich scheuerte mir die Haut an der Welt auf wie an zersprungenem Glas; ich hörte nicht auf, sehenden Auges Angelhaken zu verschlucken, und war dann erstaunt, wenn ich mir die Eingeweide zum Munde herausriss.

Meine Unterhaltung mit Helmut Knochen am nächsten Tag verstärkte dieses Gefühl noch. Er empfing mich mit einer merkwürdigen Mischung aus demonstrativer Kameraderie und herablassender Überheblichkeit. Als er noch für den SD gearbeitet hatte, war ich ihm außerhalb des Dienstes nicht begegnet; sicherlich hatte er davon gehört, dass ich mich häufig mit Best traf (aber vielleicht war das damals schon keine Empfehlung mehr). Wie dem auch sei, ich berichtete ihm, dass ich Best in Berlin getroffen hätte, und Knochen erkundigte sich nach ihm. Ich erwähnte auch, dass ich wie er unter Dr. Thomas gedient hätte; daraufhin fragte er mich nach meinen Erfahrungen in Russland, wobei er mich versteckt den Abstand zwischen uns spüren ließ: zwischen ihm, dem Standartenführer, der für ein ganzes Land zuständig war, und mir, einem Rekonvaleszenten mit ungewisser Zukunft. Er hatte mich in seinem Dienstzimmer empfangen, an einem Couchtisch, auf dem eine Vase mit Trockenblumen stand; er hatte sich aufs Sofa gesetzt, die langen, in Breeches steckenden Beine übereinandergeschlagen, und mich in einem zu niedrigen kleinen Sessel Platz nehmen lassen: Wie ich saß, verdeckte mir sein Knie fast sein Gesicht und den leeren Blick seiner Augen. Ich wusste nicht, wie ich das Thema ansprechen sollte, das mir am Herzen lag. Schließlich improvisierte ich auf gut Glück, dass ich ein Buch über die künftigen internationalen Beziehungen Deutschlands vorbereiten würde, wobei ich die Ideen ausschmückte, die ich beim Durchblättern der Festgabe für Best aufgeklaubt hatte (und je länger ich sprach, desto mehr begeisterte ich mich für die Idee und war am Ende selbst überzeugt, dass ich tatsächlich die Absicht hatte, ein Buch zu schreiben, das Aufsehen erregen und meine Zukunft sichern würde). Knochen hörte höflich zu und nickte ab und an mit dem Kopf. Schließlich erwähnte ich beiläufig, ich dächte daran, einen Posten in Frankreich anzunehmen, um konkrete Erfahrungen zu sammeln, die meine Kenntnisse der russischen Verhältnisse ergänzen könnten. »Hat man Ihnen irgendetwas angeboten?«, fragte er mit einem Anflug von Neugier. »Ich bin nicht auf dem Laufenden.« – »Noch nicht, Standartenführer, das ist noch nicht entschieden. Im Grunde ist es kein Problem, doch es müsste ein Posten frei werden oder geschaffen werden.« – »Bei mir ist im Augenblick leider nichts frei. Sehr schade, die Stelle des Beauftragten für jüdische Angelegenheiten war im Dezember frei, ist aber inzwischen wieder besetzt.« Ich zwang mich zu einem Lächeln: »An so etwas habe ich auch nicht gedacht.« – »Trotzdem, mir scheint, Sie haben auf diesem Gebiet viel Erfahrung gesammelt. Und die Judenfrage hat in Frankreich erhebliche Bedeutung für unsere diplomatischen Beziehungen zu Vichy. Allerdings haben Sie einen viel zu hohen Dienstgrad: Das ist bestenfalls eine Stelle für einen Hauptsturmführer. Und bei Abetz? Sind Sie schon bei ihm gewesen? Wenn ich mich richtig entsinne, pflegten Sie persönliche Kontakte zu den Pariser Protofaschisten. Das dürfte den Botschafter interessieren.«

Ich fand mich auf dem breiten Bürgersteig der fast verlassenen Avenue Foch in einem Zustand tiefer Mutlosigkeit wieder. Ich hatte das Gefühl, vor einer Wand zu stehen, die weich, ungreifbar, fließend und doch so unüberwindlich wie eine hohe Mauer aus Naturstein war. Am oberen Ende der Avenue verdeckte der Arc de Triomphe noch die Morgensonne und warf lange Schatten auf das Pflaster. Zu Abetz gehen? Gewiss, ich hätte mich auf unsere kurze Begegnung im Jahr 1933 berufen oder mir von jemandem aus dem Umfeld von Je Suis Partout eine Empfehlung geben lassen können. Aber ich hatte nicht den Mut. Ich dachte an meine Schwester in der Schweiz: Vielleicht würde mir eine Verwendung in der Schweiz guttun? Ich würde sie von Zeit zu Zeit wiedersehen können, wenn sie ihren Mann ins Sanatorium begleitete. Aber es gab praktisch keine SD-Posten in der Schweiz, die Leute rissen sich darum. Sicherlich hätte Dr. Mandelbrod für Frankreich wie für die Schweiz alle Hindernisse aus dem Weg räumen können; aber Dr. Mandelbrod hegte, wie ich begriffen hatte, eigene Pläne in Bezug auf meine Person.

Ich ging ins Hotel zurück, zog mir Zivil an und suchte den Louvre auf. Dort zumindest fühlte ich mich, umgeben von diesen unbeweglichen und heiteren Gestalten, etwas ruhiger. Lange saß ich vor dem Christus in seinem Grabe von Philippe de Champaigne; vor allem aber fesselte mich ein kleines Bild von Watteau, Der Gleichgültige: eine für ein Fest ausstaffierte Figur, die sich tänzelnd vorwärts bewegt, fast im Entrechat, die Arme ausgestreckt, als erwarte sie den ersten Ton einer Ouvertüre, effiminiert, aber mit einem deutlich erkennbaren Steifen unter der pistaziengrünen Seide und einer undefinierbaren, fast verlorenen Traurigkeit im Gesicht, als hätte sie bereits alles vergessen und versuche nicht einmal mehr, sich zu erinnern, warum und für wen sie so posiere. Das schien mir ein höchst scharfsinniger Kommentar zu meiner eigenen Situation zu sein, da passte alles bis auf den Titel, der einen Kontrapunkt setzte: Gleichgültig? Nein, gleichgültig war ich nicht, ich brauchte nur an dem Gemälde einer Frau mit schwerem schwarzem Haar vorbeizugehen, um von meinen Erinnerungen wie von einem Beil getroffen zu werden; und selbst wenn die Gesichter unter den prahlerischen Fetzen der Renaissance oder Régence, unter diesen farb- und juwelenüberladenen Stoffen, die ebenso zäh wie die viskosen Farben der Maler waren, nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem ihren hatten, so war es doch ihr Körper, den ich erahnte, ihre Brüste, ihr Bauch, ihre Hüften, rein, über den Knochen gestrafft oder leicht geschwellt und den einzigen Lebensquell umschließend, der mir je zugänglich gewesen war. Wütend verließ ich das Museum, aber das genügte nicht mehr, jede Frau, die mir über den Weg lief oder die ich hinter einem Fenster lachen sah, löste die gleichen Empfindungen in mir aus. In jedem Café, an dem ich vorbeikam, trank ich ein Glas, doch je mehr ich trank, desto klarer schien ich zu werden, meine Augen öffneten sich, und die Welt stürzte hinein, brüllend, blutend, gefräßig, und sie füllte mir den Kopf mit Stimmungen und Exkrementen. Mein Scheitelauge, diese klaffende Vagina mitten auf meiner Stirn, tauchte diese Welt in ein blendendes, trostloses, unbarmherziges Licht und gestattete mir, jeden Schweißtropfen, jeden Aknepickel, jedes schlecht rasierte Härchen auf den grellen Gesichtern zu erkennen, die mich wie ein Gefühl ansprangen, wie der Schrei grenzenloser Angst des Kindes, das auf ewig im grässlichen Körper eines Erwachsenen gefangen ist, eines Erwachsenen, der ungeschickt und ohnmächtig ist, selbst wenn er tötet, um sich dafür zu rächen, dass er lebt. Endlich, es war schon spät in der Nacht, sprach mich ein Bursche in einem Bistro an und bat um eine Zigarette: Das bot mir vielleicht Gelegenheit, für einige Augenblicke in Vergessenheit zu tauchen. Er war einverstanden, mit mir aufs Zimmer zu gehen. Noch einer, sagte ich mir, während wir die Treppe hinaufstiegen, noch einer, aber es werden nie genug sein. Jeder von uns zog sich auf einer Seite des Bettes aus; groteskerweise behielt er Socken und Uhr an. Ich forderte ihn auf, mich im Stehen zu nehmen, ich stand, auf die Kommode gestützt, dem schmalen Spiegel gegenüber, der das Zimmer beherrschte. Als die Lust mich packte, behielt ich die Augen offen, ich durchforschte mein purpurfarbenes und hässlich geschwollenes Gesicht, wollte in ihm das wahre Gesicht erblicken, das Gesicht, das meine Züge von innen erfüllte, das Gesicht meiner Schwester. Doch da geschah etwas Erstaunliches: Zwischen diese beiden Gesichter und ihre vollkommene Verschmelzung schob sich ein anderes Gesicht, glatt, durchscheinend wie eine hauchdünne Glasplatte, das abweisende ruhige Gesicht unserer Mutter, unendlich fein, aber doch undurchsichtig, dichter als die dickste Mauer. Von rasender Wut gepackt, brüllte ich auf und zertrümmerte den Spiegel mit einem Faustschlag; erschrocken sprang der Junge zurück und fiel aufs Bett, wo er in langen Schüben kam. Auch ich kam, aber reflexhaft, ohne es zu spüren und bereits wieder erschlaffend. Aus den Fingern tropfte mir Blut auf den Boden. Ich ging ins Badezimmer, spülte mir die Hand ab, zog einen Glassplitter heraus und umwickelte sie mit einem Handtuch. Als ich wieder herauskam, zog sich der Junge sichtlich besorgt an. Ich griff in die Hosentasche und warf ihm einige Geldscheine aufs Bett: »Hau ab!«. Er schnappte sich das Geld und machte sich still davon. Ich wollte mich hinlegen, aber vorher sammelte ich sorgfältig die Glassplitter auf, warf sie in den Papierkorb und suchte den Fußboden ab, um sicherzugehen, keine übersehen zu haben, dann rieb ich die Blutstropfen ab und wusch mich. Endlich konnte ich mich hinlegen; aber das Bett war ein Kruzifix, eine Folterbank. Was hatte die läufige Hündin hier zu suchen? Hatte ich ihretwegen nicht schon genug gelitten? Musste sie mich aufs Neue verfolgen? Ich hockte mich im Schneidersitz aufs Laken, rauchte eine Zigarette nach der anderen und dachte nach. Der fahle Schein einer Straßenlaterne sickerte durch die geschlossenen Läden. Mein panisches, kopfloses Denken hatte sich in den altbekannten heimtückischen Mörder verwandelt; wie ein neuer Macbeth schnitt es meinem Schlaf die Kehle durch. Als wäre ich ständig kurz davor, etwas zu verstehen, doch das Verständnis blieb immer außer Reichweite meiner zerschnittenen Finger, machte sich über mich lustig und zog sich unmerklich in dem Maße zurück, in dem ich vorankam. Schließlich ließ sich ein Gedanke fassen: Ich betrachtete ihn mit Abscheu, aber da kein anderer seinen Platz einnehmen wollte, musste ich ihm schließlich sein Recht zugestehen. Ich legte ihn auf den Nachttisch wie eine alte schwere Münze: Wenn ich mit dem Fingernagel dagegenschlug, klang sie echt, doch wenn ich sie auf Kopf oder Zahl hochwarf, zeigte sie immer nur das gleiche, unbewegte Gesicht.

