Letzte Entscheidung

 

 

 

„Gut“, sagte Valleroy, als er das Geschirr abschüttelte. Er stopfte das weiße Hemd in seine Hose. „Wo sind deine Kleider?“

Aisha blickte auf ihr weißes Totenhemd hinunter. „Sie haben mich gezwungen, sie im Umkleideraum am Ende des Korridors zurückzulassen.“

Ihre Blicke schienen unkonzentriert. Sie schwankte, stand kurz vor der Ohnmacht. Valleroy legte seinen Arm um ihre Schultern, stützte sie, wobei er sich selbst dafür verfluchte, daß er trotz allem Zeit fand zu bemerken, wie gut sich das anfühlte.

Mit der anderen Hand ergriff Valleroy eines der Geschirre. Es stellte eine gute Waffe dar. „Holen wir deine Kleider. So angezogen kommst du nicht weit.“

Sie fanden ihre Sachen in einem angrenzenden Raum. Rasch kleidete sie sich an, während er auf und ab ging. „Wir müssen uns drei von ihren Pferden stehlen und den Rest ausschalten. Weißt du, wo sie das Gas aufbewahren, das sie für dich verwendet haben?“

„Dieses Wahnsinnszeug?“

„Ja, oder das Schlafgas.“

„Nun, es war in dem Raum im rückwärtigen Teil dieses Gebäudes gestapelt, im Parterre.“

„Gut. Wir kommen daran vorbei, wenn wir zu den Ställen gehen. Versuchen wir es.“

„Es ist zwecklos. Sie werden unsere sich bewegenden Selyn-Felder entdecken.“

„Vielleicht. Aber wir können nicht einfach dasitzen und abwarten, bis sie uns holen und es wieder versuchen!“

„Das nehme ich an!“ Für Valleroy sah sie wie eine verwelkte Rose aus, auf der man zu oft herumgetrampelt war. Ihre Augen waren eingesunkene blaue Flecken.

„Kannst du es schaffen?“

„Wenn nicht, wirst du mich einfach zurücklassen müssen.“

Valleroy biß sich fest auf die Lippe und ging die Treppe hinunter voraus. Andles Befehl hatte das Gebäude geleert. Der Raum mit den Gaszylindern war nur mit einem einfachen Schließmechanismus an der Tür gesichert, den Valleroy sprengte, als er sich zum vierten Mal mit voller Kraft dagegen warf. Drinnen fand er das Verhörzentrum der Menschenjäger vor … einen Raum, von dem er wußte, daß er für Aisha schreckliche Erinnerungen enthielt. Er schickte sie in die andere Richtung zurück. „Geh und beobachte die Vordertür, das ist die neben dem Büro dort hinten. Ich hole den Zylinder.“

Wortlos gehorchte sie, und Valleroy betrat diesen abschreckenden Schauplatz, der dem Operationsraum eines Krankenhauses so ähnlich sah, jedoch kein solcher war. An einer Wand entdeckte er ein Regal mit Glaszylindern, mit Farbstreifen und auf Simelisch beschriftet. Aber die Worte waren ihm alle unbekannt. Vage erinnerte er sich an den Zylinder, den sie benutzt hatten, um Aisha schlafen zu legen. Er hatte purpurne Streifen getragen. Nach einer kurzen Suche fand er einen solchen am Ende der Reihe. Er war größer als derjenige, den er gesehen hatte, und es fehlte die daran befestigte Gesichtsmaske. Aber es gab einen Ventilmechanismus, den zu öffnen er sich zutraute.

