Aber vielleicht ist euch das alles schnurzegal. Vielleicht würdet ihr statt meiner krankhaften und abstrusen Reflexionen viel lieber pikante Anekdötchen und Histörchen hören. Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Geschichten würde ich ja gerne erzählen: Doch dann, wenn ich so auf gut Glück in meinen Erinnerungen und Notizen herumstochere … ich habe es euch gesagt, ich werde müde, ich muss allmählich zum Ende kommen. Und wenn ich noch den Rest des Jahres 1944 in allen Einzelheiten erzählen müsste, so wie ich es bis hierher in etwa getan habe, fände ich nie ein Ende. Ihr seht, ich denke auch an euch, nicht nur an mich, ein klein wenig jedenfalls, schließlich gibt es Grenzen, denn wenn ich so viel Mühe auf mich nehme, dann nicht, um euch einen Gefallen zu tun, ich gebe es zu, sondern in erster Linie, um für meine eigene geistige Hygiene zu sorgen, so wie man, wenn man zu viel gegessen hat, auch irgendwann die Abfälle loswerden muss, ob das nun gut riecht oder nicht, man hat nicht immer die Wahl; und dann habt ihr außerdem das absolute Machtmittel in Händen: Ihr könnt dieses Buch jederzeit zuklappen und in den Mülleimer werfen, ein letztes Mittel, gegen das ich nichts auszurichten vermag; also, warum sollte ich übertriebene Rücksicht nehmen. Wenn ich die Methode ein wenig ändere, so geschieht es, ich gebe es zu, vor allem meinetwegen, ob euch das passt oder nicht, noch ein Beweis für meinen grenzenlosen Egoismus, Ergebnis sicherlich meiner schlechten Erziehung. Ich hätte doch vielleicht etwas anderes machen sollen, haltet ihr mir entgegen, wohl wahr, ich hätte vielleicht etwas anderes machen sollen, mit Begeisterung hätte ich Musik gemacht, wenn ich zwei Noten hätte aneinanderreihen und einen G-Schlüssel erkennen können, aber gut, ich habe meine Grenzen auf diesem Gebiet bereits beschrieben, ich hätte auch Malerei betreiben können, warum nicht, die sieht mir durchaus nach einer angenehmen Beschäftigung aus, einer ruhigen Beschäftigung, sich so in Formen und Farben zu verlieren, aber was soll’s, in einem anderen Leben vielleicht, denn in diesem habe ich nie eine Wahl gehabt, ein klein wenig gewiss, einen bestimmten Spielraum, aber eingeschränkt, wegen des unnachsichtigen Schicksals, womit wir wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen wären. Doch wenden wir uns lieber wieder Ungarn zu.

Über die Offiziere an Eichmanns Seite gibt es nicht viel zu sagen. Das waren größtenteils friedfertige Männer, brave Bürger in Erfüllung ihrer Pflicht, stolz und glücklich, SS-Uniformen tragen zu dürfen, aber übervorsichtig, kaum zur Initiative fähig, stets mit einem »ja … aber« zur Hand und von grenzenloser Bewunderung für ihren Chef erfüllt, dieses großartige Genie. Der Einzige, der etwas von ihnen abstach, war Wisliceny, ein Preuße meines Alters, der sehr gut Englisch sprach und über ausgezeichnete Geschichtskenntnisse verfügte; mit ihm unterhielt ich mich gern an den Abenden über den Dreißigjährigen Krieg, die Wende von 1848 oder auch das moralische Versagen der Wilhelminischen Epoche. Seine Ansichten waren nicht immer originell, aber er wusste sie stets gut zu belegen und zu einer zusammenhängenden Erzählung zu verflechten, was die wichtigste Eigenschaft der historischen Vorstellungskraft ist. Früher war er Eichmanns Vorgesetzter gewesen, 1936, glaube ich, auf jeden Fall zur Zeit des SD-Hauptamts, als das Referat für Judenfragen noch Abteilung II 112 hieß; doch infolge seiner Faulheit und Trägheit sah er sich rasch von seinem Schüler überholt, was er diesem aber nicht nachtrug – sie waren gute Freunde geblieben, Wisliceny war ein enger Vertrauter der Familie, und sie duzten sich sogar in der Öffentlichkeit. (Etwas später zerstritten sie sich aus Gründen, die ich nicht kenne. Als Belastungszeuge in Nürnberg hat Wisliceny ein Porträt seines ehemaligen Kameraden gezeichnet, das lange Zeit dazu beitrug, das Bild zu verzerren, das sich Historiker und Schriftsteller von Eichmann machten, wobei einige sich sogar ernsthaft zu der Behauptung verstiegen, dieser armselige Obersturmbannführer habe Adolf Hitler Befehle erteilt. Man kann Wisliceny keinen Vorwurf daraus machen: Er wollte seine Haut retten, und Eichmann war schließlich verschwunden, damals war es üblich, den Abwesenden die Schuld in die Schuhe zu schieben, was dem armen Wisliceny allerdings nichts genützt hat; er endete an einem Strick in Pressburg, dem Bratislava der Slowaken, und dieser Strick muss recht kräftig gewesen sein, bei seiner Leibesfülle.) Ein anderer Grund, warum ich Wisliceny mochte, lag darin, dass er nie den Kopf verlor, im Unterschied zu anderen, vor allem den Bürokraten aus Berlin, die zum ersten Mal in ihrem Leben zu einem Einsatz entsandt worden waren und die angesichts ihrer plötzlichen Macht über diese jüdischen Würdenträger, gebildete und manchmal doppelt so alte Männer, jedes Maß verloren. Einige beleidigten die Juden auf die ungehörigste und flegelhafteste Weise; andere konnten der Versuchung, ihr Amt zu missbrauchen, kaum widerstehen; alle trugen eine unerträgliche und in meinen Augen völlig deplatzierte Arroganz zur Schau. Ich erinnere mich beispielsweise an Hunsche, einen Regierungsrat, also einen Beamten, einen kleinkarierten Juristen, das Musterexemplar eines grauen Männchens, das man hinter seinem Schreibtisch in einer Bank nie wahrnimmt, wo es geduldig Papiere bekritzelt und auf seine Pensionierung wartet, die ihm endlich die ersehnte Möglichkeit beschert, in einer von seiner Frau gestrickten Wollweste holländische Tulpen zu züchten oder Zinnsoldaten aus napoleonischer Zeit zu bemalen und sie liebevoll und akkurat in Reih und Glied, als Reminiszenz an die verlorengegangene Ordnung seiner Jugend, vor einem Gipsmodell des Brandenburger Tors aufzustellen, oder was weiß ich, wovon solche Leute träumen; und dort, in Budapest, war er ein grotesker Anblick in seinen lächerlich ausgestellten Reithosen, rauchte Luxuszigaretten, empfing, die schmutzigen Stiefel auf einem Samtsessel, die jüdischen Honoratioren und versagte sich schamlos keinen noch so verstiegenen Wunsch. In den allerersten Tagen nach unserer Ankunft hatte er die Juden aufgefordert, ihm ein Klavier zu liefern, wobei er nachlässig hingeworfen hatte: »Ich habe schon immer davon geträumt, ein Klavier zu haben«; die verängstigten Juden brachten ihm acht; und Hunsche, breitbeinig in seinen langschäftigen Stiefeln aufgebaut, putzte sie in einem Ton, der ironisch sein sollte, in meiner Gegenwart herunter: »Aber, aber, meine Herren! Ich wollte doch kein Geschäft eröffnen, ich wollte nur Klavier spielen.« Ein Klavier! Deutschland stöhnte unter den Bomben, unsere Soldaten an der Front kämpften mit erfrorenen Gliedmaßen und verstümmelten Händen, aber Hauptsturmführer Regierungsrat Dr. Hunsche, der seine Dienststelle in Berlin noch nie verlassen hatte, verspürte das dringende Bedürfnis nach einem Klavier, vermutlich, um seine angegriffenen Nerven zu beruhigen. Wenn ich ihn so betrachtete, wie er die Befehle für die Männer im Durchgangslager ausstellte – die Evakuierungen hatten begonnen –, fragte ich mich, ob ihm nicht in dem Augenblick, in dem er seine Unterschrift daruntersetzte, unter dem Tisch einer abging. Das war – ich bin der Erste, der das zugibt – ein erbärmlicher Vertreter des Herrenvolks: Und wenn Deutschland nach solchen Leuten, die es leider allzu häufig gab, beurteilt werden soll, dann haben wir, ich kann es nicht leugnen, unser Schicksal, das Urteil der Geschichte, unsere Dike wahrhaft verdient.