 

Früh am Morgen zahlte ich die Rechnung und nahm den ersten Zug nach Süden. Franzosen mussten ihre Plätze Tage oder sogar Wochen im Voraus reservieren; doch die Abteile für Deutsche waren stets halb leer. Ich fuhr bis Marseille, an die Grenze der deutschen Zone. Der Zug hielt oft; wie in Russland waren auf den Bahnhöfen Bauern eifrig bemüht, den Reisenden Lebensmittel zu verkaufen, hart gekochte Eier, Hähnchenschenkel, gekochte und gesalzene Kartoffeln; wenn ich Hunger hatte, ließ ich mir aufs Geratewohl etwas durchs Fenster reichen. Ich las nicht, sondern blickte zerstreut auf die vorbeiziehende Landschaft und betastete meine aufgeschürften Fingerknöchel; meine Gedanken schweiften umher, losgelöst von Vergangenheit wie Gegenwart. In Marseille ging ich zur Gestapostelle, um mich nach den Bedingungen für eine Reise in die italienische Zone zu erkundigen. Ein junger Obersturmführer nahm mich in Empfang: »Die Beziehungen sind im Augenblick etwas angespannt. Die Italiener zeigen wenig Verständnis für unsere Bemühungen, die Judenfrage zu lösen. Ihre Zone ist zu einem regelrechten Paradies für Juden geworden. Als wir sie aufgefordert haben, die Juden wenigstens zu internieren, haben sie sie in ihren schönsten Wintersportorten in den Alpen untergebracht.« Doch die Probleme dieses Obersturmführers kümmerten mich nicht. Ich erklärte ihm mein Anliegen: Er machte ein besorgtes Gesicht, aber ich versicherte ihm, dass ich ihn von aller Verantwortung entbinde. Schließlich erklärte er sich bereit, mir ein Schreiben aufzusetzen, in dem er die italienischen Behörden bat, mir bei meiner aus persönlichen Gründen unternommenen Reise behilflich zu sein. Es war spät, und ich nahm am Vieux Port ein Zimmer für die Nacht. Am nächsten Morgen stieg ich in einen Bus nach Toulon. An der Demarkationslinie ließen uns die Bersaglieri mit ihren ulkigen Federhüten passieren, ohne uns zu kontrollieren. In Toulon stieg ich in einen anderen Bus um, und dann noch einmal in Cannes; am Nachmittag kam ich schließlich in Antibes an. Ich stieg auf dem großen Platz aus; meinen Kleidersack auf der Schulter, umging ich Port Vauban, kam an der geduckten Masse des Fort Carré vorbei und begann die Uferstraße wieder hinaufzugehen. Eine leichte salzige Brise wehte von der Bucht her, kleine Wellen beleckten den Sandstrand, die Möwenschreie übertönten die Brandung und das Geräusch der wenigen Autos; abgesehen von einigen italienischen Soldaten, war der Strand leer. In meiner Zivilkleidung wurde ich von niemandem beachtet: Ein italienischer Polizist sprach mich an, aber nur, um mich um Feuer zu bitten. Das Haus lag einige Kilometer von der Ortsmitte entfernt. Ich ging gemächlich, ich hatte es nicht eilig; der Anblick und der Geruch des Mittelmeers ließen mich gleichgültig, aber ich spürte keine Angst mehr, ich blieb ruhig. Schließlich erreichte ich den Weg, der zum Grundstück führte. Der leichte Wind spielte in den Zweigen der Pinien, die ihn säumten, und ihr Geruch mischte sich mit dem des Meeres. Das Gittertor, dessen Farbe abblätterte, stand halb offen. Eine lange Allee führte quer durch einen schönen, mit Schwarzkiefern bestandenen Park; ich folgte ihr nicht, sondern schlich an der Innenseite der Mauer bis zum Ende des Parks; dort zog ich mich aus und legte meine Uniform an. Sie war in meinem Kleidersack zerknittert, ich glättete sie mit der Hand, das musste reichen. Der Sandboden zwischen den weit auseinanderstehenden Bäumen war mit einem Teppich aus Kiefernnadeln bedeckt. Hinter den hochgewachsenen schlanken Stämmen zeichnete sich die ockerfarbene Seitenwand und Terrasse des Hauses ab; jenseits der Einfassungsmauer blinzelte die Sonne zwischen den wogenden Baumwipfeln hindurch. Ich ging zum Gittertor zurück und schritt die Allee entlang; an der Vordertür klingelte ich. Rechts von mir, zwischen den Bäumen, hörte ich unterdrücktes Lachen: Ich schaute mich um, sah aber nichts. Dann rief eine Männerstimme von der anderen Seite des Hauses: »Hallo! Hierher!« Ich erkannte Moreaus Stimme sofort. Er wartete vor dem Eingang des Salons, am Fuße der Terrasse, eine erkaltete Pfeife in der Hand; er trug eine alte Strickweste und eine Fliege und kam mir bemitleidenswert alt vor. Er runzelte die Stirn, als er meine Uniform sah: »Was wünschen Sie? Wen suchen Sie?« Ich trat näher und nahm meine Mütze ab: »Erkennen Sie mich nicht?« Er riss die Augen auf und öffnete den Mund; dann machte er einen Schritt nach vorn und schüttelte mir heftig die Hand, wobei er mir auf die Schulter klopfte. »Aber sicher, sicher doch!« Er trat wieder zurück und musterte mich verlegen: »Aber was soll diese Uniform?« – »Das ist die Uniform, in der ich meinem Land diene.« Da wandte er sich um und rief ins Haus: »Héloïse! Schau, wer da ist!« Der Salon lag im Halbdunkel; ich sah eine undeutliche Gestalt näher kommen, schmal, grau; dann tauchte eine alte Frau hinter Moreau auf und betrachtete mich schweigend. Das also war meine Mutter? »Deine Schwester hat uns geschrieben, dass du verwundet worden bist«, sagte sie schließlich. »Du hättest uns auch schreiben können. Zumindest hättest du uns mitteilen können, dass du kommst.« Im Gegensatz zu ihrem gelblichen Gesicht und dem straff nach hinten gekämmten ergrauten Haar wirkte ihre Stimme noch jung; für mich war es, als begännen älteste Zeiten zu sprechen, mit einer ungeheuren Stimme, die mich – sogar im Schutz der Uniform, dieses lächerlichen Talismans – klein, fast zunichte machte. Moreau bemerkte meine Verwirrung offenbar: »Natürlich freuen wir uns, dich zu sehen«, sagte er rasch. »Du bist hier immer willkommen.« Meine Mutter betrachtete mich weiter mit rätselhafter Miene. »Nun komm«, meinte sie schließlich, »gib deiner Mutter einen Kuss.« Ich stellte meinen Kleidersack ab, ging zu ihr, beugte mich hinunter und küsste sie auf die Wange. Dann nahm ich sie in die Arme und drückte sie an mich. Ich spürte, wie sie sich versteifte; sie war wie ein Zweig in meinen Armen, wie ein Vogel, den ich leicht hätte ersticken können. Sie hob die Hände und legte sie auf meinen Rücken. »Du musst müde sein. Komm, wir bringen dich in dein Zimmer.« Ich ließ sie los und richtete mich wieder auf. Abermals hörte ich hinter mir leises Lachen. Ich wandte mich um und erblickte kleine, eineiige Zwillinge, in kurzen Hosen und passenden Jacken nebeneinanderstehend, die mich mit großen, neugierigen und lachenden Augen musterten. Sie mochten sieben oder acht Jahre alt sein. »Wer seid ihr?«, fragte ich sie. »Die Kinder einer Freundin«, antwortete meine Mutter. »Wir kümmern uns vorübergehend um sie.« Einer von ihnen zeigte mit dem Finger auf mich: »Und wer ist das?« – »Das ist ein Deutscher«, sagte der andere, »siehst du das nicht?« – »Das ist mein Sohn«, erklärte meine Mutter. »Er heißt Max. Sagt ihm guten Tag.« – »Ihr Sohn ist ein deutscher Soldat, Tante?«, fragte der erste. »Ja. Gebt ihm die Hand.« Sie zögerten, dann traten sie gemeinsam näher und reichten mir ihre kleinen Hände. »Wie heißt ihr?«, fragte ich. Sie antworteten nicht. »Darf ich dir Tristan und Orlando vorstellen«, sagte meine Mutter. »Aber ich verwechsle sie immer. Sie amüsieren sich königlich, wenn wir sie durcheinanderbringen. Man ist sich nie ganz sicher.« – »Das liegt daran, dass es keinen Unterschied zwischen uns gibt, Tante«, sagte einer der Kleinen. »Ein Name würde für uns beide genügen.« – »Ich warne euch«, sagte ich, »ich bin Polizist. Ich muss immer genau wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Sie sahen mich groß an: »Oh, toll«, sagte der eine. »Sind Sie gekommen, um jemanden zu verhaften?«, fragte der andere. »Vielleicht«, sagte ich. »Nun aber Schluss mit dem dummen Gerede«, sagte meine Mutter.