Mit dem überraschend schweren Zylinder auf der einen Schulter und der Gurtwaffe auf der anderen gesellte er sich an dem Ausgang, der den Ställen am nächsten lag, wieder zu Aisha. Sie hielt einen Schlüsselbund hoch. „Schau mal, was ich im Büro gefunden habe.“

Valleroy riß ihn an sich und starrte ihn aufmerksam an. „Die Schlüssel zu den Käfigen!“ Er stellte den Zylinder auf dem Boden ab und suchte die Schlüssel durch. Jeder einzelne war numeriert. Valleroy hatte die auf die Falltür von Klyds Käfig gemalte Nummer gesehen. Wenn er einen finden konnte, der paßte … vielleicht … Drei Viertel um den Ring herum fand er ihn, riß ihn herunter und steckte ihn in seine Tasche. „Danach werden wir einen Spurt hinlegen müssen. Glaubst du, daß du in der Lage bist, ein Pferd zu satteln?“

„Ich werde es schaffen, oder ich reite ohne Sattel.“ Sie glitt an ihm vorbei und rannte aus der Tür, bevor er auch nur eine Bewegung machen konnte.

Als er sich in die schattige Dunkelheit des Stalles duckte, war sie bereits in der nächsten Box und sattelte einen hübschen Wallach, der schlank und schnell aussah. Ihr Haar hing in klatschnassen Strähnen um ihr verschwitztes Gesicht herum. Valleroy begann zu vermuten, daß sie von Andle verbrannt worden war, aber es gab jetzt nichts, was er gegen einen Transfer-Schock tun konnte.

Er stellte den Zylinder ab und riß einen Sattel für den Hengst ihm gegenüber hoch. Wäre ein Stallhelfer im Dienst gewesen, so wären sie schon längst angegriffen worden. Es hatte keinen Sinn, das Gebäude zu durchsuchen. Da gab es nur eine Handvoll besetzter Boxen. Das Lager war beinahe verlassen. Trotzdem konnte ein einziger Sime das Ende ihrer Flucht bedeuten. Valleroy zerrte den Sattelgurt fest und huschte zur nächsten Box. Ein weiterer edler Wallach stampfte ungeduldig. Die Runzi hatten einige der besten Pferde, die Valleroy je gesehen hatte.

Als die Trense angebracht war, nahm Valleroy die Zügel aller drei Pferde für Aisha zusammen. „Bring sie hinaus. Ich werde die anderen schlafen legen. Beweg dich.“

Valleroy mußte ihr in den Sattel helfen. Sie hatte kaum noch die Kraft, sich festzuhalten. Er klatschte ihrem Reittier auf die Flanke und drehte sich dann zu dem Glaszylinder um. Nach drei fieberhaften Versuchen erinnerte er sich daran, wie die Runzi-Botenröhre verschlossen gewesen war. Er fand drei eingelassene Sicherheitsknöpfe, die gleichzeitig gedrückt werden mußten. Sie waren dafür gedacht, Tentakeln einen bequemen Zugriff zu gestatten, nicht jedoch normalen Fingern. Er mußte sie mit von einer Box abgebrochenen Splittern festklemmen, aber schließlich brachte er das Gas dazu, gleichmäßig herauszuzischen. Er hielt seinen Atem an und sprühte die besetzten Boxen ein, dann ließ er den Zylinder halb in der Krippe neben der Tür begraben zurück. Gleich darauf hetzte er mit brennenden Lungen in die frische Luft hinaus.

Als er um die Ecke des Gebäudes bog, entdeckte er Aisha, wie sie mit den beiden zusätzlichen Reittieren neben sich wartete. Sie sackte im Sattel zusammen, die Augen zum Schutz vor dem hellen Sonnenlicht zusammengepreßt. Sie hatte den Sime nicht bemerkt, der gerade aus dem nächsten Kasernengebäude herausgekommen war und sie in einem Moment totalen Schreckens anstarrte.

Ohne sein Tempo zu verlangsamen, schwang sich Valleroy auf sein Pferd, trieb es zu vollem Galopp an, stürmte auf den unglücklichen Menschenjäger zu und schwang die Geschirrgurte wie ein Lasso in der Luft. Einen Sekundenbruchteil bevor das pfeifende Gewirr von Gurten über seinen Kopf fiel, raffte der Sime seinen Verstand zusammen – da war wirklich ein Gen, der ihn angriff – und setzte sich in Bewegung. Aber selbst die gesteigerte Geschwindigkeit eines Simes konnte den Vorteil der Überraschung nicht mehr ganz wettmachen.