Und was gibt es über Obersturmbannführer Eichmann zu berichten? Seit ich ihn kannte, hatte er seine Rolle noch nie so restlos ausgefüllt. Wenn er die Juden empfing, war er von Kopf bis Fuß der Übermensch, er nahm seine Brille ab, sprach mit ihnen in einem schneidenden, schroffen, aber höflichen Ton, er ließ sie Platz nehmen, redete sie mit »Meine Herren« an, titulierte Dr. Stern als »Herr Hofrat« und überschüttete sie dann plötzlich mit kalkulierten Grobheiten, die sie schockieren sollten, um gleich darauf wieder in diese eisige Höflichkeit zu verfallen, die sie zu hypnotisieren schien. Er bewies auch größtes Geschick im Umgang mit den ungarischen Behörden, freundlich und höflich zugleich, wusste er sie zu beeindrucken und hatte auch enge Freundschaften mit einigen von ihnen geknüpft, insbesondere mit László Endre, der ihm in Budapest Zugang zu einem ihm bis dahin ungekannten gesellschaftlichen Leben gewährte, das ihn tief beeindruckte, lud ihn Endre doch auf Schlösser ein und stellte ihn Gräfinnen vor. All das, der Umstand, dass alle – Juden wie Ungarn – sich das gern gefallen ließen, kann erklären, warum auch Eichmann in Maßlosigkeit verfiel (allerdings nie mit der Dummheit eines Hunsche) und am Ende wirklich glaubte, er wäre der Meister. Er hielt sich wirklich für einen Kondottiere, einen von dem Bach-Zelewski und vergaß darüber sein wahres Wesen, das eines befähigten Bürokraten, sogar eines in seinem unmittelbaren Tätigkeitsbereich sehr befähigten. Doch wenn man ihn allein in seinem Büro antraf, oder am Abend, wenn er ein wenig getrunken hatte, wurde er wieder der alte Eichmann, der Eichmann, der die Gestapo-Dienstzimmer abklapperte, respektvoll, dienstbeflissen, beeindruckt von jedem Dienstgrad, der höher als der eigene war, und gleichzeitig von Neid und Ehrgeiz zerfressen, der Eichmann, der sich wegen jeder Maßnahme und Entscheidung bei Müller, Heydrich oder Kaltenbrunner schriftlich absicherte und all diese Befehle sorgsam in einem Aktenschrank abheftete, der Eichmann, der genauso glücklich – und nicht weniger effektiv – gewesen wäre, wenn seine Aufgabe darin bestanden hätte, Pferde oder Lastwagen zu kaufen und zu befördern, statt Zehntausende todgeweihter Menschen zusammenzuziehen und zu evakuieren. Wenn ich zu ihm ging, um mit ihm privat über den Arbeitseinsatz zu sprechen, saß er hinter seinem Schreibtisch in seinem Luxusappartement im Hotel Majestic, hörte mir mit gelangweilt verzogenem Gesicht zu, spielte mit seiner Brille oder einem Druckbleistift, den er obsessiv klicken ließ, und bevor er antwortete, ordnete er die mit Notizen und kleinen Kritzeleien bedeckten Papiere neu, blies den Staub von seinem Schreibtisch, kratzte sich an seinem etwas kahlen Kopf, dann erst ließ er eine seiner langen Antworten vom Stapel, die so verschachtelt waren, dass er sich selbst darin verhedderte. Anfangs, als der Einsatz endlich begann, als die Ungarn Ende April ihr Einverständnis mit den Evakuierungen erklärt hatten, glühte er förmlich vor Begeisterung; gleichzeitig – und verstärkt, als sich die Probleme häuften – wurde er immer schwieriger, unnachgiebiger, selbst mit mir, den er doch schätzte, überall sah er jetzt Feinde. Winkelmann, der nur auf dem Papier sein Vorgesetzter war, konnte ihn nicht ausstehen, und doch hat ihn nach meiner Ansicht dieser grimmige und bärbeißige Polizist mit der von einer Ahnenreihe österreichischer Bauern ererbten Schläue am besten beurteilt. Eichmanns Arroganz, die an Unverschämtheit grenzte, brachte Winkelmann zwar auf die Palme, hinderte ihn aber nicht, Eichmann zu durchschauen: »Er ist der typische Untertan«, erklärte er mir einmal, als ich ihn aufsuchte, um ihn zu fragen, ob er intervenieren oder zumindest Druck ausüben könnte, um die miserablen Transportbedingungen der Juden zu verbessern. »Er macht rückhaltlosen Gebrauch von seiner Autorität und kennt überhaupt keine moralischen oder geistigen Bedenken bei der Ausübung seiner Macht. Er hat auch nicht die geringsten Skrupel, die Grenzen seiner Befugnisse zu überschreiten, wenn er glaubt, im Sinne seiner Vorgesetzten zu handeln und von ihnen gedeckt zu sein, wie es Gruppenführer Müller und Obergruppenführer Kaltenbrunner ja tatsächlich tun.« Das war vermutlich absolut zutreffend, zumal Winkelmann Eichmanns Fähigkeiten nicht in Abrede stellte. Dieser wohnte damals nicht mehr im Hotel, sondern in der schönen Villa eines Juden in der Apostol-Straße auf dem Rosenberg, einem zweistöckigen Haus mit einem Turm, hoch über der Donau und von einem herrlichen Obstgarten umgeben, der jetzt leider von Luftschutzgräben verunstaltet wurde. Er lebte auf großem Fuß und verbrachte die meiste Zeit mit seinen neuen ungarischen Freunden. Die Evakuierungen waren bereits in großem Stil angelaufen, Zone für Zone nach einem sehr knappen Zeitplan, und die Klagen stürmten von allen Seiten ein, vom Jägerstab, von Speers Dienststellen, von Saur selbst, und sie gingen in alle Richtungen, an die Adresse Himmlers, Pohls, Kaltenbrunners, aber am Ende landeten sie alle bei mir, und es war in der Tat eine Katastrophe, ein echter Skandal, auf den Baustellen trafen nur zarte junge Mädchen oder bereits halb tote Männer ein, keine gesunden, kräftigen, an Arbeit gewohnte Burschen, wie es sich die Verantwortlichen erhofft hatten; sie waren außer sich, niemand begriff, was vor sich ging. Ein Teil der Schuld traf, wie erwähnt, den Honvéd, der trotz aller Aufforderungen seine Arbeits-Bataillone nicht herausrückte. Doch auch unter denen, die übrig blieben, waren noch Männer, die bis vor Kurzem ein normales Leben geführt, sich satt gegessen hatten und sicherlich bei guter Gesundheit gewesen waren. Nun stellte sich aber heraus, dass die Verhältnisse an den Sammelpunkten, wo die Juden manchmal Tage oder Wochen fast gänzlich ohne Verpflegung warten mussten, bevor sie, in entsetzlich überfüllten Güterwaggons, ohne Wasser, ohne Essen, mit einem Toiletteneimer pro Waggon, weitertransportiert wurden, dass diese Verhältnisse an ihren Kräften zehrten und Krankheiten Vorschub leisteten, sodass viele unterwegs starben und jene, die ankamen, so heruntergekommen waren, dass nur wenige die Selektion überstanden, und selbst die wurden von den Unternehmen oder Baustellen abgelehnt oder rasch wieder zurückgeschickt, vor allem von den Verantwortlichen des Jägerstabs, die tobten, weil man ihnen Mädchen schickte, die keine Hacke heben konnten. Wenn ich Eichmann diese Klagen übermittelte, wies er sie, wie gesagt, schroff zurück, behauptete, dass er keine Schuld daran trage, dass nur die Ungarn etwas an diesen Bedingungen ändern könnten. Also suchte ich Major Baky auf, den für die Gendarmerie verantwortlichen Staatssekretär; Baky wischte meine Vorhaltungen mit der Bemerkung »Sie brauchen sie nur schneller zu übernehmen« vom Tisch und verwies mich an Oberstleutnant Ferenczy, den mit der technischen Durchführung der Evakuierungen betrauten Offizier, einen verbitterten, schwer zugänglichen Mann, der mir einen einstündigen Vortrag hielt, in dem er mir erklärte, dass er die Juden nur zu gern besser verpflegen würde, wenn er die nötigen Lebensmittel bekäme, und die Waggons nicht so überfüllen würde, wenn ihm mehr Züge zur Verfügung stünden, dass aber seine Hauptaufgabe darin bestehe, die Juden zu evakuieren, und nicht, sie zu verhätscheln. Mit Wisliceny suchte ich eine dieser »Sammelstellen« auf, ich weiß nicht mehr genau, wo, vielleicht in der Gegend von Kaschau: ein grausiges Schauspiel, die Juden wurden familienweise auf dem Hof einer Ziegelei zusammengepfercht, unter freiem Himmel im Frühlingsregen, die Kinder spielten in kurzen Hosen in den Pfützen, die Erwachsenen blieben apathisch auf ihrem Gepäck sitzen oder gingen hin und her. Ich war verblüfft über den Gegensatz zwischen diesen Juden und denen, die ich bis dahin näher kennengelernt hatte, den galizischen und ukrainischen Juden; diese hier waren kultivierte Menschen, häufig aus dem Bürgertum, und selbst die Handwerker und Bauern, die zahlreich vertreten waren, machten einen sauberen und anständigen Eindruck, die Kinder waren, den Umständen zum Trotz, gewaschen und gekämmt und trugen teilweise die grüne Nationaltracht mit schwarzem Schnurbesatz und kleinen Käppis. All das machte den Anblick noch bedrückender, trotz ihrer gelben Sterne hätten es deutsche oder zumindest tschechische Dorfbewohner sein können, und düstere Gedanken überfielen mich, ich stellte mir diese schmucken Burschen und diese hübschen scheuen Mädchen im Gas vor, ein Gedanke, bei dem sich mir der Magen umdrehte, aber da ließ sich nichts machen, ich betrachtete die Schwangeren und stellte sie mir in den Gaskammern vor, die Hände auf den runden Bäuchen, und ich fragte mich schaudernd, was mit dem Fötus einer vergasten Frau geschähe, ob er sofort mit seiner Mutter stürbe oder sie um kurze Zeit überlebte, gefangen in seinem toten Behältnis, seinem Paradies, das ihn erstickte, und da überfluteten mich wieder die Erinnerungen an die Ukraine, und zum ersten Mal seit Langem hatte ich wieder Lust, mich zu übergeben, meine Ohnmacht, meine Traurigkeit und mein nutzloses Leben auszukotzen. Zufällig begegnete ich dort Dr. Grell, einem Legationsrat, der von Feine beauftragt war, die ausländischen Juden herauszusuchen, die irrtümlicherweise von der ungarischen Polizei verhaftet worden waren, vor allem die Juden aus verbündeten oder neutralen Ländern, und sie aus den Durchgangszentren zu holen und gegebenenfalls in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Dieser arme Grell, ein »Gesichtsverletzter«, der entstellt war von einer Verwundung und entsetzlichen Verbrennungen und vor dem die erschrockenen Kinder schreiend davonliefen, watete im Schlamm von einer Gruppe zur anderen, das Wasser tropfte ihm vom Hut, und fragte höflich, ob Häftlinge mit ausländischen Pässen anwesend seien, prüfte die Dokumente und wies die ungarischen Gendarmen an, einige zur Seite zu nehmen. Er war ein rotes Tuch für Eichmann und seine Kameraden, die ihm Gefühlsduselei vorwarfen, mangelnde Urteilsfähigkeit, und tatsächlich kauften sich viele ungarische Juden für einige Tausend Pengő ausländische Pässe, mit Vorliebe rumänische, die am leichtesten zu beschaffen waren, aber Grell machte nur seine Arbeit, es war nicht seine Aufgabe festzustellen, ob diese Pässe legal erworben worden waren oder nicht, und wenn die rumänischen Attachés bestechlich waren, so war es das Problem der Behörden in Bukarest, nicht unseres, und wenn sie alle diese Juden aufnehmen oder dulden wollten, dann sollten sie doch. Ich kannte Grell flüchtig, weil ich in Budapest hin und wieder mit ihm etwas trinken oder essen ging; die deutschen Behördenvertreter gingen ihm fast alle aus dem Weg, sogar seine eigenen Kameraden, zweifellos wegen seines schrecklichen Aussehens, aber auch wegen seiner schweren und äußerst befremdlichen depressiven Anwandlungen; mich störte das weniger, vielleicht, weil seine Verwundung im Grunde der meinen sehr ähnlich war, auch er hatte einen Kopfschuss erhalten, allerdings mit weit schlimmeren Folgen als ich; in schweigendem Einverständnis sprachen wir nicht über die näheren Umstände, aber wenn er etwas getrunken hatte, sagte er, ich hätte Glück gehabt, und er hatte Recht, es war ein unwahrscheinliches Glück, dass ich noch ein unversehrtes Gesicht und einen fast unversehrten Kopf hatte, während er, wenn er zu viel trank, und er trank oft zu viel, rasende Wutanfälle bekam, fast schon epileptische Krämpfe, die Farbe wechselte und zu brüllen anfing, einmal musste ich ihn mit einem Kaffeehauskellner gewaltsam zurückhalten, damit er nicht das ganze Geschirr zerschlug, am nächsten Tag kam er, um sich zu entschuldigen, reumütig, niedergeschlagen, und ich versuchte, ihn zu trösten, ich verstand ihn gut. Dort, in diesem Durchgangslager, kam er zu mir, schaute Wisliceny an, den er ebenfalls kannte, und sagte dann: »Scheußliche Sache, was?« Er hatte Recht, aber es gab Schlimmeres. Um besser zu verstehen, was bei den Selektionen passierte, fuhr ich nach Auschwitz. Über Wien und Krakau reisend, kam ich nachts an; lange bevor wir den Bahnhof erreichten, war auf der linken Seite eine Linie von weißen Lichtpunkten zu sehen, die auf den weiß gekalkten Pfählen der Stacheldrahtumzäunung von Birkenau montierten Scheinwerfer, hinter dieser Linie wieder Finsternis, ein Abgrund, der diesen grässlichen Geruch von verbranntem Fleisch ausströmte, der schwadenweise durch unser Abteil zog. Die Mitreisenden, vor allem Soldaten und Beamte, die zum Dienst zurückkehrten, drückten sich die Nasen an den Fenstern platt, häufig in Begleitung ihrer Frauen, und sparten nicht mit Kommentaren: »Das brennt ja prächtig«, sagte ein Zivilist zu seiner Frau. Auf dem Bahnhof wurde ich von einem Untersturmführer in Empfang genommen, der mir ein Zimmer im Haus der Waffen-SS zuweisen ließ. Am nächsten Morgen sah ich Höß wieder. Anfang Mai, nach Eichmanns Inspektion, hatte das WVHA, wie berichtet, die Organisation von Auschwitz wieder völlig umgestaltet. Liebehenschel, sicherlich der beste Kommandant, den das Lager jemals gehabt hatte, wurde durch eine Null ersetzt, Sturmbannführer Bär, einen gelernten Konditor, der eine Zeitlang Adjutant bei Pohl gewesen war; Hartjenstein in Birkenau hatte seinen Platz mit Hauptsturmführer Kramer getauscht, dem Kommandanten von Natzweiler; und Höß beaufsichtigte die anderen während der Dauer des ungarischen Einsatzes. Als ich mit ihm sprach, schien mir offenkundig, dass er den Zweck seiner Ernennung ausschließlich in der Vernichtung sah: Obwohl die Juden in Rhythmen von manchmal vier Zügen à dreitausend Einheiten pro Tag eintrafen, hatte er nicht eine einzige neue Baracke für ihre Aufnahme bauen lassen, sondern seine ganze bemerkenswert große Energie darauf gerichtet, die Krematorien überholen und, worauf er besonders stolz war, ein Bahngleis bis ins Zentrum von Birkenau verlegen zu lassen, um die Waggons direkt am Fuße der Gaskammern entladen zu können. Schon vom ersten Transport des Tages an lud er mich zur Besichtigung der Selektion und der übrigen Arbeitsgänge ein. Das neue Gleis führte unter dem Wachturm am Haupttor von Birkenau durch und setzte sich mit drei Verzweigungen bis zu den Krematorien ganz hinten fort. Ein großes Menschengewühl herrschte auf dem ungepflasterten Bahnsteig, lärmend, ärmer und bunter als das, das ich im Durchgangslager gesehen hatte, die Juden hier kamen offenbar aus Siebenbürgen, die Frauen und Mädchen trugen farbenfrohe Kopftücher, die Männer, noch im Mantel, stellten üppige Schnurrbärte zur Schau und waren schlecht rasiert. Es ging weitgehend geordnet zu, lange beobachtete ich die Ärzte, die die Selektion vornahmen (Wirths war nicht dabei), sie billigten jedem Fall zwei oder drei Sekunden zu, entschieden beim geringsten Zweifel negativ und schienen auch viele Frauen zurückzuweisen, die auf mich einen vollkommen gesunden Eindruck machten; als ich Höß darauf ansprach, erklärte er mir, es geschehe auf seine Anweisung, die Baracken seien überfüllt, er habe keinen Platz mehr, die Leute unterzubringen, die Unternehmen verhielten sich abweisend, nähmen diese Juden nicht schnell genug entgegen, daher würden sie sich stauen, Epidemien griffen wieder um sich, und da aus Ungarn täglich neue Transporte einträfen, sei er einfach gezwungen, Platz zu schaffen, er habe bereits mehrere Selektionen unter den Häftlingen durchführen lassen, außerdem habe er versucht, das Zigeunerlager liquidieren zu lassen, aber da habe es Probleme gegeben, und deshalb habe er es erst einmal aufgeschoben, er habe um die Genehmigung gebeten, das »Familienlager« Theresienstadt zu räumen, habe sie aber noch nicht erhalten und könne bis dahin wirklich nur die Besten selektieren, auf jeden Fall würden sie rasch an Krankheiten sterben, wenn er mehr nähme. All das erklärte er mir seelenruhig, die leeren blauen Augen gedankenverloren auf die Menge oben auf der Rampe gerichtet. Ich war verzweifelt, dieser Mann war vernünftigen Argumenten noch schwerer zugänglich als Eichmann. Er bestand darauf, mir die Vernichtungsanlagen zu zeigen und mir alles zu erklären: Er hatte die Sonderkommandos von 220 auf 860 Mann aufgestockt, aber man hatte die Kapazität der Kremas überschätzt; nicht die Gasanlagen waren das eigentliche Problem, sondern die überlasteten Öfen; um Abhilfe zu schaffen, hatte er Verbrennungsgruben ausheben und die Sonderkommandos stärker antreiben lassen, das brachte die nötige Verbesserung, er kam auf einen Durchschnitt von sechstausend Einheiten pro Tag, woraus folgte, dass einige manchmal bis zum nächsten Tag warten mussten, wenn besonders viel zu tun war. Es war grässlich, der Rauch und die von Petroleum und Körperfett genährten Flammen der Gruben mussten kilometerweit zu sehen sein, ich fragte ihn, ob das nicht zum Ärgernis werden könnte: »Oh, die Kreisbehörden sind beunruhigt, aber das ist nicht mein Problem.« Wenn man ihm Glauben schenken durfte, war nichts von dem, was für ihn ein Problem hätte sein sollen, sein Problem. Gereizt bat ich ihn, mir die Baracken zu zeigen. Der neue Abschnitt, der seit einiger Zeit als Durchgangslager für die ungarischen Juden vorgesehen war, war unvollendet geblieben; Tausende von Frauen, bleich und bereits abgemagert, obwohl sie erst seit Kurzem im Lager waren, drängten sich in diesen langen stinkenden Stallungen zusammen; viele hatten keinen Platz und schliefen draußen im Schlamm; obwohl man nicht genügend gestreifte Häftlingskleidung für sie hatte, ließ man ihnen nicht ihre eigenen Sachen, sondern staffierte sie mit Lumpen aus »Kanada« aus; ich sah auch Frauen, die vollkommen nackt oder nur mit einem Hemd bekleidet waren, unter dem zwei gelbe schlaffe Beine hervorschauten, manchmal mit Exkrementen beschmutzt. Kein Wunder, dass sich der Jägerstab beklagte! Mit ein paar vagen Worten gab Höß den anderen Lagern die Schuld: Angeblich wiesen sie die Transporte aus Platzmangel zurück. Den ganzen Tag schritt ich das Lager ab, Abschnitt für Abschnitt, Baracke für Baracke; die Männer waren in einem kaum besseren Zustand als die Frauen. Ich inspizierte die Häftlingsverzeichnisse: Natürlich hielt sich niemand an die Grundregel jeder Lagerhaltung: zuerst hinein – zuerst hinaus; während einige Neuankömmlinge noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden im Lager verbrachten, bevor sie weiterbefördert wurden, vegetierten andere dort drei Wochen vor sich hin, fielen vom Fleisch und starben nicht selten, was die Verluste erhöhte. Doch für jedes Problem, auf das ich Höß hinwies, fand er unvermeidlich jemand anderen, dem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Seine von der Vorkriegszeit geprägte Geisteshaltung war vollkommen ungeeignet für die Aufgabe, das sprang in die Augen; doch er war nicht allein verantwortlich, Schuld hatten auch diejenigen, die ihn hergeschickt hatten, Liebehenschel zu ersetzen, der, da bin ich mir sicher, auch wenn ich ihn nur wenig kannte, die Aufgabe ganz anders gelöst hätte. So lief ich bis zum Abend umher. Mehrfach regnete es während des Tages, kurze erfrischende Frühlingsschauer, die den Staub niederschlugen, aber auch das Elend der Häftlinge vertieften, die unter freiem Himmel blieben, selbst wenn die meisten vor allem bemüht waren, ein paar Tropfen zum Trinken zu ergattern. Der ganze hintere Bereich des Lagers wurde von Feuer und Rauch beherrscht, auch über die ruhige Fläche des Birkenwalds hinaus. Am Abend schoben sich wieder die endlosen Schlangen von Frauen, Kindern und Alten von der Rampe durch einen langen stacheldrahtbewehrten Gang zu den Kremas III und IV, wo sie unter den Birken geduldig warteten, bis sie an der Reihe waren, und das schöne Licht der untergehenden Sonne strich über die Wipfel des Birkenwaldes, dehnte die Schatten der Barackenreihen ins Unendliche, tauchte das düstere Grau der Rauchschwaden in den gelblichen Schimmer holländischer Gemälde, warf weiche Reflexe auf die Pfützen und Wasserbecken, überzog die Ziegelwand der Kommandantur mit einem leuchtenden fröhlichen Orangeton, und plötzlich hatte ich genug davon, ließ Höß dort stehen und kehrte in das Haus der Waffen-SS zurück, wo ich die Nacht damit verbrachte, einen schonungslosen Bericht über die Mängel des Lagers aufzusetzen. Einmal in Fahrt, schrieb ich einen weiteren über die ungarische Seite der Operation und zögerte in meinem Zorn nicht, Eichmanns Vorgehensweise Verschleppungstaktik zu nennen. (Die Verhandlungen mit den ungarischen Juden liefen schon seit zwei Monaten, das Angebot für die Lastwagen musste also schon einen Monat zurückliegen, denn mein Besuch in Auschwitz fand einige Tage vor der Landung in der Normandie statt; Becher beklagte sich seit Langem über Eichmanns mangelnde Kooperationsbereitschaft, uns beiden schien, dass er die Verhandlungen nur der Form halber führte.) Eichmann wird gänzlich von seiner organisatorischen Denkweise beherrscht, schrieb ich, er ist unfähig, komplexe Zielsetzungen zu verstehen und sie in seiner Vorgehensweise zu berücksichtigen. Und ich weiß aus sicherer Quelle, dass Pohl, nachdem ich diese Berichte über Brandt an den Reichsführer und ihn selbst direkt geschickt hatte, Eichmann ins WVHA kommen ließ und ihn wegen des Zustands der Ankömmlinge und der unzumutbaren Zahl von Toten und Kranken scharf und unverblümt abkanzelte; doch Eichmann begnügte sich in seiner Verbohrtheit wieder mit dem Hinweis, dass dies in die Zuständigkeit der Ungarn falle. Gegen eine solche Indolenz ließ sich nichts ausrichten. Ich verfiel in eine Niedergeschlagenheit, die auch mein Organismus zu spüren bekam: Ich schlief schlecht, wurde von unangenehmen Träumen heimgesucht und drei- oder viermal in der Nacht von Durst oder Harndrang geweckt, was sich dann zur Schlaflosigkeit auswuchs; morgens wachte ich mit lähmender Migräne auf, die mich für die Dauer des ganzen Tages um meine Konzentrationsfähigkeit brachte und mich manchmal zwang, die Arbeit zu unterbrechen, um mich für eine Stunde mit einer kalten Kompresse auf der Stirn aufs Sofa zu legen. Doch so müde ich auch war – ich fürchtete die Rückkehr der Nacht: die Stunden der Schlaflosigkeit, in denen ich vergeblich mit meinen Problemen rang, oder die immer beklemmenderen Träume, ich weiß nicht, was mich mehr quälte. Hier einer der Träume, die mir besonders zu schaffen machten: Der Rabbiner von Bremen war nach Palästina ausgewandert. Als er aber hörte, dass die Deutschen Juden umbrachten, weigerte er sich, es zu glauben. Er begab sich zum deutschen Konsulat und beantragte ein Visum für das Reich, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, was an den Gerüchten dran war. Natürlich endete es für ihn schlimm. Szenenwechsel: Ich warte als Fachmann für jüdische Angelegenheiten auf eine Audienz beim Reichsführer, der ein paar Dinge von mir wissen wollte. Ich bin ziemlich nervös, es ist klar, dass ich ein toter Mann bin, wenn er mit meinen Antworten nicht zufrieden ist. Diese Szene spielt in einem großen düsteren Schloss. In einem der Räume treffe ich Himmler; er drückt mir die Hand, ein kleiner unauffälliger Mann, mit einem langen Mantel bekleidet und dem unvermeidlichen Kneifer mit den runden Gläsern auf der Nase. Dann führe ich ihn einen langen Flur entlang, dessen Wände mit Büchern bedeckt sind. Offenbar gehören diese Bücher mir, denn der Reichsführer scheint von der Bibliothek sehr beeindruckt und beglückwünscht mich. Dann befinden wir uns in einem anderen Raum und erörtern Dinge, die ihn interessieren. Später scheinen wir uns im Freien aufzuhalten, mitten in einer brennenden Stadt. Meine Angst vor Heinrich Himmler ist verflogen, ich fühle mich vollkommen sicher in seiner Gegenwart, habe jetzt aber Angst vor den Bomben und dem Feuer. Wir müssen den brennenden Hof eines Gebäudes im Laufschritt überqueren. Der Reichsführer nimmt mich bei der Hand: »Haben Sie Vertrauen zu mir! Was auch kommen mag, ich werde Sie nicht loslassen. Wir schaffen es gemeinsam oder gehen gemeinsam unter.« Ich begreife nicht, warum er das Jüdlein beschützen will, das ich bin, aber ich vertraue ihm, ich weiß, dass er es ehrlich meint, ich könnte sogar Liebe für diesen seltsamen Mann empfinden.