 

Sie brachte mich in meinem alten Zimmer unter: Doch ich erkannte dort nichts mehr wieder. Die Plakate und die wenigen Sachen, die ich zurückgelassen hatte, waren verschwunden; das Bett, die Kommode, die Tapete waren ausgewechselt. »Wo sind meine Sachen?«, fragte ich. »Auf dem Dachboden«, antwortete sie. »Ich habe alles aufgehoben. Du kannst es dir nachher ansehen.« Sie betrachtete mich, die Hände vorn auf ihrem Kleid. »Und Unas Zimmer?«, fuhr ich fort. »Im Augenblick haben wir dort die Zwillinge untergebracht.« Sie ging hinaus, und ich wusch mir im großen Badezimmer Gesicht und Nacken. Dann ging ich ins Zimmer zurück und zog mich wieder um; die Uniform hängte ich in den Schrank. Beim Hinausgehen zögerte ich einen Augenblick vor Unas Tür, setzte dann meinen Weg fort. Ich trat auf die Terrasse. Die Sonne versank hinter den großen Kiefern, warf lange Schatten in den Park und tauchte die Natursteinmauern des Hauses in ein schönes sattes Safrangelb. Ich sah die Zwillinge vorbeilaufen: Sie rannten über den Rasen und verschwanden hinter den Bäumen. Von dieser Terrasse hatte ich eines Tages, aus nichtigem Anlass erbost, einen Pfeil (wenn auch mit stumpfer Spitze) auf meine Schwester abgeschossen, wobei ich auf ihr Gesicht gezielt hatte; beinahe hätte ich ihr ein Auge ausgeschossen, der Pfeil traf sie unmittelbar darüber. Es schien mir, als ich daran dachte, dass ich anschließend streng von meinem Vater bestraft worden war. Aber wenn er noch da gewesen war, hatte sich dieser Zwischenfall in Kiel zugetragen und nicht hier. Doch in Kiel hatte unser Haus keine Terrasse gehabt, und ich glaubte mich im Zusammenhang mit diesem Vorfall deutlich an die großen Blumentöpfe aus Steingut zu erinnern, die um die Kiesfläche verteilt waren, auf der mich Moreau und meine Mutter gerade empfangen hatten. Ich kannte mich nicht mehr aus, und verärgert über diese Unsicherheit, machte ich kehrt und ging ins Haus zurück. Ich schlenderte durch die Flure, atmete den Geruch der gewachsten Täfelung ein, öffnete hier eine Tür und dort. Von meinem Zimmer abgesehen, schien sich wenig verändert zu haben. Ich gelangte an den Fuß der Treppe, die zum Dachboden führte; auch dort zögerte ich, machte dann kehrt. Ich ging die große Eingangstreppe hinunter und zur Haupttür hinaus. Rasch den Weg verlassend, gelangte ich wieder unter die Parkbäume, streifte über ihre grauen rauen Stämme, die verhärteten, aber immer noch nachgiebigen klebrigen Harzrinnsale und versetzte den Kiefernzapfen am Boden Fußtritte. Der starke, betäubende Duft der Kiefern erfüllte die Luft, ich wollte rauchen, verzichtete aber darauf, um ihn weiterhin zu riechen. Der Boden war dort nackt, ohne Gras, ohne Büsche, ohne Farne, trotzdem rief er mir nachdrücklich den Wald bei Kiel ins Gedächtnis zurück, wo ich meine seltsamen Kinderspiele gespielt hatte. Ich wollte mich an einen Baum lehnen, doch der Stamm war klebrig, und ich blieb vor ihm stehen, mit hängenden Armen, fortgerissen vom aberwitzigen Wirbel meiner Gedanken.

Das Abendessen verlief unter kurzen, gezwungenen Äußerungen, die im Geklapper der Bestecke und Teller fast untergingen. Moreau beklagte sich über seine Geschäfte und die Italiener und unterstrich überschwänglich seine guten Beziehungen zur deutschen Wirtschaftsverwaltung in Paris. Er versuchte Konversation zu machen, während ich ihm höflich mit kleinen boshaften Spitzen zusetzte. »Welchem Dienstgrad entsprechen die Rangabzeichen auf deiner Uniform?«, fragte er mich. »SS-Sturmbannführer. Das entspricht dem Major in eurer Armee.« – »Ah, Major, das ist gut, du hast Karriere gemacht, Glückwunsch.« Im Gegenzug fragte ich ihn, wo er vor dem Juni 40 gedient habe; ohne sich seiner Lächerlichkeit bewusst zu sein, warf er die Arme in die Luft: »Ach, mein Junge! Wie gern hätte ich gedient. Aber sie haben mich nicht genommen, weil ich zu alt war. Natürlich«, beeilte er sich hinzuzufügen, »haben die Deutschen uns fair besiegt. Und ich billige vorbehaltlos die Politik der Zusammenarbeit des Marschalls.« Meine Mutter sagte nichts; sie verfolgte dieses kleine Spiel mit wachsamen Blicken. Die Zwillinge aßen vergnügt; doch von Zeit zu Zeit veränderte sich ihr Gesichtsausdruck völlig, als fiele ein schwermütiger Schatten auf sie. »Und eure jüdischen Freunde? Wie hießen sie noch? Benahum, glaube ich. Was ist aus ihnen geworden?« Moreau errötete. »Sie sind fort«, antwortete meine Mutter kurz angebunden. »In die Schweiz.« – »Das muss doch für deine Geschäfte ziemlich unangenehm gewesen sein«, fuhr ich, an Moreau gewandt, fort. »Ihr wart Partner, nicht wahr?« – »Ich habe seinen Anteil gekauft«, sagte Moreau. »Oh, sehr schön. Zu einem jüdischen oder einem arischen Preis? Ich hoffe, du hast dich nicht übers Ohr hauen lassen.« – »Das reicht«, sagte meine Mutter. »Aristides Geschäfte gehen dich nichts an. Erzähl uns lieber von deinen Erlebnissen. Du bist in Russland gewesen, nicht wahr?« – »Ja«, sagte ich, plötzlich gedemütigt. »Ich habe den Bolschewismus bekämpft.« – »Ah! Das ist lobenswert«, meinte Moreau salbungsvoll. »Ja, aber die Roten rücken jetzt vor«, sagte meine Mutter. »Ach, mach dir keine Sorgen!«, rief Moreau aus. »Sie kommen nicht bis hierher.« – »Wir haben Rückschläge erlitten«, sagte ich. »Aber die gehen vorüber. Wir entwickeln neue Waffen. Und dann vernichten wir sie.« – »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, sagte Moreau und nickte zur Bekräftigung. »Ich hoffe, ihr nehmt euch gleich danach die Italiener vor.« – »Die Italiener sind unsere Waffenbrüder der ersten Stunde«, erwiderte ich. »Wenn das neue Europa entsteht, werden die Italiener als Erste daran beteiligt sein.« Moreau nahm das vollkommen ernst und erboste sich: »Das sind doch Feiglinge! Sie haben uns den Krieg erklärt, als wir schon besiegt waren, um uns ausplündern zu können. Aber ich bin sicher, dass Hitler die Unversehrtheit des französischen Territoriums bewahren wird. Es heißt, er bewundere den Marschall.« Ich zuckte die Achseln: »Der Führer wird Frankreich behandeln, wie es das verdient.« Moreau bekam einen hochroten Kopf. »Max, es reicht«, sagte meine Mutter wieder. »Nimm dir Nachtisch.«