Eine Schlinge des Geschirrs legte sich um den Hals des Menschenjägers, und unmittelbar dahinter kam Valleroy, der sich aus der Höhe des Pferderückens auf den Sime herunterstürzte und ihn zu Boden zwang. Es war pures Glück, daß Valleroy auf dem Rücken des Menschenjägers landete, wo ihn die stählerne Tentakel nicht sofort in den Griff bekommen konnte. Er zog den maximalen Vorteil aus diesem flüchtigen Augenblick und riß an der Schlinge. Das dumpfe Knacken des Simes-Rückgrats war reicher Lohn. Valleroy wartete nicht ab, um den Mann sterben zu sehen.

Nachdem er das Geschirr entwirrt hatte, sprang er wieder in den Sattel. „Aisha! Ich hole Klyd! Du reitest los – nimm die Straße nach Süden … und ich werde in ein paar Minuten hinter dir sein. Halte auf gar keinen Fall an!“ Als Valleroy an ihr vorbeipreschte, packte er die Zügel von Klyds Pferd und jagte zu den Käfigen, wobei er sich flach auf die Mähne des Tieres hinunterbeugte. Jetzt, nachdem sie entdeckt worden waren, war Schnelligkeit ihre einzige Hoffnung.

Und, dachte Valleroy, auf diese Schnelligkeit konzentriert zu sein, ist meine einzige Hoffnung. Er wagte nicht, an das zu denken, was er als Nächstes tun mußte oder was danach passieren mochte.

Valleroy stürmte aus der Gasse zwischen den Kasernengebäuden hinaus. Direkt neben Klyds Käfig zügelte der Gen das Pferd. Der Kanal stand noch immer an den Käfigstangen und rüttelte mit schwacher Entschlossenheit daran. Valleroy wußte, daß Klyd in keiner Weise mehr für seine Handlungen verantwortlich war. Wenn er auch nur die geringste Chance bekam, so würde ihn die Not hier und jetzt, ungeachtet der Gefahr, wieder eingefangen zu werden, zu einer Tötung zwingen.

Valleroy ließ die Geschirrgurte über den Hals des Pferdes herunterhängen, stand im Sattel auf und kletterte auf das Käfigdach hinüber. Er steckte den Schlüssel in das Schloß der Falltür. Dann lag er ausgestreckt und blickte über die Dachkante hinunter, bevor er die Tür öffnete. „Klyd, ich werde die Tür anheben. Dein Pferd steht bereit. Folge mir, und wenn wir aus dem Lager heraus sind, werde ich anhalten und dich aufholen lassen. Verstanden?“

Es gab keinen Funken des Erkennens in diesen gequälten Augen. Valleroy stieß ein Gebet aus, als er die Falltür hochwarf. Dann sprang er in den Sattel zurück und peitschte die Flanke seines Wallachs. Er hatte versucht, das langsamere Pferd für Klyd auszusuchen, aber das war keine sichere Methode, ein Rennen zu gewinnen.

Valleroy holte Aisha auf halbem Weg den Berghang hinunter ein, und als er sie passierte, gab er ihrem Pferd einen aufmunternden Klaps. Das Tier hob die Nüstern in den Wind und jagte noch schneller dahin.

Sie bogen von dem bergabwärts führenden Weg ab und tauchten in den dichten, immergrünen Wald ein. Baumstämme jagten vorbei und bildeten eine massive Wand. Aus dem direkten Sonnenlicht heraus, spürte Valleroy durch die dünnen Kleider hindurch, die er trug, das kalte Stechen des Bergwindes. Klyd holte zu schnell auf. Er vergaß die Kälte, peitschte sein Pferd zu einem letzten Spurt in die Sicherheit an. Während dieses Höllenritts dachte er an das voraus, was er würde tun müssen.