Trotzdem, ich muss euch von diesen viel zitierten Verhandlungen berichten. Ich habe nicht selbst an ihnen teilgenommen: Einmal traf ich Kastner mit Becher, als Becher eines dieser privaten Abkommen aushandelte, die Eichmann so empörten. Mich interessierten sie aber sehr, da einer der Vorschläge darin bestand, eine gewisse Zahl der Juden auf Eis zu legen, das heißt, sie ohne Umweg über Auschwitz direkt in den Arbeitseinsatz zu schicken, was mir sehr gut in den Kram gepasst hätte. Becher war der Sohn eines Geschäftsmannes aus bester Hamburger Gesellschaft, ein Pferdenarr, der in der Reiter-SS als Offizier gelandet war und sich im Osten mehrfach ausgezeichnet hatte, vor allem Anfang 1943 an der Donfront, wofür er das Deutsche Kreuz in Gold erhielt; anschließend nahm er wichtige organisatorische Aufgaben im SS-Führungshauptamt, dem FHA, wahr, das die gesamte Waffen-SS überwachte. Nachdem er sich die Manfred-Weiss-Werke unter den Nagel gerissen hatte – er hat mir das nie erzählt, ich weiß nur aus Büchern, wie es gewesen ist, aber mir scheint, dass das alles zufällig begonnen hatte –, befahl ihm der Reichsführer, die Verhandlungen mit den Juden fortzuführen, wobei er Eichmann gleichzeitig ähnliche Anweisungen gab, vermutlich absichtlich, um sie unter Konkurrenzdruck zu setzen. Und Becher konnte viel versprechen, er hatte das Ohr des Reichsführers, war aber im Grunde nicht für die Judenangelegenheiten verantwortlich und hatte keinerlei direkten Einfluss in diesen Fragen, noch weniger als ich. Es waren noch alle möglichen anderen Leute in diese Affäre verwickelt: eine Gruppe lärmender undisziplinierter Burschen von Schellenberg, teilweise Angehörige des ehemaligen Amtes VI, wie Höttl, der sich Klages nennen ließ und später ein Buch unter einem weiteren Namen veröffentlichte, andere von Canaris’ Abwehr, Gefrorener (alias Dr. Schmidt), Durst (alias Winniger), Läufer (alias Schröder), aber vielleicht verwechsle ich auch die Namen und Pseudonyme, da war auch noch dieser unausstehliche Paul Karl Schmidt, der künftige Paul Carell, von dem bereits die Rede war und den ich meiner Meinung nach nicht mit Gefrorener alias Dr. Schmidt verwechsle, aber da bin ich mir nicht sicher. Und die Juden gaben all diesen Leuten Geld und Schmuck, und alle bedienten sich, im Namen ihrer Dienste beziehungsweise für sich selbst, wer weiß; Gefrorener und seine Kameraden, die Joel Brandt im März in Haft nahmen, um ihn vor Eichmann zu »schützen«, hatten mehrere Tausend Dollar von ihm verlangt, um ihn mit Wisliceny zusammenzubringen, und anschließend haben Wisliceny, Krumey und Hunsche viel Geld von ihm bekommen, bevor überhaupt von Lastwagen die Rede war. Brandt habe ich nie getroffen, Eichmann hat mit ihm verhandelt, dann hat er sich ziemlich rasch nach Istanbul abgesetzt und ist nie zurückgekehrt. Im Majestic habe ich einmal seine Frau mit Kastner gesehen, ein junges Geschöpf von ausgesprochen jüdischem Typus, nicht eigentlich schön, aber sehr ausdrucksvoll, Kastner hat sie mir als Brandts Frau vorgestellt. Unklar ist, wer eigentlich die Idee mit den Lastwagen gehabt hat, Becher hat behauptet, er sei es gewesen, aber ich bin überzeugt, dass es Schellenberg war, der sie dem Reichsführer eingegeben hat, oder wenn es doch Bechers Idee gewesen sein sollte, dann hat Schellenberg sie weiterentwickelt, jedenfalls war es Anfang April, als der Reichsführer Becher und Eichmann nach Berlin rief (das hat mir Becher erzählt, nicht Eichmann) und Eichmann den Befehl gab, die 8. und die 22. SS-Kavallerie-Division mit rund zehntausend von den Juden zu beschaffenden Lastwagen zu motorisieren. Das ist also die berüchtigte Geschichte jenes Plans, den man Blut gegen Ware genannt hat, zehntausend Lastwagen mit Winterausstattung gegen eine Million Juden, ein Plan, um dessentwillen schon viel Tinte vergossen wurde und noch vergossen werden wird. Ich habe dem Gesagten nicht viel hinzuzufügen: Die Hauptbeteiligten – Becher, Eichmann, das Gespann Brandt und Kastner – haben alle den Krieg überlebt und diese Geschichte bezeugt (doch der arme Kastner wurde 1957, drei Jahre vor Eichmanns Verhaftung, von jüdischen Extremisten in Tel Aviv ermordet – wegen seiner »Kollaboration« mit uns, welch traurige Ironie). Eine der Klauseln des den Juden unterbreiteten Vorschlags legte fest, dass die Lastwagen nur an der Ostfront, gegen die Sowjets, eingesetzt werden sollten, nicht gegen die Westmächte; und diese Lastwagen hätten natürlich nur von amerikanischen Juden kommen können. Ich bin überzeugt, dass Eichmann diesen Vorschlag für bare Münze genommen hat, umso mehr als der Kommandeur der 22. Division, SS-Brigadeführer August Zehender, ein guter Freund von ihm war: Er hat wirklich geglaubt, die Motorisierung dieser Divisionen sei das Ziel, und auch wenn es ihm gegen den Strich ging, so viele Juden laufen zu lassen, so wollte er seinem Freund Zehender doch helfen. Als hätten ein paar Lastwagen etwas am Verlauf des Krieges verändern können. Wie viele Lastwagen, Panzer oder Flugzeuge hätten eine Million Juden bauen können, wenn wir jemals eine Million Juden in den Lagern gehabt hätten? Die Zionisten, allen voran Kastner, haben vermutlich sofort begriffen, dass es sich um einen Köder handelte, allerdings einen, der auch ihren Interessen dienen konnte, mit dem sich Zeit gewinnen ließ. Das waren kluge, realistische Männer, die sicherlich genauso gut wie der Reichsführer wussten, dass nicht nur kein feindliches Land bereit gewesen wäre, Deutschland zehntausend Lastwagen zu liefern, sondern dass darüber hinaus, selbst zu diesem Zeitpunkt, kein Land eine Million Juden aufgenommen hätte. Für mich war die nähere Bestimmung, dass die Lastwagen nicht im Westen eingesetzt werden dürften, ein Indiz für die Beteiligung Schellenbergs. Wie Thomas mir zu verstehen gegeben hatte, gab es für Schellenberg nur noch eine Lösung: das widernatürliche Bündnis zwischen den kapitalistischen Demokratien und den Stalinisten zu sprengen und ganz auf die Karte Festung Europa gegen den Bolschewismus zu setzen. Übrigens hat ja die Nachkriegsgeschichte zur Genüge bewiesen, dass er vollkommen Recht gehabt hat und seiner Zeit nur voraus war. Der Lastwagen-Plan verfolgte möglicherweise mehrere Ziele. Schließlich wusste man ja nie, Wunder konnten immer geschehen, vielleicht würden ja die Juden und die Alliierten auf den Handel eingehen, und dann wäre es ein Leichtes gewesen, mittels dieser Lastwagen Zwietracht zwischen den Russen einerseits und den Engländern und Amerikanern andererseits zu säen, ja vielleicht sogar einen Bruch zwischen ihnen herbeizuführen. Möglicherweise träumte Himmler davon; doch Schellenberg war viel zu sehr Realist, als dass er seine Hoffnungen auf diese Variante gesetzt hätte. Für ihn muss die Angelegenheit viel einfacher gewesen sein, ihm ging es darum, über die Juden, die immer noch einen gewissen Einfluss hatten, ein diplomatisches Zeichen zu geben, dass Deutschland bereit sei, über alles zu reden, über einen Separatfrieden oder über die Einstellung des Vernichtungsprogramms, um dann zu sehen, wie die Engländer und Amerikaner reagierten, und gegebenenfalls andere Vorgehensweisen zu wählen: im Grunde genommen ein Versuchsballon. Die Engländer und Amerikaner haben es, nebenbei bemerkt, gleich richtig verstanden, wie ihre Reaktion zeigt: Der Vorschlag wurde in ihren Zeitungen veröffentlicht und angeprangert. Möglich auch, dass Himmler gedacht hat, wenn die Alliierten das Angebot zurückwiesen, würde das zeigen, dass ihnen das Leben der Juden egal sei oder dass sie unsere Maßnahmen insgeheim sogar billigten; auf jeden Fall würde ihnen damit ein Teil der Verantwortung zugewiesen, es würde sie verstricken, wie Himmler bereits die Gauleiter und die anderen Würdenträger des Regimes verstrickt hatte. Wie dem auch sei, Schellenberg und Himmler gaben nicht auf: Bekanntlich dauerten die Verhandlungen bis zum Kriegsende fort, immer mit den Juden als Einsatz; Becher gelang es sogar dank jüdischer Vermittlung, McClellan, Roosevelts Mann, in der Schweiz zu treffen, ein Verstoß der Amerikaner gegen die Abkommen von Teheran, doch das Treffen führte für ihn zu nichts. Ich hatte damit schon lange nichts mehr zu tun: Von Zeit zu Zeit hörte ich von Thomas oder Eichmann Gerüchte, das war alles. Selbst in Ungarn war meine Rolle marginal, wie schon erläutert. Für diese Verhandlungen habe ich mich vor allem nach meinem Besuch in Auschwitz interessiert, zu der Zeit, als die Engländer und Amerikaner Anfang Juni in der Normandie landeten. Der Bürgermeister von Wien, der (Ehren-)Brigadeführer Blaschke, hatte Kaltenbrunner gebeten, ihm Arbeitsjuden für seine Fabriken zu schicken, da er dringend Arbeiter benötige; und ich sah darin eine Chance, die Verhandlungen mit Eichmann voranzubringen – man konnte sich überlegen, diese nach Wien geschickten Juden als auf Eis gelegt zu betrachten – und zugleich Arbeitskräfte zu erhalten. Ich bemühte mich also, die Verhandlungen in diese Richtung zu lenken. Etwa zu dieser Zeit machte Becher mich mit Kastner bekannt, einer eindrucksvollen Persönlichkeit, stets von erlesener Eleganz, der uns von Gleich zu Gleich begegnete, unter vollkommener Missachtung des eigenen Lebens, was seine Position uns gegenüber stärkte: Niemand konnte ihm Angst machen (es hatte Versuche gegeben, er war mehrfach verhaftet worden, von der Sipo wie auch von den Ungarn). Ohne auf Bechers Aufforderung zu warten, setzte er sich, entnahm einem silbernen Zigarettenetui eine parfümierte Zigarette und zündete sie sich an, ohne uns um Erlaubnis zu bitten oder uns eine anzubieten. Eichmann zeigte sich sehr beeindruckt von seiner Kaltblütigkeit und weltanschaulichen Kompromisslosigkeit und meinte, wenn Kastner ein Deutscher gewesen wäre, hätte er einen hervorragenden Offizier der Geheimen Staatspolizei abgegeben, was er vermutlich für das größte überhaupt mögliche Kompliment hielt. »Dieser Kastner denkt wie wir«, sagte er eines Tages zu mir. »All sein Sinnen und Trachten gilt nur seiner Rasse, er ist bereit, alle Alten zu opfern, um die Jungen, die Starken und die gebärfähigen Frauen zu retten. Er denkt an die Zukunft seiner Rasse. Ich habe zu ihm gesagt: ›Wenn ich Jude gewesen wäre, wäre ich Zionist, ein fanatischer Zionist wie Sie.‹« Das Wiener Angebot interessierte Kastner: Er war bereit, Geld zu investieren, wenn die Sicherheit der entsandten Juden garantiert werden würde. Ich überbrachte Eichmann dieses Angebot, der äußerst erregt über Joel Brandts Verschwinden war und weil er keine Antwort wegen der Lastwagen hatte. Währenddessen kochte Becher sein eigenes Süppchen: Er evakuierte Juden in kleinen Gruppen, vor allem über Rumänien, natürlich gegen Geld, Gold und Waren; Eichmann war außer sich vor Wut, er befahl Kastner sogar, nicht mehr mit Becher zu sprechen; selbstverständlich kümmerte sich Kastner nicht darum, Becher ermöglichte übrigens auch Kastners Familie die Ausreise. Empört berichtete Eichmann mir, Becher habe ihm ein Goldcollier gezeigt, das er dem Reichsführer für dessen Geliebte schenken wolle, eine Sekretärin, mit der er ein Kind habe: »Becher hat die Gunst des Reichsführers, ich weiß nicht, was ich machen soll«, stöhnte er. Am Ende brachten meine Winkelzüge doch noch einen gewissen Erfolg: Eichmann erhielt 65 000 Reichsmark und etwas ranzigen Kaffee, was er für eine Anzahlung auf die fünf Millionen Schweizer Franken hielt, die er verlangt hatte, und achtzehntausend junge Juden fuhren zum Arbeitseinsatz nach Wien. Stolz erstattete ich dem Reichsführer Bericht, erhielt aber keine Antwort. Auf jeden Fall ging der Einsatz bereits seinem Ende zu, nur wussten wir es noch nicht. Horthy, offenbar erschrocken über die Sendungen der BBC und die diplomatischen Depeschen aus Amerika, die die Geheimdienste abgefangen hatten, hatte Winkelmann einbestellt, um ihn zu fragen, was mit den evakuierten Juden geschehe, schließlich seien sie auch weiterhin ungarische Bürger; Winkelmann, der nicht wusste, was er antworten sollte, hatte seinerseits Eichmann zu sich zitiert. Dieser erzählte uns diese Episode, die er erheiternd fand, eines Abends in der Bar des Majestic; Wisliceny war dabei, Krumey und Trenker, der KdS von Budapest, ein umgänglicher Österreicher und Freund Höttls. »Ich habe ihm geantwortet: Wir schicken sie arbeiten«, berichtete Eichmann lachend. »Daraufhin hat er mich nichts mehr gefragt.« Doch Horthy gab sich mit dieser etwas ausweichenden Antwort keineswegs zufrieden: Am 30. Juni vertagte er die für den folgenden Tag vorgesehene Evakuierung von Budapest; einige Tage später untersagte er sie ganz. Eichmann gelang es zwar noch trotz des Verbots, Kistarcsa und Szarva zu räumen: Doch das war bloß eine Geste, um sein Gesicht zu wahren. Die Evakuierungen waren beendet. Es gab noch einige Zwischenfälle: Horthy stellte Endre und Baky kalt, sah sich aber auf deutschen Druck hin gezwungen, sie wieder einzusetzen; noch später, Ende August, tauschte er Sztójay gegen Lakatos aus, einen konservativen General. Zu dem Zeitpunkt war ich aber schon lange nicht mehr dort: Krank und erschöpft war ich nach Berlin zurückgekehrt, wo ich endgültig zusammenklappte. Eichmann und seinen Kameraden war es gelungen, vierhunderttausend Juden zu evakuieren; von ihnen konnten kaum fünfzigtausend (zuzüglich der achtzehntausend für Wien) in der Industrie eingesetzt werden. Ich war am Boden zerstört, entsetzt über so viel Unfähigkeit, Quertreiberei und Böswilligkeit. Eichmann ging es übrigens nicht viel besser als mir. Anfang Juli, kurz vor meiner Abreise, sah ich ihn ein letztes Mal in seiner Dienststelle: Er war gleichzeitig voller Überschwang und Zweifel. »Ungarn, Obersturmbannführer, ist mein Meisterstück. Selbst wenn wir jetzt abbrechen müssen. Wissen Sie, wie viele Länder ich schon von Juden befreit habe? Frankreich, Holland, Belgien, Griechenland, einen Teil Italiens, Kroatiens. Deutschland natürlich auch, aber das war einfach, da ging es nur um die technischen Fragen des Transports. Mein einziger Misserfolg war Dänemark. Doch bei Licht besehen, habe ich Kastner mehr Juden gegeben, als ich in Dänemark habe entwischen lassen. Was sind das schon, tausend Juden? Kleinkram. Ich bin sicher, davon werden sich die Juden nie wieder erholen. Hier war es wunderbar, die Ungarn haben sie uns wie Sauerbier angeboten, wir konnten gar nicht schnell genug nachkommen. Schade, dass wir Schluss machen mussten, vielleicht können wir ja eines Tages weitermachen.« Ich hörte zu, ohne etwas zu sagen. Schlimmer als sonst durchzuckten die Tics sein Gesicht, er rieb sich die Nase, verdrehte den Hals. Trotz seiner von Stolz erfüllten Worte wirkte er sehr niedergeschlagen. Unvermittelt fragte er mich: »Und was mache ich bei alldem? Was wird aus mir? Aus meiner Familie?« Einige Tage zuvor hatte das RSHA einen Funkspruch aus New York abgefangen, der die Zahl der in Auschwitz getöteten Juden wiedergab, Zahlen, die der Wahrheit sehr nahe kamen. Eichmann musste davon wissen, wie er auch wissen musste, dass sein Name auf den Listen unserer Feinde stand. »Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören?«, fragte ich behutsam. »Ja«, erwiderte Eichmann. »Sie wissen, dass ich Ihre Ansichten trotz unserer Meinungsverschiedenheiten immer geschätzt habe.« – »Nun denn, wenn wir den Krieg verlieren, sind Sie erledigt.« Er hob den Kopf: »Das weiß ich. Ich rechne nicht damit, zu überleben. Wenn wir besiegt werden, schieß ich mir eine Kugel in den Kopf, stolz, meine Pflicht als SS-Mann getan zu haben. Aber wenn wir nicht verlieren?« – »Wenn wir nicht verlieren«, sagte ich noch behutsamer, »müssen Sie sich weiterentwickeln. Sie können nicht ewig so weitermachen. Das Nachkriegsdeutschland wird anders sein, viele Dinge werden sich ändern, es wird neue Aufgaben geben. Auf die müssen Sie sich einstellen.« Eichmann schwieg, und ich verabschiedete mich, um ins Astoria zurückzukehren. Zur Schlaflosigkeit und Migräne gesellten sich jetzt auch noch starke Fieberschübe, die verschwanden, wie sie gekommen waren. Was mich vollends deprimierte, war der Besuch der beiden Bulldoggen Clemens und Weser, die unangemeldet in meinem Hotel auftauchten. »Was machen Sie denn hier?«, rief ich aus. »Na, was wohl, Obersturmbannführer«, sagte Weser oder vielleicht auch Clemens, ich weiß nicht mehr genau, »wir möchten mit Ihnen reden.« – »Aber was gibt es noch zu reden?«, fragte ich aufgebracht. »Der Fall ist abgeschlossen.« – »Ich denke nicht«, sagte Clemens. Beide hatten ihre Hüte abgenommen und unaufgefordert Platz genommen, Clemens auf einem Rokokostuhl, der viel zu klein für seine Körperfülle war, Weser hockte auf einem langen Sofa. »Sie stehen nicht unter Verdacht, na gut, das akzeptieren wir ohne Vorbehalte. Deswegen gehen aber doch die Ermittlungen in diesem Mordfall weiter. Beispielsweise suchen wir noch immer nach Ihrer Schwester und den Zwillingen.« – »Stellen Sie sich vor, Obersturmbannführer, die Franzosen haben uns die Etiketten aus den Kleidungsstücken geschickt, die sie gefunden haben, erinnern Sie sich? Im Badezimmer. Dank ihrer haben wir die Spur bis zu einem bekannten Schneider zurückverfolgen können, einem gewissen Pfab. Haben Sie schon einmal Anzüge bei Herrn Pfab machen lassen, Obersturmbannführer?« Ich lächelte: »Natürlich. Er ist einer der besten Schneider Berlins. Aber ich warne Sie: Wenn Sie weiter gegen mich ermitteln, werde ich den Reichsführer ersuchen, Sie wegen Insubordination zu suspendieren.« – »Oh!«, rief Weser aus. »Sie brauchen uns nicht zu drohen, Obersturmbannführer. Wir haben nichts gegen Sie. Wir möchten Sie nur weiterhin als Zeugen befragen.« – »Genau das«, ließ sich Clemens’ grobes Organ vernehmen, »als Zeugen.« Er reichte Weser sein Notizbuch, der darin blätterte und es ihm dann zurückgab, wobei er auf eine Seite deutete. Clemens las, gab seinerseits das Notizbuch wieder an Weser. »Die französische Polizei«, flüsterte dieser, »hat das Testament des verstorbenen Herrn Moreau gefunden. Um Sie gleich zu beruhigen: Sie sind im Testament nicht bedacht. Auch Ihre Schwester nicht. Herr Moreau hinterlässt alles, sein Vermögen, seine Unternehmen, sein Haus, den Zwillingen.« – »Wir finden das merkwürdig«, grummelte Clemens. »Vollkommen richtig«, fuhr Weser fort. »Schließlich sind sie nach allem, was wir gehört haben, angenommene Kinder, vielleicht aus der Familie Ihrer Mutter, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall nicht aus seiner.« Ich zuckte die Achseln: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Moreau und ich uns nicht verstanden haben. Ich bin nicht überrascht, dass er mir nichts hinterlassen hat. Er hatte keine Kinder, keine Familie. Da hat er wohl schließlich die Zwillinge ins Herz geschlossen.« – »Nehmen wir es einmal an«, sagte Clemens. »Nehmen wir es an. Dann sieht es so aus: Sie sind vielleicht Zeugen des Verbrechens geworden, sie erben und sie verschwinden mit Hilfe Ihrer Schwester, die offenbar nicht nach Deutschland zurückgekehrt ist. Und Sie können wirklich kein Licht in das Dunkel bringen? Auch wenn Sie mit dem Ganzen nichts zu tun haben.« – »Hören Sie, meine Herren«, sagte ich und räusperte mich, »ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was ich weiß. Wenn Sie nach Budapest gekommen sind, um mich das zu fragen, haben Sie Ihre Zeit verschwendet.« – »Ach, wissen Sie«, sagte Weser scheinheilig, »wir verschwenden unsere Zeit eigentlich nie. Irgendwas Nützliches finden wir immer. Und außerdem plaudern wir so gerne mit Ihnen.« – »Ja«, fuhr die ungeschlachte Stimme von Clemens dazwischen, »das ist sehr angenehm. Deswegen werden wir auch damit fortfahren.« – »Sie müssen nämlich wissen«, sagte Weser, »wenn wir einmal etwas angefangen haben, bringen wir es auch zu Ende.« – »Ja«, pflichtete Clemens ihm bei, »sonst hätte es keinen Sinn.« Ich sagte nichts, blickte sie nur kalt an und war gleichzeitig voller Schrecken, weil mir klar wurde, dass diese merkwürdigen Gestalten mich wirklich für schuldig hielten und nicht aufhören würden, mir nachzustellen, irgendetwas musste geschehen. Aber was? Ich war viel zu niedergeschlagen, um zu reagieren. Sie stellten mir noch ein paar Fragen über meine Schwester und ihren Mann, die ich zerstreut beantwortete. Dann standen sie auf. »Obersturmbannführer«, sagte Clemens, den Hut schon auf dem Kopf, »es ist wirklich ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern. Sie sind ein verständiger Mensch.« – »Wir hoffen sehr, dass es nicht das letzte Mal war«, sagte Weser. »Haben Sie die Absicht, bald nach Berlin zurückzukehren? Bekommen Sie keinen Schreck: Die Stadt ist nicht mehr das, was sie mal war.«