Nach dem Abendessen forderte sie mich auf, mit in ihr Boudoir zu kommen. Das war ein kleiner Salon neben ihrem Schlafzimmer, den sie geschmackvoll eingerichtet hatte; niemand durfte ihn ohne ihre Erlaubnis betreten. Sie kam gleich zur Sache. »Warum bist du hergekommen? Ich warne dich, wenn du nur gekommen bist, um uns auf die Nerven zu gehen, hättest du es besser gelassen.« Wieder fühlte ich mich ganz klein werden; vor dieser gebieterischen Stimme, diesen kalten Augen fühlte ich mich hilflos, wurde erneut zu einem ängstlichen Kind, jünger als die Zwillinge. Ich versuchte, wieder Herr meiner selbst zu werden, aber vergebens. »Nein«, brachte ich schließlich hervor, »ich wollte euch sehen, das ist alles. Ich hatte dienstlich in Frankreich zu tun, und da dachte ich an euch. Außerdem wäre ich fast getötet worden, Mama. Ich weiß nicht, ob ich diesen Krieg überleben werde. Und wir haben so viele Dinge zu klären.« Das besänftigte sie etwas, sie berührte meinen Handrücken mit derselben Bewegung wie meine Schwester: Behutsam zog ich die Hand fort, aber sie schien es nicht zu bemerken. »Du hast Recht. Weißt du, du hättest schreiben können. Das hätte dich nichts gekostet. Ich weiß, dass du meine Wahl missbilligst. Aber wenn das eigene Kind einfach so verschwindet, ist das nicht recht. Das ist, als wenn es stirbt. Verstehst du das?« Sie dachte nach, dann fuhr sie fort, überstürzt, als würde ihr die Zeit knapp. »Ich weiß, dass du mir wegen des Verschwindens deines Vaters böse bist. Dabei müsstest du eigentlich ihm böse sein, nicht mir. Er hat mich und euch im Stich gelassen, er hat mich sitzen lassen; länger als ein Jahr habe ich nicht richtig geschlafen, jede Nacht hat mich deine Schwester geweckt, weil sie Albträume hatte und weinte. Du hast nicht geweint, aber das war fast noch schlimmer. Ich musste ganz allein für euch sorgen, euch ernähren, euch kleiden, euch erziehen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das war. Warum hätte ich Nein sagen sollen, als ich dann Aristide traf? Er ist ein guter Mann, er hat mir geholfen. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Wo war denn dein Vater? Selbst als er noch da war, war er nie da. Ich musste alles allein machen, euch den Hintern abwischen, euch waschen, euch Essen machen. Dein Vater hat eine Viertelstunde am Tag mit euch verbracht, hat ein bisschen mit euch gespielt, dann ist er wieder zurück zu seinen Büchern und seiner Arbeit. Aber hassen tust du mich.« Meine Empfindungen schnürten mir die Kehle zu: »Aber nein, Mama. Ich hasse dich nicht.« – »Doch, du hasst mich, das weiß ich, das sehe ich. Du bist in dieser Uniform gekommen, um mir zu sagen, wie sehr du mich hasst.« – »Warum ist mein Vater fortgegangen?« Sie atmete tief durch: »Das weiß niemand außer ihm. Vielleicht ganz einfach aus Langeweile.« – »Das glaube ich nicht! Was hast du ihm getan?« – »Ich habe ihm nichts getan, Max. Ich habe ihn nicht davongejagt. Er ist fortgegangen, das ist alles. Vielleicht hatte er genug von mir. Vielleicht hatte er genug von euch.« Die Angst trieb mir das Blut ins Gesicht: »Nein! Das ist unmöglich. Er hat uns geliebt!« – »Ich weiß nicht, ob er jemals gewusst hat, was Liebe ist«, antwortete sie sehr sanft. »Wenn er uns geliebt hätte, wenn er euch geliebt hätte, dann hätte er zumindest geschrieben. Und wenn auch nur, um uns mitzuteilen, dass er nicht wiederkommt. Er hätte uns nicht alle in dieser Ungewissheit, dieser Angst gelassen.« – »Du hast ihn für tot erklären lassen.« – »Das habe ich in erster Linie für euch getan. Um eure Interessen zu wahren. Er hat nie ein Lebenszeichen von sich gegeben, nie an sein Bankkonto gerührt, er hat alles stehen und liegen lassen, ich musste alles regeln, die Konten waren gesperrt, ich bin in große Schwierigkeiten geraten. Und ich wollte nicht, dass ihr von Aristide abhängig wart. Was glaubst du denn, woher das Geld kam, mit dem du nach Deutschland gegangen bist? Es war sein Geld, das weißt du genau, du hast es genommen und dich bedient. Vermutlich hat er wirklich irgendwo den Tod gefunden.« – »Es ist so, als hättest du ihn umgebracht.« Meine Worte taten ihr weh, ich sah es, aber sie blieb ruhig. »Er hat sich selbst umgebracht, Max. Es war seine Entscheidung. Versteh das doch endlich!«

Doch ich wollte es nicht verstehen. In dieser Nacht fiel ich in den Schlaf wie in ein dunkles, dickflüssiges und unruhiges, aber traumloses Wasser. Das Lachen der Zwillinge, das aus dem Park aufstieg, weckte mich. Es war heller Tag, die Sonne schien durch die Ritzen der Fensterläden. Beim Waschen und Ankleiden dachte ich an die Worte meiner Mutter. Eine Äußerung hatte mich schmerzlich getroffen: Mein Fortgang aus Frankreich, der Bruch mit meiner Mutter, all das war tatsächlich nur dank der väterlichen Erbschaft möglich gewesen, eines kleinen Kapitals, das Una und ich uns am Tag unserer Volljährigkeit teilen sollten. Allerdings hatte ich damals nie den Zusammenhang zwischen der schändlichen Vorgehensweise meiner Mutter und diesem Geld gesehen, das mir erlaubt hatte, mich von ihr zu befreien. Ich hatte diesen Fortgang lange vorbereitet. In den Monaten nach den Unruhen vom Februar 1934 hatte ich Kontakt zu Dr. Mandelbrod aufgenommen, um ihn um Beistand und Unterstützung zu bitten; und er gewährte sie mir, wie berichtet, in großzügigster Weise; für meinen Geburtstag war alles vorbereitet. Meine Mutter und Moreau kamen nach Paris, um die Formalitäten meiner Erbschaft zu regeln: Beim Abendessen, die Papiere des Notars in der Tasche, eröffnete ich ihnen meine Entscheidung, die ELSP zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Moreau hatte seinen Zorn hinuntergeschluckt und geschwiegen, während meine Mutter versucht hatte, mich zur Vernunft zu bringen. Auf der Straße hatte Moreau sich an meine Mutter gewandt: »Siehst du nicht, dass dein Sohn ein kleiner Faschist geworden ist? Soll er doch im Stechschritt marschieren, wenn es ihm Spaß macht.« Ich war viel zu glücklich, um mich zu ärgern, und ich trennte mich von ihnen auf dem Boulevard Montparnasse. Neun Jahre und ein Krieg hatten ins Land gehen müssen, bevor ich sie wiedersah.

