Doch wenn die Vergangenheit erst einmal die Zähne in euer Fleisch geschlagen hat, lässt sie euch nicht mehr los. Gegen Mitte der Woche, die auf die Fliegerangriffe folgte, klopfte Fräulein Praxa an die Tür meines Dienstzimmers. »Herr Obersturmbannführer? Da sind zwei Herren von der Kripo, die Sie sprechen möchten.« In eine besonders unübersichtliche Akte vertieft, antwortete ich ungehalten: »Dann sollen sie sich gefälligst einen Termin geben lassen, wie alle anderen auch.« – »Wie Sie wünschen, Herr Obersturmbannführer.« Sie schloss die Tür. Eine Minute später klopfte sie wieder: »Entschuldigen Sie, Herr Obersturmbannführer. Sie lassen sich nicht abweisen. Ich soll Ihnen sagen, dass es sich um eine persönliche Angelegenheit handelt. Es geht um Ihre Mutter.« Ich atmete tief durch und schloss meine Akte: »Dann lassen Sie sie eintreten.«

Die beiden Männer, die sich in mein Dienstzimmer schoben, waren echte Polizisten, keine Edelpolizisten wie Thomas. Sie trugen lange graue Mäntel aus derber, grober Wolle, offenbar mit Holzschliff gestreckt, und hielten ihre Hüte in der Hand. Sie zögerten, dann hoben sie den Arm und sagten: »Heil Hitler!« Ich erwiderte ihren Gruß und bat sie, sich aufs Sofa zu setzen. Sie stellten sich vor: Kriminalkommissar Clemens und Kriminalkommissar Weser, vom Referat V B 1, »Kapitalverbrechen«. »Eigentlich«, sagte einer der beiden einleitend, wohl Clemens, »sind wir auf Antrag des Referats V A 1 tätig geworden, das für die internationale Zusammenarbeit zuständig ist. Es liegt ein Rechtshilfeersuchen der französischen Polizei vor …« – »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich ihn unwirsch, »darf ich Ihre Papiere sehen?« Sie reichten mir ihre Ausweise sowie eine Dienstanweisung, die von einem Regierungsrat Galzow unterzeichnet war und sie beauftragte, die Fragen zu beantworten, die der deutschen Justiz vom Präfekten des Departements Alpes-Maritimes im Rahmen der Ermittlungen zum Mordfall Moreau, Aristide, und seiner Ehefrau Moreau, Héloïse, verwitweter Aue, geborener C., übermittelt worden waren. »Sie untersuchen also den Tod meiner Mutter«, sagte ich und gab ihnen die Papiere zurück. »Wieso interessiert das die deutsche Polizei? Sie sind in Frankreich getötet worden.« – »Vollkommen richtig, vollkommen richtig«, sagte der zweite, offenbar Weser. Der erste zog ein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. »Das war anscheinend ein sehr gewalttätiger Mord«, sagte er. »Vielleicht ein Wahnsinniger, ein Sadist. Sie müssen sehr erschüttert gewesen sein.« Meine Stimme blieb kalt und unfreundlich: »Hören Sie, Herr Kommissar, ich weiß, was geschehen ist. Meine persönlichen Reaktionen gehen Sie nichts an. Was wünschen Sie also?« – »Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Weser. »Als möglichem Zeugen«, fügte Clemens hinzu. »Zeugen für was?«, fragte ich. Er sah mir in die Augen: »Sie sind zum betreffenden Zeitpunkt dort gewesen, nicht wahr?« Ich erwiderte seinen Blick: »Das stimmt. Sie sind gut unterrichtet. Ich war zu Besuch bei ihnen. Ich weiß nicht genau, wann sie umgebracht wurden, aber es muss kurz danach gewesen sein.« Clemens zog sein Notizbuch zu Rate, dann zeigte er es Weser. Der sagte: »Nach Auskunft der Gestapo Marseille wurde Ihnen am 26. April ein Passierschein für die italienische Zone ausgestellt. Wie lange sind Sie bei Ihrer Mutter geblieben?« – »Nur einen Tag.« – »Sind Sie sicher?«, fragte Clemens. »Ich denke doch. Warum?« Weser schaute wieder in Clemens’ Notizbuch: »Laut der französischen Polizei hat ein Gendarm am Morgen des 29. einen SS-Offizier Antibes im Bus verlassen sehen. Damals waren nicht viele SS-Offiziere in dem Abschnitt, und die sind bestimmt nicht in Bussen durch die Gegend gefahren.« – »Kann sein, dass ich zwei Nächte geblieben bin. Ich bin damals viel gereist. Ist das wichtig?« – »Vielleicht. Die Leichen sind am 1. Mai entdeckt worden, von einem Milchmann. Sie waren schon eine Zeitlang tot. Nach Schätzung des Gerichtsmediziners lag der Mord sechzig bis vierundachtzig Stunden zurück, der Tod muss also zwischen dem Abend des 28. und dem Abend des 29. eingetreten sein.« – »Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass sie noch sehr munter waren, als ich sie verließ.« – »Wenn Sie also am Morgen des 29. abgefahren sind«, sagte Clemens, »dann müssen sie im Laufe desselben Tages getötet worden sein.« – »Möglich, die Frage habe ich mir noch nicht gestellt.« – »Wie haben Sie von ihrem Tod erfahren?« – »Meine Schwester hat mir davon berichtet.« – »Sie ist tatsächlich fast unverzüglich hingefahren«, sagte Weser, der sich noch immer zu Clemens hinüberbeugte, um in dessen Notizbuch zu blicken, »am 2. Mai, um genau zu sein. Wissen Sie, wie sie davon erfahren hat?« – »Nein.« – »Haben Sie sie inzwischen wiedergesehen?«, fragte Clemens. »Nein.« – »Wo hält sie sich jetzt auf?«, fragte Weser. »Sie lebt mit ihrem Mann in Pommern. Ich kann Ihnen die Adresse geben, aber ich weiß nicht, ob sie jetzt dort sind. Sie reisen häufig in die Schweiz.« Weser nahm Clemens das Notizbuch aus der Hand und notierte etwas. Clemens fragte mich: »Sie haben keinen Kontakt zu ihr?« – »Nicht sehr oft«, antwortete ich. »Und Ihre Mutter, haben Sie die öfter gesehen?«, fragte Weser. Sie schienen sich beim Sprechen systematisch abzuwechseln, und dieses Spielchen ging mir entsetzlich auf die Nerven. »Auch nicht sehr oft«, antwortete ich äußerst brüsk. »Kurzum«, sagte Clemens, »Sie stehen Ihrer Familie nicht sehr nahe.« – »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, meine Herren, dass ich mit Ihnen nicht über meine Gefühle sprechen werde. Ich wüsste nicht, was Sie meine familiären Beziehungen angingen.« – »Bei einem Mord, Herr Obersturmbannführer«, sagte Weser belehrend, »interessiert sich die Polizei für alles.« Sie waren wirklich wie zwei Cops aus einem amerikanischen Film. Aber das war sicherlich Absicht. »Dieser Herr Moreau war Ihr Stiefvater, richtig?«, Weser ergriff wieder das Wort. »Ja. Er hat meine Mutter … 1929 geheiratet, glaube ich. Vielleicht auch 28.« – »1929, genau«, sagte Weser, wieder mit Blick in sein Notizbuch. »Kennen Sie seine testamentarischen Verfügungen?«, fragte Clemens unvermittelt. Ich schüttelte den Kopf: »Keineswegs. Warum?« – »Herr Moreau war kein armer Mann«, sagte Weser. »Vielleicht erben Sie ja ein hübsches Sümmchen.« – »Das würde mich wundern. Mein Stiefvater und ich verstanden uns nicht sehr gut.« – »Möglich«, antwortete Clemens, »aber er hat keine Kinder, auch keine Geschwister. Wenn er kein Testament hinterlassen hat, geht alles an Sie und Ihre Schwester.« – »Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Doch anstatt hier wilde Vermutungen anzustellen, sagen Sie mir doch einfach, ob ein Testament gefunden wurde.« Weser blätterte im Notizbuch: »Um ehrlich zu sein, wir wissen es noch nicht.« – »Mit mir hat sich jedenfalls noch niemand deswegen in Verbindung gesetzt«, erklärte ich. Weser kritzelte etwas in sein Notizbuch. »Noch eine Frage, Herr Obersturmbannführer: Bei Herrn Moreau lebten zwei Kinder. Zwillinge.« – »Ich habe diese Kinder gesehen. Meine Mutter sagte, es seien die Kinder einer Freundin. Wissen Sie, wer sie sind?« – »Nein«, knurrte Clemens. »Offenbar wissen die Franzosen es auch nicht.« – »Sind sie Zeugen des Mordes?« – »Sie haben noch keinen Ton gesagt«, meinte Weser. »Möglich, dass sie etwas gesehen haben«, fügte Clemens hinzu. »Aber sie wollten nicht reden«, wiederholte Weser. »Vielleicht standen sie unter Schock«, sagte Clemens. »Und was ist jetzt mit ihnen?«, fragte ich. »Das ist ja das Merkwürdige«, sagte Weser, »Ihre Schwester hat sie mitgenommen.« – »Wir wissen nicht so recht, warum«, sagte Clemens. »Noch wie sie das angestellt hat.« – »Obendrein scheint das höchst rechtswidrig zu sein«, meinte Weser. »Außerordentlich rechtswidrig«, echote Clemens. »Aber damals hatten noch die Italiener das Sagen. Bei denen ist alles möglich.« – »Wirklich alles«, unterstrich Weser. »Nur keine vernünftige Ermittlung.« – »Bei den Franzosen ist das übrigens keinen Deut besser«, übernahm Clemens wieder. »Ja, bei denen ist es genauso«, bestätigte Weser. »Es ist kein Vergnügen, mit denen zusammenzuarbeiten.« – »Das ist ja alles schön und gut, meine Herren«, unterbrach ich sie, »aber was hat das mit mir zu tun?« Clemens und Weser blickten sich an. »Hören Sie, ich bin im Augenblick sehr beschäftigt. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, können wir es dabei bewenden lassen?« Clemens nickte; Weser blätterte in seinem Notizbuch und gab es ihm zurück. Dann stand er auf: »Entschuldigen Sie, Herr Obersturmbannführer.« – »Ja«, sagte Clemens, ebenfalls aufstehend. »Entschuldigen Sie uns. Im Augenblick ist das alles.« – »Genau«, wiederholte Weser, »das ist alles. Vielen Dank für Ihre Mitarbeit.« Ich gab ihnen die Hand: »Ich bitte Sie. Sollten Sie noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit wieder an mich wenden.« Ich nahm zwei Visitenkarten aus einer Schale und reichte sie ihnen. »Danke«, sagte Weser und steckte sie ein. Clemens studierte die seine: »Sonderbeauftragter des Reichsführers SS für den Arbeitseinsatz«, las er. »Was ist das?« – »Ein Staatsgeheimnis, Herr Kommissar«, erwiderte ich. »Oh, Verzeihung.« Die beiden grüßten und gingen zur Tür. Clemens, gut einen Kopf größer als Weser, öffnete sie und ging hinaus; Weser blieb in der Tür stehen und wandte sich noch einmal um: »Entschuldigen Sie, Herr Obersturmbannführer. Ich habe eine Kleinigkeit vergessen.« Nach draußen gewandt, rief er: »Clemens! Das Notizbuch!« Wieder blätterte er darin: »Ach ja, hier: Als Sie bei Ihrer Mutter zu Besuch waren, haben Sie da Uniform oder Zivil getragen?« – »Daran erinnere ich mich nicht. Warum? Ist das wichtig?« – »Sicher nicht. Der Obersturmführer in Marseille, der Ihnen den Passierschein ausgestellt hat, meinte, Sie seien in Zivil gewesen.« – »Möglich. Ich hatte Urlaub.« Er nickte bedächtig: »Danke. Wenn es noch etwas gibt, rufen wir Sie an. Entschuldigen Sie, dass wir so hereingeplatzt sind. Das nächste Mal lassen wir uns einen Termin geben.«

Dieser Besuch hinterließ bei mir einen schlechten Nachgeschmack. Was wollten diese beiden Karikaturen? Sie waren mir sehr aggressiv, sehr glatt vorgekommen. Gewiss, ich hatte sie belogen: Aber wenn ich ihnen gesagt hätte, dass ich die Leichen gesehen hatte, hätte das alle möglichen Komplikationen gegeben. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mich in diesem Punkt verdächtigten; ihr Verdacht schien eher systematischer Natur zu sein, vermutlich ein Berufsfehler. Als äußerst widerwärtig hatte ich ihre Fragen zu Moreaus testamentarischen Verfügungen empfunden: Sie schienen andeuten zu wollen, dass ich ein Motiv, ein finanzielles Interesse gehabt haben könnte, das war grotesk. War es möglich, dass sie mich des Mordes verdächtigten? Ich versuchte, das Gespräch zu rekonstruieren, und musste einsehen, dass es möglich war. Ich fand das erschreckend, aber der Polizistenverstand war wohl so beschaffen. Eine andere Frage setzte mir allerdings noch mehr zu: Warum hatte meine Schwester die Zwillinge mitgenommen? Was für eine Beziehung gab es zwischen ihnen und ihr? Ich muss gestehen, dass mich das alles sehr beunruhigte. Ich empfand es fast als ungerecht: Ausgerechnet in dem Augenblick, da mein Leben endlich eine Art Gleichgewicht zu finden schien, da sich ein Gefühl der Normalität einstellen wollte, fast wie bei anderen Menschen, begannen diese schwachköpfigen Polizisten alte Geschichten aufzuwärmen, Unruhe zu stiften, Fragen zu stellen, auf die es keine Antworten gab. Am vernünftigsten wäre es gewesen, meine Schwester anzurufen oder ihr zu schreiben, um sie zu fragen, was mit diesen verflixten Zwillingen war, und auch um sicherzugehen, dass ihre Aussage, falls diese Polizisten sie jemals befragen sollten, nicht in den Punkten, bei denen ich es vorgezogen hatte, einen Teil der Wahrheit zu verschweigen, von meiner Darstellung abwich. Doch ohne zu wissen, warum eigentlich, tat ich es nicht sofort; nicht, dass mich etwas zurückgehalten hätte, ich hatte einfach keine Lust, mich zu beeilen. Telefonieren war kein Problem, ich konnte es tun, wann ich Lust hatte, kein Grund zur Eile.

Außerdem war ich sehr beschäftigt. Meine Gruppe in Oranienburg, die sich unter Asbachs Leitung ständig vergrößerte, schickte mir regelmäßig Zusammenfassungen ihrer Untersuchungen über die Verwendung von Fremdarbeitern, den Ausländereinsatz, wie die offizielle Bezeichnung lautete. Diese Arbeiter wurden nach rassischen Kriterien in zahlreiche Kategorien unterteilt und unterschiedlichen Behandlungen unterworfen; dazu zählten auch Kriegsgefangene aus westlichen Ländern (aber keine sowjetischen Kriegsgefangenen, die bildeten eine eigene Kategorie und waren ausschließlich dem OKW unterstellt). Am Tag nach dem Besuch der beiden Kriminalbeamten wurde ich zum Reichsführer einbestellt, der sich für das Thema interessierte. Ich erstattete ihm einen ziemlich umständlichen – schließlich war das Problem kompliziert –, aber vollständigen Bericht: Der Reichsführer lauschte, fast ohne ein Wort zu sagen, unergründlich hinter seinen kleinen stahlgefassten Brillengläsern. Gleichzeitig musste ich Speers Besuch in Mittelbau vorbereiten, und ich fuhr nach Lichterfelde – seit den Fliegerangriffen von bösen Berliner Zungen Trichterfelde genannt –, um mir das Projekt von Brigadeführer Kammler, dem Chef der Amtsgruppe C (»Bauwesen«) des WVHA, erläutern zu lassen. Kammler, ein kurz angebundener nervöser Mann, dessen rasche Sprechweise und Gestik einen unbeugsamen Willen verbargen, berichtete mir – und es war das erste Mal, dass ich dazu etwas anderes als Gerüchte vernahm – vom Aggregat 4, einer Rakete und Wunderwaffe, die nach seinen Worten den Verlauf des Krieges unwiderruflich verändern würde, sobald sie serienmäßig hergestellt werden könnte. Die Engländer hatten Wind von ihrer Existenz bekommen und im August die geheimen Anlagen bombardiert, in denen sie entwickelt worden war – im Norden Usedoms, der Insel, auf der ich nach meiner Verwundung gesund gepflegt worden war. Drei Wochen später schlug der Reichsführer dem Führer und Speer vor, die Anlagen unter die Erde zu verlegen und die Geheimhaltung dadurch zu sichern, dass er ausschließlich Häftlinge aus Konzentrationslagern einsetzte. Kammler hatte den Standort persönlich ausgesucht, unterirdische Stollen im Harz, die von der Wehrmacht für die Lagerung von Treibstoffvorräten genutzt wurden. Unter der Ägide von Speers Ministerium war zur Durchführung des Projekts eine eigene Gesellschaft gegründet worden, die Mittelwerke GmbH; trotzdem blieben Einrichtung und Sicherheit der Anlage ausschließlich in der Verantwortung der SS. »Die Montage der Raketen hat bereits begonnen, auch wenn die Arbeiten an der Fertigungsanlage noch nicht ganz abgeschlossen sind; der Reichsminister dürfte zufrieden sein.« – »Ich kann nur hoffen, dass die Arbeitsbedingungen der Häftlinge angemessen sind, Brigadeführer«, erwiderte ich. »Ich weiß, dass der Reichsminister größten Wert darauf legt.« – »Die Bedingungen sind, wie sie sind, Obersturmbannführer. Schließlich haben wir Krieg. Aber ich darf Ihnen versichern, dass der Minister keinen Grund zur Klage haben wird, was die Produktivität angeht. Das Werk steht unter meinem persönlichen Befehl, und ich habe selbst den Kommandanten ausgewählt, einen tüchtigen Mann. Auch das RSHA macht mir keine Probleme: Ich habe einen meiner Männer abgestellt, Dr. Bischoff, der über die Produktionssicherung wacht und der Sabotage vorbeugt. Bis jetzt hat es keinen Ärger gegeben. Auf jeden Fall«, fügte er hinzu, »habe ich im April und Mai mit Mitarbeitern von Minister Speer mehrere KL inspiziert; sie hatten keine Klagen, und Mittelbau kann allemal mit Auschwitz mithalten.«