 

 

Weser hatte nicht Unrecht. Ich kehrte in der zweiten Juliwoche nach Berlin zurück, um über meine Tätigkeit Bericht zu erstatten und neue Anweisungen abzuwarten. Die Dienststellen des Reichsführers und des RSHA hatten unter den Bombenangriffen im März und April stark gelitten. Das Prinz-Albrecht-Palais war durch den gezielten Abwurf von Sprengbomben vollkommen zerstört worden; das SS-Haus stand zwar noch, aber nur teilweise, und meine Dienststelle hatte wieder in eine andere Außenstelle des Innenministeriums umziehen müssen. Ein ganzer Flügel des Sitzes der Geheimen Staatspolizei war abgebrannt, große Risse liefen über die Wände, die leeren Fensterhöhlen waren mit Brettern vernagelt; zur Entzerrung waren die meisten Abteilungen und Sektionen in Vororte oder sogar weit entfernte Dörfer verlagert worden. Häftlinge waren noch damit beschäftigt, die Flure und Treppenhäuser neu zu streichen und aus den zerstörten Büros den Schutt und die Trümmer wegzuschaffen; mehrere von ihnen waren übrigens bei einem Angriff Anfang Mai ums Leben gekommen. Für die in der Stadt verbliebenen Menschen war das Leben hart. Es gab fast kein fließendes Wasser mehr – Soldaten lieferten den Familien, die keines hatten, zwei Eimer pro Tag –, keinen Strom, kein Gas. Die Beamten, die noch pflichtbewusst zur Arbeit erschienen, umwickelten sich die Gesichter mit Schals, um sich gegen den ständigen Rauch der Brände zu schützen. Die Frauen trugen, Goebbels’ patriotischer Propaganda Folge leistend, keine Hüte mehr und auch keine allzu elegante Kleidung, und wenn sich welche geschminkt auf die Straße wagten, wurden sie beschimpft. Die Großangriffe mit mehreren Hundert Maschinen waren vor einiger Zeit eingestellt worden; doch die kleinen Überraschungsangriffe mit den Mosquitos, die die Nerven zerrütteten, hielten an. Wir hatten endlich unsere ersten Raketen auf London abgeschossen, nicht die von Speer und Kammler, sondern die kleinen der Luftwaffe, die Goebbels V1, V für Vergeltungswaffen, getauft hatte; sie hatten wenig Auswirkungen auf die Moral der Engländer und noch weniger auf unsere eigene Zivilbevölkerung, die viel zu niedergeschlagen war von den Bombenangriffen auf Mitteldeutschland und den katastrophalen Nachrichten von der Front: die gelungene Landung in der Normandie, die Übergabe Cherbourgs, der Verlust von Monte Cassino und das Debakel von Sewastopol Ende Mai. Die Wehrmacht bewahrte noch Stillschweigen über den verheerenden sowjetischen Durchbruch in Weißrussland, nur wenige wussten davon, obwohl schon Gerüchte in Umlauf waren, auch wenn diese weit hinter der Wahrheit zurückblieben, doch ich wusste alles, besonders dass die Russen das Meer innerhalb von drei Wochen erreicht hatten, dass die Heeresgruppe Nord an der Ostsee isoliert war und die Heeresgruppe Mitte nicht mehr existierte. In dieser allgemeinen Niedergeschlagenheit empfing mich Grothmann, Brandts Adjutant, ausgesprochen kühl, fast verächtlich, als wollte er mich persönlich für die kläglichen Ergebnisse des ungarischen Einsatzes verantwortlich machen, und ich ließ ihn reden, ich war zu demoralisiert, um zu protestieren. Brandt selbst befand sich mit dem Reichsführer in Rastenburg. Meine Kameraden wirkten verstört, niemand schien so recht zu wissen, wohin er gehen oder was er machen sollte. Speer hatte seit seiner Erkrankung nie wieder versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen, ich bekam aber immer noch Kopien seiner wütenden Briefe an den Reichsführer: Seit Jahresbeginn hatte die Gestapo dreihunderttausend Personen wegen verschiedener Vergehen verhaftet, darunter zweihunderttausend Fremdarbeiter, die den Lagerbestand auffüllen sollten; Speer warf Himmler vor, unter seinen Arbeitskräften zu wildern, und drohte, es dem Führer zu berichten. Unsere anderen Verhandlungspartner trugen weitere Klagen und Kritik vor, vor allem der Jägerstab, der sich vorsätzlich benachteiligt wähnte. Auf unsere eigenen Briefe oder Anfragen erhielten wir nur nichtssagende Antworten. Aber das war mir egal, ich überflog diese Korrespondenz, ohne auch nur die Hälfte zu verstehen. Unter dem Stapel Post, der mich erwartete, war auch ein Brief von Standartenführer Baumann: Hastig riss ich den Umschlag auf und zog neben einem harmlosen Grußwort eine Fotografie hervor. Es war der Abzug von einem alten Negativ, körnig, etwas unscharf, mit harten Kontrasten: Männer auf Pferden im Schnee, in bunt zusammengewürfelten Uniformen, mit Stahlhelmen, Schirm- und Karakulmützen; Baumann hatte über einem dieser Männer mit Tinte ein Kreuz gemacht, der einen langen Mantel mit Offiziersschulterstücken trug, sein winziges ovales Gesicht war undeutlich, nicht zu erkennen. Auf der Rückseite hatte Baumann notiert: KURLAND, BEI WOLMAR, 1919. Seine höflichen Begleitworte gaben keinen weiteren Aufschluss.

Ich hatte Glück gehabt: Meine Wohnung hatte ein weiteres Mal alles überstanden. Allerdings fehlten wieder sämtliche Scheiben, meine Nachbarin hatte die Fenster, so gut es ging, mit Brettern und Planen verschlossen; im Wohnzimmer waren die Glastüren des Buffets zersprungen, die Decke wies Risse auf, die Deckenleuchte war heruntergefallen; in meinem Schlafzimmer herrschte ein betäubender Brandgeruch, weil die Nachbarwohnung Feuer gefangen hatte, als eine Brandbombe durch ein Fenster eingedrungen war. Aber meine Wohnung war bewohnbar und sogar sauber: Die Nachbarin Frau Zempke hatte alles geputzt und die Wände weißen lassen, um die Rauchspuren zu verdecken, die Petroleumlampen standen aufgereiht auf dem Buffet, gesäubert und blank geputzt, das Badezimmer war mit einem Fass und mehreren Kanistern Wasser vollgestellt. Ich öffnete die Balkontür und alle Fenster, die nicht zugenagelt waren, um das Abendlicht hereinzulassen, ging dann zu Frau Zempke hinunter, um ihr zu danken, und gab ihr etwas Geld für ihre Mühe – ungarische Würste wären ihr sicherlich lieber gewesen, aber ich hatte wieder nicht einmal daran gedacht – und einige Lebensmittelmarken, damit sie für mich kochen konnte: Die würden ihr wenig nützen, erklärte sie mir, die Geschäfte und Läden dafür existierten nicht mehr, aber wenn ich ihr noch ein wenig Geld gäbe, würde sie schon zurechtkommen. Ich ging wieder in meine Wohnung hinauf. Dort zog ich einen Sessel vor die offene Balkontür, es war ein schöner stiller Sommerabend, viel war nicht mehr übrig, von der Hälfte der Gebäude in der Umgebung existierten nur noch leere, stumme Fassaden oder Trümmerhaufen; lange betrachtete ich diese endzeitliche Landschaft, im Park vor meinem Mietshaus blieb es still, offenbar waren alle Kinder aufs Land verschickt worden. Ich legte noch nicht einmal Musik auf, damit ich die Ruhe und den Frieden besser genießen konnte. Frau Zempke brachte mir Wurst, Brot und etwas Suppe, sie entschuldigte sich, dass es zu mehr nicht gereicht habe, aber ich war damit zufrieden, ich hatte mir Bier aus der Kantine der Geheimen Staatspolizei mitgenommen, jetzt aß und trank ich genüsslich und hatte die merkwürdige Illusion, auf einer Insel zu treiben, einem friedlichen Hafen inmitten der Katastrophe. Nachdem ich abgeräumt hatte, goss ich mir ein großes Glas schlechten Schnaps ein, zündete eine Zigarette an, setzte mich wieder und fasste in meine Tasche, in der ich Baumanns Umschlag spürte. Aber ich zog ihn nicht gleich heraus, ich betrachtete das Spiel der Abendsonne auf den Ruinen, diese langen schrägen Strahlen, die den Kalkstein der Fassaden gelb färbten und durch die gähnenden Fensterhöhlen das Chaos der verbrannten Balken und eingestürzten Wände beleuchteten. In einigen Wohnungen waren noch die Spuren des Lebens zu erkennen, das sie erfüllt hatte: eine gerahmte Fotografie oder Reproduktion an der Wand, zerrissene Tapeten, ein halb in der Luft hängender Tisch mit rot-weiß gewürfeltem Tischtuch, eine Säule von Kachelöfen, in jedem Stockwerk in die Wand eingelassen, während die Dielen verschwunden waren. Da und dort lebten die Menschen weiter: In einem Fenster oder auf einem Balkon sah ich Wäsche hängen, Blumentöpfe, Rauch aus einem Ofenrohr. Rasch versank die Sonne hinter den gezackten Gebäuden und warf lange, grotesk verformte Schatten. Schau an, sagte ich mir, das ist also aus der Hauptstadt unseres Tausendjährigen Reichs geworden; was auch kommen mag, wir werden den Rest unseres Lebens mit dem Wiederaufbau zu tun haben. Dann stellte ich einige Petroleumlampen um mich auf und zog endlich die Fotografie aus der Tasche. Ich muss gestehen, dass mich dieses Bild erschreckte: So eingehend ich es auch betrachtete, ich erkannte diesen Mann nicht, sein Gesicht war unter der Mütze nur ein weißer Fleck, zwar nicht völlig verschwommen, es waren Nase, Mund, Augen zu erkennen, aber ohne Gesichtszüge, ohne Charakteristika, es hätte jedes beliebige Gesicht sein können, ich verstand nicht, während ich meinen Schnaps trank, wie das möglich war, warum ich mir beim Betrachten dieses schlechten Abzugs nicht augenblicklich und ohne Zögern sagen konnte: Ja, das ist mein Vater, oder: Nein, das ist nicht mein Vater, derartige Zweifel erschienen mir unerträglich, ich hatte mein Glas ausgetrunken, mir ein zweites eingegossen und musterte noch immer das Foto, erforschte mein Gedächtnis, um die Bruchstücke der Erinnerung an meinen Vater zusammenzufügen, an sein Aussehen, aber es war, als suchten diese Einzelheiten eine um die andere das Weite, als entzögen sie sich, der weiße Fleck auf der Fotografie stieß sie ab wie ein Magnetpol einen anderen, gleichnamigen, zerstreute sie, zersetzte sie. Ich hatte kein Bild von meinem Vater: Einige Zeit nach seinem Fortgang hatte meine Mutter sie alle vernichtet. Und jetzt zerstörte dieses mehrdeutige und ungreifbare Bild alles, was mir an Erinnerungen geblieben war, verdrängte seine lebendige Gegenwart durch ein verschwommenes Gesicht und eine Uniform. Zornig zerriss ich die Fotografie in mehrere Stücke und warf sie vom Balkon. Dann leerte ich mein Glas und goss mir gleich noch eins ein. Ich schwitzte, wäre am liebsten aus meiner Haut gefahren, die zu eng für meine Wut und Angst geworden war. Ich zog mich aus und setzte mich nackt vor die Balkontür, ohne mir die Mühe zu machen, die Lampen zu löschen. Während ich Geschlecht und Hodensack in der einen Hand hielt wie einen kleinen verletzten Spatzen, den man auf dem Feld aufliest, trank ich Glas um Glas und rauchte wütend; als die Flasche leer war, packte ich sie am Hals und schleuderte sie weit fort, in Richtung des Parks, ohne mich um Spaziergänger zu scheren. Ich wollte andere Sachen hinauswerfen, die Wohnung leer räumen, die Möbel runterwerfen. Ich ließ mir etwas Wasser über das Gesicht laufen, hob eine Petroleumlampe und betrachtete mich im Spiegel: Meine Züge waren bleich, aufgelöst, ich hatte den Eindruck, dass mein Gesicht verliefe, schmölze, wie Wachs in der Hitze meiner Hässlichkeit und meines Hasses, meine Augen glänzten wie zwei schwarze Kiesel, die mitten in diese abstoßenden, nichtssagenden Züge gedrückt waren, nichts hielt mehr zusammen. Ich holte aus und schleuderte die Lampe in den Spiegel, der in winzige Stücke zersprang, etwas Petroleum spritzte auf und verbrannte mir Schulter und Hals. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und rollte mich auf dem Sofa zusammen. Ich zitterte und klapperte mit den Zähnen. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, in mein Bett zurückzukehren, wahrscheinlich weil ich vor Kälte fast umkam, ich wickelte mich in die Decken, aber es änderte nicht viel. Meine Haut kribbelte, Schauer liefen mir über das Rückgrat, Krämpfe schüttelten meinen Nacken, ein Stöhnen entrang sich mir, und all diese Empfindungen stiegen in großen Wellen auf, trugen mich in dunkles, trübes Wasser, und jedes Mal dachte ich, es könnte nicht schlimmer werden, dann trug es mich wieder fort, und ich landete an einer Stelle, von der aus mir die bisherigen Schmerzen und Empfindungen fast angenehm, als kindische Übertreibung erschienen. Mein Mund war ausgetrocknet, ich war nicht in der Lage, die Zunge aus ihrer teigigen Umhüllung zu lösen, aber noch weniger, aufzustehen und mir Wasser zu holen. Lange irrte ich so im dichten Wald des Fiebers umher, mein Körper wurde heimgesucht von alten Obsessionen: mit den Fieberschauern und Krämpfen durchlief ihn eine Art erotischer Raserei, er war gelähmt, mein After kribbelte, ich hatte schmerzhafte Erektionen, konnte aber nicht die geringste Geste machen, um mich zu erleichtern, es wäre gewesen, als hätte ich mir mit einer Handvoll zerstoßenem Glas einen runtergeholt, und so lieferte ich mich diesem Körpergeschehen wie allem anderen aus. Hin und wieder ließen mich diese heftigen und widersprüchlichen Ströme in den Schlaf gleiten, denn beängstigende Bilder fluteten in mein Bewusstsein, ich war ein nacktes Kleinkind, das im Schnee hockte und schiss, und als ich den Kopf hob, sah ich mich von Reitern mit steinernen Gesichtern umringt, in den Mänteln des Ersten Weltkriegs, aber mit langen Lanzen anstelle von Gewehren, schweigend verurteilten sie mein ungehöriges Verhalten, ich wollte fliehen, aber es war unmöglich, sie bildeten einen Kreis um mich, in meinem Schrecken tappte ich in die Scheiße und beschmutzte mich, während sich ein Reiter mit verwaschenen Gesichtszügen aus der Gruppe löste und auf mich zukam. Aber dieses Bild verschwand, offenbar versank ich im Schlaf und in diesen beklemmenden Träumen und tauchte wieder aus ihnen empor, wie ein Schwimmer, der die Grenze zwischen Wasser und Luft mal in dieser und mal in jener Richtung überschreitet, manchmal fand ich meinen Körper nutzlos wieder vor und hätte mich seiner gern entledigt, wie man einen durchnässten Mantel auszieht, dann glitt ich wieder in eine neue verworrene und ungereimte Geschichte, in der ich von ausländischen Polizisten verfolgt wurde, die mich in einen Kastenwagen steckten und auf einer Steilküste entlangfuhren, ich weiß nicht genau, da war ein Dorf, Häuser, die stufenförmig an einem Hang lagen, Pinien und Maquis drum herum, ein Dorf im provenzalischen Hinterland vielleicht, und ich wünschte mir ein Haus in diesem Dorf und den Frieden, den es mir bringen konnte, und nach mancherlei Zwischenfällen fand sich eine Lösung für mich, die bedrohlichen Polizisten verschwanden, ich hatte mir das am tiefsten gelegene Haus des Dorfes gekauft, mit einem Garten und einer Terrasse, umgeben von Pinienwald, oh idyllisches Klischee, und dann war Nacht, am Himmel regnete es Sternschnuppen, Meteoriten, die rosa oder rot leuchteten und langsam herabsanken, senkrecht, wie die verlöschenden Funken eines Feuerwerks, ein großer schillernder Vorhang, ich folgte ihm mit meinen Blicken, und als die ersten dieser kosmischen Geschosse die Erde berührten, wuchsen an diesen Stellen seltsame Pflanzen, farbenprächtige Organismen, rot, weiß, gefleckt, dick und fett wie manche Algen, sie wurden rasch größer und schossen mit aberwitziger Geschwindigkeit zum Himmel empor, mehrere Hundert Meter hoch, schleuderten Samenwolken hervor, aus denen wiederum ähnliche Pflanzen entstanden, die sich Raum verschafften, indem sie, obwohl senkrecht emporwachsend, alles um sich her kraft ihrer unwiderstehlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit vernichteten, Bäume, Häuser, Fahrzeuge, und ich verfolgte das voll Schrecken, eine gigantische Wand aus Pflanzen verstellte mir jetzt den Blick auf den Horizont und breitete sich in alle Richtungen aus, und ich begriff, dass dieses Ereignis, das mir so harmlos erschienen war, in Wirklichkeit die endgültige Katastrophe war, dass diese Organismen aus dem Kosmos mit unserer Erde und unserer Atmosphäre eine Umwelt gefunden hatten, die ihnen unendlich zuträglich war, und sie vermehrten sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit, nahmen jeden freien Raum ein und zermalmten alles unter sich, blind, ohne Feindschaft, einfach durch die Kraft ihres Lebens- und Wachstumsdranges, und nichts vermochte sie aufzuhalten, in wenigen Tagen würde die Erde unter ihnen verschwunden sein, alles, was unser Leben, unsere Geschichte und unsere Kultur ausgemacht hatte, würde von diesen unersättlichen Pflanzen ausradiert sein, es war idiotisch, ein unglücklicher Zufall, aber es blieb uns einfach keine Zeit für die Suche nach einem Gegenmittel, die Menschheit würde ausgelöscht werden. Der funkelnde Meteoritenfall ging weiter, die Pflanzen, von tollem, entfesseltem Leben erfüllt, wuchsen zum Himmel empor, bestrebt, diese ganze, für sie so berauschende Atmosphäre auszufüllen. Und da, vielleicht aber auch später, aus diesem Traum erwachend, begriff ich, dass es stimmte, dass es das Gesetz alles Lebendigen ist, dass jeder Organismus nichts anderes will als leben und sich fortpflanzen, ohne böse Absicht, die Tuberkelbakterien, die die Lungen von Pergolesi und Purcell, von Kafka und Tschechow zerfressen haben, hegten keinerlei Feindschaft gegen ihre Opfer, sie wollten ihren Wirten nichts Böses, aber es war das Gesetz ihres Überlebens und ihrer Entwicklung, ganz so, wie wir die Bakterien mit Medikamenten bekämpfen, die tagtäglich entwickelt werden, ohne Hass, zu unserem eigenen Überleben, und so ist unser ganzes Leben auf dem Mord an anderen Geschöpfen erbaut, die genauso gerne leben würden, die Tiere, die wir essen, die Pflanzen, die Insekten, die wir vernichten, egal, ob sie wirklich gefährlich sind wie die Skorpione und die Läuse oder nur störend wie die Fliegen, diese Plage der Menschheit, wer hat noch keine Fliege getötet, deren lästiges Summen ihn bei seiner Lektüre störte, das ist nicht grausam, sondern das Gesetz unseres Lebens, wir sind eben stärker als die anderen Lebewesen und verfügen nach Belieben über ihr Leben und ihren Tod, die Kühe, die Hühner, die Kornähren sind auf der Erde, um uns zu dienen, da ist es normal, dass wir untereinander genauso verfahren, dass jede Menschengruppe die anderen vernichten will, die ihr die Erde, das Wasser, die Luft streitig machen, was für einen Grund gäbe es also, einen Juden besser zu behandeln als eine Kuh oder eine Tuberkelbakterie, wo wir es doch können, und wenn der Jude es könnte, täte er dasselbe mit uns oder mit anderen, um sein eigenes Leben zu garantieren, das ist das Gesetz aller Dinge, des ewigen Kriegs aller gegen alle, und ich weiß, dass dieser Gedanke nicht im Mindesten originell, dass er fast ein Allgemeinplatz des biologischen oder sozialen Darwinismus ist, aber in dieser Nacht, unter dem Einfluss meines Fiebers, traf mich die Wucht dieser Wahrheit wie nie zuvor und nie danach, ausgelöst durch den Traum, in dem die Menschheit der größeren Lebenskraft eines anderen Organismus erlag, und ich begriff natürlich, dass diese Regel für alle galt, dass andere, wenn sie sich als stärker erwiesen, mit uns so verfahren würden, wie wir mit unseren Mitgeschöpfen verfuhren, und dass gegen diese Kraft die schwachen Schutzmauern, die der Mensch in dem Versuch errichtet, das Zusammenleben zu regeln – Recht, Justiz, Moral, Ethik –, wenig ausrichten, dass der geringste Anflug von Furcht, ein etwas stärkerer Impuls sie beiseitefegt wie eine Mauer aus Stroh, dass aber auch die, die den ersten Schritt getan haben, nicht damit rechnen können, die anderen würden, wenn ihre Stunde gekommen ist, ihrerseits Recht und Gesetz achten, und ich hatte Angst, denn wir verloren den Krieg.