Unten fand ich Moreau in einem Gartenstuhl auf einem besonnten Geviert vor der Glastür des Salons. Es war ziemlich kühl. »Guten Morgen«, sagte er mit seiner durchtriebenen Miene. »Gut geschlafen?« – »Ja, danke. Ist meine Mutter schon aufgestanden?« – »Sie ist aufgewacht, aber sie ruht noch. Kaffee und Brot sind auf dem Tisch.« – »Danke.« Ich bediente mich und kehrte dann mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu ihm zurück. Ich schaute in den Park. Die Zwillinge hörte ich nicht mehr. »Wo sind die Kleinen?«, fragte ich Moreau. »In der Schule. Sie kommen am Nachmittag zurück.« Ich trank einen Schluck Kaffee. »Weißt du«, begann er wieder, »deine Mutter freut sich, dass du gekommen bist.« – »Ja, schon möglich«, sagte ich. Doch er spann seinen Gedanken unbeirrt weiter: »Du solltest häufiger schreiben. Es werden schwere Zeiten kommen. Dann brauchen wir alle die Familie. Die Familie ist das Einzige, worauf wir uns verlassen können.« Ich sagte nichts, ich betrachtete ihn zerstreut; er schaute in den Garten. »Hör mal, im nächsten Monat ist Muttertag. Du könntest ihr Glückwünsche schicken.« – »Was ist denn das für ein Festtag?« Er schaute mich verdutzt an: »Der Marschall hat ihn vor zwei Jahren eingeführt. Um die Mutterschaft gebührend zu würdigen. Im Mai, dieses Jahr fällt er auf den 30.« Er sah mich noch immer an: »Du solltest eine Karte schicken.« – »Ja, ich will es versuchen.« Er schwieg und wandte sich wieder dem Garten zu. »Wenn du Zeit hast«, sagte er nach einer langen Pause, »magst du im Schuppen Holz für den Herd hacken? Ich werde alt.« Ich betrachtete ihn wieder, wie er da zusammengesunken in seinem Stuhl saß: Er war tatsächlich gealtert. »Wenn du willst«, antwortete ich. Ich kehrte in das Haus zurück, stellte die leere Tasse auf den Tisch, knabberte einen Keks und stieg in das obere Stockwerk, ging dieses Mal direkt auf den Dachboden. Ich schloss die Luke hinter mir und bewegte mich vorsichtig zwischen den Möbeln und Kisten, trotzdem knackten die Dielenbretter unter meinen Schritten. Um mich herum erhoben sich meine Erinnerungen und nahmen mit der Luft, dem Geruch, dem Staub Gestalt an: Und ich tauchte in meine Empfindungen ein, wie ich in die Wolga eingetaucht war, vollkommen gelöst. In den Ecken meinte ich den Schatten unserer Körper, den Widerschein unserer weißen Haut zu erblicken. Dann schüttelte ich das ab und fand die Kartons mit meinen Sachen. Ich zog sie an eine große freie Stelle in der Nähe eines Stützbalkens, hockte mich hin und begann darin herumzustöbern. Ich fand Blechautos, Zeugnis- und Schulhefte, Jugendbücher, Fotos in dicken Umschlägen, andere, versiegelte Umschläge mit den Briefen meiner Schwester, eine ganze Vergangenheit, fremd und brutal. Ich wagte nicht, die Fotos anzusehen und die Umschläge zu öffnen, ich spürte in mir eine animalische Angst wachsen; selbst die harmlosesten und unschuldigsten Gegenstände trugen den Stempel der Vergangenheit, dieser Vergangenheit, die mich durch die bloße Tatsache ihrer Existenz bis ins Mark frieren ließ; jeder neue und doch so vertraute Gegenstand flößte mir eine Mischung aus Abscheu und Faszination ein, als hielte ich eine entsicherte Granate in der Hand. Um mich zu beruhigen, schaute ich die Bücher genauer durch: die typische Bibliothek eines Jugendlichen meiner Generation – Jules Verne, Paul de Kock, Hugo, Eugène Sue, die Amerikaner E. R. Burroughs und Mark Twain, die Abenteuer von Fantômas und Rouletabille, Reiseberichte, einige Biografien großer Männer. Ich bekam Lust, einige von ihnen wiederzulesen, und nach kurzem Zögern legte ich die drei ersten Bände der Mars-Reihe von Burroughs beiseite, diejenigen, die für meine Fantasien im Badezimmer des ersten Stocks verantwortlich gewesen waren, neugierig, ob sie noch der Intensität meiner Erinnerungen entsprachen. Dann nahm ich die versiegelten Umschläge wieder vor. Ich wog sie in der Hand und wendete sie zwischen den Fingern. Anfangs, nach dem Skandal und unserer Abschiebung ins Internat, durften meine Schwester und ich uns noch schreiben; wenn ich einen Brief von ihr erhielt, musste ich ihn vor einem der Patres öffnen und ihm zu lesen geben, bevor ich es selbst durfte; ich denke, bei ihr war es nicht anders. Ihre Briefe, die merkwürdigerweise mit der Maschine geschrieben waren, waren lang, erbaulich und feierlich: Mein lieber Bruder! Es geht mir gut hier, man behandelt mich sehr rücksichtsvoll. Ich erwache zu einem neuen geistigen Leben. Doch nachts schloss ich mich mit einem Kerzenstumpf im Klo ein, vor Angst und Aufregung zitternd, und hielt den Brief über die Flamme, bis eine zweite Botschaft erschien, die mit Milch zwischen die Zeilen gekritzelt war: HILFE! HOL MICH HIER RAUS! ICH FLEHE DICH AN! Wir waren auf diesen Einfall gekommen, als wir, heimlich natürlich, eine Lenin-Biografie gelesen hatten, die wir bei einem Antiquar in der Nähe des Rathauses entdeckt hatten. Diese verzweifelte Botschaft versetzte mich in Panik, und ich beschloss, zu fliehen und sie zu retten. Aber ich hatte das Unternehmen schlecht vorbereitet und wurde rasch wieder aufgegriffen. Ich wurde schwer bestraft, ich bekam den Stock und eine Woche Wasser und Brot, und die Schikanen der älteren Jungen verstärkten sich noch, aber das war mir alles egal; allerdings durfte ich keine Briefe mehr empfangen, ein Verbot, das mich in Wut und Verzweiflung stürzte. Ich wusste nicht einmal, ob ich diese letzten Briefe aufgehoben hatte und sie sich auch in diesen Umschlägen befanden; aber ich hatte nicht den Wunsch, mich davon zu überzeugen. Ich tat alles zurück in die Kartons, ergriff die drei Bücher und stieg wieder hinunter.

Von einem unbestimmten Impuls getrieben, betrat ich Unas altes Zimmer. Dort stand jetzt ein Etagenbett aus rot und blau gestrichenem Holz, und unter den ordentlich aufgeräumten Spielsachen erkannte ich voller Zorn einige von mir wieder. Alle Kleidungsstücke lagen zusammengefaltet in Kommoden oder hingen in Schränken. Rasch suchte ich nach irgendwelchen Anhaltspunkten, nach Briefen, aber ich fand nichts. Der Familienname auf den Zeugnisheften war mir unbekannt, schien aber arisch zu sein. Diese Zeugnishefte reichten einige Jahre zurück: Sie mussten hier also schon einige Zeit leben. Ich hörte meine Mutter hinter mir: »Was machst du da?« – »Ich schaue mich um«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Du tätest besser daran, hinunterzugehen und Holz zu hacken, wie Aristide dich gebeten hat. Ich werde was zu essen kochen.« Ich drehte mich um: Sie stand in der Tür, streng und mit unbewegter Miene. »Wer sind diese Kinder?« – »Das habe ich dir doch gesagt, die Kinder einer guten Freundin. Wir haben sie zu uns genommen, als sie nicht mehr in der Lage war, sich um sie zu kümmern. Sie haben keinen Vater.« – »Seit wann sind sie hier?« – »Seit einiger Zeit. Du bist auch schon einige Zeit fort, mein Kleiner.« Ich sah mich erneut um: »Das sind kleine Juden, nicht wahr? Gib es zu. Das sind Juden, sag schon!« Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen: »Hör auf, so einen Unsinn zu reden. Das sind keine Juden. Wenn du mir nicht glaubst, brauchst du sie dir nur anzuschauen, wenn sie ein Bad nehmen. So macht ihr das doch, oder?« – »Ja, manchmal machen wir das so.« – »Und? Was würde das ändern, wenn sie Juden wären? Was würdest du mit ihnen machen?« – »Gar nichts würde ich mit ihnen machen.« – »Was macht ihr mit den Juden?«, fuhr sie fort. »Man hört alle möglichen Schauergeschichten. Selbst die Italiener sagen, was ihr macht, sei unerträglich.« Ich fühlte mich plötzlich alt und müde: »Wir schicken sie arbeiten, im Osten. Sie bauen Straßen, Häuser, sie arbeiten in Fabriken.« Sie ließ nicht locker: »Schickt ihr auch die Kinder zum Straßenbau? Ihr nehmt auch die Kinder, nicht wahr?« – »Die Kinder kommen in Sonderlager. Sie bleiben bei den Müttern, die nicht arbeiten können.« – »Warum tut ihr das?« Ich zuckte die Achseln: »Irgendjemand musste es tun. Die Juden sind Parasiten und Ausbeuter: Jetzt dienen sie denen, die sie ausgebeutet haben. Nur zu deiner Information, die Franzosen helfen uns dabei sehr bereitwillig: In Frankreich werden die Juden von der französischen Polizei festgenommen und uns dann übergeben. Das geschieht nach französischem Recht und Gesetz. Eines Tages wird die Geschichte zeigen, dass wir Recht gehabt haben.« – »Ihr seid vollkommen wahnsinnig. Geh Holz hacken.« Sie wandte sich um zur Dienstbotentreppe. Ich steckte die drei Bücher von Burroughs in meinen Kleidersack, dann ging ich in den Schuppen. Ich zog die Jacke aus, nahm die Axt und legte einen Klotz auf den Haublock, um ihn zu spalten. Es war gar nicht so leicht, ich war an solche Arbeit nicht gewöhnt und brauchte mehrere Anläufe. Während ich die Axt schwang, dachte ich an die Worte meiner Mutter; nicht ihr Mangel an politischem Verständnis machte mir zu schaffen, sondern der Blick, mit dem sie mich angesehen hatte: Was hatte sie gesehen, als sie mich betrachtet hatte? Ich spürte, wie ich unter der drückenden Last der Vergangenheit litt, der empfangenen oder eingebildeten Wunden, der irreparablen Fehler, der Heillosigkeit der Zeit. Sich wehren nützte gar nichts. Als ich einige Kloben geschafft hatte, häufte ich mir die Scheite auf den Arm und trug sie in die Küche. Meine Mutter schälte Kartoffeln. Ich legte das Holz auf den Stapel neben dem Herd und ging wortlos hinaus, um weiter zu hacken. Ich machte den Weg mehrmals. Beim Arbeiten dachte ich: Im Grunde ist das kollektive Problem der Deutschen das gleiche wie meines; auch sie sind bemüht, sich von einer schmerzlichen Vergangenheit zu befreien, reinen Tisch zu machen, um ganz neu anfangen zu können. So sind sie auf die radikalste aller Lösungen verfallen, den Mord, den grausigen Schrecken des Mordes. Aber war der Mord eine Lösung? Ich dachte an die vielen Gespräche, die ich darüber geführt hatte: Ich war nicht der Einzige in Deutschland, der seine Zweifel hatte. Und wenn der Mord keine endgültige Lösung war, wenn im Gegenteil diese neue Tat, noch weniger ungeschehen zu machen als die früheren, ihrerseits neue Abgründe aufriss? Was blieb dann für ein Ausweg? In der Küche bemerkte ich, dass ich die Axt noch immer in der Hand hielt. Der Raum war leer: Meine Mutter musste sich im Salon aufhalten. Ich betrachtete den Holzstapel, er erschien mir ausreichend. Ich war schweißgebadet; ich legte die Axt in die Ecke neben das Holz und ging nach oben, um mich zu waschen und das Hemd zu wechseln.