All ihr Glück bis zu diesem Augenblick wäre umsonst gewesen, wenn er Klyd nicht retten konnte, damit dieser Zeor wieder aufbaute. Aber die Empfindungen jenes Morgens quälten ihn noch immer. Er wußte, daß seine einzige Chance zu überleben in seiner Bereitschaft lag, sein Leben für Klyd zu opfern. Aber es mußte eine echte Verpflichtung sein. Beim hypnotischen Rhythmus der Pferdehufe ging er die Argumente wieder und wieder durch.

Am Ende war es dieses eine Wort von Feleho Ambrov Zeor, das für Valleroy alles real machte. „Naztehr.“ Mit diesem Titel war er geehrt worden. Jetzt war die Zeit gekommen, sich diese Ehre zu verdienen. Und er wollte sie sich wirklich verdienen.

Er ließ Aisha vorausreiten. Als sie eine kleine Lichtung erreicht hatten, in der Strahlen dunstigen Sonnenlichts die dichte Finsternis durchbohrten, hatte er die Zügel angezogen, ohne sie zu warnen. Bis sie es gemerkt und sich umgedreht hatte, um zurückzukommen, hatte Klyd Valleroy eingeholt.

Die beiden Pferde standen schweißnaß schäumend da und bliesen Dampfwolken in die Stäbe aus Sonnenlicht. Die in der Höhe über ihnen weit ausladenden Baumkronen glichen so sehr dem Inneren einer Kathedrale, daß Valleroy dachte, dies sei ein schöner Ort, um zu sterben. Müde saß er ab, stand knöcheltief in duftenden Fichtennadeln und wartete auf den Kanal.

Mit einem ruckartigen Ausbruch von Bewegung glitt der Sime auf Valleroy zu, die Tentakel ausgestreckt, das Gesicht unter einer derartigen Anspannung verzogen, daß jeder unbedarfte Gen allein vor Grauen ohnmächtig geworden wäre. Aber in diesem Bruchteil einer Sekunde sah Valleroy kein auf Mord erpichtes wildes Raubtier vor sich, sondern seinen Partner, der Familie und Ansehen geopfert hatte und der jetzt verzweifelt um Hilfe bettelte, damit er die letzte Schmach für seinen Namen vermeiden konnte – die Tötung.

Etwas tief in Valleroys Innerem reagierte auf diese Bitte und sandte seine eigenen Hände vor, jenen Tentakeln entgegen. Er konnte nicht zulassen, daß Zeor entehrt wurde!

Als sich die triefenden Tentakel um Valleroys Arme schlangen, durchfuhr ihn ein Empfindungsschauer, fast so, wie der Stoß von Riechsalzen den Nebel der Bewußtlosigkeit beiseite räumt. Er war sich des quetschenden Lippenkontaktes kaum bewußt, der gleich darauf folgte. Diese schmerzhafte Klarheit der Sinne wuchs an, bis Valleroy durch einen Trick völliger Empathie in diesem Austausch Spender und Empfänger zugleich wurde.

Valleroys eigene Eingeweide wurden von der Not durchgewühlt, und irgendwie erkannte er sie als das, was sie war.

Als Reaktion auf diese Not in sich selbst schüttete Valleroy alles in ihm vorrätige Selyn aus. Mit wahnsinniger Verzweiflung nährte er dieses Verlangen, das zugleich so bodenlos und so intensiv sein eigenes zu sein schien.

Langsam nahm die Geschwindigkeit dieses Entzugs ab. Das Verlangen ebbte ab, Valleroy erfuhr eine doppelte Befriedigung, die beide Hälften von ihm beschwichtigte und ihn vor Erschöpfung in die tiefste Dunkelheit hinunterzog, die er je geschaut hatte.