Ich hatte meine Fenster offen gelassen, und allmählich breitete sich die Morgendämmerung in der Wohnung aus. Langsam brachten mir die Fieberschübe meinen Körper wieder zu Bewusstsein, das nasse Bettzeug, das ihn einengte. Ein heftiger Drang ließ mich vollends wach werden. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es schaffte, mich ins Badezimmer zu schleppen und mich auf die Kloschüssel zu ziehen, um mich zu entleeren, ein heftiger Durchfall, der nicht zu enden schien. Als er endlich vorbei war, wischte ich mich mehr schlecht als recht ab, nahm das nicht ganz saubere Glas, in dem meine Zahnbürste stand, und tauchte es in das abgestandene Wasser des Eimers, um es gierig zu trinken, als wäre es das reinste Quellwasser; doch meine Kraft reichte nicht aus, um den Rest des Eimers in die Kloschüssel voller Scheiße zu kippen (die Wasserspülung funktionierte längst nicht mehr). Ich wickelte mich wieder in das Bettzeug und wurde, geschwächt nach dieser Anstrengung, lange von einem heftigen Schüttelfrost gebeutelt. Später hörte ich es an der Tür klopfen: Das musste Piontek sein, den ich gewöhnlich auf der Straße erwartete, aber ich hatte nicht mehr die Kraft aufzustehen. Das Fieber kam und ging, mal kurz und fast sanft, mal wie ein in meinem Körper entfesselter Glutofen. Mehrfach klingelte das Telefon, jedes Läuten bohrte sich wie ein Messerstich in mein Trommelfell, aber ich konnte nichts tun, weder abnehmen noch abstellen. Der Durst war sofort wieder da und nahm den größten Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch, die jetzt, fast völlig losgelöst, meine Symptome leidenschaftslos, wie von außen wahrnahm. Ich wusste, dass ich, wenn ich nichts unternahm, wenn niemand kam, auf diesem Bett in Lachen von Kot und Urin sterben würde, denn schon bald würde ich, unfähig aufzustehen, unter mich machen. Doch der Gedanke ließ mich kalt, flößte mir weder Mitleid noch Furcht ein, ich empfand nur noch Verachtung für das, was aus mir geworden war, und wünschte weder, dass es aufhörte, noch dass es weiterging. Mitten in diesem Fieberwahn – das helle Tageslicht ergoss sich mittlerweile in meine Wohnung – öffnete sich die Tür, und Piontek trat ein. Ich hielt ihn für eine neue Halluzination und lächelte nur einfältig, als er das Wort an mich richtete. Er trat an mein Bett, legte die Hand auf meine Stirn, sagte laut und vernehmlich »Scheiße« und rief Frau Zempke, die ihm geöffnet haben musste. »Holen Sie was zu trinken«, sagte er. Dann hörte ich ihn telefonieren. Er kam zu mir zurück: »Hören Sie mich, Obersturmbannführer?« Ich nickte. »Ich habe in der Dienststelle angerufen. Sie schicken einen Arzt. Wenn Sie nicht lieber ins Krankenhaus wollen?« Ich schüttelte den Kopf. Frau Zempke erschien mit einem Krug Wasser; Piontek goss ein Glas ein, hob meinen Kopf an und flößte mir davon ein. Die Hälfte lief mir auf die Brust und das Bettzeug. »Mehr«, sagte ich. Ich trank etliche Gläser, das brachte mich ins Leben zurück. »Danke«, sagte ich. Frau Zempke schloss die Fenster. »Lassen Sie sie offen«, wies ich sie an. »Wollen Sie was essen?«, fragte Piontek. »Nein«, antwortete ich und ließ mich in mein durchnässtes Kissen zurücksinken. Piontek öffnete den Schrank, holte saubere Bettwäsche heraus, bezog das Bett neu. Die Bezüge waren frisch, aber zu rau für meine überempfindlich gewordene Haut, ich konnte keine erholsame Lage finden. Etwas später traf ein SS-Arzt ein, ein Sturmbannarzt, den ich nicht kannte. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, klopfte mich ab, horchte mich ab – das kalte Metallstück des Stethoskops verbrannte mir die Haut –, maß Fieber, tastete meinen Brustkorb ab. »Sie gehören ins Krankenhaus«, erklärte er schließlich. »Ich will nicht«, sagte ich. Er machte eine bedenkliche Miene: »Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmern kann? Ich gebe Ihnen eine Spritze, aber Sie müssen Tabletten nehmen, Saft trinken, Brühe.« Piontek besprach sich mit Frau Zempke, die wieder hinuntergegangen war, dann kam er zurück und sagte, sie werde sich um mich kümmern. Der Arzt erklärte mir, was ich hatte, aber ich behielt nichts von seiner Diagnose, entweder weil ich seine Worte nicht verstand oder sie sofort wieder vergaß. Er gab mir eine unendlich schmerzhafte Spritze. »Morgen komme ich wieder«, sagte er. »Wenn das Fieber nicht runter ist, schicke ich Sie ins Krankenhaus.« – »Ich will nicht ins Krankenhaus«, murmelte ich. »Das ist mir vollkommen gleichgültig«, sagte er ernst. Dann ging er. Piontek sah sehr betreten aus. »Gut, Obersturmbannführer, ich schau mal, ob ich ein paar Dinge für Frau Zempke auftreiben kann.« Ich nickte, dann ging auch er. Etwas später erschien Frau Zempke mit einer Schüssel Bouillon, von der sie mir einige Löffel einflößte. Die lauwarme Brühe lief mir aus dem Mund und floss über mein stoppelbärtiges Kinn; geduldig wischte Frau Zempke sie ab und begann von Neuem. Dann gab sie mir Wasser zu trinken. Der Arzt hatte mir beim Harnlassen geholfen, nun aber setzten meine Koliken wieder ein; seit meinem Aufenthalt in Hohenlychen hatte ich in dieser Hinsicht jede Scheu verloren, mich entschuldigend, bat ich Frau Zempke, mir zu helfen, und diese schon etwas ältere Frau tat es ohne Widerwillen, als hätte sie es mit einem kleinen Kind zu tun. Schließlich ging sie, und ich schwebte in meinem Bett. Ich fühlte mich jetzt leicht, ruhig, die Spritze hatte mir etwas Erleichterung verschafft, aber ich hatte nicht mehr die geringste Energie; schon das Gewicht des Bettzeugs auf meinem Arm war zu viel, es hätte meine Kräfte überstiegen, ihn anzuheben. Aber es war mir egal, ich ließ mich fallen und döste in meinem Fieber und dem weichen Licht des Sommers ruhig dahin, der blaue Himmel füllte die Fensterhöhlen, heiter und leer. In Gedanken zog ich nicht nur das Bettzeug enger um mich, sondern die ganze Wohnung, ich wickelte sie mir um den Körper, sie war warm und tröstlich, wie eine Gebärmutter, die ich am liebsten niemals verlassen hätte, ein dämmriges, stummes, elastisches Paradies, das nur vom Rhythmus des Herzschlags und Blutstroms bewegt war, eine ungeheure organische Symphonie, ich brauchte nicht Frau Zempke, sondern eine Plazenta, ich schwamm in meinem Schweiß wie in Fruchtwasser und hätte es am liebsten gesehen, wenn es eine Geburt nicht gegeben hätte. Das Flammenschwert, das mich aus diesem Garten Eden vertrieb, war Thomas’ Stimme: »Hör mal! Du siehst aber gar nicht gut aus.« Auch er richtete mich auf und gab mir ein wenig zu trinken. »Du gehörst ins Krankenhaus«, sagte er wie die anderen. »Ich will nicht ins Krankenhaus«, wiederholte ich stur und einfältig. Er blickte sich um, trat auf den Balkon hinaus, kam zurück. »Was machst du bei Fliegeralarm? Du kannst doch auf keinen Fall in den Luftschutzkeller hinunter.« – »Ist mir egal.« – »Dann komm wenigstens zu mir. Ich wohn jetzt in Wannsee, da ist es ruhig. Meine Haushälterin wird sich um dich kümmern.« – »Nein.« Er zuckte die Achseln: »Wie du willst.« Ich musste schon wieder pinkeln und machte mir seine Anwesenheit dafür zunutze. Er wollte sich noch weiter unterhalten, aber ich antwortete nicht. Endlich ging er. Etwas später tauchte Frau Zempke wieder auf und machte sich an mir zu schaffen: In meiner trübseligen Stimmung ließ ich sie gleichgültig gewähren. Am Abend betrat Helene mein Zimmer. Sie trug einen kleinen Koffer, den sie an der Tür abstellte; langsam zog sie die Nadel aus ihrem Hut und schüttelte ihr dichtes blondes, leicht gewelltes Haar, ohne die Augen von mir abzuwenden. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«, fragte ich sie grob. »Thomas hat mir Bescheid gesagt. Ich bin gekommen, um mich um Sie zu kümmern.« – »Ich will nicht, dass sich irgendwer um mich kümmert«, gab ich bissig zurück. »Frau Zempke genügt mir.« – »Frau Zempke hat Familie und kann nicht die ganze Zeit bei Ihnen sein. Ich bleibe hier, bis es Ihnen besser geht.« Böse starrte ich sie an: »Hauen Sie ab!« Sie setzte sich an mein Bett und ergriff meine Hand; ich wollte sie wegziehen, aber mir fehlte die Kraft. »Sie glühen ja!« Sie stand auf, zog ihre Jacke aus und hängte sie über einen Stuhl, dann feuchtete sie ein Handtuch an und legte es mir auf die Stirn. Ich ließ sie stumm gewähren. »Ich habe sowieso nicht mehr viel zu tun«, sagte sie, »ich kann mir die Zeit nehmen. Jemand muss bei Ihnen bleiben.« Ich sagte nichts. Der Tag neigte sich. Sie gab mir zu trinken, versuchte mir etwas kalte Brühe einzuflößen, setzte sich dann ans Fenster und schlug ein Buch auf. Der Sommerhimmel war verblasst, es war Abend. Ich betrachtete sie: Sie war wie eine Fremde. Seit meiner Abreise nach Ungarn vor mehr als drei Monaten hatte ich keinerlei Verbindung zu ihr gehabt, ich hatte ihr nicht einen einzigen Brief geschrieben und glaubte sie fast schon vergessen zu haben. Ich musterte ihr sanftes ernsthaftes Profil und sagte mir, dass es schön war; doch diese Schönheit hatte für mich keine Bedeutung und keinen Nutzen. Ich richtete die Augen an die Decke und ließ mich treiben, ich war erschöpft. Nach etwa einer Stunde sagte ich, ohne sie anzublicken: »Holen Sie Frau Zempke.« – »Weswegen?«, fragte sie und klappte das Buch zu. »Ich brauche etwas«, sagte ich. »Was denn? Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« Ich sah sie an: Die Ruhe ihrer braunen Augen war geradezu eine Beleidigung für mich. »Ich muss scheißen«, sagte ich brutal. Aber es schien unmöglich, sie zu schockieren: »Erklären Sie mir, was ich tun muss«, sagte sie ruhig. »Ich helfe Ihnen.« Ich erklärte es ihr, ohne vulgäre Worte, aber auch ohne Beschönigung, und sie tat, was getan werden musste. Bitter sagte ich mir, dass sie mich zum ersten Mal nackt sah – ich hatte keinen Pyjama mehr – und dass sie sich sicherlich nicht vorgestellt hatte, mich unter solchen Umständen nackt zu sehen. Ich empfand keine Scham, aber ich war von mir selbst angeekelt, und dieser Ekel erstreckte sich auf sie, auf ihre Geduld und auf ihre Sanftmut. Ich wollte sie beleidigen, vor ihr masturbieren, sie um obszöne Gunstbeweise bitten, aber das war nur ein Gedanke, ich wäre unfähig gewesen, einen hochzukriegen, unfähig, eine Bewegung zu machen, die auch nur ein Mindestmaß an Kraft verlangt hätte. Das Fieber stieg jedenfalls wieder, ich begann erneut zu zittern und zu schwitzen. »Sie frieren ja«, sagte sie, nachdem sie mich gesäubert hatte. Warten Sie.« Sie verließ die Wohnung und kam nach einigen Minuten mit einer Decke wieder, die sie über mich breitete. Ich hatte mich zu einer Kugel zusammengerollt, klapperte mit den Zähnen und hatte das Gefühl, dass meine Knochen aneinanderschlugen wie bei einem Knöchelspiel. Die Nacht wollte noch immer nicht kommen, der Sommertag dauerte endlos an, es machte mich wahnsinnig, doch gleichzeitig wusste ich, dass die Nacht mir weder Ruhe noch Linderung bringen würde. Wieder zwang sie mich, sehr sanft, etwas zu trinken. Aber gerade diese Sanftheit reizte mich aufs Äußerste: Was wollte diese Frau von mir? Was führte sie im Schilde, mit ihrer Freundlichkeit und Güte? Hoffte sie, mich auf diese Weise von irgendetwas überzeugen zu können? Sie behandelte mich, als wäre ich ihr Bruder, ihr Liebhaber oder ihr Mann. Aber sie war weder meine Schwester noch meine Frau. Ich zitterte, die Fieberschübe schüttelten mich, und sie wischte mir die Stirn ab. Wenn sich ihre Hand meinem Mund näherte, wusste ich nicht, ob ich sie beißen oder küssen sollte. Dann verschwamm alles endgültig. Bilder kamen, ich hätte nicht gewusst, ob es Träume oder Gedanken waren, es waren die gleichen Bilder, die mich in den ersten Monaten des Jahres so sehr beschäftigt hatten, ich sah mich mit dieser Frau leben und mein Leben entsprechend einrichten, ich verließ die SS und all die Schrecken, die mich seit so vielen Jahren umgaben, ich streifte meine Fehler und Schwächen ab wie eine Schlange ihre Haut, meine Obsessionen verflüchtigten sich wie Sommerwolken, ich tauchte wieder ein in den Strom der Normalität. Doch statt mich zu beruhigen, empörten mich diese Gedanken: Was denn? Meine Träume abwürgen, um meinen Schwanz in ihrer blonden Vagina zu versenken, ihren Bauch küssen, den die Schwangerschaft mit schönen, gesunden Kindern anschwellen ließ? Ich sah die jungen Schwangeren wieder vor mir, wie sie im Schlamm von Kaschau oder Munkács auf ihrem Gepäck saßen, ich dachte an ihr Geschlecht, das schamhaft zwischen den Beinen und unter dem runden Bauch verborgen lag, all diese Geschlechter und diese Bäuche, die die Frauen wie Ehrenzeichen ins Gas trugen. Immer sind die Kinder in den Bäuchen der Frauen, das ist das Schreckliche.