Der Besuch fand an einem Freitag im Dezember statt. Es herrschte schneidende Kälte. Speer ließ sich von Fachleuten seines Ministeriums begleiten. Sein Sonderflugzeug, eine Heinkel, brachte uns bis Nordhausen; dort erwartete uns eine Abordnung des Lagers unter Führung des Kommandanten Förschner, die uns zur Produktionsstätte geleitete. Die von mehreren Kontrollstellen der SS abgeriegelte Straße führte am Südhang des Harzes entlang; Förschner erläuterte uns, das ganze Massiv sei zur Sperrzone erklärt worden, da etwas weiter nördlich, in Nebenlagern von Mittelbau, auch andere unterirdische Projekte in Angriff genommen worden seien; in Dora selbst würden im Nordteil der beiden Tunnel Junkers-Motoren gebaut. Speer hörte sich seine Ausführungen wortlos an. Die Straße mündete auf einem großen ungepflasterten Platz; auf der einen Seite reihten sich die Baracken der SS-Wachen und der Kommandantur; gegenüber, durch Stapel von Baumaterial versperrt, von Tarnnetzen und einem mit Tannen bepflanzten Kamm verdeckt, gähnte der Eingang des ersten Tunnels. Dort gingen wir hinter Förschner und mehreren Ingenieuren der Mittelwerke in den Berg hinein. Der Gipsstaub und der beißende Rauch der Industriesprengstoffe legten sich mir auf die Brust; damit vermischt, schlugen uns andere, undefinierbare Gerüche entgegen, süß und ekelerregend, die mich an meine ersten Lagerbesuche erinnerten. Wo wir hinkamen, hatten sich die Häftlinge auf Anordnung des Spießes, der der Abordnung voranging, in Grundstellung aufgebaut und rissen ihre Käppis herunter. Die meisten waren schrecklich abgemagert; ihre Köpfe, die prekär auf den dürren Hälsen balancierten, ähnelten scheußlichen, mit riesigen Pappnasen und -ohren verzierten Kugeln, in die riesige, leere Augen eingedrückt waren, die sich weigerten, einen anzublicken. In ihrer Nähe wurden die Gerüche, die ich schon am Eingang bemerkt hatte, zu einem widerlichen Gestank, der aus ihrer besudelten Kleidung, aus ihren Wunden, aus ihren Leibern selbst aufstieg. Mehrere von Speers Leuten, grün im Gesicht, hielten sich Taschentücher vor Mund und Nase; Speer hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und begutachtete alles mit verschlossener, angespannter Miene. Die beiden Haupttunnel A und B wurden alle fünfundzwanzig Meter durch Querstollen miteinander verbunden: In dem ersten entdeckten wir rohe Holzpritschen, vierfach übereinander, eine wimmelnde, zerlumpte Schar von Häftlingen stürzte sich unter den Knüppelschlägen eines SS-Unterführers herunter und baute sich in Habtachtstellung auf, die meisten nackt oder fast nackt, die Beine mit Scheiße beschmiert. Die rohen Betongewölbe schwitzten Feuchtigkeit aus. Vor den Pritschen, an der Kreuzung mit dem Haupttunnel, dienten große, der Länge nach durchgeschnittene Metallfässer als Latrinen; fast zum Überlaufen waren sie mit einer stinkenden, klebrigen Flüssigkeit gefüllt, gelb, grün und braun. Einer von Speers Mitarbeitern rief aus: »Das ist ja Dantes Inferno!«; ein anderer blieb ein Stück zurück und kotzte gegen die Wand. Ich fühlte auch den alten Brechreiz wieder in mir aufsteigen, unterdrückte ihn aber und atmete pfeifend durch die Zähne, lang und tief. Speer wandte sich an Förschner: »Die Häftlinge leben hier?« – »Ja, Herr Minister.« – »Und kommen nie hinaus?« – »Nein, Herr Minister.« Im Weitergehen erklärte Förschner Speer, dass es an allem fehle und er nicht imstande sei, für die erforderlichen hygienischen Bedingungen zu sorgen; Epidemien würden die Zahl der Häftlinge dezimieren. Er zeigte uns sogar einige Leichen, die am Eingang der Querstollen angehäuft waren, nackt oder unter einer Plane, menschliche Knochengerippe mit zerfressener Haut. In einem der Stollen-Schlafsäle wurde Suppe ausgegeben: Speer wollte kosten. Er probierte einen Löffel, dann ließ er mich ebenfalls kosten; ich musste mich zwingen, sie nicht wieder auszuspucken; eine bittere, widerliche Brühe; wie aus Unkraut gekocht; selbst am Boden des Topfes gab es praktisch keine festen Bestandteile. So besichtigten wir den Tunnel auf ganzer Länge bis zum Junkers-Werk, durch Schmutz und Unrat watend, mühsam atmend, inmitten Tausender Häftlinge, die, wenn wir sie passierten, nacheinander mechanisch die Käppis herunterrissen, mit vollkommen ausdruckslosen Gesichtern. Ich betrachtete ihre Abzeichen: Neben den Deutschen, überwiegend »Grünen«, gab es noch »Rote« aus allen Ländern Europas: Franzosen, Belgier, Italiener, Holländer, Tschechen, Polen, Russen und sogar Spanier – Republikaner, die nach ihrer Niederlage in Frankreich interniert worden waren (aber natürlich keine Juden: zu dem Zeitpunkt war jüdischen Arbeitern das Reich noch verboten). In den Querstollen hinter den Schlafplätzen arbeiteten Häftlinge, von Zivilingenieuren beaufsichtigt, an den Bauteilen und der Montage von Raketen; ein Stück weiter grub ein wahres Ameisenheer unter ohrenbetäubendem Lärm und in undurchdringlichem Staub neue Stollen, und die Steine wurden von anderen Häftlingen in Loren auf eilig gelegten Schienen hinausgeschoben. Im Hinausgehen wollte Speer das Revier sehen; das war eine überaus behelfsmäßige Einrichtung, die höchstens etwa vierzig Männern Platz bot. Der Chefarzt zeigte ihm die Statistiken zur Mortalität und Morbidität: Vor allem Ruhr, Typhus und Tuberkulose wüteten verheerend. Draußen machte Speer seinem Zorn vor der gesamten Delegation Luft, beherrscht, aber heftig: »Obersturmbannführer Förschner! Diese Fabrik ist ein ungeheuerlicher Skandal! Ich habe nie etwas Vergleichbares gesehen. Wie können Sie erwarten, mit Männern in einem solchen Zustand vernünftige Arbeit zu leisten?« Förschner hatte, derart angegriffen, instinktiv Haltung angenommen. »Herr Minister«, erwiderte er, »ich bin ja bereit, die Verhältnisse zu verbessern, aber mir werden nicht die nötigen Mittel geliefert. Mich können Sie nicht dafür verantwortlich machen.« Speer war kreidebleich. »Sehr gut«, blaffte er. »Ich befehle Ihnen, hier draußen augenblicklich ein Lager errichten zu lassen, mit Duschen und anderen sanitären Einrichtungen. Lassen Sie auf der Stelle die erforderlichen Materialanforderungen ausfertigen, ich unterzeichne sie noch vor meiner Abfahrt.« Förschner führte uns in die Kommandantur und gab die entsprechenden Befehle. Während Speer wütend mit seinen Assistenten und Ingenieuren diskutierte, nahm ich Förschner beiseite: »Ich habe Ihnen doch ausdrücklich im Namen des Reichsführers aufgetragen, das Lager in einen vorzeigbaren Zustand zu bringen. Das hier ist eine Schweinerei.« Förschner ließ sich nicht beeindrucken: »Obersturmbannführer, Sie wissen so gut wie ich, dass ein Befehl ohne die entsprechenden Mittel nicht auszuführen ist. Sie müssen schon entschuldigen, aber ich habe keinen Zauberstab. Ich habe die Stollen heute Morgen waschen lassen, mehr konnte ich nicht tun. Wenn der Reichsminister uns Baumaterial liefert, umso besser.« Speer trat zu uns: »Ich sorge dafür, dass das Lager Zusatzrationen erhält.« Er wandte sich an einen Zivilingenieur, der mit ihm gekommen war: »Hören Sie, Sawatzki, die Ihnen unterstellten Häftlinge haben selbstverständlich absolute Priorität. Wir können doch von Kranken oder Sterbenden keine so komplizierten Montagearbeiten verlangen.« Der Zivilist nickte: »Gewiss, Herr Minister. Uns macht vor allem die Fluktuation Probleme. Wir müssen die Häftlinge so oft ersetzen, dass es unmöglich ist, sie richtig anzulernen.« Speer wandte sich an Förschner: »Das soll aber nicht heißen, dass Sie die, die zum Bau der Stollen eingeteilt sind, vernachlässigen können. Sie werden auch deren Rationen im Rahmen des Möglichen erhöhen. Ich werde darüber mit Brigadeführer Kammler sprechen.« – »Zu Befehl, Herr Minister«, sagte Förschner. Sein Ausdruck blieb undurchdringlich, verschlossen; Sawatzki dagegen sah sehr zufrieden aus. Draußen warteten einige Mitarbeiter von Speer, sie kritzelten in ihre Notizbücher und sogen gierig die kalte Luft ein. Ich fröstelte: Der Winter richtete sich ein.

 

In Berlin sah ich mich erneut mit Aufträgen des Reichsführers überhäuft. Ich hatte ihm über die Besichtigung mit Speer Bericht erstattet, und er hatte nur einen einzigen Kommentar abgegeben: »Reichsminister Speer sollte wissen, was er will.« Er ließ mich nun regelmäßig kommen, um mit mir über den Arbeitseinsatz zu diskutieren: Um jeden Preis wollte er die Zahl der in den Lagern verfügbaren Arbeitskräfte erhöhen – für die SS-Firmen, die Privatunternehmen und vor allem die neuen unterirdischen Fertigungsbetriebe, die Kammler anlegen wollte. Die Gestapo erhöhte die Zahl der Verhaftungen, doch andererseits stieg im Herbst und Winter die Sterblichkeit wieder an, nachdem sie im Sommer deutlich zurückgegangen war, und der Reichsführer war unzufrieden. Doch als ich ihm eine Reihe von Maßnahmen vorschlug, die ich mit meiner Gruppe geplant hatte und für realistisch hielt, reagierte er nicht, und die konkreten Maßnahmen, die von Pohl und der IKL durchgeführt wurden, erschienen zufällig und unberechenbar und keinem Plan zu gehorchen. Einmal ergriff ich anlässlich einer Bemerkung des Reichsführers die Gelegenheit, Initiativen zu kritisieren, die ich für willkürlich und zusammenhanglos hielt: »Pohl weiß, was er tut«, erwiderte er unwirsch. Kurz darauf bestellte Brandt mich ein und hielt mir höflich, aber unmissverständlich eine Standpauke: »Hören Sie, Aue, Sie leisten sehr gute Arbeit, aber ich möchte auch Ihnen sagen, was ich Brigadeführer Ohlendorf schon hundertmal gesagt habe: Statt den Reichsführer mit negativer, fruchtloser Kritik und komplizierten Fragen zu langweilen, die er sowieso nicht versteht, täten Sie besser daran, Ihre Beziehungen zu ihm zu pflegen. Bringen Sie ihm – was weiß ich – eine mittelalterliche Abhandlung über Pflanzenheilkunde, hübsch gebunden, und diskutieren Sie mit ihm darüber. Er wird begeistert sein, und Sie kommen ihm näher, er lernt Sie besser kennen. Das macht alles viel leichter. Und dann, Sie müssen schon entschuldigen, wenn Sie Vortrag halten, sind Sie so kühl und von oben herab, das muss ihn doch noch mehr verärgern. So werden Sie gar nichts bewirken.« Auf die Art ging es noch eine Weile weiter; ich sagte nichts, sondern dachte nach: Er hatte zweifellos Recht. »Noch ein Rat: Sie sollten wirklich heiraten. Ihre Haltung in dieser Sache erbost den Reichsführer über die Maßen.« Ich straffte mich: »Standartenführer, ich habe dem Reichsführer meine Gründe bereits dargelegt. Wenn er sie nicht billigt, sollte er es mir selbst sagen.« Ein unschicklicher Gedanke zwang mich, ein Lächeln zu unterdrücken. Brandt lächelte nicht, sondern starrte mich durch seine große runde Brille an wie eine Eule. Ich sah mich in ihren Gläsern doppelt gespiegelt, wegen des Reflexes konnte ich seinen Blick nicht erkennen. »Sie machen einen Fehler, Aue, einen großen Fehler. Aber es ist Ihre Entscheidung.«

Ich verübelte Brandt diese Haltung, sie war meiner Ansicht nach völlig ungerechtfertigt: Er hatte sich nicht in mein Privatleben einzumischen. Und das nahm gerade jetzt eine angenehme Wende; es war lange her, dass ich so viel Zerstreuung gehabt hatte. Sonntags suchte ich mit Helene das Schwimmbad auf, manchmal auch mit Thomas und der einen oder anderen seiner Gespielinnen; anschließend gingen wir einen Tee oder eine heiße Schokolade trinken, dann führte ich Helene ins Kino, wenn es etwas gab, was die Mühe lohnte, oder auch in ein Konzert von Karajan oder Furtwängler, schließlich aßen wir zu Abend, und ich brachte sie nach Hause. Auch während der Woche sah ich sie hin und wieder: Einige Tage nach meinem Besuch in Mittelbau hatte ich sie in unseren Fechtsaal im Prinz-Albrecht-Palais eingeladen, wo sie uns zusah und unsere Stöße und Finten beklatschte, dann gingen wir mit ihrer Freundin Liselotte und Thomas, der mit dieser hemmungslos flirtete, in ein italienisches Restaurant. Auch am 16. Dezember, während des großen englischen Fliegerangriffs, waren wir zusammen; in dem öffentlichen Luftschutzbunker, in dem wir Zuflucht gesucht hatten, saß sie wortlos neben mir, unsere Schultern berührten sich; bei besonders nahen Detonationen zuckte sie leicht zusammen. Nach dem Angriff führte ich sie ins Esplanade, das einzige geöffnete Restaurant, das ich fand: Mir gegenüber, die schmalen weißen Hände auf dem Tisch, sah sie mich schweigend aus ihren schönen dunklen Augen an, tief, forschend, neugierig und doch gelassen. In solchen Augenblicken sagte ich mir, dass ich, hätten die Dinge anders gelegen, diese Frau hätte heiraten und mit ihr Kinder haben können – wie es sehr viel später mit einer anderen Frau der Fall war, die ihr nicht das Wasser reichen konnte. Und das hätte ich gewiss nicht getan, um Brandt oder dem Reichsführer zu gefallen, um eine Pflicht zu erfüllen oder den Konventionen zu genügen: Das wäre ein Stück Alltagsleben gewesen, ein Stück Normalität, einfach und natürlich. Aber mein Leben hatte einen anderen Weg genommen, und jetzt war es zu spät. Sie hatte, wenn sie mich ansah, vermutlich ähnliche Gedanken oder vielmehr die Gedanken einer Frau, anders als die eines Mannes, aber anders wohl eher in Tonlage und Färbung als im Inhalt, jedenfalls schwer vorstellbar für einen Mann, selbst für mich. Ich malte mir diese Gedanken so aus: Wäre es bei diesem Mann denkbar, dass ich in sein Bett käme und mich ihm hingäbe? Sich hingeben, was für eine merkwürdige Sprachformel; aber dass der Mann, der die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht ganz begreift, seinerseits versucht, sich penetrieren zu lassen, würde ihr vielleicht die Augen öffnen. Bei solchen Überlegungen verspürte ich im Allgemeinen kein Bedauern, eher ein Gefühl fast süßer Bitterkeit. Aber manchmal hakte sie sich auf der Straße mit einer selbstverständlichen Geste bei mir ein, und dann ertappte ich mich dabei, dass ich mich nach diesem anderen Leben sehnte, das ich hätte führen können, wenn da nicht etwas so früh zerbrochen wäre. Es ging nicht nur um meine Schwester; es ging um weit mehr, um den ganzen Gang der Ereignisse, die Trostlosigkeit des Körpers und der Lust, die Entscheidungen, die wir treffen und hinter die wir nicht mehr zurückkönnen, den Sinn selbst, den wir beschließen, jener Sache zu geben, die wir, vielleicht zu Unrecht, unser Leben nennen.

Schneefall hatte eingesetzt, ein feuchter Schnee, der nicht liegen blieb. Als er schließlich doch ein oder zwei Nächte liegen blieb, verlieh er den Ruinen der Stadt eine kurze fremdartige Schönheit, dann schmolz er und vertiefte den Schlamm, der die aufgewühlten Straßen verunstaltete. Mit meinen derben Reitstiefeln marschierte ich hindurch, ohne darauf zu achten, eine Ordonnanz würde sie mir am folgenden Tag putzen; doch Helene trug einfache Schuhe, und als wir zu einem grauen Streifen klebrigen geschmolzenen Schnees kamen, suchte ich ein Brett, legte es vor uns aus und hielt ihre zarte Hand, während sie darüberbalancierte; und wenn das nicht möglich war, trug ich sie mühelos auf meinen Armen. Am Tag vor Weihnachten gab Thomas ein Fest in seinem neuen Haus in Dahlem, einer gemütlichen kleinen Villa: Wie immer hatte er sich zu helfen gewusst. Schellenberg und Frau waren da, außerdem noch einige andere Offiziere; ich hatte Hohenegg eingeladen, Osnabrugge aber leider nicht ausfindig machen können, der wohl noch in Polen war. Thomas schien bei Liselotte, Helenes Freundin, ans Ziel gekommen zu sein: Bei ihrer Ankunft küsste sie ihn stürmisch. Helene trug ein neues Kleid – der Himmel mochte wissen, woher sie den Stoff hatte, der Mangel wurde immer deutlicher spürbar – und lächelte entzückend, sie war allem Anschein nach glücklich. Alle Herren waren dieses Mal in Zivil. Wir waren kaum eingetroffen, als die Sirenen einsetzten. Thomas beruhigte uns, erklärte, dass die Maschinen aus Italien ihre ersten Bomben fast nie vor Schöneberg und Tempelhof abwürfen und die aus England nördlich an Dahlem vorbeiflögen. Trotzdem dämpften wir das Licht; dicke schwarze Vorhänge hingen vor den Fenstern. Die Flak begann zu hämmern, Thomas legte eine Platte auf, wilden amerikanischen Jazz, und zog Liselotte zum Tanzen mit sich. Helene trank Weißwein und sah den beiden zu; als Thomas eine langsame Platte auflegte, forderte sie mich zum Tanzen auf. Über uns hörten wir die Bomberpulks dröhnen; unablässig knatterte die Flak, die Scheiben zitterten, die Musik war kaum zu vernehmen, aber Helene tanzte, als wären wir allein in einem Ballsaal, leicht auf mich gestützt, ihre Hand fest in der meinen. Anschließend tanzte sie mit Thomas, ich stieß mit Hohenegg an. Thomas hatte Recht: Im Norden ahnten wir ein ungeheures dumpfes Beben mehr, als dass wir es hörten, aber in unserer Nähe kam nichts herunter. Ich betrachtete Schellenberg; er hatte zugenommen, seine Erfolge bewogen ihn nicht zur Mäßigung. Er witzelte mit seinen Spezialisten über unsere Rückschläge in Italien. Einigen Bemerkungen, die Thomas gelegentlich fallen ließ, hatte ich entnommen, dass Schellenberg glaubte, den Schlüssel zur Zukunft Deutschlands in der Hand zu halten; er war überzeugt davon, dass, wenn man nur auf ihn und seine unfehlbaren Analysen hörte, noch Zeit wäre, zu retten, was zu retten sei. Allein die Tatsache, dass er davon sprach, zu retten, was zu retten ist, genügte, um mich auf die Palme zu bringen: Doch offenbar hörte der Reichsführer auf ihn, und ich fragte mich, wie weit er mit seinen Intrigen gediehen sein mochte. Nach Beendigung des Alarms versuchte Thomas mit dem RSHA zu telefonieren, aber die Leitungen waren unterbrochen. »Das haben diese Schweine absichtlich gemacht, um uns Weihnachten zu versauen«, meinte er zu mir. »Aber das lassen wir nicht zu.« Ich sah Helene an: Sie saß neben Liselotte und unterhielt sich lebhaft mit ihr. »Ein feines Mädel«, erklärte Thomas, der meinem Blick gefolgt war. »Warum heiratest du sie nicht?« Ich lächelte: »Kümmer du dich gefälligst um deinen eigenen Mist, Thomas.« Er zuckte die Achseln: »Setz wenigstens das Gerücht in die Welt, dass du verlobt bist. Dann hört Brandt auf, dir auf die Nerven zu gehen.« Ich hatte ihm von Brandts Kommentaren berichtet. »Und du?«, erwiderte ich. »Du bist ein Jahr älter als ich. Machen sie dir keine Vorhaltungen?« Er lachte: »Mir? Das ist nicht das Gleiche. Erstens ist meine angeborene Unfähigkeit, es länger als einen Monat mit ein und demselben Mädel auszuhalten, hinlänglich bekannt. Aber vor allem« – hier senkte er die Stimme –, »das bleibt unter uns, habe ich zwei zum Lebensborn geschickt. Der Reichsführer soll begeistert gewesen sein.« Wieder legte er eine Jazzplatte auf; offenbar bediente er sich aus den von der Gestapo beschlagnahmten Beständen. Ich folgte ihm und forderte Helene noch einmal zum Tanzen auf. Um Mitternacht löschte Thomas alle Lichter. Ich hörte den fröhlichen Aufschrei einer jungen Frau, ein unterdrücktes Lachen. Helene war mir ganz nah: Für einen kurzen Moment spürte ich ihren süßen heißen Atem auf meinem Gesicht, und ihre Lippen streiften die meinen. Mein Herz hämmerte. Als das Licht wieder anging, sagte sie mit ernster, ruhiger Miene zu mir: »Ich muss nach Hause. Ich habe meinen Eltern nicht Bescheid gesagt, sie werden sich Sorgen machen, wegen des Luftalarms.« Ich hatte Pionteks Fahrzeug genommen. Wir gelangten über den Kurfürstendamm in die Stadtmitte; zur Rechten glühte der rötliche Schein der durch die Bomben entzündeten Brände. Es hatte zu schneien begonnen. Einige Bomben waren auf Tiergarten und Moabit gefallen, aber die Schäden schienen im Vergleich zu den Großangriffen des Vormonats geringer zu sein. Vor ihrem Haus nahm sie meine Hand und küsste mich flüchtig auf die Wange: »Frohe Weihnacht! Auf bald.« Ich kehrte nach Dahlem zurück, wo ich mich betrank und die Nacht auf dem Teppich beendete, nachdem ich das Sofa einer Sekretärin überlassen hatte, die bekümmert hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie durch Liselotte aus dem Schlafzimmer des Hausherrn verdrängt worden war.