Es war nicht die Dunkelheit der Besinnungslosigkeit … nicht ganz. Es war eine Dunkelheit der Trennung. Die Dunkelheit der Spaltung. Die Dunkelheit des Zerfalls. Die Dunkelheit, die einem gefährlich grellen Lichtblitz folgt. Er war allein, war wieder nur ein Ich, und da war nur der Schmerz wunder Muskeln ohne das Bewußtsein der glitzernden Nahrung Selyn. Die Selyn-Nager war verschwunden. Sein Körper konnte nicht einmal mehr das stärkste Feldgefälle spüren. Sogar – und jetzt wußte er, was dieser Ausdruck bedeutete – die Selur Nager war verschwunden. Er fröstelte kurz, abgetrennt von einer höheren Wirklichkeit, die mit einem kurzen Blitz für ihn zur Norm geworden war.

Er öffnete die Augen und stellte fest, daß er auf den Fichtennadeln lag. Neben ihm saß Klyd mit gekreuzten Beinen, die Stirn gerunzelt, und hielt sanft seine Hand. Das Gesicht des Kanals hatte seinen lebhaften, jugendlichen Glanz zurückgewonnen, und seine Augen waren wieder von Vernunft erhellt.

Tränen brannten in Valleroys Augen.

„Wir haben es geschafft!“

„Wir haben es geschafft, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, was wir geschafft haben. Noch nie zuvor habe ich so etwas gefühlt.“

„Was es auch war, es hat nicht weh getan.“

„Offenbar nicht“, sagte Klyd und lächelte so, daß seine kantigen Züge weich wurden. „Kannst du stehen?“

Valleroy setzte sich auf, überrascht, daß er nicht den geringsten Hauch der Qual spürte, die seine ersten Tage und Nächte in Zeor gepeinigt hatte. „Mir geht es gut“, sagte er, wobei er sich auf die Füße stemmte, wie es Klyd gleichermaßen tat.

Als er sich zu seiner vollen Größe hochreckte, kam Aisha herbeigerannt, die Arme weit ausgebreitet, um ihn zu umarmen. „Hugh!“ Sie schluchzte an seiner Schulter und ließ ihr volles Gewicht gegen ihn fallen. „Ich dachte, du wärst tot!“

„Ich bin froh, dich so froh darüber zu sehen, daß ich nicht tot bin. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, du Untier!“

Er küßte sie, und sie erwiderte seinen Kuß, als hätten sie gerade eben geheiratet. Nach einigen Augenblicken unterbrach Klyd. „Kann ich das so verstehen, daß Zeor ein weiteres Gen-Mitglied gewonnen hat? Der Sectuib eines Haushalts ist ermächtigt, Ehen zu schließen, müßt ihr wissen.“

Das Paar löste sich voneinander, als merke es jetzt gerade erst, daß es nicht allein war. Etwas sagte Valleroy, daß der Kanal ein noch intensiveres Bewußtsein von Aishas Weiblichkeit hatte als er selbst. Und nach all dem, was er über den Brauch des Haushalts gelernt hatte, wußte er, daß die Gene des Kanals so wertvoll waren, daß es ihm gestattet war, jede Frau zu nehmen, die er wollte – sooft ihm das gefiel.

Seltsam genug – Valleroy war nicht einmal eifersüchtig, als Klyd eine Hand an Aishas Wange legte. Aber wenn der Sime irgendwelche Hintergedanken im Hinblick auf sie hatte, so vergaß er sie sofort wieder. Sie wurde ohnmächtig.