 

Warum dieses entsetzliche Vorrecht? Warum müssen die Beziehungen zwischen Männern und Frauen immer mit dem Schwängern enden? Ein Sack voll Saatgut, eine Bruthenne, eine Milchkuh, das ist die Frau im Sakrament der Ehe. So unerquicklich mein Lebenswandel auch sein mochte, er blieb wenigstens frei von solcher Verderbnis. Paradox vielleicht, das erkenne ich jetzt, während ich es schreibe, doch damals, in den weiten Spiralen, in denen mein überhitzter Verstand kreiste, erschien es mir vollkommen logisch und schlüssig. Ich hatte Lust aufzuspringen, Helene zu schütteln, um ihr all das zu erklären, aber vielleicht habe ich diese Lust auch nur geträumt, denn ich wäre vollkommen unfähig gewesen, die geringste Bewegung zu machen. Am Morgen ging das Fieber etwas zurück. Ich weiß nicht, wo Helene schlief, sicherlich auf dem Sofa, aber ich weiß, dass sie jede Stunde nach mir sah, mir das Gesicht abwischte und etwas zu trinken gab. Die Krankheit hatte meinem Körper alle Energie geraubt, und zur Erde die blühenden Glieder ihm sanken, oh selige Schulzeit. Meine aufgeschreckten Gedanken hatten sich schließlich verflüchtigt und nichts als tiefe Bitterkeit zurückgelassen, den heftigen Wunsch, möglichst schnell zu sterben, um mit allem ein Ende zu machen. In den frühen Morgenstunden kam Piontek mit einem Korb voller Apfelsinen an, in Deutschland damals eine unerhörte Kostbarkeit. »Herr Mandelbrod hat sie in die Dienststelle geschickt«, erklärte er. Helene nahm zwei heraus und ging zu Frau Zempke hinunter, um sie auszudrücken; dann richtete sie mich mit Pionteks Hilfe in den Kissen auf und flößte mir den Saft in kleinen Schlucken ein; er hinterließ einen seltsamen, fast metallischen Nachgeschmack in meinem Mund. Piontek führte eine kurze geflüsterte Unterhaltung mit ihr, die ich nicht verstand, dann ging er. Frau Zempke kam herauf, sie hatte das Bettzeug vom Vortag gewaschen und getrocknet und half Helene, die Bettwäsche zu wechseln, die vom Nachtschweiß schon wieder durchnässt war. »Gut, dass Sie schwitzen«, sagte sie, »das vertreibt das Fieber.« Das war mir vollkommen gleichgültig, ich wollte mich nur ausruhen, hatte aber keinen Augenblick Frieden, denn der Sturmbannarzt vom Vortag war wiedergekommen und untersuchte mich mit bedenklicher Miene: »Sie wollen noch immer nicht ins Krankenhaus?« – »Nein, nein, nein.« Er ging ins Wohnzimmer, um sich mit Helene zu besprechen, kam dann zurück: »Ihr Fieber ist etwas zurückgegangen«, sagte er zu mir. »Ich habe Ihre Bekannte gebeten, Ihre Temperatur regelmäßig zu messen: Wenn das Fieber wieder über 41 Grad steigt, müssen Sie ins Krankenhaus. Verstanden?« Er gab mir eine Spritze in den Hintern, es tat genauso weh wie am Tag zuvor. »Ich lasse Ihnen noch eine hier, Ihre Bekannte gibt sie Ihnen heute Abend, das wird das Fieber über Nacht senken. Versuchen Sie etwas zu essen.« Nachdem er gegangen war, brachte Helene Bouillon: Sie nahm ein Stück Brot, zerbröckelte es, tauchte es in die Brühe und versuchte mich zu bewegen, es hinunterzuschlucken, aber ich schüttelte den Kopf, es war unmöglich. Trotzdem gelang es mir, ein bisschen Brühe zu trinken. Wie nach der ersten Spritze hatte ich auch jetzt wieder einen klareren Kopf, war aber ausgelaugt, leer. Ich wehrte mich noch nicht einmal, als Helene mir geduldig den Körper mit einem Schwamm und lauwarmem Wasser abwusch und mir dann einen von Herrn Zempke geborgten Pyjama anzog. Erst als sie mich fest in die Decke gewickelt hatte und sich hinsetzen wollte, um zu lesen, platzte mir der Kragen: »Warum tun Sie das alles?«, fragte ich sie böse. »Was wollen Sie von mir?« Sie klappte das Buch zu und richtete ihre großen Augen ruhig auf mich: »Ich will gar nichts von Ihnen. Ich möchte Ihnen einfach helfen.« – »Warum? Was erhoffen Sie sich?« – »Nicht das Geringste.« Sie hob leicht die Schultern. »Ich bin aus Freundschaft gekommen, um Ihnen zu helfen, das ist alles.« Sie saß mit dem Rücken zum Fenster, ihr Gesicht lag im Schatten, ich musterte es angestrengt, konnte aber nichts darin erkennen. »Aus Freundschaft?«, fuhr ich sie an. »Was für eine Freundschaft? Was wissen Sie von mir? Wir sind einige Male zusammen ausgegangen, das ist alles, und jetzt wollen Sie sich hier häuslich niederlassen.« Sie lächelte: »Regen Sie sich nicht so auf. Es wird Sie erschöpfen.« Dieses Lächeln gab mir den Rest: »Was weißt du von Erschöpfung? Was? Was weißt du schon davon?« Ich hatte mich aufgerichtet, jetzt sank ich kraftlos zurück, den Kopf gegen die Wand. »Du hast keine Ahnung, du weißt ja gar nicht, was Erschöpfung ist, du führst das züchtige Leben der deutschen Frau, schließt die Augen, siehst nichts, gehst zur Arbeit, suchst einen neuen Mann und nimmst nichts von dem wahr, was um dich herum vorgeht.« Ihr Gesicht blieb ruhig, sie reagierte nicht auf das ungehörige Du, ich fuhr fort, spuckte und schrie: »Du weißt überhaupt nichts von mir, nichts von dem, was ich tue, nichts von meiner Erschöpfung; seit drei Jahren töten wir Menschen, ja, das tun wir, wir töten Juden, wir töten Zigeuner, Russen, Ukrainer, Polen, Kranke, Alte, Frauen, junge Frauen wie dich, Kinder!« Ihre Miene war jetzt versteinert, sie sagte immer noch nichts, doch ich war nicht mehr zu bremsen: »Und die, die wir nicht töten, schicken wir zur Arbeit in unsere Fabriken, wie Sklaven, das ist eine wirtschaftliche Frage, musst du wissen. Spiel nicht die Unschuldige! Was glaubst du denn, woher deine Kleidung kommt? Und die Flakgranaten, die dich vor den Feindflugzeugen schützen? Und die Panzer, die die Bolschewisten im Osten aufhalten? Wie viele Sklaven sind gestorben, damit sie hergestellt werden konnten? Hast du dich das nie gefragt?« Noch immer reagierte sie nicht, und je länger sie ruhig blieb und schwieg, desto wütender wurde ich: »Oder hast du es nicht gewusst? Ist es das? Wie alle guten Deutschen. Niemand weiß etwas, außer denen, die diese schmutzige Arbeit verrichten. Wo sind sie denn hin, deine jüdischen Nachbarn aus Moabit? Hast du dich das nie gefragt? In den Osten? Sie sind zum Arbeiten in den Osten geschickt worden? Wohin denn? Wenn sechs oder sieben Millionen Juden im Osten arbeiten würden, hätte man ganze Städte errichten müssen! Hörst du nicht die BBC? Die weiß es! Alle wissen es, nur die guten Deutschen nicht, die nichts wissen wollen.« Ich war außer mir vor Wut, ich musste leichenblass geworden sein, sie schien aufmerksam zuzuhören und rührte sich nicht. »Und was, glaubst du, hat dein Mann in Jugoslawien gemacht? In der Waffen-SS? Im Partisanenkrieg? Du weißt, was das ist, der Partisanenkrieg, die Bandenbekämpfung? Die Partisanen bekommt man nur selten zu Gesicht, daher zerstört man die Umgebung, in der sie leben. Begreifst du, was das heißt? Kannst du dir deinen Hans vorstellen, wie er Frauen tötet, ihre Kinder vor ihren Augen tötet, ihre Häuser mit ihren Leichen darin verbrennt?« Jetzt reagierte sie zum ersten Mal: »Seien Sie still! Sie haben nicht das Recht!« – »Und warum habe ich nicht das Recht?«, sagte ich hohnlachend. »Glaubst du vielleicht, ich wäre besser? Du kommst mich pflegen, du denkst, ich bin ein freundlicher Mann, ein Doktor der Jurisprudenz, ein gut erzogener, kultivierter Mensch, eine gute Partie? Wir töten Menschen, verstehst du, das tun wir alle, dein Mann war ein Mörder, ich bin ein Mörder, und du bist die Komplizin von Mördern, du trägst und isst die Früchte unserer Arbeit.« Auch sie war blass geworden, aber in ihrem Gesicht drückte sich nur eine unendliche Traurigkeit aus: »Sie sind ein bedauernswerter Mensch.« – »Und warum, bitte schön? Mir gefällt, was ich bin. Ich werde befördert. Das ist natürlich nicht von Dauer. Wir können noch so viele töten, sie sind zu zahlreich, wir werden den Krieg verlieren. Statt deine Zeit damit zu vergeuden, den Engel der Barmherzigkeit zu spielen, solltest du dir lieber überlegen, wie du deine Haut retten kannst. Wenn ich du wäre, ginge ich nach Westen. Den Amis juckt der Schwanz nicht ganz so wie dem Iwan. Zumindest ziehn sie Gummis drüber: Die tapferen Jungs haben Angst vor Krankheiten. Es sei denn, dir sind die stinkenden Mongolen lieber? Träumst du nachts davon?« Sie war noch immer blass, lächelte jetzt aber über diese Worte: »Sie fantasieren. Das ist das Fieber, Sie sollten sich einmal reden hören.« – »Ich höre mich sehr gut.« Ich keuchte, die Anstrengung hatte mich erschöpft. Sie feuchtete eine Kompresse an und kam zurück, um mir die Stirn abzuwischen. »Wenn ich dich bäte, dich auszuziehen, tätest du es? Für mich? Vor mir zu wichsen? Mir den Schwanz zu lutschen? Würdest du das tun?« – »Beruhigen Sie sich«, sagte sie. »Sonst steigt das Fieber wieder.« Es war nichts zu machen, diese Frau war nicht aus der Ruhe zu bringen. Ich schloss die Augen und überließ mich der Empfindung des kalten Wassers auf meiner Stirn. Sie schüttelte die Kissen auf und zog die Decke glatt. Ich atmete pfeifend, verspürte wieder den Wunsch, sie zu schlagen, sie wegen ihrer obszönen, unerträglichen Güte in den Bauch zu treten.

Am Abend bereitete sie die Spritze vor. Mühsam drehte ich mich auf den Bauch; als ich die Hosen hinunterzog, ging mir die Erinnerung an einige kräftige Jugendliche kurz durch den Kopf, schwand aber wieder, ich war zu müde. Sie zögerte, sie hatte noch nie eine Spritze gegeben, aber als sie die Nadel ansetzte, war ihre Hand fest und sicher. Mit einem kleinen, in Alkohol getauchten Wattebausch wischte sie mir nach der Injektion die Hinterbacke ab, ich fand es rührend, offenbar erinnerte sie sich, wie Krankenschwestern das machten. Auf der Seite liegend, steckte ich mir das Thermometer ins Rektum, um die Temperatur zu messen, ohne auf sie zu achten, aber auch ohne sie sonderlich provozieren zu wollen. Ich hatte wohl etwas über 40 Grad. Die Nacht begann wieder, die dritte dieser steinernen Ewigkeit, wieder schweifte ich fantasierend zwischen dem Gestrüpp und Geröll meiner Gedanken umher. Mitten in der Nacht begann ich fürchterlich zu schwitzen. Der nasse Pyjama klebte mir an der Haut, ich war mir dessen kaum bewusst, ich erinnere mich an Helenes Hand auf meiner Stirn und meiner Wange, die mein durchnässtes Haar zurückschob, mir flüchtig über den sprießenden Bart strich, später erzählte sie mir, ich hätte mit lauter Stimme zu reden begonnen, das habe sie aus dem Schlaf gerissen und an mein Bett geführt, Satzfetzen, weitgehend unzusammenhängend, beteuerte sie, aber sie wollte mir nie verraten, wie viel sie verstanden hatte. Ich bestand nicht darauf, ich ahnte, dass es besser so war. Am nächsten Morgen war das Fieber unter 39 Grad gesunken. Als Piontek kam, um sich nach mir zu erkundigen, schickte ich ihn in die Dienststelle, um den echten Bohnenkaffee, den ich dort aufbewahrte, für Helene zu holen. Als der Arzt kam, um mich zu untersuchen, gratulierte er mir: »Sie sind über den Berg. Aber noch haben Sie es nicht überstanden, Sie müssen wieder zu Kräften kommen.« Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger, der sich nach einem verzweifelten und kräftezehrenden Kampf gegen das Meer endlich auf den Strand rollen lässt: Ich würde vielleicht doch nicht sterben. Aber der Vergleich hinkt, weil der Schiffbrüchige schwimmt, um sein Leben kämpft, während ich nichts getan, mich einfach hatte gehen lassen und der Tod mich nur nicht hatte haben wollen. Gierig trank ich den Orangensaft, den Helene mir brachte. Gegen Mittag richtete ich mich etwas auf: Einen Sommerpullover über der Schulter und eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, lehnte Helene in der Tür zwischen Schlaf- und Wohnzimmer und betrachtete mich zerstreut. »Ich wollte, ich könnte auch Kaffee trinken«, sagte ich. »Oh! Warten Sie, ich helfe Ihnen.« – »Nicht nötig.« Ich hatte mich weitgehend aufgesetzt und es geschafft, mir ein Kissen in den Rücken zu schieben. »Ich möchte mich für meine gestrigen Äußerungen entschuldigen. Ich war abscheulich.« Sie schüttelte beschwichtigend den Kopf, trank einen Schluck Kaffee und wandte den Kopf in Richtung Balkontür. Einen Augenblick später sah sie mich wieder an: »Was Sie da gesagt haben … über die Toten. Ist das wahr?« – »Wollen Sie es wirklich wissen?« – »Ja.« Sie blickte mich mit ihren schönen Augen forschend an, ich meinte, einen unruhigen Schimmer in ihnen zu entdecken, aber sie blieb ruhig, Herrin ihrer selbst. »Alles, was ich gesagt habe, ist wahr.« – »Auch die Frauen und Kinder?« – »Ja.« Sie wandte den Kopf ab, biss sich auf die Oberlippe; als sie mich wieder ansah, waren ihre Augen voller Tränen: »Das ist traurig«, sagte sie. »Ja, das ist entsetzlich traurig.« Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie weitersprach: »Sie wissen, dass wir dafür bezahlen werden.« – »Ja. Wenn wir den Krieg verlieren, wird die Rache unserer Feinde gnadenlos sein.« – »Das meine ich nicht. Selbst wenn wir den Krieg nicht verlieren, werden wir bezahlen. Dafür muss bezahlt werden.« Wieder zögerte sie. »Sie tun mir leid«, schloss sie. Dann sprach sie nicht mehr darüber und verrichtete weiter ihre Pflegedienste, selbst die unangenehmsten. Aber ihre Handreichungen schienen jetzt von anderer Qualität zu sein, kälter, sachlicher. Sobald ich aufstehen konnte, bat ich sie, nach Hause zurückzukehren. Sie ließ sich etwas bitten, aber ich bestand darauf: »Sie müssen doch erschöpft sein. Gehen Sie sich ausruhen. Frau Zempke kann sich um die Dinge kümmern, die ich brauche.« Schließlich willigte sie ein und räumte ihre Sachen in den kleinen Koffer. Ich rief Piontek an, damit er sie nach Hause fuhr. »Ich rufe Sie an«, sagte ich. Als Piontek kam, brachte ich sie zur Wohnungstür. »Danke für die Pflege«, sagte ich und gab ihr die Hand. Sie nickte, sagte aber nichts. »Auf bald«, sagte ich kühl.

Die folgenden Tage verbrachte ich damit, zu schlafen. Ich hatte noch Fieber, um die 38, manchmal 39 Grad; aber ich trank Orangensaft und Fleischbrühe, aß Brot, etwas Huhn. Nachts gab es häufig Fliegeralarm, aber ich achtete nicht darauf (vielleicht hatte es auch welche in meinen drei Deliriumsnächten gegeben, aber das weiß ich nicht). Es waren kleine Angriffe, eine Handvoll Mosquitos, die auf gut Glück ein paar Bomben abwarfen, meist über Verwaltungszentren. Doch eines Abends nötigten mich Frau Zempke und ihr Mann, mir einen Morgenmantel anzuziehen und in den Luftschutzkeller hinunterzugehen; die Anstrengung schwächte mich dermaßen, dass ich anschließend in meine Wohnung hinaufgetragen werden musste. Einige Tage nach Helenes Fortgang stürzte Frau Zempke erhitzt am frühen Abend in meine Wohnung, mit Lockenwicklern und im Morgenmantel: »Herr Obersturmbannführer! Herr Obersturmbannführer!« Sie hatte mich geweckt, und ich war ungehalten: »Was gibt es denn, Frau Zempke?« – »Die haben versucht, den Führer zu töten!« In abgerissenen Sätzen berichtete sie, was sie im Radio gehört hatte: Im Führerhauptquartier in Ostpreußen habe es ein Attentat gegeben, aber der Führer sei unversehrt, am Nachmittag habe er Mussolini empfangen, dann seine Arbeit wieder aufgenommen. »Und?«, fragte ich. »Na ja, das ist doch schrecklich!« – »Gewiss«, erwiderte ich unfreundlich. »Aber der Führer ist am Leben, sagen Sie, das ist entscheidend. Danke.« Ich legte mich wieder hin; etwas ratlos wartete sie einen Augenblick, dann trat sie den Rückzug an. Ich muss gestehen, dass ich über diese Nachricht nicht weiter nachdachte: Ich dachte auch sonst an gar nichts. Einige Tage später schaute Thomas nach mir. »Du siehst ja schon wohler aus.« – »Etwas«, erwiderte ich. Ich hatte mich endlich rasiert, allmählich musste ich wieder menschliche Züge annehmen; ich hatte aber noch Mühe, meinen Gedanken eine zusammenhängende Form zu geben, sie zerfielen bei dieser Anstrengung, sodass nur isolierte Bruchstücke blieben, Helene, der Führer, meine Arbeit, Mandelbrod, Clemens und Weser, ein unauflösliches Durcheinander. »Hast du schon die Neuigkeit gehört?«, fragte Thomas, der sich ans Fenster gesetzt hatte und rauchte. »Ja. Wie geht es dem Führer?« – »Dem Führer geht es gut. Aber das war mehr als ein Attentat. Die Wehrmacht, zumindest ein Teil, hat einen Staatsstreich versucht.« Ich grunzte überrascht, und Thomas berichtete mir die Einzelheiten. »Anfangs nahmen wir an, dass es sich nur um eine Offiziersverschwörung handle. Tatsächlich handelt es sich aber um ein weitverzweigtes Komplott: Cliquen innerhalb der Abwehr, im Auswärtigen Amt, unter dem alten Landadel. Sogar Nebe scheint beteiligt gewesen zu sein. Er ist seit gestern verschwunden, nachdem er zunächst den Schein hat wahren wollen, indem er Verschwörer verhaftet hat. Wie Fromm. Kurzum, ein ziemlicher Kuddelmuddel. Für Fromm ist der Reichsführer zum Befehlshaber des Ersatzheers ernannt worden. Selbstverständlich wird jetzt der SS eine entscheidende Rolle zufallen.« Seine Stimme war angespannt, aber fest und entschlossen. »Was ist im Auswärtigen Amt passiert?«, fragte ich. »Du denkst an deine Freundin? Da sind schon eine ganze Menge Leute verhaftet worden, unter anderen auch einige von ihren Vorgesetzten; mit der Verhaftung von Trott zu Solz ist jeden Tag zu rechnen. Aber ich glaube, um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« – »Ich mache mir keine Sorgen. Ich frage, das ist alles. Kümmerst du dich um all das?« Thomas nickte. »Kaltenbrunner hat eine Sonderkommission gebildet, die die Angelegenheit in all ihren Verästelungen untersuchen soll. Huppenkothen wird sie leiten, und ich werde sein Stellvertreter sein. Panzinger wird wohl Nebes Nachfolger bei der Kripo. Bei der Geheimen Staatspolizei jedenfalls hatte die Umstellung schon angefangen, das wird die Aufklärung beschleunigen.« – »Und worauf waren deine Verschwörer aus?« – »Es sind nicht meine Verschwörer«, sagte er scharf. »Das war ganz unterschiedlich. Die meisten dachten wohl, ohne Führer und Reichsführer würden die Westmächte einen Separatfrieden akzeptieren. Sie wollten die SS zerschlagen. Offenbar waren sie sich nicht darüber im Klaren, dass das ein neuer Dolchstoß war, wie 1918. Als ob Deutschland diesen Verrätern gefolgt wäre! Ich habe den Eindruck, dass viele von ihnen nicht ganz bei Trost waren: Einige glaubten sogar, sie könnten Elsass-Lothringen behalten, sobald sie die Hosen runtergelassen hätten. Und die einverleibten Gebiete auch. Diese Spinner! Aber das wird sich schon bald alles zeigen: Sie waren so bescheuert, vor allem die Zivilisten, dass sie fast alles schriftlich festgehalten haben. Wir haben eine Unzahl von Plänen und Ministerlisten für die neue Regierung gefunden. Sie haben sogar deinen Freund Speer auf eine der Listen gesetzt: Ich kann dir sagen, der hat im Augenblick ganz schön Schiss.« – »Und wer sollte die Führung übernehmen?« – »Beck. Aber der ist tot. Selbstmord. Fromm hat auch gleich eine ganze Reihe von Leuten an die Wand stellen lassen, um seine Beteiligung zu verschleiern.« Er erklärte mir die Einzelheiten des Attentats und des gescheiterten Putsches. »Das hätte um Haaresbreite geklappt. So knapp war es noch nie. Du musst unbedingt wieder auf die Beine kommen: Es wird viel Arbeit geben.«