Einige Tage später suchten mich Clemens und Weser wieder auf, nachdem sie sich dieses Mal ordnungsgemäß von Fräulein Praxa, die sie augenrollend in mein Büro führte, einen Termin hatten geben lassen. »Wir haben versucht, mit Ihrer Schwester Verbindung aufzunehmen«, sagte Clemens, der Große, statt einer Begrüßung. »Aber sie ist nicht zu Hause.« – »Gut möglich«, sagte ich. »Ihr Ehemann ist invalide. Sie begleitet ihn häufig zur Kur in die Schweiz.« – »Wir haben die Botschaft in Bern gebeten, sie ausfindig zu machen«, sagte Weser boshaft und rollte seine schmalen Schultern vor und zurück. »Wir würden gern mit ihr sprechen.« – »Ist das so wichtig?«, fragte ich. »Da ist immer noch diese vertrackte Geschichte mit den kleinen Zwillingen«, Clemens rülpste es fast mit seinem groben Berliner Organ heraus. »Wir verstehen das nicht so recht«, fügte Weser mit schlauer Miene hinzu. Clemens holte sein Notizbuch heraus und las vor: »Die französische Polizei hat Nachforschungen angestellt.« – »Etwas spät«, unterbrach ihn Weser. »Ja, aber besser spät als nie. Anscheinend haben diese Zwillinge spätestens seit 1938, als sie in die Schule kamen, bei Ihrer Mutter gelebt. Ihre Mutter hat sie als verwaiste Großneffen ausgegeben. Und einige ihrer Nachbarn scheinen der Meinung zu sein, dass sie vielleicht schon früher gekommen sind, als Kleinkinder, 1936 oder 1937.« – »Ziemlich merkwürdig, das Ganze«, sagte Weser säuerlich. »Haben Sie sie nie vorher gesehen?« – »Nein«, antwortete ich unwirsch. »Aber das ist keineswegs merkwürdig. Ich habe meine Mutter nie besucht.« – »Nie?«, knurrte Clemens. »Nie?« – »Nie.« – »Bis auf dieses eine Mal«, zischte Weser, »wenige Stunden vor ihrem gewaltsamen Tod. Finden Sie das nicht auch merkwürdig?« – »Hören Sie, meine Herren«, gab ich zurück, »ich finde Ihre Unterstellungen ausgesprochen unangebracht. Ich weiß nicht, wo Sie Ihren Beruf erlernt haben, aber Ihre Haltung erscheint mir grotesk. Im Übrigen sind Sie ohne Anordnung des SS-Gerichts überhaupt nicht befugt, gegen mich zu ermitteln.« – »Das stimmt, aber wir ermitteln nicht gegen Sie. Im Augenblick befragen wir Sie nur als Zeugen.« – »Ja«, wiederholte Weser, »als Zeugen, das ist alles.« – »Allerdings ist richtig«, ergriff Clemens wieder das Wort, »dass es viele Dinge gibt, die wir nicht verstehen, aber gerne verstehen würden.« – »Zum Beispiel diese Geschichte mit den Zwillingen«, fügte Weser hinzu. »Nehmen wir an, es wären wirklich Großneffen Ihrer Mutter …« – »Wir haben zwar keinen Hinweis auf Geschwister gefunden, aber nehmen wir es einmal an«, unterbrach Clemens. »Ach ja, wissen Sie etwas darüber?«, fragte Weser. »Worüber?« – »Ob Ihre Mutter einen Bruder oder eine Schwester hatte?« – »Ich habe von einem Bruder gehört, ihn aber nie kennengelernt. Wir haben das Elsass 1918 verlassen, und danach hat meine Mutter, soweit ich weiß, nie wieder Kontakt zu ihrer in Frankreich gebliebenen Familie gehabt.« – »Nehmen wir also an«, fuhr Weser fort, »es wären wirklich Großneffen. Wir haben keine Dokumente gefunden, die das beweisen, keine Geburtsurkunden, nichts.« – »Und Ihre Schwester«, sagte Clemens, jedes Wort scharf betonend, »hat keinerlei Papiere vorgelegt, als sie sie mitgenommen hat.« Weser lächelte pfiffig: »Für uns sind das potenzielle Zeugen, sehr wichtige Zeugen, die verschwunden sind.« – »Und wir wissen nicht, wohin«, sagte Clemens. »Es ist unverzeihlich, dass die französische Polizei sie so einfach hat gehen lassen.« – »Ja«, sagte Weser und blickte ihn an, »aber was passiert ist, ist passiert. Es hat keinen Zweck, darauf herumzureiten.« Unbeirrt fuhr Clemens fort: »Trotzdem, am Ende haben wir den ganzen Ärger.« – »Kurz und gut«, sagte Weser, an mich gewandt, »wenn Sie mit ihr sprechen, bitten Sie sie, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Ich meine, Ihre Schwester.« Ich nickte. Sie schienen nichts mehr zu sagen zu haben, ich beendete das Gespräch. Ich hatte noch immer nicht versucht, meine Schwester zu erreichen; das wurde wichtig, denn wenn sie sie fanden und ihre Darstellung im Widerspruch zu meiner stand, würde das ihren Verdacht noch verstärken; sie wären sogar fähig, dachte ich voller Entsetzen, mich vor Gericht zu bringen. Aber wie sollte ich Una finden? Thomas müsste Kontakte in die Schweiz haben, sagte ich mir, er könnte Schellenberg fragen. Jedenfalls musste etwas geschehen, die Situation wurde allmählich lächerlich. Und die Sache mit den Zwillingen war beunruhigend.

Drei Tage vor dem Jahreswechsel schneite es ziemlich heftig, dieses Mal blieb der Schnee liegen. Beflügelt vom Erfolg seiner Weihnachtsfeier, beschloss Thomas, alle noch einmal einzuladen: »Nutzen wir die Bude doch, bevor sie auch abbrennt.« Ich bat Helene, ihren Eltern Bescheid zu sagen, dass sie spät heimkommen würde, und es wurde ein ausgesprochen fröhliches Fest. Kurz vor Mitternacht bewaffnete sich die ganze Gesellschaft mit Champagner und Körben voll Austern und zog zu Fuß in den Grunewald. Jungfräulich und rein lag der Schnee unter den Bäumen; der wolkenlose Himmel wurde von einem fast vollen Mond erhellt, der ein bläuliches Licht über die weiße Fläche ausgoss. Auf einer Lichtung köpfte Thomas den Champagner – er hatte sich zu diesem Zweck eigens mit einem echten Kavalleriesäbel ausgestattet, den er von der Wand unseres Fechtsaals genommen hatte –, während sich die Geschickteren unter uns abmühten, die Austern zu öffnen, eine schwierige und gefährliche Kunst, wenn man nicht das Händchen dafür hat. Um Mitternacht schalteten die Artilleristen der Luftwaffe anstelle eines Feuerwerks ihre Strahler ein, zündeten Leuchtraketen und feuerten ein paar Salven aus den Acht-acht ab. Dieses Mal küsste Helene mich rückhaltlos, nicht lange, aber es war ein intensiver heiterer Kuss, der mir einen Schauer von Angst und Lust durch die Glieder jagte. Erstaunlich, sagte ich mir und trank einen Schluck Champagner, um meine Verwirrung zu verbergen, da werde ich, der glaubte, ihm sei keine menschliche Empfindung mehr fremd, vom Kuss einer Frau vollkommen durcheinandergebracht. Die anderen lachten, bewarfen sich mit Schneebällen und schlürften die Austern direkt aus der Schale. Hohenegg, eine mottenzerfressene Schapka auf seinem ovalen kahlen Schädel, hatte sich als geschicktester Austernöffner erwiesen: »Fast das Gleiche wie ein Thorax«, er lachte. Schellenberg dagegen hatte sich den ganzen Daumenballen aufgerissen, ließ sein Blut seelenruhig in den Schnee tropfen und trank Champagner, ohne dass jemand auf die Idee kam, ihn zu verbinden. Von der allgemeinen Ausgelassenheit angesteckt, begann auch ich, umherzurennen und mit Schneebällen zu werfen; je mehr wir tranken, desto wilder wurde das Spiel, wir packten einander bei den Beinen wie beim Rugby, stopften uns den Schnee händeweise in den Kragen, unsere Mäntel waren durchnässt, aber wir froren nicht. Ich stieß Helene in den Pulverschnee, strauchelte und ließ mich neben sie fallen; auf dem Rücken liegend, die Arme seitwärts in den Schnee gestreckt, lachte sie; beim Fallen war ihr langer Rock hochgerutscht, und ohne nachzudenken, legte ich meine Hand auf ihr entblößtes Knie, das nur durch einen Strumpf geschützt war. Immer noch lachend, wandte sie mir den Kopf zu und blickte mich an. Ich nahm meine Hand fort und half ihr beim Aufstehen. Wir kehrten erst zurück, nachdem wir die letzte Flasche geleert hatten; wir mussten Schellenberg zurückhalten, der unbedingt auf die leeren Flaschen schießen wollte; als wir durch den Schnee stapften, nahm Helene meinen Arm. Im Haus überließ Thomas sein Schlafzimmer und das Gästezimmer galant den müden jungen Frauen, die vollkommen angekleidet zu dritt in einem Bett schliefen. Ich beendete die Nacht, indem ich mit Hohenegg, der den Kopf unter kaltes Wasser gehalten hatte und Tee trank, Schach spielte und über die Dreieinigkeit des Augustinus diskutierte. So begann das Jahr 1944.

 

Speer hatte sich seit dem Besuch in Mittelbau nicht mehr mit mir in Verbindung gesetzt; Anfang Januar rief er mich an, um mir ein frohes neues Jahr zu wünschen und mich um einen Gefallen zu bitten. Sein Ministerium hatte das RSHA ersucht, einige auf den Metallankauf spezialisierte Amsterdamer Juden, die wertvolle Verbindungen ins neutrale Ausland unterhielten, von der Deportation auszunehmen; unter Berufung auf die Zuspitzung der Lage in Holland und die Notwendigkeit, dort besondere Unnachgiebigkeit an den Tag zu legen, habe das RSHA das Gesuch abgelehnt. »Das ist einfach lächerlich«, sagte Speer mit einer Stimme, die schwer vor Müdigkeit war. »Welche Gefahr können denn drei Juden, die mit Metallen handeln, für Deutschland bedeuten? Ihre Dienste sind im Augenblick sehr wertvoll.« Ich bat ihn, mir eine Kopie des Briefwechsels zu schicken, und versprach, mein Möglichstes zu tun. Der ablehnende Bescheid des RSHA war zwar von Müller unterschrieben, trug aber die Diktatzeichen des IV B 4a. Ich rief Eichmann an und wünschte ihm zunächst ein frohes neues Jahr. »Danke, Obersturmbannführer«, sagte er in seiner merkwürdigen österreichisch-berlinerischen Sprechweise. »Glückwunsch übrigens zu Ihrer Beförderung.« Dann schilderte ich ihm Speers Anliegen. »Ich habe den Vorgang nicht selbst bearbeitet«, sagte Eichmann. »Das muss Hauptsturmführer Moes gewesen sein, der beschäftigt sich mit den Einzelfällen. Aber natürlich hat er Recht. Wissen Sie, wie viele Anträge dieser Art wir bekommen? Würden wir jedes Mal Ja sagen, könnten wir den Laden dichtmachen, dann dürften wir keinen einzigen Juden mehr anrühren.« – »Ich verstehe vollkommen, Obersturmbannführer. Aber dies hier ist ein persönliches Gesuch des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion.« – »Na ja, das muss deren Heini in Holland sein, der ist ein bisschen übereifrig, und nach und nach ist das dann dem Minister zu Ohren gekommen. Doch das sind einfach Kompetenzstreitigkeiten zwischen einzelnen Abteilungen. Nein, wissen Sie, auf so etwas können wir nicht eingehen. Außerdem ist die Situation in Holland oberfaul. Da gibt es ganze Gruppen, die frei herumspazieren, das geht einfach nicht.« Ich versuchte ihn umzustimmen, aber Eichmann blieb unnachgiebig. »Nein, wenn wir uns darauf einlassen, heißt es wieder, dass es außer dem Führer keinen überzeugten Antisemiten unter den Deutschen gibt. Es geht einfach nicht.«

Was wollte er damit sagen? Auf jeden Fall konnte Eichmann das nicht selbst entscheiden, und das wusste er. »Hören Sie, geben Sie uns das schriftlich rein«, sagte er schließlich widerwillig. Ich beschloss, Müller direkt anzuschreiben, doch von dem bekam ich den gleichen Bescheid: leider seien keine Ausnahmen möglich. Ich überlegte, ob ich den Reichsführer fragen sollte, entschied mich dann aber für eine Rückfrage bei Speer, um zu sehen, wie viel ihm tatsächlich an diesen Juden lag. Doch im Reichsministerium teilte man mir mit, Speer sei krank und dienstunfähig. Ich erkundigte mich: Er lag in Hohenlychen, dem SS-Krankenhaus, in dem ich nach Stalingrad gepflegt worden war. Ich besorgte mir einen Blumenstrauß und fuhr ihn besuchen. Er hatte eine ganze Suite im Privatflügel belegt und sich dort mit seiner Privatsekretärin und einigen Assistenten eingerichtet. Die Sekretärin erklärte mir, nach einem Weihnachtsurlaub in Lappland sei eine alte Knieentzündung wieder aufgebrochen; als sich sein Zustand verschlechtert habe, sei Dr. Gebhardt, der berühmte Kniespezialist, zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine rheumatische Entzündung handle. Ich traf Speer in grässlicher Laune an: »Ach, Sie sind es, Obersturmbannführer. Frohes neues Jahr. Und?« Ich berichtete ihm, dass das RSHA bei seiner Haltung bleibe; vielleicht könne er ja, schlug ich vor, wenn er den Reichsführer sehe, persönlich mit ihm darüber sprechen. »Ich denke, der Reichsführer hat Wichtigeres zu tun«, sagte er unwirsch. »Ich auch. Wie Sie sehen, muss ich mein Ministerium von hier aus leiten. Wenn Sie die Sache nicht selber regeln können, lassen Sie es.« Ich blieb noch einige Minuten, dann zog ich mich zurück: Ich kam mir überflüssig vor.

Im Übrigen verschlechterte sich sein Zustand rapide; als ich einige Tage später wieder anrief, um mich nach ihm zu erkundigen, teilte mir seine Sekretärin mit, er nehme keine Anrufe entgegen. Ich führte ein paar Telefonate: Es hieß, er liege im Koma, es stünde auf des Messers Schneide. Ich fand es merkwürdig, dass eine Knieentzündung, selbst wenn sie rheumatisch war, solche Folgen haben sollte. Hohenegg, mit dem ich darüber sprach, wollte sich kein Urteil anmaßen. »Aber wenn er den Geist aufgibt und man mir die Autopsie überlässt, werde ich Ihnen sagen, was er hatte.« Auch ich hatte Wichtigeres zu tun. Am Abend des 30. Januars hatten die Engländer den schwersten Angriff seit November geflogen; wieder hatte es mich meine Fensterscheiben gekostet, und ein Teil des Balkons war weggebrochen. Am nächsten Tag ließ Brandt mich zu sich kommen und teilte mir liebenswürdig mit, das SS-Gericht habe beim Reichsführer um Genehmigung ersucht, im Mordfall meiner Mutter gegen mich zu ermitteln. Ich spürte, wie mir der Zorn die Röte ins Gesicht trieb, und sprang von meinem Stuhl auf: »Standartenführer! Das ist eine infame Unterstellung, die in den kranken Hirnen von karrieresüchtigen Polizisten ausgebrütet wurde. Ich bin gern bereit, mich einer polizeilichen Untersuchung zu stellen, damit mein Name von jedem Verdacht reingewaschen wird. Doch in diesem Fall bitte ich um Beurlaubung, bis meine Unschuld erwiesen ist. Es wäre unerträglich, dass der Reichsführer in seinem persönlichen Stab jemanden behielte, der einer so ungeheuerlichen Gräueltat verdächtigt wird.« – »Beruhigen Sie sich, Obersturmbannführer. Noch ist keine Entscheidung gefallen. Erzählen Sie mir lieber, was geschehen ist.« Ich setzte mich wieder und berichtete ihm von den Ereignissen, wobei ich mich an die Version hielt, die ich auch den Polizisten erzählt hatte. »Was die so aufbringt, ist mein Besuch in Antibes. Es stimmt, meine Mutter und ich hatten lange Zeit ein sehr distanziertes Verhältnis. Aber Sie wissen ja, was für eine Verwundung ich in Stalingrad davongetragen habe. Wenn man dem Tod so nahe ist, fängt man an nachzudenken: Ich habe mir gesagt, wir müssten unsere Differenzen ein für alle Mal beilegen. Leider ist sie jetzt auf diese entsetzliche, unvorstellbare Weise ums Leben gekommen.« – »Und wie ist es Ihrer Meinung nach geschehen?« – »Ich habe nicht die geringste Vorstellung, Standartenführer. Ich habe kurz darauf begonnen, für den Reichsführer zu arbeiten, und bin nicht noch einmal dorthin zurückgekehrt. Meine Schwester, die zum Begräbnis gefahren ist, hat von Untergrundkämpfern gesprochen, von einer Abrechnung; mein Stiefvater hat die Wehrmacht mit verschiedenen Dingen beliefert.« – »Das ist leider absolut möglich. Dergleichen passiert jetzt immer häufiger in Frankreich.« Er presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf, sodass das Licht von seinen Brillengläsern reflektiert wurde. »Hören Sie, ich denke, der Reichsführer wird mit Ihnen sprechen wollen, bevor er eine Entscheidung trifft. In der Zwischenzeit würde ich an Ihrer Stelle, wenn ich das vorschlagen darf, den Richter aufsuchen, von dem das Gesuch stammt. Es handelt sich um Herrn Baumann, einen Richter am SS- und Polizeigericht Berlin. Das ist ein absolut ehrenhafter Mann: Wenn Sie wirklich das Opfer von besonders Übelgesinnten sind, können Sie ihn vielleicht selbst davon überzeugen.«