Noch bevor sie ihre Augen halb geschlossen hatte, hatte Klyd sie langsam zu Boden gleiten lassen und führte eine sehr unpersönliche Überprüfung ihres Zustandes durch. „Sie ist leicht verbrannt worden“, erklärte er. „Sag mir, was bei Andle passiert ist.“

Valleroy erzählte es ihm und endete mit dem Zustand, in dem sie den Leichnam zurückgelassen hatten. Der Kanal war entsetzt. „Kein menschliches Wesen sollte das erleiden müssen. Wenn er ein Kanal ist, wird er Wochen brauchen, um zu sterben, und die Runzi werden nicht wissen, daß der Tod unvermeidlich ist, weil sie keine Kanäle haben, um ihn zu diagnostizieren. Daß die Hand Zeors hierin verwickelt werden mußte! Wird uns die Geschichte je vergeben?“

Valleroy sah tatsächlich Tränen in die Augen des Simes treten. „Andle war für den Tod deines Großvaters, deiner Frau, deines Erben verantwortlich – und für den Tod Felehos. Er hat verdient, was er bekommen hat.“

„Nein. Du hättest seinem Leiden ein Ende bereiten müssen.“

„Ich dachte, es wäre beendet. Es tut mir leid, wenn ich den Namen Zeors besudelt habe. Aber ich habe getan, was ich für richtig hielt.“

Über Aishas regungslose Gestalt hinweg streckte Klyd die Hand aus und ergriff die von Valleroy. „Wie kannst du nur fähig sein, eine Wut auf mich zu haben – nach dem, was wir gerade getan haben?“

Etwas von der tiefen Übereinstimmung, die sie beide im Transfer verschweißt hatte, verweilte noch in dieser Berührung. Valleroy sagte: „Ich bin nicht wütend auf dich.“

„Dann komm, laß uns deine Braut nach Zeor heimbringen. Ich habe zwei Totenfeiern zu halten. Wir werden eine Hochzeit brauchen, um uns alle daran zu erinnern, daß das Leben weitergeht. In ein paar Jahren wirst du das mit Andle vielleicht verstehen.“

„Wir können nicht mit dir nach Zeor gehen. Stacy wartet, und ich habe mir eine kleine Belohnung abzuholen. Ich denke, ich weiß jetzt, was ich damit anstellen werde. Wenn Aisha nicht verletzt ist …“

„Nein, mit ihr wird bald alles wieder in Ordnung sein. Sie ist wirklich eine außergewöhnliche Person. Du hast Glück.“

„Klyd, es tut mit leid wegen Yenava. Es war meine Schuld …“

„Nein, überhaupt nicht. Nicht mehr, als es meine Schuld ist, mit den Farris-Genen geboren worden zu sein. Solange ich lebe, gibt es noch die Chance, daß ein Erbe geboren werden wird. Diese Chance verdanken wir dir.“

„Ich fühle noch immer, daß ich Zeor mehr verdanke, als Zeor mir verdankt. Aber ich glaube, mir ist da eine Möglichkeit eingefallen, die Waagschalen auszugleichen.“

Aisha bewegte sich und öffnete die Augen. Sofort war Klyd ganz Arzt und Heiler, besänftigend, ermutigend, besorgt. Doch sie fegte das ungeduldig beiseite, wenngleich sie auch nicht versuchte, aufzustehen. „Welche Waagschalen auszugleichen?“

Valleroy machte einen tiefen Atemzug. „Aisha, willst du mich heiraten?“

„Natürlich. Ich habe mich schon vor mehreren Jahren dazu entschlossen. Aber du warst ja immer so schwer von Begriff. Welche Waagschalen gleichen wir aus?“

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Die der Gerechtigkeit vielleicht. Wie würde es dir gefallen, eine Untergrundverbindung über die Grenzen des Territoriums hinaus aufzubauen und den Rest deiner Tage damit zu verbringen, die Gesetze beider Seiten zu umgehen?“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!“

Valleroy erzählte ihr von dem Land und der Pension, die ihm versprochen worden war, und wie er den Rest seines Lebens mit Malen hatte verbringen wollen. „Ich könnte diese Ländereien im Grenzgebiet nehmen … vielleicht sogar an Zeor angrenzend … Möglicherweise gewähren sie ein paar Morgen mehr, weil Grenzland so billig ist. Dann könnten wir einen eigenen Haushalt gründen. Ich habe mir noch keinen Namen dafür überlegt …“

„Wie wäre es“, sagte Klyd, „mit Haushalt Rior?“

„Was bedeutet das?“ fragte Aisha.