Die Mahlzeit fand in unbehaglichem Schweigen statt. Die Zwillinge aßen in der Schule zu Mittag, wir waren nur zu dritt. Moreau machte den Versuch, auf die neuesten Nachrichten einzugehen – Briten und Amerikaner rückten schnell auf Tunis vor, in Warschau waren Unruhen ausgebrochen –, aber ich schwieg beharrlich vor mich hin. Ich betrachtete ihn und sagte mir: Das ist ein gerissener Mann, der wird sicherlich auch Kontakt zu den Terroristen halten und ihnen ein wenig helfen; wenn die Lage sich verschlechtert, wird er sagen, er sei immer auf ihrer Seite gewesen und habe mit den Deutschen nur zum Schein zusammengearbeitet. Was auch passiert, er wird seine Schäfchen schon ins Trockene bringen, der alte Löwe, so feig und zahnlos er auch ist. Selbst wenn die Zwillinge keine Juden waren, ich war sicher, er hatte Juden versteckt: Die Gelegenheit war einfach zu günstig (bei den Italienern riskierte er gar nichts), sich für später eine weiße Weste zu verschaffen. Aber, dachte ich wütend, wir werden ihm schon zeigen, ihm und seinesgleichen, wozu Deutschland fähig ist; noch sind wir nicht erledigt. Auch meine Mutter schwieg. Nach der Mahlzeit erklärte ich, einen Spaziergang machen zu wollen. Ich ging durch den Park, durch das immer noch halb offen stehende Gittertor und kletterte zum Strand hinunter. Unterwegs vermischte sich der Salzgeruch des Meeres mit dem kräftigen Kiefernduft, und wieder meldete sich die Vergangenheit zu Wort, die glückliche Vergangenheit, die in diese Düfte getaucht war, aber auch die unglückliche. Am Strand wandte ich mich nach rechts, dem Hafen und der Stadt zu. Am Fuß des Fort Carré, auf einem Streifen Land, der das Meer überragte und von Pinien gesäumt war, lag ein Sportplatz, auf dem Kinder Ball spielten. Ich war ein zartes Kind gewesen und hatte keinen Sport gemocht, ich hatte lieber gelesen; doch Moreau, der mich zu schwächlich fand, hatte meiner Mutter geraten, mich in einen Fußballverein zu stecken; daher hatte ich auch auf diesem Platz gespielt. Es war kein großer Erfolg gewesen. Da ich nicht gerne lief, hatte man mich ins Tor gestellt; eines Tages schoss mir ein Kind den Ball so hart gegen die Brust, dass ich ins Netz geschleudert wurde. Ich erinnere mich noch heute daran, wie ich dort lag und durch die Maschen auf die im Wind wogenden Wipfel der Pinien blickte, bis der Betreuer endlich kam, um zu sehen, ob ich bewusstlos war. Etwas später fand unser erstes Spiel gegen einen anderen Verein statt. Der Mannschaftsführer wollte nicht, dass ich spielte; in der zweiten Halbzeit ließ er mich endlich auf den Platz. Irgendwie ergab es sich, ich weiß nicht wie, dass ich den Ball am Fuß hatte und aufs Tor zulief. Vor mir war alles frei, die Zuschauer brüllten, pfiffen, ich sah nur noch das Tor, der hilflose Torwart versuchte mich aufzuhalten und fuchtelte mit den Armen herum, ich ließ mich nicht stoppen und schoss ein, aber es war das Tor meiner eigenen Mannschaft: In der Kabine wurde ich von den anderen Jungen durchgeprügelt, und fortan ließ ich das Fußballspielen. Hinter dem Fort kommt der weite Bogen des Port Vauban, ein großer Naturhafen, in dem Fischerboote und die Avisos der italienischen Kriegsmarine dümpelten. Ich setzte mich auf eine Bank, steckte mir eine Zigarette an und betrachtete die Möwen, die die Fischerboote umkreisten. Ich war oft hierher gekommen. 1930, kurz vor meinem Abitur, hatten wir in den Osterferien einen Spaziergang gemacht. Ich hatte Antibes fast ein Jahr lang gemieden, seit meine Mutter Moreau geheiratet hatte, doch in diesen Ferien hatte sie es geschickt eingefädelt: Sie schrieb mir, ohne auf das Geschehene oder meinen beleidigenden Brief mit einem Wort einzugehen, Una komme zum Fest nach Hause und würde sich freuen, mich wiederzusehen. Seit drei Jahren hielten sie uns getrennt: Diese Schweine, sagte ich mir, aber ich konnte es nicht ablehnen, und das wussten sie. Bei unserem Wiedersehen waren wir verlegen und sprachen kaum; natürlich ließen meine Mutter und Moreau uns praktisch nie allein. Bei meiner Ankunft hatte Moreau mich beiseitegenommen: »Keine Sauereien, klar? Ich behalte dich im Auge.« Für diesen bornierten Spießer stand fest, dass ich sie verführt hatte. Ich sagte nichts, aber als sie endlich da war, wusste ich, dass ich sie mehr denn je liebte. Mitten im Salon streifte sie mich im Vorbeigehen – ihr Handrücken berührte den meinen für den Bruchteil einer Sekunde –, und es war wie ein elektrischer Schlag, der mich auf dem Fußboden festnagelte, ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Und dann hatten wir einen Spaziergang rund um den Hafen gemacht. Unsere Mutter und Moreau waren vorangegangen, dort, nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem ich saß und an diesen Augenblick zurückdachte; ich hatte mit meiner Schwester über die Schule gesprochen, die Priester, die Sittenlosigkeit und Rohheit meiner Klassenkameraden. Ich erzählte ihr auch, dass ich etwas mit Jungen gehabt hatte. Sie lächelte sanft und gab mir einen raschen Kuss auf die Wange. Sie hatte wohl ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, obwohl die Gewalt eher seelischer als physischer Natur gewesen sein dürfte. Die guten Schwestern seien, sagte sie, alle neurotisch, verklemmt und frigide. Ich lachte und fragte sie, woher sie diese Ausdrücke habe; die kleinen Mädchen in ihren Pensionaten, antwortete sie mit einem fröhlichen Lachen, bestächen die Hausmeister nicht mehr, damit sie ihnen Voltaire und Rousseau besorgten, sondern Freud, Spengler und Proust, und wenn ich die noch nicht gelesen hätte, sei es höchste Zeit, das nachzuholen. Moreau blieb stehen, um uns eine Eistüte zu kaufen. Als er wieder zu unserer Mutter aufgeschlossen hatte, setzten wir unsere Unterhaltung fort. Dieses Mal sprach ich von unserem Vater. »Er ist nicht tot«, flüsterte ich ihr leidenschaftlich zu. »Ich weiß«, sagte sie. »Und selbst wenn er es wäre, hätten sie nicht das Recht, ihn zu begraben.« – »Ums Begraben geht es gar nicht. Es ist, als hätten sie ihn umgebracht. Mit ihren Papieren umgebracht. Wie abscheulich! Für ihre ekelhafte Lust.« – »Weißt du«, sagte sie dann, »ich glaube, sie liebt ihn.« – »Ist mir gleich!«, stieß ich hervor. »Sie hat unseren Vater geheiratet, sie ist seine Frau. Das ist die Wahrheit. Kein Richter kann etwas daran ändern.« Sie blieb stehen und sah mich an: »Du hast sicherlich Recht.« Doch schon rief uns unsere Mutter, wir gingen zu ihr und leckten an unserem Vanilleeis.