Ich machte sofort einen Termin mit diesem Richter. Er empfing mich in seinem Dienstzimmer im Gericht: ein Jurist mittleren Alters, in der Uniform eines Standartenführers, mit kantigem Gesicht und schiefer Nase, ein Ringer vielleicht. Ich hatte meine beste Uniform mit allen Orden und Auszeichnungen angelegt. Nachdem ich gegrüßt hatte, forderte er mich auf, Platz zu nehmen. »Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich gefunden haben, Herr Richter«, sagte ich, ich bediente mich dieser Anrede, um seinen SS-Rang zu vermeiden. »Ich bitte Sie, Obersturmbannführer. Das ist doch selbstverständlich.« Er öffnete einen Aktendeckel auf seinem Schreibtisch. »Ich habe mir Ihre Personalakte kommen lassen. Ich hoffe, Sie nehmen keinen Anstoß daran.« – »Keineswegs. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, was ich auch dem Reichsführer mitzuteilen gedenke: Ich halte diese Anschuldigungen, die einen so persönlichen Bereich meines Lebens betreffen, für unerträglich und bin bereit, in jeder nur denkbaren Hinsicht mit Ihnen zusammenzuarbeiten, um sie restlos zu entkräften.« Baumann hüstelte: »Sie verstehen sicherlich, dass ich noch keine Untersuchung angeordnet habe. Ohne Zustimmung des Reichsführers kann ich das nicht. Die Akte, die mir vorliegt, ist sehr dünn. Grundlage meines Antrags ist ein Gesuch der Kripo, die behauptet, über Anhaltspunkte zu verfügen, die ihre Ermittler vertiefen möchten.« – »Ich habe zweimal mit diesen Ermittlern gesprochen. Alles, was sie vorzuweisen hatten, waren grund- und haltlose Unterstellungen, reine – entschuldigen Sie – Fantastereien.« – »Das ist durchaus möglich«, sagte er entgegenkommend. »Ich sehe hier, dass Sie ein sehr erfolgreiches Studium absolviert haben. Wären Sie bei der Jurisprudenz geblieben, so wären wir heute vielleicht Kollegen. Ihren ehemaligen Lehrer, Dr. Jessen, kenne ich sehr gut. Ein ausgezeichneter Jurist.« Er blätterte weiter in der Akte. »Entschuldigen Sie, aber hat Ihr Vater nicht mit dem Freikorps Roßbach in Kurland gekämpft? Ich erinnere mich an einen Offizier namens Aue.« Er nannte den Vornamen. Mein Herz begann heftig zu schlagen. »Das ist in der Tat der Name meines Vaters. Aber ich kann Ihre Frage leider nicht beantworten. Mein Vater ist 1921 verschwunden, seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Gut möglich, dass er es war. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?« – »Leider nein. Ich habe ihn beim Rückzug im Dezember 1919 aus den Augen verloren. Da lebte er noch. Später hörte ich, er habe am Kapp-Putsch teilgenommen. Das haben ja viele Baltikumer getan.« Er überlegte. »Sie könnten Nachforschungen anstellen. Es gibt noch immer Verbände ehemaliger Freikorpskämpfer.« – »Eine ausgezeichnete Idee, SS-Richter.« Er hüstelte wieder und richtete sich in seinem Sessel auf. »Gut. Kommen wir auf Ihre Angelegenheit zurück, wenn Sie einverstanden sind. Was können Sie mir dazu sagen?« Ich erstattete ihm den gleichen Bericht wie Brandt. »Das ist ja eine grauenhafte Geschichte«, sagte er schließlich. »Das muss Sie ja entsetzlich mitgenommen haben.« – »Selbstverständlich, Herr Richter. Noch mehr aber die Anschuldigungen dieser beiden Verteidiger der öffentlichen Ordnung, die sicherlich nicht einen einzigen Tag an der Front verbracht haben und sich trotzdem anmaßen, einen SS-Offizier in den Schmutz zu ziehen.« Baumann kratzte sich am Kinn: »Ich kann verstehen, wie sehr Sie das verletzen muss, Obersturmbannführer. Aber vielleicht wäre es ja die beste Lösung, dass wir Licht in diese Angelegenheit bringen.« – »Ich habe nichts zu befürchten, Herr Richter. Ich unterwerfe mich der Entscheidung des Reichsführers.« – »Sie haben Recht.« Er stand auf und brachte mich zur Tür. »Ich habe noch einige alte Fotos aus Kurland. Wenn Sie möchten, kann ich einmal nachsehen, ob nicht eines von diesem Aue dabei ist.« – »Das wäre wunderbar.« Im Flur drückte er mir die Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen, Obersturmbannführer. Heil Hitler!« Meine Unterhaltung mit dem Reichsführer fand am nächsten Tag statt und war kurz und klar. »Was ist das für eine lächerliche Geschichte, Obersturmbannführer?« – »Ich werde des Mordes beschuldigt, mein Reichsführer. Es wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre.« In kurzen Worten schilderte ich ihm die näheren Umstände. Himmler kam sehr rasch zu einer Entscheidung: »Obersturmbannführer, ich hatte Gelegenheit, Sie kennenzulernen. Sie haben Ihre Fehler: Sie sind, entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das so sage, stur und gelegentlich pedantisch. Aber ich kann an Ihnen nicht die Spur eines moralischen Makels entdecken. Rassisch sind Sie ein perfektes nordisches Exemplar, vielleicht nur mit einem Tropfen alpinen Blutes. Nur rassisch entartete Nationen – Polen, Zigeuner – sind des Muttermordes fähig. Oder ein Italiener in einer hitzigen Aufwallung, im Streit, aber nicht kaltblütig. Nein, das ist lächerlich. Der Kripo fehlt es an jeglichem Urteilsvermögen. Ich muss Gruppenführer Nebe anweisen, dass er seine Leute in der rassischen Analyse schult, dadurch könnten sie viel Zeit sparen. Natürlich werde ich die Ermittlungen gegen Sie nicht genehmigen. Das wäre ja noch schöner!«

Baumann rief mich einige Tage später an. Das muss Mitte Februar gewesen sein, denn ich erinnere mich noch, dass es kurz nach dem schweren Bombenangriff war, bei dem das Hotel Bristol während eines Festbanketts getroffen wurde: Rund sechzig Personen wurden von den Trümmern erschlagen, darunter eine Gruppe bekannter Generale. Baumann schien bester Laune und gratulierte mir lebhaft. »Ich persönlich«, sagte er am Ende der Leitung, »habe diese Angelegenheit immer für grotesk gehalten. Ich freue mich für Sie, dass der Reichsführer die Sache beendet hat. Das erspart uns weitere Geschichten.« Was die Fotos angehe, so habe er eines gefunden, auf dem dieser Aue sei, allerdings verschwommen und kaum erkennbar. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um ihn handle, versprach aber, einen Abzug machen zu lassen und ihn mir zu schicken.

Unzufrieden mit der Entscheidung des Reichsführers waren nur Clemens und Weser. Ich begegnete ihnen eines Abends auf der Straße vor dem SS-Haus, die Hände in den Taschen ihrer langen Mäntel, Schultern und Hüte mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. »Sieh da«, sagte ich spöttisch, »Laurel und Hardy. Was führt Sie denn her?« Dieses Mal grüßten sie nicht. Weser antwortete: »Wir wollten Ihnen Guten Abend sagen, Obersturmbannführer. Aber Ihre Sekretärin hat uns keinen Termin gegeben.« Ich überging die Fortlassung des »Herr«. »Womit sie vollkommen Recht getan hat«, sagte ich von oben herab. »Ich denke, wir haben uns nichts mehr zu sagen.« – »Ach, wissen Sie, Obersturmbannführer«, meinte Clemens mürrisch, »da sind wir ganz anderer Meinung.« – »In diesem Falle schlage ich Ihnen vor, meine Herren, dass Sie sich die Befugnis von SS-Richter Baumann holen.« Weser nickte: »Wir haben schon verstanden, Obersturmbannführer, dass Standartenführer Baumann es ablehnen würde. Sie sind sozusagen unantastbar, das haben wir begriffen.« – »Trotzdem«, sagte Clemens, und die Atemwolke hüllte sein grobes, stumpfnasiges Gesicht ein, »ist das nicht in Ordnung, Obersturmbannführer, das sehen Sie doch ein. Es muss doch trotzdem Gerechtigkeit geben.« – »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber Ihre unsinnigen Verleumdungen haben nichts mit Gerechtigkeit zu tun.« – »Verleumdungen, Obersturmbannführer?«, erwiderte Weser und zog die Augenbrauen hoch. »Verleumdungen? Sind Sie sich sicher? Ich denke, wenn Standartenführer Baumann die Akte wirklich gelesen hätte, wäre er nicht ganz so sicher wie Sie.« – »Genau«, sagte Clemens. »Beispielsweise hätte er sich fragen können, was es mit der Kleidung auf sich hat.« – »Der Kleidung? Was für eine Kleidung meinen Sie?« Weser antwortete an seiner Stelle: »Die Kleidungsstücke, die die französische Polizei in der Wanne des Badezimmers im ersten Stock gefunden hat. Zivilkleidung …« Er wandte sich an Clemens: »Notizbuch.« Clemens zog das Notizbuch aus der Innentasche und reichte es ihm. Weser blätterte es durch: »Ah ja, hier ist es: des vêtements maculés de sang. ›Maculés‹. Das war das Wort, das ich gesucht hatte.« – »Soll heißen, befleckt, blutbefleckt«, stellte Clemens richtig. »Der Obersturmbannführer weiß, was das heißt, Clemens«, wies ihn Weser zurecht. »Der Obersturmbannführer hat studiert.« Er vertiefte sich wieder in das Notizbuch. »Zivilkleidung also, befleckt, in die Wanne geworfen. Blut auch auf den Fliesen, den Wänden, im Waschbecken, auf den Handtüchern. Unten, im Salon, im Eingangsbereich, überall sind Fußspuren zu erkennen, wegen des Bluts. Es waren Abdrücke von Straßenschuhen, die Schuhe wurden bei der Kleidung gefunden, aber es waren auch Abdrücke von Stiefeln vorhanden. Großen Stiefeln.« – »Na und«, sagte ich achselzuckend, »dann hat sich der Mörder eben umgezogen, bevor er gegangen ist, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.« – »Siehst du, Clemens, wie ich dir gesagt habe, der Obersturmbannführer ist ein intelligenter Mann. Du solltest auf mich hören.« Er richtete seinen Blick unter dem Hutrand auf mich. »Diese Kleidungsstücke trugen alle deutsche Etiketten, Obersturmbannführer.« Wieder blätterte er in seinem Notizbuch: »Ein zweiteiliger brauner Herrenanzug, Wolle, gute Qualität, Etikett eines deutschen Schneiders. Ein weißes Hemd, deutscher Hersteller. Eine Seidenkrawatte, deutscher Hersteller, ein Paar Baumwollsocken, deutscher Hersteller, eine Unterhose, deutscher Hersteller. Ein Paar Straßenschuhe, Größe 42, deutscher Hersteller.« Er blickte von seinem Notizbuch auf: »Was haben Sie eigentlich für eine Schuhgröße, Obersturmbannführer? Wenn Sie mir die Frage gestatten. Und was für eine Kleidergröße?« Ich lächelte: »Ich weiß nicht, meine Herren, aus welchem Loch Sie hervorgekrochen sind, aber ich rate Ihnen, ganz schnell wieder dahin zurückzukehren. Ungeziefer wird in Deutschland nicht mehr geduldet.« Clemens runzelte die Stirn: »Sag mal, Weser, beleidigt er uns?« – »Ja, er beleidigt uns. Er droht uns sogar. Vielleicht hast du doch Recht. Vielleicht ist er doch nicht so intelligent, wie er aussieht, der Obersturmbannführer.« Weser tippte mit einem Finger an seine Hutkrempe: »Guten Abend, Obersturmbannführer. Auf bald, wer weiß.«

Ich folgte ihnen mit den Blicken, wie sie sich im Schneegestöber Richtung Zimmerstraße entfernten. Thomas, mit dem ich verabredet war, hatte sich zu mir gesellt. »Wer sind die denn?«, fragte er und wies mit dem Kopf in Richtung der beiden. »Nervensägen. Verrückte. Kannst du sie nicht in ein Konzentrationslager stecken, damit sie Ruhe geben?« Er zuckte die Achseln: »Wenn du einen guten Grund weißt, lässt sich das machen. Gehen wir essen?« Tatsächlich interessierte sich Thomas herzlich wenig für meine Probleme, dafür umso mehr für die von Speer. »Da unten ist der Teufel los«, berichtete er mir im Restaurant. »In der OT ebenfalls. Schwer zu durchschauen. Aber offensichtlich gibt es einige Leute, die seinen Krankenhausaufenthalt für eine Chance halten.« – »Eine Chance?« – »Ihn zu ersetzen. Speer hat sich viele Feinde gemacht. Bormann ist gegen ihn, Sauckel auch, alle Gauleiter, ausgenommen Kaufmann und vielleicht Hanke.« – »Und der Reichsführer?« – »Der Reichsführer hat ihn bis jetzt mehr oder weniger unterstützt. Aber das könnte sich ändern.« – »Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht ganz, was all diese Intrigen sollen«, sagte ich langsam. »Man braucht sich doch nur die Zahlen anzusehen: Ohne Speer hätten wir den Krieg zweifellos längst verloren. Und die Situation ist jetzt wirklich kritisch. Da müsste sich doch ganz Deutschland einig sein und gegen diese Gefahr zusammenschließen.« Thomas lächelte: »Du bist und bleibst ein Idealist. Das ist auch gut so! Aber die meisten Gauleiter sehen nicht über den Tellerrand ihrer persönlichen Interessen oder den ihrer Gaue.« – »Trotzdem, statt Speers Bemühungen um Produktionssteigerung zu hintertreiben, täten sie besser daran, sich zu erinnern, dass alle, auch sie selbst, am Strick enden, wenn wir verlieren. Das sollte doch ihr persönliches Interesse sein, oder nicht?« – »Natürlich. Aber du darfst nicht vergessen, dass es bei alldem noch um etwas anderes geht. Es ist auch eine Frage der politischen Sichtweise. Schellenbergs Diagnose leuchtet nicht allen ein, genauso wenig wie die Lösungen, die er vorschlägt.« Damit sind wir also beim springenden Punkt, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. »Zu welcher Diagnose kommt denn dein Freund Schellenberg? Und zu welchen Lösungen?« Thomas blickte sich um. Zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, sah er etwas beunruhigt aus. »Nach Schellenbergs Auffassung ist der Krieg verloren, wenn wir so weitermachen wie bisher, egal, welche industriellen Wundertaten Speer noch vollbringt. Für Schellenberg ist die einzig gangbare Lösung ein Separatfrieden mit den Westmächten.« – »Und du? Was meinst du?« Er überlegte: »Er hat nicht Unrecht. Übrigens bin ich deswegen bei manchen Leuten in unserem Verein ziemlich in Verschiss. Zwar besitzt Schellenberg das Vertrauen des Reichsführers, aber er hat ihn noch nicht überzeugt. Und viele andere sind damit überhaupt nicht einverstanden, Müller zum Beispiel und Kaltenbrunner. Kaltenbrunner versucht eine Annäherung an Bormann. Wenn es ihm gelingt, könnte er dem Reichsführer Probleme bereiten. Auf dieser Ebene ist Speer nur ein zweitrangiges Problem.« – »Ich sage nicht, dass Schellenberg Recht hat. Aber die anderen, was für eine Lösung sehen die? Angesichts des amerikanischen Industriepotenzials kann Speer machen, was er will – die Zeit spielt gegen uns.« – »Ich weiß nicht«, sagte Thomas versonnen. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie an die Wunderwaffen glauben. Du hast sie doch gesehen. Was meinst du?« Ich zuckte die Achseln: »Weiß nicht. Keine Ahnung, ob sie was taugen.« Das Essen kam, und unsere Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu. Beim Nachtisch kam Thomas mit einem boshaften Lächeln auf Bormann zurück. »Weißt du, Kaltenbrunner führt eine Akte über Bormann. Ich kümmer mich ein bisschen darum.« – »Über Bormann? Du hast mir doch gerade gesagt, dass Kaltenbrunner sich um Annäherung bemüht.« – »Das spricht doch nicht dagegen. Schließlich führt Bormann Akten über alle – den Reichsführer, Speer, Kaltenbrunner, dich vielleicht auch.« Er hatte sich einen Zahnstocher in den Mund geschoben und ließ ihn jetzt geschickt auf seiner Zunge rollen. »Also, was ich dir erzählen wollte … Das bleibt unter uns, klar? … Kaltenbrunner hat ’ne Menge Briefe von Bormann und seiner Frau abgefangen. Eine Schatztruhe, sage ich dir. Eine wahre Blütenlese.« Mit mokantem Lächeln beugte er sich vor. »Bormann war hinter einer kleinen Schauspielerin her. Du weißt ja, er ist ein Mann von unersättlichen Bedürfnissen, der größte Sekretärinnenbeschäler des Reichs. Schellenberg nennt ihn den Tippsenrammler. Kurz und gut, er hat sie gekriegt. Das Schönste aber ist, er hat es seiner Frau geschrieben, du weißt doch, der Tochter von Buch, dem obersten Parteirichter. Er hat ihr neun oder zehn Gören gemacht, ich weiß nicht genau. Und sie antwortet ihm so ungefähr: Das hast du gut gemacht, ich bin dir nicht böse, ich bin nicht eifersüchtig. Sie schlägt ihm sogar vor, die Kleine doch bei ihnen zu Hause einzuquartieren. Und dann schreibt sie, da infolge dieses Krieges die Geburtenrate so fürchterlich zurückgegangen sei, würden sie – die Bormanns – ein auf Rotation basierendes Mutterschaftssystem einrichten, damit er immer eine einsatzfähige Frau zur Verfügung habe.« Lächelnd hielt Thomas inne, während ich in schallendes Gelächter ausbrach: »Im Ernst? Das hat sie wirklich geschrieben?« – »Ich schwör’s dir. Eine einsatzfähige Frau. Kannst du dir das vorstellen?« Er lachte ebenfalls. »Und kennst du auch Bormanns Antwort?«, fragte ich. »Na was, er hat ihr natürlich gratuliert. Und dann weltanschauliche Gemeinplätze von sich gegeben. Ich glaube, er hat sie als reines Kind des Nationalsozialismus bezeichnet. Aber es ist klar, dass er das nur ihr zu Gefallen geschrieben hat. Bormann glaubt an gar nichts. Abgesehen davon, dass er alles restlos ausmerzen muss, was sich zwischen ihn und den Führer stellen könnte.« Ich blickte ihn ironisch an: »Und woran glaubst du?« Seine Antwort enttäuschte mich nicht. Sich auf seiner Bank aufrichtend, erklärte er: »Um aus einem Jugendwerk unseres erlauchten Propagandaministers zu zitieren: Wichtig ist nicht, woran man glaubt, sondern daß man glaubt.« Ich lächelte; manchmal beeindruckte mich Thomas. Was ich ihm auch nicht verheimlichte: »Du beeindruckst mich, Thomas.« – »Was willst du? Ich bin nicht zum Schreibstubenhengst geboren. Ich bin ein echter Nationalsozialist. Bormann auf seine Art ist es auch. Bei deinem Speer bin ich mir nicht sicher. Er ist begabt, aber ich glaube nicht, dass ihn interessiert, welchem Staat er dient.« Ich musste an Schellenberg denken und lächelte wieder. Thomas fuhr fort: »Je schwieriger die Situation wird, desto mehr müssen wir uns auf die einzigen wahren Nationalsozialisten verlassen. Die Ratten beginnen das sinkende Schiff zu verlassen. Du wirst sehen.«