Doch ich hatte keine Lust, so rasch wieder auf die Beine zu kommen, ich konnte gut noch ein wenig vor mich hin vegetieren. Ich begann wieder Musik zu hören. Langsam kam ich zu Kräften, lernte mich wieder zu bewegen. Der SS-Arzt hatte mich einen Monat krankgeschrieben, die Zeit wollte ich vollständig in Anspruch nehmen, egal, was passierte. Anfang August kam Helene mich besuchen. Ich war noch schwach, konnte aber gehen, ich empfing sie in Pyjama und Morgenmantel und kochte ihr Tee. Es war ungewöhnlich heiß, kein Lufthauch kam durch die weit geöffneten Fenster. Helene war blass und sah so ratlos aus, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie erkundigte sich nach meinem Befinden, ich sah, dass sie weinte: »Es ist schrecklich«, sagte sie, »einfach schrecklich.« Ich war verlegen, wusste nicht, was ich sagen sollte. Mehrere ihrer Kollegen waren verhaftet worden, Menschen, mit denen sie seit Jahren zusammengearbeitet hatte. »Das ist doch nicht möglich, das muss ein Irrtum sein … Ich habe gehört, dass Ihr Freund Thomas mit der Untersuchung befasst ist, könnten Sie nicht mit ihm reden?« – »Das würde nichts nützen«, sagte ich behutsam, »Thomas tut nur seine Pflicht. Aber machen Sie sich nicht zu viele Sorgen um Ihre Freunde. Vielleicht sollen sie nur ein paar Fragen beantworten. Wenn sie unschuldig sind, werden sie bald wieder auf freiem Fuß sein.« Sie hatte aufgehört zu weinen und sich die Tränen abgetrocknet, aber ihr Gesicht blieb angespannt. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Aber trotzdem muss man doch versuchen, ihnen zu helfen«, fuhr sie fort, »glauben Sie nicht?« Trotz meiner Erschöpfung verlor ich nicht die Geduld: »Sie müssen sich klarmachen, Helene, was für ein Klima jetzt herrscht. Diese Männer haben versucht, den Führer zu töten, sie wollten Deutschland verraten. Wenn Sie versuchen, sich einzumischen, geraten Sie auch noch in Verdacht. Sie können da nichts machen. Das liegt jetzt in der Hand Gottes.« – »Der Gestapo, meinen Sie«, sagte sie mit einer Aufwallung von Zorn, fing sich aber sofort wieder: »Entschuldigen Sie, ich bin … ich bin …« Ich berührte ihre Hand: »Schon gut.« Sie trank einen Schluck Tee, ich betrachtete sie. »Und Sie?«, fragte sie. »Gehen Sie wieder an Ihre … Arbeit?« Ich blickte zum Fenster hinaus, stumme Ruinen, ein blassblauer Himmel, vom allgegenwärtigen Rauch verschleiert. »Nicht gleich. Ich muss erst einmal wieder zu Kräften kommen.« Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen. »Was wird passieren?« Ich zuckte die Achseln: »Im Allgemeinen? Wir werden weiterkämpfen, die Menschen werden weitersterben, und wenn es eines Tages vorbei ist, werden die Überlebenden versuchen, all das zu vergessen.« Sie senkte den Kopf: »Ich vermisse die Tage, an denen wir schwimmen gegangen sind«, murmelte sie. »Wenn Sie wollen«, schlug ich ihr vor, »können wir damit fortfahren, wenn es mir besser geht.« Jetzt sah sie zum Fenster hinaus: »Es gibt kein Schwimmbad mehr ihn Berlin«, sagte sie ruhig.

Im Fortgehen war sie in der Tür stehen geblieben und hatte mich noch einmal angesehen. Ich wollte etwas sagen, aber sie legte mir den Finger auf die Lippen: »Sagen Sie nichts.« Diesen Finger ließ sie etwas zu lange auf meinen Lippen liegen. Dann machte sie kehrt und lief rasch die Treppe hinab. Ich verstand nicht, was sie wollte, sie schien zu kreisen um etwas, dem sie nicht näher zu kommen, von dem sie sich aber auch nicht zu entfernen wagte. Diese Zwiespältigkeit missfiel mir, es wäre mir lieber gewesen, sie hätte offen ausgesprochen, was sie auf dem Herzen hatte; dann hätte ich die Wahl gehabt, hätte Ja oder Nein sagen können, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber vermutlich wusste sie es selbst nicht. Und die Dinge, von denen ich ihr während meiner Krise erzählt hatte, mochten ihr die Sache nicht erleichtern; kein Bad, keine Schwimmhalle konnten solche Worte abwaschen.

 

 

Ich hatte auch wieder zu lesen begonnen. Aber ich wäre völlig unfähig gewesen, ernsthafte Bücher, Literatur, zu lesen, zehnmal fing ich denselben Satz an, bevor ich merkte, dass ich ihn nicht verstanden hatte. So stieß ich in meinem Bücherregal auf die Bände der Marsabenteuer von E. R. Burroughs, die ich vom Dachboden in Moreaus Haus mitgenommen und sorgsam aufgestellt hatte, ohne sie jemals zu öffnen. Ich las diese drei Bücher in einem Zug; doch zu meinem Bedauern entdeckte ich dabei nichts von dem Gefühl wieder, das mich als Jugendlichen bei ihrer Lektüre gepackt hatte, wenn ich, auf der Toilette eingeschlossen oder in meinem Bett vergraben, für Stunden die Außenwelt vergaß, um mich lustvoll in den Mäandern dieses barbarischen Universums zu verlieren, mit seiner trüben Erotik, seinen Kriegern und Prinzessinnen, die nur mit Waffen und Juwelen bekleidet waren, und seinem wunderlichen Zoo von Monstern und Maschinen. Stattdessen machte ich einige überraschende Entdeckungen über den verblendeten Jungen, der ich damals gewesen war: Einige Passagen aus diesen Science-Fiction-Romanen offenbarten mir diesen amerikanischen Prosaschriftsteller tatsächlich als einen unbekannten Ahnherren völkischen Gedankenguts. Seine Ideen veranlassten mich in meiner Untätigkeit zum Weiterdenken; in Erinnerung an Brandts Ratschläge, denen zu folgen ich bis dahin zu beschäftigt gewesen war, ließ ich mir eine Schreibmaschine kommen und setzte ein kurzes Memorandum für den Reichsführer auf; darin schilderte ich Burroughs als Vorbild für tiefgreifende soziale Reformen, die die SS nach dem Kriege ins Auge fassen muß. Als Beispiel für die Steigerung der Geburtenrate in der Nachkriegszeit und für Maßnahmen, um die Männer zu einer frühen Heirat zu zwingen, dienten mir die roten Marsianer, die ihre Zwangsarbeiter nicht nur unter Kriminellen und Kriegsgefangenen rekrutierten, sondern auch unter Junggesellen, die zu arm waren, um die von jeder rotmarsianischen Regierung verhängte hohe Ledigensteuer aufzubringen; und ich widmete dieser Ledigensteuer einen ganzen Absatz, die, wäre sie jemals erhoben worden, meine eigenen Finanzen stark belastet hätte. Doch die radikalsten Vorschläge behielt ich der SS-Elite vor, die sich die grünen Marsianer zum Beispiel nehmen sollte, diese drei Meter großen Ungeheuer mit vier Armen und Schutzvorrichtungen: Alles Eigentum ist bei den grünen Marsianern Gemeinbesitz, ausgenommen die persönlichen Waffen, den Schmuck sowie die Seidenstoffe und Pelze für die Schlafstellen der einzelnen Mitglieder … Die Frauen und Kinder im Gefolge eines Mannes sind wie eine militärische Einheit, für die er in jeder Hinsicht verantwortlich ist: Ausbildung, Disziplin, Verpflegung … Die Frauen sind keineswegs Ehefrauen … Ihre Begattung ist einzig und allein eine Frage des Gemeinschaftsinteresses und wird ohne Rücksicht auf die natürliche Selektion geregelt. Der Ältestenrat jeder Gemeinschaft überwacht diesen Vorgang ebenso streng, wie der Besitzer eines Rennstalls in Kentucky die wissenschaftliche Züchtung seiner Pferde kontrolliert, damit die besten Eigenschaften der Rasse vererbt werden. Im Sinne dieses Entwurfs schlug ich eine allmähliche Reform des Lebensborns vor. In Wahrheit grub ich damit mein eigenes Grab, und ein Teil von mir lachte, während ich das schrieb, aber es schien mir andererseits logisch aus unserer Weltanschauung hervorzugehen; außerdem wusste ich, dass es dem Reichsführer gefallen würde; diese Burroughs-Zitate erinnerten mich vage an die prophetische Utopie, die er 1941 in Kiew vor uns umrissen hatte. Und tatsächlich, zehn Tage nach Entsendung meines Memorandums erhielt ich eine Antwort, eigenhändig von ihm unterschrieben (meistens waren seine Anweisungen von Brandt oder sogar Grothmann unterzeichnet):

 

Mein lieber Dr. Aue!

Mit lebhaftem Interesse habe ich Ihre Darlegungen gelesen.

Ich höre mit großer Freude, daß es Ihnen wieder besser geht und daß Sie die Zeit Ihrer Rekonvaleszenz mit so nützlichen Untersuchungen verbringen; ich wußte ja gar nicht, daß Sie sich für die lebenswichtigen Zukunftsfragen unserer Rasse interessieren. Ich frage mich allerdings, ob Deutschland, selbst nach diesem Krieg, bereit sein wird, so tiefsinnige und notwendige Gedanken zu akzeptieren.

Wir werden sicherlich noch lange an der Gesinnung unseres Volkes arbeiten müssen.

Wie dem auch sei, es wird mir ein Vergnügen sein, mit Ihnen nach Ihrer Genesung eingehender über diese Pläne und diesen visionären Autor zu diskutieren.

Heil Hitler!

Ihr

Heinrich Himmler

Geschmeichelt erwartete ich Thomas’ nächsten Besuch, um ihm diesen Brief und mein Memorandum zu zeigen; zu meiner Überraschung reagierte er zornig darauf: »Glaubst du wirklich, es sei der Augenblick für solche Kindereien?« Er schien jeden Sinn für Humor verloren zu haben; als er mir von den letzten Verhaftungen berichtete, verstand ich, warum. Selbst in meiner unmittelbaren Umgebung gab es Männer, die beteiligt waren: zwei Kommilitonen und Jessen, mein einstiger Professor aus Kiel, der in den letzten Jahren offenbar Verbindung zu Goerdeler aufgenommen hatte. »Wir haben auch Beweise gegen Nebe gefunden, aber der hat sich verdünnisiert. Spurlos von der Bildfläche verschwunden. Klar doch, wenn das einem gelingt, dann ihm. Offenbar ist er etwas übergeschnappt: Wir haben bei ihm einen Film über eine Vergasung im Osten gefunden. Kannst du dir das vorstellen, da sitzt er abends und schaut sich dieses Zeug an?« Selten hatte ich Thomas so nervös gesehen. Ich bot ihm zu trinken und Zigaretten an, aber er ließ nicht viel verlauten; nur so viel glaubte ich zu verstehen, dass Schellenberg vor dem Attentat Verbindungen zu gewissen Oppositionskreisen gehabt hatte. Gleichzeitig zog Thomas wütend gegen die Verschwörer vom Leder: »Den Führer umbringen! Wie kann man sich bloß einbilden, dass das eine Lösung wäre? Der Verzicht auf den Oberbefehl über die Wehrmacht, einverstanden, schließlich ist er krank. Ich weiß nicht, vielleicht hätte man ihn auch zum Rücktritt bewegen können, wenn es denn wirklich nötig gewesen wäre, er wäre Präsident geblieben, hätte aber die Macht an den Reichsführer abgegeben … Schellenberg meint, die Engländer wären bereit gewesen, mit dem Reichsführer zu verhandeln. Aber den Führer töten? Idiotisch, sie haben sich nicht klargemacht … Erst schwören sie ihm Treue, und dann versuchen sie, ihn umzubringen.« Das machte ihm anscheinend wirklich zu schaffen; ich fand allein den Gedanken schockierend, dass Schellenberg oder der Reichsführer daran gedacht hatten, den Führer kaltzustellen. Das oder ihn töten war für mich kein großer Unterschied, aber das sagte ich Thomas nicht, er war schon deprimiert genug.

 

 

Ohlendorf, den ich Ende des Monats traf, als ich wieder auszugehen begann, schien zu denken wie ich. Er war schon seit einiger Zeit sehr niedergeschlagen, aber jetzt traf ich ihn noch bedrückter an als Thomas. Er gestand mir, in der Nacht vor Jessens Hinrichtung, mit dem er trotz allem freundschaftlich verbunden geblieben war, kein Auge zugetan zu haben. »Ich musste unaufhörlich an seine Frau und seine Kinder denken. Ich werde versuchen, ihnen zu helfen, ich denke, ich werde ihnen einen Teil meines Gehalts abgeben.« Trotzdem war er der Meinung, Jessen habe die Todesstrafe verdient. Schon seit Jahren, so erklärte er mir, habe unser Professor alle Bindungen an den Nationalsozialismus abgebrochen. Sie hätten sich auch weiterhin getroffen, miteinander diskutiert, und Jessen habe sogar versucht, seinen ehemaligen Schüler für seine Sache zu gewinnen. Ohlendorf war mit ihm in vielen Punkten einig: »Keine Frage, die allgemeine Korruption in der Partei, der schleichende Verfall des formellen Rechts, die pluralistische Anarchie, die den Führerstaat ersetzt, all das ist unerträglich. Und die Maßnahmen gegen die Juden, diese Endlösung, war ein Fehler. Doch den Führer und die NSDAP zu stürzen ist undenkbar. Wir müssen die Partei säubern, die Kriegsteilnehmer von der Front fördern, die die Dinge realistisch sehen, die Führungsriege der Hitlerjugend berücksichtigen, vielleicht die einzigen Idealisten, die uns noch geblieben sind. Die Erneuerung der Partei nach dem Krieg muss von den Jungen kommen. Aber wir dürfen nicht zurück zum bürgerlichen Konservatismus der Berufssoldaten und preußischen Aristokraten. Dieser Schritt hat sie endgültig desavouiert. Das hat das Volk übrigens sehr wohl begriffen.« Das stimmte: Alle Berichte des SD zeigten, dass die Menschen und die einfachen Soldaten trotz ihrer Sorgen, ihrer Erschöpfung, ihrer Ängste, ihrer Entmutigung, ja sogar ihres Defätismus über den Verrat der Verschwörer entrüstet waren. Die Kriegsanstrengungen und die Aufrufe zur Sparsamkeit fanden darin zusätzliche Unterstützung; Goebbels, der wieder einmal seinen geliebten »totalen Krieg« beschwören durfte, geiferte, um die Stimmung anzuheizen, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Die Lage aber verschlimmerte sich unaufhaltsam: Die Russen hatten Galizien zurückerobert und die Grenze von 1939 überschritten, Lublin war gefallen, schließlich verebbte die Angriffswelle in den Vororten von Warschau, wo das bolschewistische Oberkommando offensichtlich abwartete, bis wir den Anfang des Monats begonnenen polnischen Aufstand für sie niedergeschlagen hätten. »Wir spielen Stalins Spiel«, war Ohlendorfs Kommentar. »Wir sollten der AK lieber klarmachen, dass die Bolschewisten eine noch größere Gefahr darstellen als wir. Wenn die Polen an unserer Seite kämpfen würden, könnten wir die Russen vielleicht aufhalten. Aber der Führer will nichts davon hören. Und der Balkan wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen.« In Bessarabien war die unter Fretter-Pico neu aufgestellte 6. Armee auf dem besten Wege, wieder völlig aufgerieben zu werden: Das Tor zu Rumänien stand weit offen. Frankreich war allem Anschein nach verloren; nachdem die Engländer und Amerikaner eine neue Front in der Provence eröffnet und Paris genommen hatten, schickten sie sich an, den Rest des Landes zu säubern, während unsere geschlagenen Truppen über den Rhein zurückfluteten. Ohlendorf war sehr pessimistisch: »Laut Kammler sind die neuen Raketen fast fertig. Er ist überzeugt davon, dass sie den Verlauf des Krieges verändern werden. Aber ich wüsste nicht wie. Eine Rakete transportiert weniger Sprengstoff als eine amerikanische B-17 und lässt sich nur einmal verwenden.« Anders als Schellenberg, über den er nichts sagen wollte, hatte er keinen Plan, keine konkreten Lösungen: Er sprach lediglich von einem »letzten nationalsozialistischen Aufbäumen, einem gewaltigen Ruck«, was für mich etwas zu viel Ähnlichkeit mit der Goebbels’schen Rhetorik hatte. Ich hatte den Eindruck, dass er sich insgeheim mit der Niederlage abgefunden hatte. Vermutlich hatte er sich das aber noch nicht eingestanden.