In der Stadt trank ich irgendwo einen Weißwein an der Theke, meine Gedanken kreisten noch immer um diese Dinge, und ich sagte mir, dass ich gesehen hätte, weswegen ich gekommen sei, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das war; ich dachte schon an Abreise. Ich ging zum Schalter an der Bushaltestelle und kaufte für den folgenden Tag eine Karte nach Marseille, auf dem Bahnhof gleich nebenan dann einen Zugfahrschein nach Paris, ich hätte direkten Anschluss und würde am Abend dort sein. Danach kehrte ich zu meiner Mutter zurück. Rund um das Haus erstreckte sich der Park ruhig und still, nur das leise Rascheln der von der Meeresbrise liebkosten Nadeln durchlief ihn. Die Glastür zum Salon war offen geblieben: Ich trat näher und rief, niemand antwortete. Vielleicht halten sie Siesta, sagte ich mir. Ich war auch müde, sicher vom Wein und der Sonne; ich ging um das Haus herum und stieg die Haupttreppe hinauf, ohne jemandem zu begegnen. Mein Zimmer war dunkel und kühl. Ich legte mich hin und schlief ein. Als ich wieder aufwachte, hatte sich das Licht verändert, es war sehr dunkel: In der Tür erblickte ich die Zwillinge, die nebeneinanderstanden und mich mit ihren großen runden Augen ansahen. »Was wollt ihr?«, fragte ich. Bei diesen Worten wichen sie wie auf Kommando zurück und verschwanden. Ich hörte ihre kleinen Schritte auf den Holzdielen, dann die große Treppe hinabeilen. Die Haustür fiel ins Schloss, es herrschte wieder Stille. Ich setzte mich auf die Bettkante und bemerkte, dass ich nackt war; doch ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, aufgestanden zu sein, um mich auszuziehen. Meine verletzten Finger taten weh, geistesabwesend lutschte ich an ihnen. Dann betätigte ich den Lichtschalter und wollte mit zusammengekniffenen Augen nach der Uhrzeit sehen: Meine Uhr auf dem Nachttisch war stehengeblieben. Ich blickte mich um, konnte aber meine Kleidung nicht entdecken. Wo war sie? Ich nahm frische Wäsche aus dem Kleidersack und holte meine Uniform aus dem Schrank. Mein Bart kratzte, aber ich beschloss, mich später zu rasieren, und zog mich erst einmal an. Ich ging die Dienstbotentreppe hinunter. Die Küche war leer, der Herd kalt. Ich ging zum Lieferanteneingang: Draußen, auf der Seeseite, begann der Morgen zu grauen und tauchte den Horizont in einen schwachen rosa Schimmer. Merkwürdig, dass die Zwillinge so früh aufgestanden sind, sagte ich mir. Hatte ich tatsächlich das Abendessen verschlafen? Ich war wohl müder gewesen, als ich dachte. Mein Bus fuhr früh ab, ich musste mich fertig machen. Ich schloss die Tür, stieg die drei Stufen zum Salon hinauf, trat ein und ertastete mir den Weg zur Glastür. Im Halbdunkel stieß ich gegen etwas Weiches auf dem Teppich. Die Berührung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich wich bis zum Schalter des Kronleuchters zurück, griff mit der Hand hinter mich, ohne mich umzuwenden, und drehte den Schalter. Das Licht ergoss sich aus mehreren Glühbirnen, bleich, fast grell. Ich starrte auf die Gestalt, gegen die ich gestoßen war: Es war eine Leiche, wie ich instinktiv gespürt hatte, und jetzt sah ich auch, dass der Teppich mit Blut getränkt war, dass ich in einer Blutlache ging, die über den Teppich hinauslief und sich auf den Steinplatten ausbreitete, unter dem Tisch, bis an die Glastür. Der Schrecken, das Grauen lösten in mir den panischen Impuls aus, zu fliehen, mich an irgendeinem dunklen Ort zu verkriechen; ich versuchte, mich wieder zu fassen, und zog meine Dienstwaffe, die an meinem Koppel hing. Mit dem Daumen versuchte ich, sie zu entsichern. Dann näherte ich mich der Leiche. Ich wollte vermeiden, in das Blut zu treten, aber das war unmöglich. Von Nahem erkannte ich – aber das wusste ich bereits –, dass es Moreau war, die Brust eingedrückt, der Hals halb durchtrennt, die Augen noch offen. Die Axt, die ich in der Küche gelassen hatte, lag im Blut neben der Leiche; dieses fast schwarze Blut durchtränkte seine Kleidung, hatte sein leicht schiefes Gesicht und den halb ergrauten Schnurrbart bespritzt. Ich blickte mich um, sah aber nichts. Die Glastür schien geschlossen zu sein. Ich kehrte in die Küche zurück, öffnete die Abstellkammer, da war niemand. Meine Stiefel hinterließen große Blutspuren auf den Fliesen: Ich öffnete die Tür des Lieferanteneingangs, trat hinaus und wischte sie im Gras ab, wobei ich aufmerksam in die Tiefe des Parks spähte. Doch auch da war nichts. Der Himmel wurde heller, die Sterne begannen zu verlöschen. Ich ging um das Haus herum, öffnete die Haupttür und ging ins obere Stockwerk hinauf. Mein Zimmer war leer; das der Zwillinge ebenfalls. Die Pistole noch immer umklammernd, stand ich vor der Zimmertür meiner Mutter. Ich streckte die linke Hand nach dem Türgriff aus: Meine Finger zitterten. Ich riss mich zusammen und öffnete die Tür. Die Läden waren geschlossen, es war dunkel; auf dem Bett konnte ich eine graue Gestalt erkennen. »Mama?«, murmelte ich. Tastend, die Waffe im Anschlag, suchte ich den Schalter und machte Licht. Meine Mutter lag quer über dem Bett, in einem Nachthemd mit Spitzenkragen; ihre Füße ragten etwas über den Rand hinaus, der eine steckte noch in einem Hausschuh, der andere, nackt, hing herab. Obwohl schreckensstarr, vergaß ich nicht, hinter der Tür nachzuschauen und mich rasch unter das Bett zu bücken: abgesehen von dem heruntergefallenen Hausschuh, war nichts darunter. Am ganzen Körper zitternd, trat ich näher. Ihre Arme lagen auf der Tagesdecke, das Nachthemd, ordentlich bis zu den Füßen herabgezogen, war nicht zerdrückt, sie schien sich nicht gewehrt zu haben. Ich beugte mich hinunter und hielt mein Ohr dicht an ihren offenen Mund: Es war kein Atemzug zu hören. Ich wagte nicht, sie zu berühren. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und rote Male an ihrem dürren Hals. Himmel, dachte ich, sie ist erdrosselt worden, meine Mutter ist erdrosselt worden. Ich untersuchte das Zimmer. Nichts war in Unordnung gebracht, die Schubladen der Kommoden waren alle geschlossen, die Schränke auch. Ich ging ins Boudoir hinüber, es war leer, alles schien an seinem Platz zu sein, ich kehrte ins Schlafzimmer zurück. Auf der Tagesdecke, dem Teppich, ihrem Nachthemd sah ich es dann, es waren überall Blutflecken: Der Mörder musste zuerst Moreau getötet haben und dann hierherauf gekommen sein. Die Angst schnürte mir die Luft ab, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das Haus durchsuchen? Die Zwillinge suchen und sie ausfragen? Die Polizei rufen? Ich hatte keine Zeit, ich musste meinen Bus bekommen. Vorsichtig, ganz vorsichtig nahm ich den herabhängenden Fuß und legte ihn aufs Bett zurück. Ich hätte ihr auch den heruntergefallenen Hausschuh anziehen müssen, hatte aber nicht den Mut, meine Mutter noch einmal zu berühren. Fast rückwärts gehend, verließ ich den Raum. In meinem Zimmer stopfte ich meine wenigen Sachen in den Kleidersack und verließ das Haus, die Eingangstür schloss ich hinter mir. An meinen Stiefeln klebte noch Blut, ich spülte sie in einer stehengelassenen Schüssel mit ein wenig Regenwasser ab. Keine Spur von den Zwillingen: Sie mussten weggelaufen sein. Wie auch immer, diese Kinder gingen mich nichts an.

 