 

 

Tatsächlich machten sich im Kielraum des Reichs die Ratten verstärkt bemerkbar, wimmelnd, piepsend, von schrecklicher Unruhe erfüllt. Seit dem Seitenwechsel Italiens ließen die Spannungen mit den anderen Verbündeten die feinen Risse in den Beziehungen zu ihnen erkennen. Jeder begann auf seine Weise, nach einer Hintertür zu suchen, und keine dieser Türen war deutsch. Laut Thomas glaubte Schellenberg, dass die Rumänen in Stockholm mit den Sowjets verhandelten. Vor allem aber war die Rede von den Ungarn. Die russischen Truppen hatten Luzk und Rowno genommen; wenn ihnen Galizien in die Hände fiel, standen sie vor den Toren Ungarns. Ministerpräsident Kállay arbeitete seit mehr als einem Jahr unermüdlich an seinem Ruf, ein höchst unzuverlässiger Freund Deutschlands zu sein. Weitere Probleme erwuchsen aus der ungarischen Haltung zur Judenfrage: Nicht nur, dass sie sich weigerten, über eine Rassengesetzgebung hinauszugehen, die angesichts der Verhältnisse sehr unzulänglich war – ungarische Juden bekleideten nach wie vor wichtige Posten in der Industrie, Halbjuden oder Ehemänner von Jüdinnen hatten noch Regierungsämter inne –, sondern sie verfügten auch über ein beträchtliches jüdisches Arbeitskräftereservoir, großenteils aus Facharbeitern bestehend, und lehnten alle Gesuche der Deutschen ab, einen Teil dieser Arbeitskräfte für die Kriegsanstrengungen zur Verfügung zu stellen. Schon Anfang Februar wurden diese Fragen auf Besprechungen erörtert, an denen Fachleute zahlreicher Abteilungen teilnahmen: Gelegentlich war auch ich zugegen oder schickte einen meiner Experten. Das RSHA befürwortete einen Regierungswechsel; meine Mitwirkung beschränkte sich auf Untersuchungen zur möglichen Verwendung ungarisch-jüdischer Arbeiter für den Fall, dass sich die Lage günstig entwickeln sollte. In diesem Rahmen hatte ich eine Reihe von Besprechungen mit Mitarbeitern Speers. Doch deren Haltung war häufig merkwürdig widersprüchlich und schwer auf einen Nenner zu bringen. Speer selbst blieb unerreichbar; es sollte ihm äußerst schlecht gehen. Das war ziemlich verwirrend: Ich hatte den Eindruck, ins Leere zu planen, Studien anzuhäufen, deren Wert eher fiktiv war. Trotzdem wuchs meine Dienststelle – ich verfügte jetzt über drei Offiziere mit Spezialkenntnissen, und Brandt hatte mir noch einen vierten versprochen; allerdings begannen sich die Nachteile meiner Stellung bemerkbar zu machen; um meinen Vorschlägen Nachdruck zu verleihen, hatte ich zu wenig Unterstützung, weder das RSHA setzte sich dafür ein – trotz meiner Verbindungen zum SD – noch das WVHA, abgesehen von Maurer, aber auch das nur gelegentlich, wenn es ihm in den Kram passte.

Anfang März begannen die Dinge sich zu beschleunigen, aber nicht zu klären. Speer, so hatte ich Ende Februar von Thomas am Telefon erfahren, war aus dem Gröbsten heraus und fing an, auch wenn er im Augenblick noch in Hohenlychen bleiben musste, langsam wieder die Leitung seines Ministeriums zu übernehmen. Zusammen mit Feldmarschall Milch hatte er beschlossen, einen Jägerstab einzurichten, der die Produktion der Jagdflugzeuge koordinieren sollte; in gewisser Hinsicht stellte das einen großen Schritt zur Vereinnahmung des letzten Rüstungssektors dar, der dem Einfluss seines Ministeriums noch entzogen war; andererseits verstärkten sich die Intrigen, es hieß, Göring habe sich der Gründung des Jägerstabs widersetzt, Saur, Speers Adjutant, der zum Amtsleiter in Speers Ministerium ernannt worden war, sei kein Wunschkandidat Speers, und anderes mehr. Außerdem erörterten die Fachleute in Speers Ministerium jetzt offen eine abenteuerliche, völlig unrealistische Idee: Sie wollten die gesamte Flugzeugproduktion unterirdisch betreiben, um sie vor den englischen und amerikanischen Bombern in Sicherheit zu bringen. Das hätte den Bau Hunderttausender von Quadratmetern unterirdischer Stollen bedeutet. Kammler, hieß es, unterstütze dieses Projekt begeistert und seine Dienststelle habe die notwendigen Untersuchungen fast abgeschlossen: Allen Beteiligten war klar, dass beim gegenwärtigen Stand der Dinge nur die SS ein so verrücktes Vorhaben durchführen könnte. Allerdings überschritt es die Kapazität der verfügbaren Arbeitskräfte bei weitem: Neue Quellen mussten erschlossen werden, und in der gegebenen Situation blieb – zumal das Abkommen zwischen Speer und Minister Bichelonne jeden weiteren Zugriff auf französische Arbeitskräfte unterband – lediglich Ungarn. Damit gewann die Lösung des ungarischen Problems eine neue Dringlichkeit. Die Ingenieure von Speer und Kammler bezogen die ungarischen Juden einfach schon in ihre Berechnungen und Planungen mit ein, obwohl noch keine Einigung mit der Regierung Kállay erzielt worden war. Im RSHA prüfte man jetzt Ersatzlösungen: Ich kannte nur wenige Einzelheiten, aber Thomas informierte mich hin und wieder über den Stand der Planungen, damit ich die meinen entsprechend anpassen konnte. Schellenberg war an diesen Projekten unmittelbar beteiligt. Im Februar hatten Ermittlungen über dubiose Devisengeschäfte mit der Schweiz zum Sturz von Admiral Canaris geführt; daraufhin wurde die gesamte Abwehr dem RSHA eingegliedert und mit dem Amt VI zum Amt Mil unter Schellenbergs Befehl zusammengefasst, der damit den gesamten Auslandsnachrichtendienst unter sich hatte. Ihm blieb wenig Zeit, diese Position zu nutzen: Die Berufsoffiziere der Abwehr waren keine Anhänger der SS, und er hatte sie keineswegs unter Kontrolle. So gesehen, konnte er an Ungarn die Möglichkeiten seines neuen Werkzeugs ausprobieren. Hinsichtlich der Arbeitskräftebeschaffung hätte ein Politikwechsel enorme Perspektiven eröffnet: Die Optimisten sprachen von vierhunderttausend verfügbaren und rasch mobilisierbaren Arbeitern, von denen die meisten bereits qualifiziert oder spezialisiert waren. Angesichts unseres Bedarfs wäre das ein enormer Beitrag gewesen. Doch ihr Einsatz, das ließ sich für mich absehen, würde erbitterte Kontroversen auslösen: Im Gegensatz zu Kammler und Saur vertraten mir gegenüber zahlreiche Fachleute, nüchterne und ernsthafte Männer, die Auffassung, der Plan unterirdischer Fertigungsstätten, so verlockend er auch scheinen mochte, sei illusorisch, weil diese Fabriken niemals so rechtzeitig fertig sein würden, dass sie den Gang der Ereignisse noch veränderten; in der Zwischenzeit würde er eine unzulässige Verschwendung von Arbeitskräften bedeuten, die weit nützlicher eingesetzt werden könnten, um, in Kolonnen eingeteilt, getroffene Fabriken zu reparieren, Wohnraum für unsere Arbeiter oder ausgebombten Landsleute zu bauen oder bei der Dezentralisierung kriegswichtiger Industrien zu helfen. Wie mir diese Männer versicherten, war Speer der gleichen Ansicht; allerdings hatte ich im Augenblick keinen Kontakt zu Speer. Mir erschienen die Argumente vernünftig, doch um die Wahrheit zu sagen, sie interessierten mich nicht.

Je mehr Einblicke ich in diesen Mahlstrom von Intrigen an der Spitze des Staates hatte, desto weniger Lust verspürte ich, mich daran zu beteiligen. Bevor ich in meine gegenwärtige Stellung aufgestiegen war, hatte ich, zweifellos recht naiv, angenommen, dass die großen Entscheidungen auf der Grundlage weltanschaulicher und vernünftiger Erwägungen zustandekommen würden. Jetzt erkannte ich, dass das zwar bis zu einem gewissen Grade stimmte, dass aber auch viele andere Faktoren eine Rolle spielten: bürokratische Kompetenzstreitigkeiten, der persönliche Ehrgeiz einiger Beteiligter, Sonderinteressen. Der Führer konnte natürlich nicht selbst alle Fragen klären; und außerhalb seines unmittelbaren Einflussbereichs schienen viele Mechanismen der Entscheidungsfindung pervertiert, ja verderbt zu sein. In solchen Situationen war Thomas in seinem Element, während ich mich unbehaglich fühlte, und zwar nicht nur, weil mir das Talent zur Intrige fehlte. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass sich Coventry Patmores Verse bewahrheiten müssten: The truth is great, and shall prevail, / When none cares whether it prevail or not; dass der Nationalsozialismus nichts anderes sein könnte als das gemeinsame Bemühen um den rechten Glauben und diese Wahrheit. Das war für mich umso notwendiger, als mich die Umstände meines ruhelosen Lebens, hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern, von den anderen Menschen schieden: Auch ich wollte meinen Stein zum gemeinsamen Werk beitragen, auch ich wollte mich als Teil des Ganzen fühlen können. Leider dachten in unserem nationalsozialistischen Staat, zumal außerhalb der SD-Kreise, nur wenige Menschen wie ich. Insofern konnte ich die brutale Direktheit eines Eichmann nur bewundern: Er hatte seine eigene Vorstellung vom Nationalsozialismus, von dem ihm gebührenden Platz und von dem, was er an diesem Platz zu tun hatte, und an dieser Vorstellung hielt er eisern fest, stellte all seine Kraft und Entschlossenheit in ihren Dienst, und solange seine Vorgesetzten ihn in dieser Vorstellung bestärkten, war sie die richtige, und Eichmann blieb ein glücklicher Mensch, seiner selbst gewiss, der seine Dienststelle fest im Griff hatte. Das sah bei mir ganz anders aus. Mein Unglück erwuchs vielleicht daraus, dass man mich mit Aufgaben betraut hatte, die nicht meinen natürlichen Neigungen entsprachen. Schon seit Russland fühlte ich mich wie neben mir stehend, fähig, alles zu tun, was man von mir verlangte, aber auch in mich selbst eingesperrt, was die Initiative anging, denn diese zunächst polizeilichen, dann wirtschaftlichen Aufgaben hatte ich zwar bearbeitet und bewältigt, aber es war mir noch nicht gelungen, mich von ihrer Berechtigung zu überzeugen, die innere Notwendigkeit, die sie leitete, wirklich zu begreifen und damit meinen Pfad mit der Sicherheit eines Schlafwandlers zu gehen wie der Führer und so viele meiner Kameraden, die dafür begabter waren als ich. Ob es wohl ein anderes Tätigkeitsfeld gegeben hätte, das mir mehr entsprochen, auf dem ich mich eher zu Hause gefühlt hätte? Möglich, aber schwer zu entscheiden, weil es nicht gegeben war, und schließlich zählt nur, was gewesen ist, und nicht, was hätte sein können. Die Dinge waren von Anfang an nicht so, wie ich sie mir gewünscht hätte: Damit hatte ich mich schon lange abgefunden (und gleichzeitig hatte ich die Dinge selbst nie so akzeptiert, wie sie waren, so falsch und so schlecht, allenfalls hatte ich letztlich mein Unvermögen eingesehen, sie zu verändern). Richtig ist auch, dass ich mich verändert hatte. Als junger Mensch hatte ich in der Klarheit meiner Ansichten gelebt, ich hatte genaue Vorstellungen von der Welt, davon, wie sie sein sollte und wie sie tatsächlich war, und von meinem Platz in dieser Welt; und mit der ganzen Torheit und Überheblichkeit der Jugend hatte ich gedacht, dass dies immer so sein würde, dass sich die aus meiner Analyse resultierende Haltung niemals verändern würde, aber ich hatte die Kräfte der Zeit vergessen – oder besser: noch nicht kennengelernt –, die Kräfte der Zeit und der Ermüdung. Und mehr noch als meine Unentschlossenheit, meine weltanschauliche Verwirrung, meine Unfähigkeit, eine klare Position zu den von mir behandelten Fragen zu beziehen, waren es diese Kräfte, die mich zermürbten, die mir den Boden unter den Füßen entzogen. Eine solche Ermüdung kennt kein Ende, nur der Tod kann einen Schlussstrich ziehen, sie hält bis heute an, und für mich wird sie immer anhalten.

Mit Helene sprach ich nie darüber. Wenn wir uns abends oder sonntags sahen, sprachen wir über das Tagesgeschehen, die Schwierigkeiten des Alltags, die Bombenangriffe oder über Kunst, Literatur und Filme. Hin und wieder erzählte ich ihr von meiner Kindheit, meinem Leben; aber nicht von allem, die schmerzlichen und schwierigen Dinge ließ ich aus. Manchmal war ich versucht, offener mit ihr zu sprechen, doch etwas hielt mich zurück. Warum? Ich weiß es nicht. Man könnte denken, dass ich befürchtete, sie zu schockieren, sie vor den Kopf zu stoßen. Aber das war es nicht. Zwar kannte ich diese Frau im Grunde noch recht wenig, aber doch genügend, um zu wissen, dass sie bestimmt zuhören konnte, zuhören, ohne zu urteilen (während ich das schreibe, denke ich an all die Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe; wie sie reagiert hätte, wenn sie vom ganzen Ausmaß und den Konsequenzen meiner Arbeit erfahren hätte, konnte ich damals beim besten Willen nicht vorhersagen, aber davon war in unseren Gesprächen ohnehin nie die Rede, zunächst einmal wegen der Geheimhaltungsvorschriften, aber dann auch aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen uns, wie ich glaube, einer Art »Taktgefühl«). Was also hielt die Worte zurück, als sie mir am Abend nach dem Essen in einem Anflug von Müdigkeit und Schwermut auf die Zunge drängten? Die Angst, nicht vor ihrer Reaktion, sondern einfach davor, mich so zu zeigen, wie ich war? Oder ganz einfach die Angst davor, sie noch näher an mich heranzulassen, näher, als sie mir schon gekommen war und ich sie gelassen hatte, ohne es eigentlich zu wollen? Denn wenn unsere Beziehung auch die guter und relativ neuer Freunde blieb, so entwickelte sich langsam etwas bei ihr – der Gedanke ans Bett und vielleicht an mehr. Manchmal machte mich das traurig, meine Unfähigkeit, ihr zu geben, was es auch sei, oder auch nur hinzunehmen, was sie mir zu geben hatte, war mir unerträglich: Sie sah mich mit diesem langen und geduldigen Blick an, der so tiefen Eindruck auf mich machte, und ich sagte mir mit einer Brutalität, die mit jedem Gedanken heftiger wurde: Nachts, wenn du dich schlafen legst, denkst du an mich, berührst du vielleicht deinen Leib, deine Brüste bei dem Gedanken an mich, legst du die Hand zwischen deine Beine bei dem Gedanken an mich, vielleicht schläfst du ein mit dem Gedanken an mich, und ich, ich liebe nur einen Menschen, unter allen Frauen die einzige, die ich nicht haben kann, die, deren Bild mich niemals loslässt und mir nur aus dem Kopf geht, um mir in die Knochen zu fahren, die, die immer zwischen der Welt und mir stehen wird und damit auch zwischen dir und mir, deren Küsse immer über die deinen spotten werden, die, deren Heirat sogar noch dazu führt, dass ich dich nur heiraten könnte, um vielleicht zu fühlen, was sie in ihrer Ehe fühlt, sie, deren bloße Existenz bewirkt, dass du für mich niemals vollständig existieren kannst, und was das Übrige angeht, denn das Übrige gibt es auch noch, so ist es mir immer noch lieber, mir den Arsch von unbekannten jungen Burschen, bezahlten, wenn es sein muss, durchbohren zu lassen, womit ich ihr ebenfalls auf meine Art nahekomme, und mir sind die Angst und die Leere und die Sterilität meiner Gedanken allemal lieber, als schwach zu werden.

 

Die Pläne für Ungarn nahmen Gestalt an; Anfang März bestellte mich der Reichsführer ein. Am Vortag hatten die Amerikaner ihren ersten Tagesangriff auf Berlin geflogen; es war ein ganz kleiner Angriff, nur etwa dreißig Bomber, und die Goebbels-Presse hatte sich darüber lustig gemacht, wie wenig er angerichtet hatte, aber diese Bomber waren zum ersten Mal von Langstreckenjägern begleitet gewesen, einer neuen und in ihren Auswirkungen erschreckenden Waffe, denn unsere eigenen Jäger waren verlustreich zurückgeschlagen worden, und es bedurfte schon einer gehörigen Portion Dummheit, um nicht zu begreifen, dass dieser Angriff nur eine Probe gewesen war, ein gelungener Test, und dass es fortan keine Ruhepause mehr geben würde, weder am Tage noch in den Vollmondnächten, und dass fortan die Front überall und die ganze Zeit über sein würde. Die Unfähigkeit unserer Luftwaffe, einen wirksamen Gegenschlag zu führen, war nicht zu übersehen. Diese Auffassung wurde mir durch die nüchternen exakten Worte des Reichsführers bestätigt: »Die Lage in Ungarn wird sich rasch verändern«, teilte er mir mit, ohne näher auf Einzelheiten einzugehen. »Der Führer ist entschlossen, wenn nötig, einzugreifen. Es werden sich neue Möglichkeiten ergeben, die wir entschlossen nutzen müssen. Eine dieser Möglichkeiten betrifft die jüdische Frage. Im richtigen Augenblick wird Obergruppenführer Kaltenbrunner seine Männer schicken. Die wissen, was zu tun ist, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Aber ich möchte, dass Sie mit ihnen gehen und die Interessen des Arbeitseinsatzes geltend machen. Gruppenführer Kammler (Kammler war gerade Ende Januar befördert worden) wird Männer brauchen, ungeheuer viele Männer. Die Engländer und Amerikaner führen Neuerungen ein« – er zeigte mit dem Finger zum Himmel –, »und wir müssen schnell reagieren. Das RSHA muss dem Rechnung tragen. Ich habe Obergruppenführer Kaltenbrunner entsprechende Anweisungen gegeben, aber Sie sollen darauf achten, dass diese von seinen Fachleuten streng eingehalten werden. Mehr denn je schulden uns die Juden ihre Arbeitskraft. Ist das klar?« Ja, das war klar. Im Anschluss an diese Besprechung erläuterte Brandt die geplanten Einzelheiten: Das Sondereinsatzkommando werde von Eichmann befehligt, der bei der Regelung dieser Angelegenheit mehr oder minder freie Hand habe; sobald die Ungarn das Prinzip akzeptiert hätten und auf ihre Zusammenarbeit Verlass sei, würden die Juden nach Auschwitz deportiert, das als Selektionszentrale diene. Von dort würden die arbeitsfähigen Juden nach Bedarf verteilt werden. Auf jeder Etappe gelte es, die Zahl potenzieller Arbeiter zu maximieren.