Die Ereignisse vom 20. Juli hatten noch eine weitere, geringfügige, aber für mich ärgerliche Konsequenz: Mitte August verhaftete die Gestapo Standartenführer Baumann vom SS-Gericht Berlin. Ich erfuhr das schon bald von Thomas, war mir aber über die Folgen nicht sogleich im Klaren. Anfang September wurde ich von Brandt einbestellt, der den Reichsführer auf einer Inspektionsreise durch Schleswig-Holstein begleitete. Ich stieg in der Nähe von Lübeck in den Sonderzug. Brandt eröffnete mir zunächst, dass der Reichsführer mir das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse verleihen wollte: »Wie immer Sie selbst darüber denken mögen, Ihr Einsatz in Ungarn war sehr nützlich. Der Reichsführer ist zufrieden. Er hat auch einen sehr günstigen Eindruck von Ihrer letzten Initiative.« Dann informierte er mich, dass die Kripo Baumanns Nachfolger gebeten habe, die Akte, in der ich verdächtigt wurde, noch einmal zu prüfen; dieser habe dem Reichsführer geschrieben, dass die Verdachtsmomente seiner Meinung nach eine Untersuchung rechtfertigten. »Der Reichsführer hat seine Meinung nicht geändert und hat nach wie vor uneingeschränktes Vertrauen zu Ihnen. Aber er glaubt, er würde Ihnen einen schlechten Dienst erweisen, wenn er die Untersuchung erneut verhinderte. Sie müssen wissen, es gibt schon Gerüchte. Am besten wäre es, wenn Sie Gelegenheit bekämen, sich zu verteidigen und Ihre Unschuld zu beweisen: Auf diese Weise könnte man die Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt schaffen.« Der Gedanke gefiel mir nicht, denn ich kannte mittlerweile die obsessive Verbissenheit von Clemens und Weser nur zu gut, aber ich hatte keine Wahl. Wieder in Berlin, sprach ich selber beim SS-Richter von Rabingen vor, einem fanatischen Nationalsozialisten, und legte ihm meine Sicht der Dinge dar. Er erwiderte, die von der Kripo zusammengestellte Akte enthalte fragwürdige Einzelheiten, wobei er vor allem auf diese blutgetränkten deutschen Kleidungsstücke einging, die meine Größe aufwiesen, außerdem zeigte er sich von der Geschichte mit den Zwillingen befremdet, die er unbedingt aufklären wollte. Die Kripo hatte endlich meine Schwester befragt, die nach Pommern zurückgekehrt war: Sie hatte die Zwillinge in einem Privatinstitut in der Schweiz untergebracht und bestätigt, dass es die in Frankreich geborenen und verwaisten Kinder einer Cousine und ihre Geburtsurkunden 1940, während des französischen Zusammenbruchs, verschwunden seien. »Das könnte stimmen«, sagte von Rabingen streng, »lässt sich aber im Augenblick nicht überprüfen.«

Diese ständigen Verdächtigungen machten mir zu schaffen. Einige Tage lang drohte mir ein Rückfall, ich schloss mich zu Hause ein, dämmerte in düsterer Niedergeschlagenheit vor mich hin und ließ sogar Helene nicht herein, die zu einem Besuch gekommen war. Nachts sprangen Clemens und Weser als grob geschnitzte und nachlässig bemalte Marionetten in meinen Schlaf, knarrten durch meine Träume und umschwirrten mich wie bösartige, höhnische Insekten. Manchmal gesellte sich meine Mutter zu ihnen, und in meiner Angst glaubte ich schließlich, die beiden Clowns hätten Recht, ich sei verrückt geworden und hätte sie tatsächlich ermordet. Aber ich war nicht verrückt, das spürte ich, und die ganze Angelegenheit war nur ein gewaltiges Missverständnis. Als ich mich wieder ein wenig gefasst hatte, verfiel ich auf den Gedanken, mich mit Konrad Morgen in Verbindung zu setzen, dem unbestechlichen Richter, den ich in Lublin kennengelernt hatte. Er arbeitete in Oranienburg: Er lud mich sofort zu sich ein und empfing mich äußerst liebenswürdig. Zunächst berichtete er mir von seiner Tätigkeit: Nach Lublin hatte er eine Kommission in Auschwitz eingerichtet und Grabner, den Leiter der Politischen Abteilung, wegen zweitausend ungesetzlicher Morde angeklagt; Kaltenbrunner hatte Grabners Freilassung erwirkt; Morgen hatte ihn wieder festnehmen lassen und die Untersuchung fortgesetzt, auch gegen zahlreiche Komplizen und andere korrupte Untergebene; doch im Januar hatte ein krimineller Brandanschlag die Baracke zerstört, in der die Kommission alle Beweise der Anklage und einen Teil der Akten aufbewahrte, wodurch die Untersuchung erheblich erschwert wurde. Zurzeit habe er Höß selbst im Visier, verriet er mir im Vertrauen: »Ich bin überzeugt, dass er Staatseigentum unterschlagen und ungesetzliche Morde begangen hat; aber ich kann es schwer beweisen; Höß hat hochgestellte Gönner. Und Sie? Ich habe gehört, Sie haben Probleme.« Ich erklärte ihm meinen Fall. »Es genügt nicht, dass sie Sie anklagen«, sagte er nachdenklich, »sie müssen es auch beweisen. Persönlich bin ich davon überzeugt, dass Sie die Wahrheit sagen: Ich kenne die kriminellen Elemente in der SS nur zu gut, und ich weiß, dass Sie nicht dazugehören. Wie dem auch sei, um Sie anzuklagen, müssen sie konkret beweisen, dass Sie sich zum Zeitpunkt des Mordes dort befunden haben, dass diese fatalen Kleidungsstücke tatsächlich Ihnen gehört haben. Wo sind die übrigens? Wenn sie in Frankreich geblieben sind, dürfte die Anklage auf tönernen Füßen stehen. Und dann sind die französischen Behörden, die das Rechtshilfeersuchen gestellt haben, jetzt in Feindeshand: Sie sollten einen Fachmann für internationales Recht bitten, diesen Aspekt der Angelegenheit zu prüfen.« Ich fühlte mich nach diesem Gespräch ein wenig ermutigt: Die krankhafte Verbohrtheit der beiden Ermittler hatte schon eine Art Verfolgungswahn bei mir hervorgerufen, ich vermochte wahr oder falsch nicht mehr auseinanderzuhalten, doch Morgens klarer juristischer Verstand half mir, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

 

 

Am Ende dauerte diese Geschichte, wie alle juristischen Angelegenheiten, noch Monate. Ich werde euch die vielen Einzelheiten ersparen. Ich hatte mehrere Zusammentreffen mit Rabingen und den beiden Ermittlern; meine Schwester wurde in Pommern als Zeugin vernommen: Sie nahm sich in Acht und verriet nie, dass ich sie über den Mord informiert hatte, sondern erklärte, sie habe von einem Geschäftspartner Moreaus ein Telegramm aus Antibes erhalten. Clemens und Weser mussten zugeben, dass sie die fatalen Kleidungsstücke nie zu Gesicht bekommen hatten: All ihre Informationen stammten aus den Briefen der französischen Kriminalpolizei, die nicht gerichtsverwertbar waren, vor allem jetzt nicht mehr. Außerdem war der Mord in Frankreich verübt worden, eine Beschuldigung hätte allenfalls zu einer Auslieferung geführt, was natürlich unmöglich geworden war – obwohl mir ein eigentlich gar nicht unangenehmer Rechtsanwalt zu bedenken gab, dass ich vor einem SS-Gericht bei einem Verstoß gegen den Ehrenkodex die Todesstrafe zu gewärtigen hätte, ohne dass dazu das zivile Strafrecht bemüht werden müsste.

Diese Erwägungen schienen die Gunst, die mir der Reichsführer bewies, nicht zu beeinträchtigen. Bei einem seiner Blitzbesuche in Berlin ließ er mich in seinen Zug kommen, und nach einer Zeremonie, in deren Verlauf ich mit einem Dutzend anderer Offiziere, überwiegend von der Waffen-SS, meine neue Auszeichnung erhielt, lud er mich in sein Privatabteil ein, um sich mit mir über mein Memorandum zu unterhalten, dessen Ideen er für vernünftig, aber ergänzungsbedürftig hielt. »Da gibt es zum Beispiel noch die katholische Kirche. Wenn wir eine Steuer für Ledige erheben, wird sie sicherlich eine Ausnahmeregelung für ihre Geistlichen verlangen. Und wenn wir ihr die gewähren, ist das ein neuer Sieg für sie, eine neue Demonstration ihrer Stärke. Daher denke ich, dass eine Vorbedingung für jede positive Entwicklung nach dem Kriege eine Regelung der Kirchenfrage sein wird. Radikal, wenn es sein muss: Diese Pfaffen sind fast noch schlimmer als die Juden. Glauben Sie nicht? Ich bin in diesem Punkt ganz einer Meinung mit dem Führer: Die christliche Religion ist eine jüdische Religion, von Saulus, einem jüdischen Rabbiner, als Mittel gegründet, um dem Judentum, neben dem Bolschewismus die gefährlichste Weltanschauung, mehr Geltung zu verschaffen. Die Juden auszuschalten und die Christen zu behalten, das hieße auf halbem Wege stehen zu bleiben.« Ich hörte mir das alles mit todernster Miene an und machte mir Notizen. Erst am Schluss der Unterredung kam der Reichsführer auf meine Affäre zu sprechen: »Es wurde nicht der geringste Beweis gefunden, nicht wahr?« – »Nein, mein Reichsführer. Es gibt keinen.« – »Sehr schön. Ich wusste gleich, dass das eine Dummheit war. Aber es ist doch besser, dass sie sich selbst davon überzeugen, oder?« Er brachte mich zur Tür und gab mir die Hand, nachdem ich gegrüßt hatte: »Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, Obersturmbannführer. Sie sind ein Offizier mit großer Zukunft.«

Mit großer Zukunft? Die Zukunft schien mir eher mit jedem Tag zu schrumpfen, meine ebenso wie die Deutschlands. Als ich mich umwandte, blickte ich mit Schrecken in den langen dunklen Gang, den Tunnel, der aus den Tiefen der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Moment führte. Was war aus den grenzenlosen Weiten geworden, die sich vor uns auftaten, als wir, am Ausgang der Kindheit, die Zukunft mit Energie und Zuversicht in Angriff nahmen? Diese ganze Kraft hatte uns anscheinend nur dazu gedient, uns ein Gefängnis, wenn nicht gar einen Galgen errichtet zu haben. Seit meiner Krankheit sah ich niemanden mehr, den Sport überließ ich anderen. Meistens aß ich allein zu Hause und genoss bei weit geöffneter Balkontür die milde Luft des Spätsommers und die wenigen grünen Blätter in den Ruinen der Stadt, vor dem letzten Aufflammen ihrer Farben. Von Zeit zu Zeit ging ich mit Helene aus, doch über diesen Treffen lag eine schmerzliche Scham; beide suchten wir wohl die Süße und den intensiven Zauber der ersten Monate, aber er war verschwunden, und wir fanden ihn nicht wieder, bemühten uns aber gleichzeitig, so zu tun, als hätte sich nichts geändert – es war eigenartig. Ich verstand nicht, warum sie unbedingt in Berlin bleiben wollte: Ihre Eltern hatten bei einem Cousin im Badischen Unterschlupf gefunden, doch als ich sie drängte – ehrlich und nicht mit der unerklärlichen Brutalität aus der Zeit meiner Krankheit –, ihnen nachzureisen, wehrte sie den Vorschlag mit lächerlichen Vorwänden ab – ihrer Arbeit oder der Beaufsichtigung ihrer Wohnung. In hellsichtigen Augenblicken sagte ich mir, dass sie meinetwegen blieb, und fragte mich, ob nicht gerade der Schrecken, den ihr meine Äußerungen eingeflößt haben mussten, sie dazu bewog und sie ermutigte, ob sie nicht vielleicht hoffte, mich vor mir selbst zu retten, eine vollkommen lächerliche Idee, wenn es zutreffen sollte, aber wer weiß schon, was im Kopf einer Frau vorgeht? Da musste noch etwas anderes sein, das merkte ich gelegentlich. Eines Tages gingen wir auf der Straße, ein Auto fuhr durch eine Pfütze in der Nähe: Das Wasser spritzte Helene unter den Rock, bis zum Schenkel hoch. Etwas unmotiviert brach sie in ein anstößiges, fast hysterisches Gelächter aus. »Warum lachen Sie? Was ist so komisch?« – »Sie, Sie sind es«, stieß sie, noch immer lachend, hervor. »So weit oben haben Sie mich nie berührt.« Ich antwortete nicht. Was hätte ich sagen sollen? Ich hätte ihr, um sie zur Vernunft zu bringen, mein Memorandum für den Reichsführer zu lesen geben können; doch ich spürte, dass weder das noch ein offenes Bekenntnis zu meiner Lebensführung sie entmutigt hätten, so war sie, eigensinnig, sie hatte ihre Wahl fast zufällig getroffen, und nun hielt sie halsstarrig daran fest, als zähle die Wahl mehr als der Mensch, den sie erwählt hatte. Warum gab ich ihr nicht den Laufpass? Ich weiß es nicht. Ich kannte nicht viele Menschen, mit denen ich mich unterhalten konnte. Thomas arbeitete vierzehn, sechzehn Stunden am Tag, ich sah ihn kaum. Die meisten meiner Kameraden waren verlagert worden. Hohenegg war, wie ich aus einem Telefonat mit dem OKW erfuhr, im Juli an die Front geschickt worden und noch immer in Königsberg. Beruflich war ich trotz aller Ermutigungen des Reichsführers an einen toten Punkt gelangt: Speer hatte mich abgeschrieben, ich stand nur noch mit seinen Untergebenen in Verbindung, und meine Dienststelle, von der niemand mehr etwas verlangte, diente nun als Briefkasten für die Klagen verschiedener Unternehmen, Organisationen oder Ministerien. Von Zeit zu Zeit brüteten Asbach und die anderen Mitglieder der Gruppe eine Studie aus, die ich hierhin und dorthin schickte; mir wurde höflich oder gar nicht geantwortet. Aber ich verstand nicht so recht, was ich falsch gemacht hatte, bis zu dem Tag, an dem Herr Leland mich zum Tee einlud. Das fand in der Bar des Adlon statt, eines der wenigen guten Restaurants, die noch geöffnet waren, ein regelrechter Turm zu Babel, Dutzende von Sprachen waren zu hören, und alle Mitglieder des ausländischen diplomatischen Korps schienen sich hier zu verabreden. Ich traf Herrn Leland an einem etwas abseits stehenden Tisch an. Mit gemessenen Bewegungen servierte mir ein Oberkellner den Tee, und Leland wartete, bis er gegangen war, bevor er das Wort an mich richtete. »Was macht deine Gesundheit?«, fragte er. »Danke gut, Herr Leland. Ich bin wieder vollkommen auf dem Posten.« – »Und die Arbeit?« – »Auch gut, der Reichsführer scheint zufrieden. Ich habe kürzlich einen Orden bekommen.« Er sagte nichts und nahm einen Schluck Tee. »Aber es ist schon einige Monate her, dass ich Minister Speer gesehen habe«, fuhr ich fort. Er machte eine unwillige Handbewegung: »Das hat keine Bedeutung mehr. Speer hat uns sehr enttäuscht. Wir müssen uns jetzt um andere Dinge kümmern.« – »Worum denn?« – »Das ist noch nicht spruchreif«, sagte er mit seinem leichten charakteristischen Akzent. »Und wie geht es Herrn Dr. Mandelbrod?« Er sah mich kalt und streng an. Wie immer konnte ich sein Glasauge nicht von dem gesunden unterscheiden. »Mandelbrod geht es gut. Aber ich muss dir sagen, dass du ihn enttäuscht hast.« Ich sagte nichts. Leland trank noch einen Schluck Tee, bevor er fortfuhr: »Ehrlich gesagt, du hast nicht alle unsere Erwartungen erfüllt. In letzter Zeit hast du nicht viel Initiative gezeigt. Was du in Ungarn geleistet hast, war unbefriedigend.« – »Ich bitte Sie, Herr Leland … Ich habe mein Bestes getan. Und der Reichsführer hat mich zu meiner Arbeit beglückwünscht. Aber die Konkurrenz zwischen den Abteilungen war einfach zu stark, alle haben sich gegenseitig behindert …« Leland schien meine Worte überhaupt nicht zu beachten. »Wir haben den Eindruck«, sagte er schließlich, »dass du nicht verstanden hast, was wir von dir erwarten.« – »Und was erwarten Sie von mir?« – »Mehr Energie. Mehr Einfallsreichtum. Du sollst Lösungen vorlegen, keine Hindernisse schaffen. Und dann, erlaube mir die Feststellung, verzettelst du dich. Der Reichsführer hat uns dein letztes Memorandum geschickt: Statt deine Zeit mit solchen Kindereien zu vergeuden, solltest du an das Wohl Deutschlands denken.« Ich spürte, wie mir die Wangen brannten, und ich bemühte mich, meine Stimme zu beherrschen. »Ich denke an nichts anderes. Aber wie Sie wissen, war ich sehr krank. Außerdem habe ich … noch andere Probleme.« Zwei Tage zuvor hatte ich eine sehr unangenehme Unterhaltung mit Rabingen gehabt. Leland sagte nichts, er hob die Hand, und der Oberkellner erschien, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen. An der Bar lachte ein junger Mann viel zu laut, sein Haar war onduliert, er trug einen karierten Anzug und Fliege. Ein kurzer Blick genügte mir: Es war lange her, dass ich daran gedacht hatte. Leland ergriff wieder das Wort: »Wir sind über deine Probleme informiert. Es hätte niemals so weit kommen dürfen. Wenn du nicht umhinkonntest, diese Frau zu töten, in Ordnung, aber dann hättest du es auf richtige Weise machen müssen.« Mir war das Blut aus dem Gesicht gewichen: »Hören Sie, Herr Leland«, brachte ich schließlich tonlos hervor. »Ich habe sie nicht getötet. Das war ich nicht.« Er sah mich ruhig an: »Mag sein«, sagte er. »Du musst wissen, dass uns das völlig egal ist. Wenn du es getan hast, war es dein Recht, dein gutes Recht. Als alte Freunde deines Vaters haben wir volles Verständnis dafür. Aber du hattest kein Recht, dich zu kompromittieren. Das beeinträchtigt deine Nützlichkeit für uns ganz außerordentlich.« Ich wollte wieder protestieren, aber er schnitt mir das Wort mit einer Handbewegung ab. »Warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln. Wir hoffen, dass du wieder Tritt fasst.« Ich sagte nichts, und er hob einen Finger. Wieder erschien der Oberkellner; Leland flüsterte ihm einige Worte zu und stand auf. Ich erhob mich ebenfalls. »Auf bald«, sagte er mit seiner monotonen Stimme. »Wenn du etwas brauchst, setz dich mit uns in Verbindung.« Er ging, ohne mir die Hand zu geben, den Oberkellner im Schlepptau. Ich hatte meinen Tee nicht angerührt. Nun ging ich an die Bar und bestellte einen Kognak, den ich in einem Zug hinunterkippte. Eine angenehme Stimme neben mir, etwas schleppend und mit starkem Akzent, sagte: »Ist es nicht etwas früh am Tag, so zu trinken? Möchten Sie noch einen?« Es war der junge Mann mit Fliege. Ich willigte ein; er bestellte zwei und stellte sich vor: Mihai I., Dritter Legationssekretär in der rumänischen Gesandtschaft. »Wie stehen die Dinge bei der SS?«, fragte er, nachdem wir angestoßen hatten. »Bei der SS? So lala. Und im diplomatischen Korps?« Er zuckte die Achseln: »Mies. Da sind nur noch« – er machte eine weit ausholende Geste in Richtung Saal – »die letzten Mohikaner. Wegen der Rationierungsmaßnahmen lassen sich keine richtigen Cocktailpartys mehr veranstalten, aber hier kommen wir wenigstens einmal pro Tag zusammen. Abgesehen davon, habe ich noch nicht einmal mehr eine Regierung, die ich vertreten könnte.« Nach der Kriegserklärung Ende August an Deutschland hatte Rumänien jetzt vor den Sowjets kapituliert. »Richtig. Wen vertreten Sie denn jetzt?« – »Im Grunde Horia Sima. Aber nur auf dem Papier, Herr Sima kann sich sehr gut allein vertreten. Wie dem auch sei« – wieder umfing er mit einer Handbewegung mehrere der Anwesenden –, »wir sind praktisch alle in der gleichen Situation. Vor allem meine französischen und bulgarischen Kollegen. Die Finnen sind fast alle abgereist. Nur noch die Schweizer und Schweden sind echte Diplomaten.« Er betrachtete mich lächelnd: »Kommen Sie mit uns zu Abend essen. Ich mache Sie mit anderen befreundeten Gespenstern bekannt.«

In Liebesdingen – ich habe es wohl schon erwähnt – hatte ich immer sorgsam darauf geachtet, mich von Intellektuellen und Männern meiner sozialen Herkunft fernzuhalten: Sie wollten immer reden und hatten die lästige Neigung, sich zu verlieben. Bei Mihai machte ich eine Ausnahme, aber bei ihm bestand auch wenig Gefahr, er war ein frivoler und amoralischer Zyniker. Er hatte ein Häuschen im Westend; unter dem Vorwand, noch ein Glas trinken zu wollen, ließ ich mich am ersten Abend nach dem Essen zu ihm einladen und verbrachte dort die Nacht. Trotz seines exzentrischen Aussehens hatte er den harten, sehnigen Körper eines Athleten, sicherlich ein Erbteil seiner bäuerlichen Vorfahren, am ganzen Körper braune, dicht gelockte Haare und einen rauen, männlichen Geruch. Es amüsierte ihn königlich, einen SS-Mann verführt zu haben: »Wehrmacht oder Auswärtiges Amt, das ist ein Kinderspiel.« Ich traf mich von Zeit zu Zeit mit ihm. Manchmal ging ich zu ihm, nachdem ich mit Helene zu Abend gegessen hatte, dann bediente ich mich seiner brutal und hemmungslos, als wollte ich mir die stummen Wünsche meiner Freundin aus dem Kopf waschen oder meine eigene Ambivalenz.