Die Reise lief wie ein Film ab, ich dachte an nichts, ein Verkehrsmittel folgte auf das andere, ich zeigte meine Fahrscheine vor, wenn ich dazu aufgefordert wurde, die Obrigkeit machte mir keine Schwierigkeiten. Nachdem ich das Haus verlassen hatte und mich auf dem Weg in die Stadt befand, war die Sonne strahlend über das leise grollende Meer geklettert, ich begegnete einer italienischen Streife, die einen neugierigen Blick auf meine Uniform warf, aber nichts sagte; kurz bevor ich in den Bus stieg, kam ein französischer Polizist in Begleitung zweier Bersaglieri auf mich zu und verlangte meine Papiere: Als ich sie ihm zeigte und ihm den Brief des Marseiller Einsatzkommandos übersetzte, salutierte er und ließ mich fahren. Das war gut so, ich wäre unfähig zu einer Diskussion gewesen, ich war starr vor Angst, meine Gedanken wie eingefroren. Im Bus fiel mir ein, dass ich meinen Anzug und meine gesamte Kleidung vom Vortag vergessen hatte. Auf dem Bahnhof in Marseille musste ich mich eine Stunde gedulden, ich bestellte einen Kaffee und trank ihn am Buffet, im Stimmengewirr der großen Halle. Ich musste nachdenken. Es hatte doch bestimmt Schreie und Lärm gegeben; wie war es möglich, dass ich nicht wach geworden war? Ich hatte nur ein Glas Wein getrunken. Und dann hatte der Mann die Zwillinge nicht getötet, sie mussten geschrien haben. Warum waren sie nicht gekommen, um mich zu holen? Was hatten sie dort still und stumm gemacht, als ich erwacht war? Der Mörder hatte das Haus offenbar nicht durchsucht, jedenfalls war er nicht in mein Zimmer gekommen. Und wer war er? Ein Räuber, ein Dieb? Aber es schien nichts angerührt, durcheinander, in Unordnung gebracht worden zu sein. Vielleicht hatten die Zwillinge ihn überrascht, und er war geflohen. Aber das ergab keinen Sinn, sie hatten nicht geschrien, sie hatten mich nicht geholt. War der Mörder allein gewesen? Mein Zug kam, ich stieg ein, setzte mich und hing weiter meinen Gedanken nach. Wenn es kein Dieb gewesen war, keine Diebe, was dann? Eine Abrechnung? Ein Geschäft von Moreau, das gründlich danebengegangen war? Hatten die Partisanen des Maquis ein Exempel statuiert? Doch die Partisanen schlachteten ihre Opfer nicht wie Wilde mit der Axt ab; sie führten sie in den Wald, machten ihnen einen Scheinprozess und erschossen sie. Und abermals, ich war nicht wach geworden, ich, der ich einen so leichten Schlaf hatte, ich verstand das nicht, die Angst lähmte mich, ich lutschte an meinen fast verheilten Fingern, meine Gedanken drehten sich im Kreis, schlugen im stoßenden Rhythmus des Zugs wilde Kapriolen, ich wusste gar nichts mehr, nichts ergab einen Sinn. In Paris erwischte ich mühelos den Mitternachtsexpress nach Berlin; dort nahm ich wieder ein Zimmer im selben Hotel. Alles war ruhig, still, einige Autos fuhren vorbei, die Elefanten, die ich mir immer noch nicht angesehen hatte, trompeteten im Licht der Morgendämmerung. Ich hatte einige Stunden im Zug geschlafen, es war ein schwarzer, traumloser Schlaf gewesen; ich war noch erschöpft, konnte mich aber unmöglich wieder hinlegen. Meine Schwester, sagte ich mir schließlich, ich muss Una Bescheid sagen. Ich ging zum Kaiserhof: Ob Freiherr von Üxküll eine Adresse hinterlassen habe? »Wir dürfen die Adressen unserer Gäste nicht herausgeben, Herr Sturmbannführer«, wurde ich beschieden. Aber es lasse sich doch zumindest ein Telegramm aufgeben? Es handle sich um eine dringende Familienangelegenheit. Das ja, das sei möglich. Ich bat um ein Formular und schrieb auf dem Tresen der Rezeption: MAMA TOT ERMORDET STOPP MOREAU AUCH STOPP BIN IN BERLIN RUF MICH AN STOPP und fügte die Nummer des Hotels Eden hinzu. Dann gab ich es mitsamt einem Zehnmarkschein dem Portier; der las den Text mit betroffener Miene durch und sagte mit einer leichten Verbeugung: »Mein Beileid, Herr Sturmbannführer.« – »Schicken Sie es gleich ab?« – »Ich rufe die Post sofort an, Herr Sturmbannführer.« Er gab mir das Wechselgeld heraus, ich kehrte ins Eden zurück und bat darum, mich sofort zu holen, wenn ein Anruf für mich käme, egal, wie spät es sei. Ich musste bis zum Abend warten. Ich nahm den Anruf in einer glücklicherweise schallisolierten Kabine neben der Rezeption entgegen. Unas Stimme war voller Panik: »Was ist passiert?« Ich hörte, dass sie geweint hatte. Ich begann so ruhig wie möglich: »Ich war in Antibes, ich habe sie besucht. Gestern Morgen …« Meine Stimme versagte. Ich räusperte mich und fing erneut an: »Gestern Morgen bin ich aufgewacht …« Meine Stimme brach, und ich konnte nicht fortfahren. Ich hörte meine Schwester ausrufen: »Was ist los? Was ist passiert?« – »Warte«, sagte ich rau und ließ den Hörer sinken, während ich versuchte, mich wieder zu fassen. Noch nie hatte ich derart die Kontrolle über meine Stimme verloren; selbst in den schlimmsten Augenblicken war ich immer in der Lage gewesen, klar und exakt Bericht zu erstatten. Ich hüstelte, dann hob ich den Hörer wieder ans Ohr und schilderte ihr in wenigen Worten, was geschehen war. Sie hatte nur eine einzige Frage, panisch, außer sich: »Und die Zwillinge? Wo sind die Zwillinge?« Und da drehte ich durch, ich begann in der Kabine zu toben, schlug mit dem Rücken, der Faust, den Füßen gegen die Wände und brüllte in den Hörer: »Wer sind denn diese Zwillinge?! Zu wem gehören diese verfluchten Gören?« Durch den Lärm aufgeschreckt, war ein Hotelpage vor der Kabine stehen geblieben und betrachtete mich durch die Glasscheibe. Mühsam beruhigte ich mich. Meine Schwester am anderen Ende der Leitung schwieg. Ich atmete tief durch und sagte in den Hörer: »Sie leben. Ich weiß nicht, wo sie hin sind.« Sie sagte nichts, ich glaubte ihr Atmen durch das Knistern der Fernleitung zu vernehmen. »Bist du noch da?« Keine Antwort. »Wessen Kinder sind das?«, fragte ich wieder, leise dieses Mal. Sie gab noch immer keine Antwort. »Scheiße!«, brüllte ich und knallte den Hörer auf die Gabel. Dann stürmte ich aus der Kabine und baute mich vor der Rezeption auf. Ich nahm mein Adressbuch, suchte eine Telefonnummer heraus, kritzelte sie auf ein Stück Papier und reichte es dem Portier. Einen Augenblick später läutete das Telefon in der Kabine. Ich nahm den Hörer ab, eine Frauenstimme. »Guten Abend«, sagte ich. »Sturmbannführer Aue. Ich möchte Dr. Mandelbrod sprechen.« – »Tut mir leid, Herr Sturmbannführer. Dr. Mandelbrod ist nicht zu sprechen. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?« – »Ich möchte mich mit ihm treffen.« Ich nannte ihr die Nummer des Hotels und ging wieder hinauf in mein Zimmer. Eine Stunde später brachte mir ein Etagenkellner die Nachricht: Dr. Mandelbrod erwarte mich am folgenden Tag um zehn Uhr. Dieselben Frauen, oder andere, die ihnen glichen, führten mich hinein. In dem großen hellen Büro voller Katzen erwartete mich Mandelbrod am Couchtisch; Herr Leland, aufrecht und mager, in einem gestreiften Zweireiher, saß neben ihm. Ich gab ihnen die Hand und setzte mich zu ihnen. Dieses Mal wurde kein Tee gereicht. Mandelbrod ergriff das Wort: »Ich freue mich, dich zu sehen. Hast du einen schönen Urlaub gehabt?« Tief in seiner Speckschicht schien er zu lächeln. »Hast du Zeit gehabt, über meinen Vorschlag nachzudenken?« – »Ja, Herr Doktor. Doch ich hätte einen anderen Wunsch. Ich würde gerne zur Waffen-SS wechseln und an die Front gehen.« Mandelbrod machte eine leichte Bewegung, als zucke er die Achseln. Leland fixierte mich mit einem harten, kalten durchdringenden Blick. Ich wusste, dass er ein Glasauge hatte, hatte aber nie herausfinden können, welches es war. Er antwortete mit einer rauen Stimme, in der ein ganz leichter Akzent anklang: »Das ist unmöglich. Wir haben deine Krankenberichte gesehen: Aufgrund deiner Verwundung giltst du als schwerkriegsbeschädigt, du darfst nur noch Büroarbeiten machen.« Ich blickte ihn an und stammelte: »Aber die brauchen doch Männer. Überall werden die Leute eingezogen.« – »Schon«, sagte Mandelbrod, »trotzdem nehmen sie nicht jeden. Vorschrift ist Vorschrift.« – »Du wirst nie wieder kv geschrieben«, stellte Leland nachdrücklich fest. »Ja«, fuhr Mandelbrod fort, »und für Frankreich besteht auch wenig Hoffnung. Nein, du solltest uns vertrauen.« Ich stand auf: »Meine Herren, ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen haben. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe.« – »Keine Ursache, mein Kleiner«, wisperte Mandelbrod. »Lass dir Zeit, denk noch einmal darüber nach.« – »Aber denk daran«, fügte Leland streng hinzu, »ein Frontsoldat kann sich seinen Platz nicht aussuchen. Er hat seine Pflicht zu tun, wo immer er gerade steht.«

Vom Hotel aus schickte ich ein Telegramm an Werner Best in Dänemark, in dem ich ihm mitteilte, ich sei nun doch gewillt, eine Stelle in seiner Verwaltung anzutreten. Dann wartete ich. Meine Schwester rief nicht zurück, ich versuchte auch nicht, sie zu erreichen. Drei Tage später brachte man mir einen Umschlag des Auswärtigen Amts; es war Bests Antwort: Die Lage in Dänemark habe sich verändert, er könne mir im Augenblick nichts anbieten. Ich zerknüllte den Umschlag und warf ihn fort. Ich spürte Bitterkeit und Furcht in mir aufsteigen, ich musste unbedingt etwas unternehmen, sonst würde ich zugrunde gehen. Ich rief noch einmal in Mandelbrods Büro an und hinterließ eine Nachricht.