Eine Reihe von Vorbereitungstreffen fand im RSHA statt, viel eingehendere als die des Vormonats; bald war nur noch der Termin offen. Die Erregung war spürbar; zum ersten Mal seit langer Zeit hatten die Verantwortlichen wieder das Gefühl, die Initiative ergreifen zu können. Ich kam mehrfach mit Eichmann zusammen, anlässlich dieser Besprechungen und privat. Er versicherte mir, dass die Anweisungen des Reichsführers vollkommen verstanden worden seien. »Ich freue mich, dass Sie mit diesem Aspekt der Frage befasst sind«, sagte er und kaute an der Innenseite seiner linken Wange. »Mit Ihnen ist wirklich eine Zusammenarbeit möglich, wenn ich das so sagen darf. Was durchaus nicht immer der Fall ist.« Die Frage des Luftkriegs beherrschte alle Gedanken. Zwei Tage nach dem ersten Angriff hatten die Amerikaner mehr als fünfhundert Bomber geschickt, von rund sechshundertfünfzig ihrer neuen Jäger gesichert, und Berlin zur Mittagszeit heimgesucht. Dank schlechtem Wetter waren die Abwürfe zu ungenau, sodass sich die Schäden in Grenzen hielten; außerdem schossen die Flak und unsere Jäger achtzig feindliche Maschinen ab, ein Rekord; doch unsere Jäger waren schwerfällig und den neuen Mustangs kaum gewachsen, und unsere eigenen Verluste beliefen sich auf sechsundsechzig Maschinen, eine Katastrophe, wobei die gefallenen Piloten noch schwerer zu ersetzen waren als die Flugzeuge. Keineswegs entmutigt kamen die Amerikaner mehrere Tage hintereinander zurück; jedes Mal verbrachten die Menschen Stunden in den Luftschutzräumen, die gesamte Arbeit wurde unterbrochen; nachts schickten die Engländer Mosquitos, die zwar wenig Schaden anrichteten, aber die Menschen wieder in die Schutzräume zwangen, ihnen die Nachtruhe raubten und an ihren Kräften zehrten. Die Zahl der Opfer war glücklicherweise weit geringer als im November: Goebbels hatte sich entschlossen, einen Großteil des Stadtzentrums zu evakuieren, sodass die meisten Angestellten jetzt jeden Tag aus den Vororten in die Büros kamen; doch das bedeutete mehrstündige, ermüdende Wege von und zur Arbeit. Darunter litt deren Qualität: In der Korrespondenz unserer übermüdeten Fachleute in Berlin häuften sich die Fehler, ich musste die Briefe manchmal vier-, fünfmal neu schreiben lassen, bevor ich sie abschicken konnte.

Eines Abends war ich bei Gruppenführer Müller eingeladen. Die Einladung wurde mir nach einem Fliegeralarm von Eichmann übermittelt, in dessen Büro an diesem Tag eine wichtige Planungskonferenz stattfand. »Jeden Donnerstag«, hatte er mir berichtet, »versammelt der Amtschef gerne einige seiner Fachleute um sich, um mit ihnen die Lage zu erörtern. Er würde sich sehr freuen, wenn Sie auch kommen könnten.« Das zwang mich, meine Verabredung zum Fechten abzusagen, aber ich nahm an: Ich war Müller selten begegnet, es würde interessant sein, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Müller bewohnte eine etwas außerhalb gelegene Dienstwohnung, die von Bomben verschont geblieben war. Eine unscheinbare Frau mit Haarknoten und ziemlich eng stehenden Augen öffnete mir die Tür; ich hielt sie für eine Hausangestellte, aber es war Frau Müller, sie war die einzige Frau im Haus. Müller selbst war in Zivil; und statt mir den deutschen Gruß zu entbieten, nahm er meine Hand in seine mächtige Pranke mit den breiten Fingern und schüttelte sie; doch abgesehen von dieser Bekundung von Ungezwungenheit, war es lange nicht so gemütlich wie bei Eichmann. Auch Eichmann trug Zivil, doch der größte Teil der Offiziere war, wie ich, in Uniform. Müller, kurzbeinig, stämmig, mit kantigem Bauernschädel, aber trotzdem geschmackvoll, fast ausgesucht elegant gekleidet, trug eine gehäkelte Jacke über einem Seidenhemd mit offenem Kragen. Er goss mir einen Kognak ein und stellte mich den anderen Gästen vor, fast ausnahmslos Gruppenleitern oder Referenten des Amts IV: Mir sind noch zwei Herren vom IV D erinnerlich, die sich um die Arbeit der Gestapo in den besetzten Ländern kümmerten, und ein gewisser Regierungsrat Berndorff, der das Schutzhaftreferat leitete. Außerdem waren ein Offizier von der Kripo und Litzenberg, ein Kollege von Thomas, anwesend. Thomas selbst, der die neuen Rangabzeichen des Standartenführers mit schöner Selbstverständlichkeit trug, kam etwas später und wurde von Müller herzlich begrüßt. Die Unterhaltung kreiste vorwiegend um das ungarische Problem: Das RSHA hatte bereits ungarische Persönlichkeiten ermittelt, die bereit waren, mit Deutschland zusammenzuarbeiten; die große Frage blieb, wie der Führer den Sturz Kállays betreiben wollte. Wenn Müller nicht an dem Gespräch teilnahm, überwachte er seine Gäste ruhelos mit seinen kleinen durchdringenden Augen. Dann warf er ein paar kurze unfreundliche Bemerkungen dazwischen, die durch seinen breiten bayerischen Akzent einen Anschein von Herzlichkeit bekamen, der eine angeborene Kälte nur schlecht verdeckte. Aber von Zeit zu Zeit ließ er die Zügel schießen. Mit Thomas und Dr. Frey, einem ehemaligen SD-Mann, der wie Thomas zur Geheimen Staatspolizei gegangen war, hatte ich ein Gespräch über die geistigen Ursprünge des Nationalsozialismus begonnen. Frey wies darauf hin, dass die Bezeichnung selbst schlecht gewählt sei, da nach seiner Auffassung der Begriff »national« an die Tradition von 1789 anknüpfe, die der Nationalsozialismus doch ablehne. »Was würden Sie denn stattdessen vorschlagen?«, fragte ich ihn. »Nach meiner Ansicht hätte er Völkischer Sozialismus heißen müssen. Das ist sehr viel treffender.« Der Kripo-Mann hatte sich zu uns gesellt: »Wäre man Möller van der Bruck gefolgt«, erklärte er, »hätte das ein Reichssozialismus sein können.« – »Na ja, läuft das nicht auf das Abweichlertum eines Strasser hinaus?«, erwiderte Frey pikiert. In diesem Augenblick bemerkte ich Müller: Er stand hinter uns, ein Glas in seiner Pranke, und hörte uns zu. »Man sollte wahrhaftig alle Intellektuellen in eine Kohlengrube treiben und sie in die Luft jagen …«, stieß er mit seiner groben, rauen Stimme hervor. »Der Gruppenführer hat vollkommen Recht«, sagte Thomas. »Meine Herren, Sie sind schlimmer als die Juden. Denken Sie dran: Taten statt Worte.« In seinen Augen tanzte ein spöttisches Lachen. Müller nickte, Frey wirkte verwirrt: »Natürlich hat für uns die Tatkraft immer eine größere Rolle gespielt als theoretische Überlegungen …«, stammelte der Kripo-Mann. Ich entfernte mich und ging zum Buffet, um meinen Teller mit Salat und Fleisch zu füllen. Müller folgte mir. »Und wie geht es dem Herrn Minister Speer?«, fragte er mich. »Um ehrlich zu sein, Gruppenführer, ich weiß es nicht. Ich habe seit Beginn seiner Erkrankung keine Verbindung mehr zu ihm gehabt. Aber er soll jetzt auf dem Wege der Besserung sein.« – »Er wird wohl bald entlassen.« – »Möglich. Das wäre schön. Wenn es uns gelänge, über die Arbeitskräfte in Ungarn zu verfügen, würde das unserer Rüstungsindustrie sehr rasch neue Möglichkeiten eröffnen.« – »Vielleicht«, knurrte Müller. »Aber das wären vor allem Juden, und für Juden ist das Gebiet des Altreichs verboten.« Ich schluckte ein kleines Würstchen hinunter und sagte: »Dann muss diese Regel eben geändert werden. Wir haben unsere Kapazität gegenwärtig vollkommen ausgelastet. Ohne diese Juden halten wir nicht mehr länger durch.« Eichmann war näher getreten und hatte meine letzten Worte gehört, während er seinen Kognak trank. Er ergriff das Wort, ohne Müller Gelegenheit zu einer Antwort zu geben: »Glauben Sie wirklich, dass Sieg oder Niederlage von der Arbeit einiger Tausend Juden abhängen? Und wenn es so wäre, würden Sie dann wollen, dass Deutschland seinen Sieg den Juden zu verdanken hätte?« Eichmann hatte getrunken, sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten; er war stolz, diese Ansichten vor seinem Vorgesetzten äußern zu können. Ich hörte ihm zu, spießte Wurstscheiben auf dem Teller auf, den ich in der Hand hielt, und blieb ruhig, obwohl mir sein dummes Geschwätz auf die Nerven ging. »Ach, wissen Sie, Obersturmbannführer«, erwiderte ich gleichmütig, »1941 hatten wir die modernste Armee der Welt. Heute sind wir fast um ein halbes Jahrhundert zurückgefallen. Alle unsere Transporte an der Front werden mit Pferdefuhrwerken bewerkstelligt. Die Russen rücken mit amerikanischen Studebakern vor. Und in den Vereinigten Staaten sind Millionen Männer und Frauen Tag und Nacht mit der Herstellung dieser Lkws beschäftigt. Und sie bauen auch die Schiffe für deren Transport. Unsere Fachleute versichern, dass sie einen Frachter pro Tag herstellen. Das ist weit mehr, als unsere U-Boote versenken könnten, wenn sie denn überhaupt noch auszulaufen wagten. Wir befinden uns jetzt in einem Abnützungskrieg. Doch bei unseren Feinden gibt es keine Abnützung. Alles, was wir zerstören, wird sofort ersetzt, die hundert Maschinen, die wir in dieser Woche abgeschossen haben, sind schon fast ersetzt. Wohingegen bei uns die materiellen Verluste nicht wettgemacht werden, ausgenommen vielleicht bei den Panzern, und noch nicht einmal dort.« Eichmann plusterte sich auf: »Sie sind reichlich defätistisch heute Abend!« Müller beobachtete uns schweigend, ohne zu lächeln; seine ruhelosen Augen huschten zwischen uns hin und her. »Ich bin kein Defätist«, erwiderte ich, »ich bin Realist. Wir müssen erkennen, wo unsere Interessen liegen.« Doch Eichmann, der schon ein wenig betrunken war, verschmähte jegliche Logik: »Sie argumentieren wie ein Kapitalist, ein Materialist … In diesem Krieg geht es nicht um Interessen. Wenn es nur um Interessen ginge, hätten wir Russland niemals angegriffen.« Ich konnte ihm nicht mehr folgen, er schien den Faden vollkommen verloren zu haben, aber er hörte nicht auf, sondern ging seinen Gedankensprüngen nach. »Wir führen nicht Krieg, damit jeder Deutsche einen Kühlschrank und ein Radio hat. Wir führen Krieg, um Deutschland zu reinigen, um ein Deutschland zu schaffen, in dem es sich zu leben lohnt. Glauben Sie, dass mein Bruder Helmut für einen Kühlschrank gefallen ist? Und Sie, haben Sie in Stalingrad für einen Kühlschrank gekämpft?« Ich zuckte lächelnd die Achseln: In diesem Zustand hatte es keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Müller legte ihm die Hand auf die Schulter: »Mein lieber Eichmann, Sie haben ja Recht.« An mich gewandt, fügte er hinzu: »Sehen Sie, deshalb ist unser guter Eichmann so geeignet für seine Arbeit: Er hat nur Augen für das Wesentliche. Deshalb ist er ein so guter Spezialist. Und deshalb schicke ich ihn nach Ungarn: In der Judenfrage ist er unser Meister.« Angesichts dieser Komplimente wurde Eichmann rot vor Freude; mir kam er in diesem Augenblick eher beschränkt vor. Was aber nichts daran änderte, dass Müller Recht hatte: Er war wirklich sehr tüchtig, schließlich sind die Beschränkten häufig tüchtig. Müller fuhr fort: »Allerdings sollten Sie nicht ausschließlich an die Juden denken, Eichmann. Gewiss, die Juden gehören zu unseren großen Feinden, aber die Judenfrage hat sich in Europa schon fast erledigt. Nach Ungarn bleibt nicht mehr viel. Wir müssen an die Zukunft denken. Und wir haben viele Feinde.« Seine leise gleichmäßige Stimme strömte im wiegenden Rhythmus ihres bäuerlichen Akzents zwischen seinen schmalen nervösen Lippen hervor. »Wir müssen uns überlegen, was wir mit den Polen machen. Die Juden auszumerzen und die Polen übrig zu lassen ist vollkommen sinnlos. Und auch hier in Deutschland. Wir haben bereits angefangen, aber wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Wir brauchen auch eine Endlösung der Sozialfrage. Es gibt noch immer viel zu viele Kriminelle, Asoziale, Vagabunden, Zigeuner, Alkoholiker, Prostituierte, Homosexuelle. Wir müssen an die Tuberkulosekranken denken, die die Gesunden anstecken. An die Herzkranken, die verdorbenes Blut weitergeben und das Gesundheitswesen ein Vermögen kosten: Die sollte man zumindest sterilisieren. Mit alldem müssen wir uns befassen, Gruppe für Gruppe. Unsere guten Deutschen wehren sich dagegen, und sie haben stets gute Gründe. Das ist Stalins Stärke: Er weiß, sich Gehorsam zu verschaffen, und führt konsequent zu Ende, was er sich vorgenommen hat.« Er sah mich an: »Ich kenne die Bolschewisten. Seit den Geiselexekutionen während der Münchner Räterepublik. Danach habe ich sie vierzehn Jahre lang bekämpft, bis zur Machtergreifung, und ich bekämpfe sie noch immer. Aber wissen Sie was? Ich habe Achtung vor ihnen. Das sind Leute, die einen angeborenen Sinn für Organisation haben, für Disziplin und die vor nichts zurückschrecken. Wir könnten von ihnen lernen. Glauben Sie nicht?« Müller wartete die Antwort auf seine Frage nicht ab. Er nahm Eichmann am Arm und zog ihn zu einem niedrigen Tisch, auf den er ein Schachbrett legte. Ich sah ihnen von weitem beim Spiel zu, während ich meinen Teller leerte. Eichmann spielte gut, hatte aber keine Chance gegen Müller: Müller spielt, wie er arbeitet, sagte ich mir, methodisch hartnäckig und mit kalter, überlegter Brutalität. Da sie mehrere Partien spielten, hatte ich Muße, sie zu beobachten. Eichmann versuchte gerissene, sorgsam geplante Kombinationen, doch Müller ging ihm nie in die Falle, seine Verteidigung zeigte genauso wenig Schwäche wie seine systematisch vorbereiteten Angriffe, denen Eichmann nichts entgegenzusetzen hatte. Müller gewann immer.

 

 

In der folgenden Woche stellte ich eine kleine Gruppe für den Einsatz in Ungarn zusammen. Dazu gehörten ein Fachmann – Obersturmführer Elias –, einige Schreibkräfte, Ordonnanzen und Kanzlisten und natürlich Piontek. Meine Dienststelle ließ ich mit genauen Anweisungen in Asbachs Obhut. Auf Befehl Brandts fand ich mich am 17. März im KL Mauthausen ein, wo sich unter Oberführer Dr. Achamer-Pifrader, dem ehemaligen BdS von Ostland, eine Sondereinsatzgruppe der Sipo und des SD versammelte. Eichmann war schon dort, an der Spitze seines eigenen Sondereinsatzkommandos. Ich meldete mich bei Oberführer Dr. Geschke, dem verantwortlichen Offizier, der mich mit meinem Häuflein in einer Baracke einquartierte. Bei meinem Aufbruch in Berlin hatte ich erfahren, dass der ungarische Reichsverweser Horthy vom Führer auf Schloss Klessheim bei Salzburg empfangen wurde. Nach dem Krieg wurden die Ereignisse von Klessheim bekannt: Von Hitler und Ribbentrop brutal vor die Wahl zwischen der Bildung einer neuen deutschfreundlichen Regierung und der Invasion seines Landes gestellt, entschied sich Horthy – ein Admiral ohne Flotte, der ein Land ohne Küste als König ohne Königreich regierte – nach einem Herzanfall, das Schlimmste zu verhindern. Damals wussten wir allerdings noch nichts davon: Geschke und Achamer-Pifrader begnügten sich damit, die höheren Offiziere am Abend des 18. zusammenzurufen und ihnen mitzuteilen, dass wir am folgenden Tag nach Budapest aufbrechen würden. Die Gerüchteküche brodelte natürlich; viele machten sich auf ungarischen Widerstand an der Grenze gefasst, wir bekamen den Befehl, Felduniformen anzuziehen, Maschinenpistolen wurden ausgegeben. Die Stimmung war freudig erregt: Für viele dieser Beamten der Geheimen Staatspolizei oder des SD war es die erste Geländeerfahrung; und nach fast einem Jahr Berlin, nach der Eintönigkeit der bürokratischen Routine, den heimtückischen Intrigen, den zermürbenden Bombenangriffen, die wir hilflos über uns hatten ergehen lassen müssen, ließ selbst ich mich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Am Abend trank ich ein paar Gläser mit Eichmann, den ich inmitten seiner Offiziere angetroffen hatte, strahlend in seiner neuen feldgrauen Uniform posierend, die so elegant geschnitten war wie eine Paradeuniform. Ich kannte nur einen Teil seiner Kameraden; er erklärte mir, dass er für die Operation seine besten Fachleute aus ganz Europa habe kommen lassen, aus Italien, Kroatien, Litzmannstadt, Theresienstadt. Er machte mich mit seinem Freund Hauptsturmführer Wisliceny bekannt, dem Patenonkel seines Sohnes Dieter, einem entsetzlich fetten, ruhigen und gelassenen Mann, der aus der Slowakei angereist war. Wir waren guten Mutes und tranken wenig, waren aber alle voll ungeduldiger Erwartung. Ich kehrte in meine Baracke zurück, um mich etwas auszuruhen, da wir um Mitternacht aufbrechen wollten; ich hatte aber Mühe einzuschlafen. Ich dachte an Helene: Ich hatte mich zwei Tage zuvor von ihr verabschiedet, wobei ich ihr angedeutet hatte, dass ich nicht wüsste, wann ich nach Berlin zurückkehren würde; ich war ziemlich kurz angebunden gewesen, hatte keine Erklärungen abgegeben und keine Versprechungen gemacht; sie hatte es still und ernst hingenommen, ohne erkennbare Unruhe, und doch war, denke ich, uns beiden klar, dass zwischen uns eine Bindung entstanden war, zart vielleicht, aber fest, eine Bindung, die sich nicht von allein auflösen würde; durchaus schon eine Beziehung.

Ich musste doch ein wenig eingenickt sein: Gegen Mitternacht schüttelte Piontek mich wach. Ich hatte mich angekleidet schlafen gelegt, meine Sachen waren gepackt; ich ging hinaus, etwas Luft schnappen, während die Fahrzeuge überprüft wurden; ich aß ein belegtes Brot und trank den Kaffee, den Fischer, eine Ordonnanz, mir gekocht hatte. Das Winterende bescherte uns noch einmal schneidende Kälte, hochgestimmt atmete ich die reine Bergluft ein. Etwas weiter hörte ich Motorengeräusch: das Vorkommando, unter einem der Offiziere Eichmanns, machte sich auf den Weg. Ich hatte beschlossen, mich der Kolonne des Sondereinsatzkommandos anzuschließen, das neben Eichmann und seinen Offizieren mehr als hundertfünfzig Mann umfasste, meistens Orpos und Vertreter des SD und der Sipo, außerdem einige Waffen-SS-Männer. Der Konvoi von Geschke und Achamer-Pifrader sollte den Abschluss bilden. Als unsere beiden Fahrzeuge fertig waren, schickte ich sie zum Sammelpunkt und machte mich zu Fuß auf die Suche nach Eichmann. Der hatte sich eine Schutzbrille über seine Schirmmütze geschoben und eine Steyr-MP unter den Arm geklemmt: Mit seiner Reithose gab ihm das einen fast lächerlichen Anstrich, als hätte er sich verkleidet. »Obersturmbannführer«, schrie er, als er mich sah. »Sind Ihre Männer marschbereit?« Ich nickte und ging zu ihm. Am Sammelpunkt herrschte kurz vor Abmarsch das übliche Durcheinander, die Rufe und Kommandos, bis die Masse der Fahrzeuge sich geordnet in Bewegung setzen konnte. Schließlich erschien Eichmann, von mehreren seiner Offiziere umgeben, unter ihnen Regierungsrat Hunsche, den ich aus Berlin kannte; nach ein paar widersprüchlichen Kommandos stieg Eichmann in seinen Schwimmwagen, einen amphibischen Geländewagen, der von einem Waffen-SS-Mann gefahren wurde: Amüsiert fragte ich mich, ob Eichmann befürchtete, dass die Brücken mit Sprengladungen versehen sein könnten, und ob er vorhätte, die Donau mit seiner Steyr und seinem Fahrer in seinem motorisierten Kahn zu überqueren, um die magyarischen Horden ganz allein in die Flucht zu schlagen. Piontek dagegen, am Steuer meines Wagens, war die Nüchternheit und Ernsthaftigkeit in Person. Im grellen Licht der Lagerscheinwerfer, unter dem Donnern der Motoren und Wolken von Staub setzte sich die Kolonne endlich in Bewegung. Ich hatte Elias und Fischer mit den Waffen, die uns übergeben worden waren, auf die Rücksitze verfrachtet; ich stieg vorn neben Piontek ein, während er den Motor anließ. Der Himmel war sternenklar, aber mondlos; als wir die Serpentinenstraße zur Donau hinabfuhren, sah ich unter mir deutlich das schimmernde Band des Flusses. Die Kolonne setzte auf das rechte Ufer über und wandte sich in Richtung Wien. Wir fuhren hintereinander, mit verdunkelten Scheinwerfern wegen der feindlichen Jäger. Es dauerte nicht lange, bis ich einschlief. Von Zeit zu Zeit ließ mich ein Fliegeralarm aufschrecken, der uns zwang, anzuhalten und die Scheinwerfer zu löschen, aber niemand verließ sein Fahrzeug, wir warteten im Dunkeln. Es gab keinen Angriff. In meinem mehrfach unterbrochenen Halbschlaf suchten mich seltsame Träume heim, lebhaft und flüchtig, die wie Seifenblasen zerplatzten, wenn mich ein Schlagloch oder eine Sirene weckte. Gegen drei Uhr, als wir Wien südlich umfuhren, rüttelte ich mich vollständig wach und trank Kaffee aus einer von Fischer gefüllten Thermosflasche. Der Mond war aufgegangen, eine schmale Sichel, die den breiten Strom der Donau in silbernen Glanz tauchte. Die Alarme zwangen uns immer wieder zum Halt, eine lange Schlange unterschiedlicher Fahrzeuge, die jetzt im Mondlicht auszumachen waren. Im Osten rötete sich der Himmel und ließ die Kämme der Kleinen Karpaten hervortreten. Bei einem dieser erzwungenen Stopps hielten wir über dem Neusiedler See, nur einige Kilometer vor der ungarischen Grenze. Der dicke Wisliceny tauchte neben meinem Fahrzeug auf und klopfte an die Scheibe: »Nehmen Sie Ihren Rum mit und kommen Sie.«Wir hatten zur Marschverpflegung auch etwas Rum bekommen, den ich aber noch nicht angerührt hatte. Ich folgte Wisliceny, der von einem Fahrzeug zum anderen ging und die Offiziere herausholte. Vor uns lastete die rote Scheibe der Sonne auf den Gipfeln, der wolkenlose Himmel war blass, ein helles Blau mit gelben Einfärbungen. Als unsere Gruppe auf der Höhe von Eichmanns Schwimmwagen angekommen war, so ziemlich an der Spitze der Kolonne, umringten wir ihn, und Wisliceny ließ ihn aussteigen. Außer den Offizieren vom IV B 4 waren noch die Chefs der befristet unterstellten Kompanien zugegen. Wisliceny hob sein Fläschchen, richtete einen Glückwunsch an Eichmann und trank auf dessen Gesundheit: Eichmann feierte an diesem Tag seinen achtunddreißigsten Geburtstag. Er stotterte vor Freude: »Ich bin gerührt, meine Herren, sehr gerührt. Heute feiere ich zum siebten Mal Geburtstag als SS-Offizier. Ich kann mir kein schöneres Geschenk als Ihre Gesellschaft vorstellen.« Er strahlte, hochrot im Gesicht, lächelte in die Runde und trank unter den Lebehochrufen in kleinen Schlucken.

Der Grenzübergang verlief ohne Zwischenfall: Die Zöllner und die Honvéd-Soldaten am Straßenrand verfolgten unsere Durchfahrt mürrisch oder gleichgültig, ohne weitere Bekundungen. Strahlend kündigte sich der Morgen an. Die Kolonne machte in einem Dorf Halt, um mit Kaffee, Rum, Weißbrot und an Ort und Stelle erstandenem ungarischem Wein zu frühstücken. Dann ging es weiter. Wir kamen jetzt viel langsamer voran, die Straße war mit deutschen Fahrzeugen verstopft, Mannschaftswagen und Panzern, denen wir kilometerweit folgen mussten, bevor wir sie überholen konnten. Doch mit einer Invasion hatte das keine Ähnlichkeit, alles lief ruhig und geordnet ab, die Zivilisten stellten sich an den Straßenrand, um uns vorbeifahren zu sehen, einige winkten uns sogar freundlich zu.

Am Nachmittag kamen wir in Budapest an und quartierten uns auf dem rechten Ufer ein, hinter dem Schloss, auf dem Schwabenberg, wo die SS die großen Hotels requiriert hatte. Ich wurde provisorisch in einer Suite des Astoria untergebracht, mit zwei Betten und drei Sofas für acht Mann. Am nächsten Morgen ging ich auf Erkundung. In der Stadt wimmelte es von Deutschen: Offizieren der Wehrmacht und der Waffen-SS, Diplomaten des Auswärtigen Amts, Polizeibeamten, Ingenieuren der OT, Wirtschaftsfachleuten des WVHA, Agenten der Abwehr mit häufig wechselnden Namen. In dem ganzen Durcheinander wusste ich noch nicht einmal, wer mein unmittelbarer Vorgesetzter war, daher suchte ich Geschke auf, der mir mitteilte, er sei zum BdS bestimmt, aber der Reichsführer habe auch einen HSSPF ernannt, Obergruppenführer Winkelmann, der mir alles erklären werde. Doch Winkelmann, ein etwas korpulenter Polizeioffizier mit Bürstenhaarschnitt und vorspringendem Kinn, wusste noch nicht einmal von meiner Existenz. Er erläuterte mir, dass wir entgegen allem Anschein Ungarn nicht besetzten, sondern auf Ersuchen Horthys kämen, um die ungarischen Dienste zu beraten und zu unterstützen: Ungeachtet der Gegenwart eines HSSPF, eines BdS, eines BdO und verwandter Dienste hatten wir keinerlei exekutive Funktion, die ungarischen Behörden behielten alle souveränen Rechte. Jede ernsthafte Meinungsverschiedenheit müsste SS-Brigadeführer Dr. Veesenmayer, dem neuen Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches in Ungarn, oder seinen Kollegen vom Auswärtigen Amt vorgelegt werden. Laut Winkelmann befand sich auch Kaltenbrunner in Budapest; er war in Veesenmayers Salonwagen gekommen, der an Horthys aus Klessheim zurückkehrenden Sonderzug angehängt worden war, und verhandelte mit Generalleutnant Döme Sztójay, dem ehemaligen ungarischen Botschafter in Berlin, über die Bildung einer neuen Regierung (Kállay, der gestürzte Ministerpräsident, hatte sich in die türkische Gesandtschaft geflüchtet). Ich hatte keinen Grund, Kaltenbrunner aufzusuchen, und meldete mich stattdessen in der deutschen Botschaft: Veesenmayer war beschäftigt, daher wurde ich von seinem Geschäftsträger Legationsrat Feine empfangen, der sich über meinen Auftrag unterrichten ließ, mir vorschlug abzuwarten, bis sich die Situation geklärt hatte, und mir riet, mit der Botschaft in Verbindung zu bleiben. Was für ein Durcheinander!

Im Astoria traf ich Obersturmbannführer Krumey, Eichmanns Vertreter. Er hatte sich schon mit jüdischen Gemeindesprechern getroffen und zeigte sich äußerst zufrieden. »Sie sind gleich mit ihren Koffern erschienen«, berichtete er, herzlich lachend. »Aber ich habe sie beruhigt und ihnen gesagt, dass niemand verhaftet würde. Sie hatten sich von der Hysterie der extremen Rechten schrecken lassen. Wir haben ihnen versprochen, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn sie mit uns zusammenarbeiteten, das hat sie beruhigt.« Er lachte wieder. »Sie denken vermutlich, wir würden sie vor den Ungarn beschützen.« Die Juden sollten einen Rat bilden; um ihnen keine Angst einzujagen – die in Polen verbreitete Bezeichnung Judenrat war auch hier genügend bekannt, um eine gewisse Angst hervorzurufen –, würde er Zentralrat heißen. In den folgenden Tagen, als die Mitglieder des neuen Rats dem Sondereinsatzkommando Matratzen und Bettdecken brachten – ich requirierte mehrere für unsere Suite –, und dann, nachdem wir entsprechende Forderungen gestellt hatten, auch Schreibmaschinen, Spiegel, Kölnischwasser, Damenwäsche und einige kleine, sehr hübsche Bilder von Watteau oder zumindest aus seiner Schule abgaben, hatte ich mit ihnen, vor allem mit Dr. Samuel Stern, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, eine Reihe von Besprechungen, um mir einen Eindruck von den verfügbaren Aktivposten zu machen. Juden beiderlei Geschlechts waren in ungarischen Rüstungsfabriken beschäftigt, und Stern konnte mir ungefähre Zahlen liefern. Doch hier zeigte sich sofort ein schwerwiegendes Problem: Alle kräftigen und gesunden jüdischen Männer, die nicht in einem kriegswichtigen Betrieb beschäftigt und im arbeitsfähigen Alter waren, wurden seit einigen Jahren zum Honvéd eingezogen, um in der Etappe in Arbeitsbataillonen zu dienen. Das stimmte, ich erinnerte mich, als wir in das noch von den Ungarn gehaltene Shitomir einrückten, hatte ich von diesen jüdischen Bataillonen gehört; meine Kameraden vom Sk 4a waren außer sich. »Mit diesen Bataillonen haben wir nicht das Geringste zu tun«, erklärte mir Stern. »Klären Sie das mit der Regierung.«

Einige Tage nach der Bildung der Regierung Sztójay verkündete das neue Kabinett nach einer einzigen elfstündigen Sitzung eine Reihe von antijüdischen Gesetzen, die die ungarische Polizei auf der Stelle umzusetzen begann. Eichmann sah ich selten: Er hatte ständig mit Behördenvertretern zu tun oder besuchte die Juden, interessierte sich laut Krumey für ihre Kultur, ließ sich ihre Bibliothek, ihr Museum, ihre Synagogen zeigen. Am Ende des Monats sprach er mit dem Zentralrat selbst. Sein ganzes SEK war ins Hotel Majestic umgezogen, ich war im Astoria geblieben, wo ich zwei Zimmer mehr hatte ergattern können, um darin Büros einzurichten. Zu der Besprechung war ich nicht geladen, aber hinterher kam ich mit Eichmann zusammen: Er wirkte sehr zufrieden mit sich und versicherte mir, dass die Juden zur Zusammenarbeit bereit seien und sich den deutschen Forderungen unterwerfen würden. Wir erörterten das Problem der Arbeitskräfte; die neuen Gesetze würden es den Ungarn ermöglichen, die zivilen Arbeitsbataillone aufzustocken – alle jüdischen Beamten, Journalisten, Notare, Anwälte, Buchhalter, die ihre Stellungen aufgeben müssten, könnten eingezogen werden, was Eichmann feixen ließ: »Stellen Sie sich doch einmal vor, mein lieber Dr. Aue, wie diese jüdischen Advokaten Panzergräben ausheben!« –, aber wir hatten keine Ahnung, wie viele die Ungarn uns abtreten würden; Eichmann befürchtete wie ich, dass sie versuchen würden, die besten für sich zu behalten. Doch Eichmann hatte einen Verbündeten gefunden: Dr. László Endre, einen Beamten des Komitats Budapest, einen fanatischen Antisemiten, den er nach Möglichkeit ins Innenministerium berufen lassen wollte. »Wissen Sie, wir dürfen den Fehler von Dänemark nicht wiederholen«, erläuterte er, den Kopf in seine große, dick geäderte Hand gestützt und an seinem kleinen Finger knabbernd. »Die Ungarn müssen alles von sich aus tun, sie müssen uns ihre Juden auf einem silbernen Tablett servieren.« Das SEK begann bereits in Zusammenarbeit mit der ungarischen Polizei und den Kräften des BdS Juden zu verhaften, die gegen die neuen Vorschriften verstießen; ein von der ungarischen Gendarmerie bewachtes Durchgangslager war in Kistarcsa, in der Nähe der Hauptstadt, eingerichtet worden, in dem bereits mehr als dreitausend Juden interniert waren. Ich blieb auch nicht untätig: Durch Vermittlung der Gesandtschaft hatte ich Verbindung zum Industrie- und Landwirtschaftsministerium aufgenommen, um dessen Auffassung in Erfahrung zu bringen; ich machte mich mit den neuen Gesetzen vertraut, wobei mir der Botschaftsexperte Herr von Adamovic half, ein liebenswürdiger intelligenter Mann, der aber von seinem Ischiasleiden und der Athritis fast gelähmt war. Währenddessen blieb ich in Verbindung mit meiner Dienststelle in Berlin. Speer, dessen Geburtstag auf denselben Tag wie der Eichmanns fiel, hatte Hohenlychen verlassen, um sich in Meran zu erholen; ich hatte ihm ein Glückwunschtelegramm und Blumen schicken lassen, aber keine Antwort bekommen. Ich hatte auch eine Einladung zu einer Arbeitstagung der Judenreferenten und Arisierungsberater erhalten, die Dr. Franz Six, mein allererster Abteilungsleiter im SD, in Schlesien durchführte. Er arbeitete jetzt im Auswärtigen Amt, half aber noch von Zeit zu Zeit im RSHA aus. Auch Thomas war eingeladen, ebenso wie Eichmann und einige seiner Fachleute. Ich richtete es so ein, dass ich mit ihnen reisen konnte. Unsere Gruppe fuhr mit dem Zug über Pressburg nach Breslau, wo wir in den Zug nach Hirschberg umstiegen; die Konferenz fand in Krummhübel statt, einem bekannten Wintersportort im Riesengebirge, jetzt großenteils von den Dienststellen des AA belegt – unter anderem auch der von Six –, die der Bombenangriffe wegen aus Berlin evakuiert worden waren. Man brachte uns in einem Gasthaus unter, das aus allen Nähten platzte; die neuen Baracken für das AA waren noch nicht fertig. Ich freute mich, Thomas wiederzusehen, der vor mir angekommen war und die Gelegenheit nutzte, um Ski zu laufen mit jungen hübschen Sekretärinnen und Assistentinnen – unter anderem einer jungen Russin, mit der er mich bekannt machte; sie alle schienen nicht allzu viel zu tun zu haben. Eichmann traf Kameraden aus ganz Europa wieder und spielte sich mächtig auf. Die Tagung begann am Tag nach unserer Ankunft. Six eröffnete die Debatte mit einer Rede über »Aufgaben und Ziele der antijüdischen Auslandsaktion«. Er beschrieb uns die politische Struktur des Weltjudentums und versicherte, das Judentum in Europa habe seine biologische und gleichzeitig seine politische Rolle ausgespielt. Außerdem flocht er eine interessante Abschweifung über den Zionismus ein, der damals in unseren Kreisen noch nicht recht bekannt war; Six vertrat die Ansicht, die Frage der Rückführung der in Palästina verbliebenen Juden müsse der arabischen Frage untergeordnet werden, die nach dem Krieg an Bedeutung gewinnen würde, vor allem wenn sich die Briten aus einem Teil ihres Empire zurückziehen würden. Nach ihm hielt ein Fachmann des Auswärtigen Amts, ein gewisser von Thadden, ein Referat mit dem Titel »Die judenpolitische Lage in Europa, Übersicht über den Stand der antijüdischen Exekutivmaßnahmen«, in dem er die Auffassung seines Ministeriums darlegte. Thomas sprach von den Sicherheitsproblemen, die durch die jüdischen Aufstände des Vorjahres aufgeworfen worden waren. Andere Fachleute oder Berater schilderten die aktuelle Lage in den Ländern, in denen sie Dienst taten. Doch der Höhepunkt der Tagung war Eichmanns Rede. Der ungarische Einsatz schien ihn zu inspirieren, er entwarf uns nahezu ein Gesamtbild der antijüdischen Operationen, wie sie sich seit den Anfängen entwickelt hatten. Rasch ließ er das Scheitern der Gettoisierung Revue passieren und kritisierte die Wirkungslosigkeit und das Durcheinander der mobilen Operationen: »Gleichgültig, mit welchen Erfolgen sie zu Buche schlagen, sie bleiben vereinzelt, sie ermöglichen zu vielen Juden, zu fliehen, in die Wälder zu gelangen, um sich den Partisanen anzuschließen, und sie untergraben die Moral der Truppe.« Der Erfolg im Ausland hänge von zwei Faktoren ab: der Mobilisierung der einheimischen Behörden und der Kooperation oder sogar Kollaboration der Vertreter der jüdischen Gemeindevorstände. »Um einen Eindruck davon zu bekommen, was geschieht, wenn wir selbst versuchen, die Juden in Ländern zu fassen, in denen wir nicht über ausreichende Mittel verfügen, brauchen wir uns nur das Beispiel Dänemark vor Augen zu führen, ein totaler Misserfolg, Südfrankreich, wo wir, selbst nach der Besetzung der ehemaligen italienischen Zone, höchst mäßige Erfolge erzielt haben, und Italien, wo Volk und Kirche Tausende von Juden verstecken, deren wir nicht habhaft werden … Die Judenräte ermöglichen uns eine beträchtliche Personalersparnis, und sie spannen die Juden selbst für die Aufgabe ihrer Vernichtung ein. Natürlich haben die Juden ihre eigenen Ziele, ihre eigenen Träume. Aber die Träume der Juden nutzen uns auch. Sie träumen von maßloser Bestechung, sie bieten uns ihr Geld und ihr Gut an. Wir nehmen dieses Geld und Gut, und wir führen unsere Aufgabe fort. Sie träumen von wirtschaftlichen Bedürfnissen der Wehrmacht, von dem Schutz, den ihnen Arbeitspapiere gewähren, und wir, wir nutzen diese Träume, um unsere Rüstungsfabriken personell zu versorgen, um uns die notwendigen Arbeitskräfte für den Bau unserer verzweigten unterirdischen Anlagen zu verschaffen und um uns auch die Schwachen und die Alten übergeben zu lassen, die unnützen Esser. Aber machen Sie sich eines klar: Die Ausmerzung der ersten Hunderttausend Juden ist sehr viel leichter als die der letzten Fünftausend. Schauen Sie sich an, was in Warschau geschehen ist und bei den anderen Aufständen, von denen uns Standartenführer Hauser berichtet hat. Als der Reichsführer mir den Bericht über die Kämpfe in Warschau schickte, schrieb er dazu, es gelänge ihm nicht zu glauben, dass Juden in einem Getto derartigen Widerstand leisten könnten. Und doch hat unser viel zu früh verstorbener Chef, Obergruppenführer Heydrich, das schon vor langer Zeit begriffen. Er wusste, dass die stärksten Juden, die widerstandsfähigsten, gerissensten, schlauesten allen Selektionen entgehen und am schwersten zu vernichten sein würden. Nun bilden aber genau sie den vitalen Keim, aus dem das Judentum wieder hervorwachsen könnte, die bakterielle Zelle der jüdischen Erneuerung, wie der verstorbene Obergruppenführer sagte. Wir führen den Kampf von Koch und Pasteur lediglich weiter, wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben …« Seine Worte wurden mit donnerndem Applaus aufgenommen. Glaubte Eichmann das wirklich? Ich hörte ihn zum ersten Mal derartig sprechen, ich hatte den Eindruck, dass ihm seine neue Rolle zu Kopf stieg, er sich hinreißen ließ und ihm das Spiel so sehr gefiel, dass er ganz darin aufging. Trotzdem, seine sachlichen Kommentare waren keineswegs dumm, es war deutlich zu merken, dass er alle vergangenen Erfahrungen aufmerksam analysiert und daraus die wichtigsten Lehren gezogen hatte. Beim Abendessen – Six hatte aus Höflichkeit und in Erinnerung an alte Zeiten Thomas und mich zu einem kleinen privaten Souper eingeladen – äußerte ich mich lobend über Eichmanns Rede. Doch Six, der seine griesgrämige und deprimierte Miene überhaupt nicht mehr loswurde, beurteilte sie weit negativer: »Keinerlei geistiges Interesse. Er ist ein ziemlich einfacher Mensch, ohne besondere Fähigkeiten. Natürlich ist er energisch und besitzt in den engen Grenzen seines Aufgabenbereichs auch gewisse Fähigkeiten.« – »Genau«, sagte ich, »ein guter Offizier, motiviert und auf seine Weise talentiert. Ich denke, er wird es noch weit bringen.« – »Das würde mich wundern«, warf Thomas trocken ein. »Er ist zu stur. Der Mann ist eine Bulldogge, ein begabter Handlanger, ohne jede Fantasie und unfähig, auf Ereignisse außerhalb seines Aufgabenbereichs zu reagieren und sich weiterzuentwickeln. Er hat seine Karriere auf den Juden aufgebaut, auf der Vernichtung der Juden, und das macht er ausgezeichnet. Doch wenn wir eines Tages mit den Juden fertig sein sollten – oder wenn der Wind sich drehen und die Vernichtung der Juden nicht mehr auf der Tagesordnung stehen sollte –, wird er sich nicht anpassen können, dann ist er verloren.«

Am folgenden Tag wurde die Konferenz mit unbedeutenden Rednern fortgesetzt. Eichmann blieb nicht, er hatte zu tun: »Ich muss zu einer Inspektion nach Auschwitz, dann nach Budapest zurück. Da unten tut sich was.« Ich selbst reiste am 5. April ab. In Ungarn erfuhr ich, dass der Führer gerade seine Einwilligung zur Verwendung jüdischer Arbeiter auf dem Reichsgebiet gegeben hatte: Da nun die Ungewissheit beseitigt war, sprachen die Männer Speers und des Jägerstabs alle Augenblicke bei mir vor, um in Erfahrung zu bringen, wann sie die ersten Schübe erwarten könnten. Ich sagte ihnen, sie müssten Geduld haben, die Operation sei noch nicht angelaufen. Eichmann kehrte fuchsteufelswild aus Auschwitz zurück und fluchte auf die Kommandanten: »Vollidioten, unfähige Schwachköpfe. Nichts ist für den Empfang vorbereitet.« Am 9. April … ach, wozu Tag für Tag auf diesen Einzelheiten herumreiten? Es ermüdet mich, außerdem langweilt es mich – und euch vermutlich auch. Wie viele Seiten habe ich schon mit diesen belanglosen bürokratischen Ereignissen gefüllt? So kann ich nicht mehr weitermachen: Eher fällt mir die Feder – oder vielmehr der Kugelschreiber – aus den Fingern. Vielleicht könnte ich eines Tages darauf zurückkommen; doch wozu soll ich diese schmutzige Geschichte mit Ungarn wieder aufwärmen? Sie ist ausführlich dokumentiert, von Historikern, die einen sehr viel umfassenderen Überblick haben als ich. Schließlich habe ich dabei nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Zwar bin ich einigen der Protagonisten begegnet, doch habe ich ihren Erinnerungen nicht viel hinzuzufügen. Die großen Intrigen, die folgten, vor allem die Verhandlungen zwischen Eichmann, Becher und den Juden, all diese Geschichten um den Freikauf von Juden gegen Geld, Lastwagen, all das, ja, das war mir mehr oder weniger bekannt, darüber habe ich diskutiert, ich habe sogar einige der beteiligten Juden kennengelernt, auch Becher, diese zwielichtige Figur, der nach Ungarn gekommen war, um Pferde für die Waffen-SS zu kaufen, und der sich dann unversehens, im Auftrag des Reichsführers, die größte Rüstungsfabrik des Landes, die Manfred-Weiss-Werke, unter den Nagel gerissen hatte, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen, weder Veesenmayer noch Winkelmann noch mich, und dem der Reichsführer anschließend Aufgaben übertragen hatte, die sich sowohl mit meinen als auch mit Eichmanns Aufgaben überschnitten, teils zu ihnen im Widerspruch standen, was, wie ich heute erkenne, eine charakteristische Methode des Reichsführers war, hier aber nur Zwietracht und Verwirrung stiftete, niemand koordinierte irgendetwas, Winkelmann hatte nicht den geringsten Einfluss auf Eichmann oder Becher, die ihn über nichts informierten, und ich muss gestehen, dass ich mich kaum besser verhielt als sie, ich verhandelte ohne Winkelmanns Wissen mit den Ungarn, vor allem mit dem Verteidigungsministerium, mit dem ich über General Greiffenberg, Veesenmayers Militärattaché, in Verbindung getreten war, um zu sehen, ob der Honvéd uns nicht auch seine jüdischen Arbeitsbataillone überstellen könnte, wenn nötig, mit der ausdrücklichen Zusage einer Sonderverköstigung, was der Honvéd natürlich kategorisch ablehnte, sodass uns Anfang des Monats an potenziellen Arbeitskräften nur noch dienstverpflichtete, in den Fabriken entbehrliche Zivilisten und deren Familien zur Verfügung standen, kurzum ein menschliches Potenzial von geringem Wert, einer der Gründe, dass ich diese Mission am Ende als totales Fiasko ansehen musste, aber nicht der einzige Grund, wovon noch die Rede sein wird, vielleicht auch ein wenig von den Verhandlungen mit den Juden, weil auch die meinen Aufgabenbereich im Endeffekt mehr oder weniger berührten, oder, um genauer zu sein, ich bediente mich, nein, ich versuchte, mich dieser Verhandlungen zu bedienen, um meine eigenen Pläne voranzutreiben, mit bescheidenem Erfolg, wie ich gerne zugebe, aus einer Vielzahl von Gründen, nicht nur dem gerade erwähnten, da war auch Eichmanns Haltung, die immer schwieriger wurde, ferner Becher, das WVHA, die ungarische Gendarmerie, alle mischten sie mit, müsst ihr wissen – egal, eigentlich wollte ich sagen, dass wir, wenn wir analysieren wollen, warum die ungarische Operation so klägliche Resultate für den Arbeitseinsatz brachte, immerhin meine vorrangige Sorge, all diese Leute und Institutionen in Betracht ziehen müssen, die alle ihr eigenes Spiel spielten, sich aber auch gegenseitig den Schwarzen Peter zuschoben, mir auch, da gab es keine löbliche Ausnahme, das könnt ihr mir glauben, kurzum, es war ein echter Saustall, ein totales Durcheinander, was am Ende dazu führte, dass die meisten deportierten Juden starben, will sagen, sofort vergast wurden, noch bevor sie zur Arbeit eingesetzt werden konnten, weil nur sehr wenige von denen, die nach Auschwitz kamen, arbeitsfähig waren, ein beträchtlicher Schwund von vielleicht 70 Prozent, niemand weiß es so recht, weswegen nach dem Krieg angenommen wurde, verständlicherweise angenommen wurde, dass es geradezu das Ziel der Operation gewesen sei, diese Juden zu töten, diese Frauen, diese Alten, diese properen, gesunden Kinder, und daher verstand niemand, warum die Deutschen, während sie dabei waren, den Krieg zu verlieren (aber das Gespenst der Niederlage zeichnete sich damals vielleicht noch nicht so deutlich ab, zumindest nicht aus deutscher Sicht), sich noch so darauf versteiften, das Massaker an den Juden fortzusetzen, beträchtliche Aktivposten, vor allem an Menschen und Zügen, zu mobilisieren, um Frauen und Kinder auszurotten, und da man es nicht verstand, schrieb man es dem antisemitischen Irrsinn der Deutschen zu, einem mörderischen Wahn, der herzlich wenig mit der Geistesverfassung der meisten Beteiligten zu tun hatte, weil es tatsächlich für mich, wie für viele Beamte und Experten, grundsätzlich und entscheidend darum ging, Arbeitskräfte für unsere Fabriken zu finden, einige Hunderttausend Arbeiter, die uns vielleicht ermöglichten, den Lauf der Dinge umzukehren, wir wollten keine toten Juden, sondern lebendige, kräftige, am liebsten männliche Juden, doch die Ungarn wollten die männlichen Arbeitskräfte oder zumindest einen Großteil von ihnen behalten, womit schon die Ausgangs-situation verfahren war, und dann kamen die miserablen Transportbedingungen hinzu, und Gott weiß, wie oft ich über diesen Punkt mit Eichmann gestritten habe, von dem ich die immer gleiche Antwort vernahm: »Dafür bin ich nicht verantwortlich, sondern die ungarische Gendarmerie, die befrachtet und proviantiert die Züge, nicht wir«, und dann war da noch Höß’ Starrsinn in Auschwitz, denn inzwischen hatte dieser, vielleicht wegen Eichmanns Bericht, Liebehenschel als Standortältesten wieder abgelöst, der nach Lublin abgeschoben worden war, sodass man es wieder mit Höß’ sturer Unfähigkeit zu tun hatte, die Verfahrensweise zu verändern, aber davon werde ich vielleicht später und eingehender berichten, kurzum, nur wenige von uns wollten wirklich, was geschehen ist, und doch, werdet ihr sagen, ist es geschehen, das ist wahr, und wahr ist auch, dass man all diese Juden nach Auschwitz schickte, nicht nur die, die arbeiten konnten, sondern alle, wohl wissend, dass die Alten und die Kinder vergast würden, so kommen wir also wieder auf die Anfangsfrage zurück, warum diese Verbissenheit, Ungarn von seinen Juden zu säubern, angesichts der Kriegsverhältnisse und allem anderen, und da kann ich natürlich nur Hypothesen anbieten, weil das nicht mein persönliches Ziel war, oder vielmehr, es fehlt mir hier an genauen Informationen, denn ich weiß natürlich, warum man alle ungarischen Juden deportieren (evakuieren hieß es damals) und die Arbeitsunfähigen sofort töten wollte, eben weil unsere höchsten Instanzen, der Führer, der Reichsführer, beschlossen hatten, alle europäischen Juden zu töten, das ist klar, das wussten wir, wie wir wussten, dass selbst die, die zur Arbeit eingesetzt wurden, über kurz oder lang sterben mussten, und die Frage nach dem Grund all dessen ist eine, über die ich schon viel gesprochen und auf die ich noch immer keine Antwort habe, denn die Menschen hegten damals alle möglichen Vorstellungen über die Juden, die Bazillentheorie des Reichsführers und Heydrichs, eine Theorie, die bei der Tagung in Krummhübel von Eichmann zitiert worden war, für den es aber meiner Meinung nach eine fixe Idee war, die These von den jüdischen Aufständen, die von der Spionage und der Fünften Kolonne in Diensten der näher rückenden Feinde, eine These, von der große Teile des RSHA besessen waren und die sogar meinen Freund Thomas beunruhigte, Angst auch vor der jüdischen Allmacht, an die manch einer immer noch felsenfest glaubte, was im Übrigen zu komischen Verwechslungen führte, wie Anfang April in Budapest, als es erforderlich war, zahlreiche Juden auszuquartieren, damit ihre Wohnungen geräumt wären, und als die Sipo die Schaffung eines Gettos verlangte, was die Ungarn ablehnten, weil sie Angst hatten, die Alliierten würden ihre Bombenteppiche unter Verschonung dieses Gettos rundherum abwerfen (die Amerikaner hatten Budapest bereits angegriffen, als ich mich in Krummhübel befand), woraufhin sie die Juden auf strategische Ziele, militärische wie industrielle, verteilten, was einige unserer Verantwortlichen sehr beunruhigte, hätte es doch, wenn die Amerikaner die Ziele trotzdem bombardiert hätten, bewiesen, dass das Weltjudentum nicht so einflussreich war, wie sie glauben machen wollten, und ich muss der Ehrlichkeit halber hinzufügen, dass die Amerikaner diese Ziele tatsächlich bombardiert haben, sodass sie nebenbei viele jüdische Zivilisten töteten, doch ich glaubte damals schon lange nicht mehr an die Allmacht des Weltjudentums, wie wäre es sonst möglich gewesen, dass sich in den Jahren 37, 38, 39 alle Länder weigerten, Juden aufzunehmen, als es nur darum ging, dass sie Deutschland verließen, was im Übrigen die einzige vernünftige Lösung gewesen wäre? Was ich sagen möchte, um auf die Frage zurückzukommen, die ich gestellt habe, denn ich bin etwas abgeschweift: Selbst wenn objektiv am Endziel kein Zweifel besteht, so ging es den meisten Beteiligten nicht um dieses Ziel, nicht dieses Ziel veranlasste sie, sich mit so viel Energie und Hartnäckigkeit in die Arbeit zu stürzen, sondern eine Vielzahl unterschiedlichster Beweggründe, und ich bin überzeugt davon, dass es selbst Eichmann trotz seiner unversöhnlichen Haltung im Grunde gleichgültig war, ob man die Juden tötete oder nicht, für ihn ging es nur darum, zu zeigen, was er zu leisten vermochte, seinen Wert unter Beweis zu stellen und die Fertigkeiten anzuwenden, die er entwickelt hatte, alles andere war ihm schnuppe, die Industrie ebenso wie die Gaskammern, nur eines war ihm nicht schnuppe: dass er anderen schnuppe wäre, und das war der Grund, warum er zu den Verhandlungen mit den Juden ein so saures Gesicht machte, doch ich komme noch darauf zurück, denn das ist doch recht interessant, und für die anderen gilt das Gleiche, jeder hatte seine Gründe, der ungarische Apparat, der uns half, wollte erreichen, dass die Juden Ungarn verließen, ihm war aber schnuppe, was mit ihnen geschah, und Speer, Kammler und der Jägerstab wollten Arbeiter haben und drängten die SS mit großem Nachdruck, ihnen welche zu liefern, aber ihnen war schnuppe, was mit denen geschah, die nicht arbeiten konnten, und dann gab es noch alle möglichen praktischen Beweggründe, ich beispielsweise konzentrierte mich allein auf die Frage des Arbeitseinsatzes, aber das war bei weitem nicht der einzige wirtschaftliche Aspekt, wie ich bei der Begegnung mit einem Experten unseres Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft erfuhr, einem sehr intelligenten jungen Mann, der in seiner Arbeit aufging und mir eines Abends in einem alten Budapester Kaffeehaus die ernährungstechnische Seite der Angelegenheit erklärte, dass nämlich Deutschland nach dem Verlust der Ukraine mit einem empfindlichen Versorgungsengpass zu rechnen habe, besonders bei Getreide, und sich deshalb an Ungarn gewandt habe, einen bedeutenden Produzenten, was im Übrigen ihm zufolge der Hauptgrund für unsere Pseudoinvasion gewesen sei, nämlich diese Getreidequelle zu sichern, und deshalb hätten wir 1944 von den Ungarn 450 000 Tonnen Getreide verlangt, 360 000 Tonnen mehr als 1942, was eine Steigerung um 400 Prozent bedeute, allerdings müssten die Ungarn dieses Getreide irgendwo hernehmen, denn sie hätten schließlich auch ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, und diese 360 000 Tonnen entsprächen nun genau der Menge, die man für rund eine Million Menschen brauche, was etwas mehr als die Gesamtzahl aller ungarischen Juden sei, und daher betrachteten sie, die Experten des Ernährungsministeriums, die Evakuierung der Juden durch das RSHA als eine Maßnahme, die Ungarn erlaube, einen Getreideüberschuss an Deutschland abzugeben, der unserem Bedarf entspreche, doch was das Schicksal der evakuierten Juden anging, die man nun anderswo ernähren musste, wenn man sie nicht tötete, dafür interessierte sich dieser alles in allem sehr sympathische, wenn auch etwas zahlenbesessene Experte nicht, waren damit doch andere Abteilungen im Ernährungsministerium befasst, die Ernährung von Häftlingen und anderen Fremdarbeitern in Deutschland war nicht seine Angelegenheit, denn für ihn war die Evakuierung der Juden die Lösung seines Problems, selbst wenn sie andernorts für einen anderen zum Problem wurde. Und er war kein Einzelfall, dieser Mann, alle waren wie er, auch ich war wie er, auch ihr wärt an seiner Stelle gewesen wie er.