„Vorgeschobene Stellung, Leuchtturm, Leuchtfeuer, manchmal auch Schiffsbug oder vorderster Späher einer Armee.“

„Ja“, sagte Valleroy, „das gefällt mir. Wir dürften wohl nicht in der Lage sein, Simes aufzunehmen, aber immerhin werden wir Kindern, die zu uns kommen, über die Grenze helfen können. Vielleicht können wir sie mit der Zeit davon abhalten, bei ihrem ersten Transfer zu töten. Wir könnten Gens, die aus dem Innen-Territorium entkommen sind, beistehen, sich unserer Lebensweise anzupassen. Ich weiß nicht … es gibt so viele Möglichkeiten.“

„Aufregende Möglichkeiten!“ sagte Aisha. „Wann fangen wir an?“

„Meinst du, du kannst jetzt wieder reiten?“ fragte Valleroy.

„Wir können nicht die ganze Nacht über hierbleiben. In diesen Bergen wimmelt es vermutlich nur so von Runzis.“

„Sie sind meilenweit entfernt. Für den Augenblick sind wir frei“, sagte Klyd. „Aber ich würde mir immer noch wünschen, ihr würdet mit mir nach Zeor kommen.“

„Ich bin meine Verpflichtungen bei Stacy eingegangen, bevor ich überhaupt von Zeor gewußt habe. Wenn ich ihm gegenüber mein Wort breche, was für einen Wert hat dieses Wort dann für Zeor?“

Klyd lachte, wobei er wehmütig den Kopf schüttelte. „Und du beklagst dich über Sime-Philosophie!“ Er half Aisha auf die Füße, dann trieben sie die Pferde zusammen.

Als der Kanal wieder aufgesessen war, sagte er: „Hugh, ich werde dich vermissen. Ich hoffe … du wirst Zeor oft besuchen.“

Valleroy lächelte. „Besonders dann, wenn du die Not hast? Du könntest mich nicht fernhalten. Ich muß wissen, ob wir das wieder vollbringen können!“

„Es war … einzigartig.“ Klyd streckte die Tentakel aus, berührte seine Fingerspitzen und begutachtete deren Festigkeit. „Es ist also eine Verabredung. Laß es dreißig Tage dauern, das Gefälle zu intensivieren, und wir werden es abermals versuchen.“

Valleroy fragte: „Was ist mit Denrau?“

„Er wird Zinter ausbilden.“

„Und danach? Wie lange können wir …“

Klyd wirkte verlegen. „Wir werden sehen. Mittlerweile mag Rior durch deinen Dienst Beistand erringen.“

Valleroy neigte formell den Kopf. „Rior dankt dem Sectuib Ambrov Zeor.“

„Es ist Zeor, das die Ehre erwirbt, einen neuen Haushalt zu fördern.“

„Ich bezweifle, daß uns das Tecton jemals anerkennen wird.“

Klyd lachte das freie, herzhafte Lachen eines Mannes, der keine Grenzen kennt. „Dann werdet ihr eben euer eigenes Tecton gründen!“

Valleroy lachte ebenfalls und war sich des dornenreichen Weges bis zur Verwirklichung dieser Prophezeiung momentan überhaupt nicht bewußt.

Aisha unterbrach das Lachen der Männer. „Klyd, Sie werden im Haushalt Rior stets willkommen sein … als wäre es Ihr eigener.“

„Weil es sein eigener ist“, berichtigte Valleroy. „Wenn der Sectuib Farris nicht gewesen wäre, hätte keiner von uns diesen Tag erlebt. Und unsere Enkel wären ungeboren gestorben.“

„Zelerods Weltuntergang ist noch nicht abgewandt, lediglich hinausgeschoben“, sagte Klyd. „Ich habe noch eine Menge Arbeit in Zeor zu erledigen. Und ich weiß nicht, wie ich deine Abwesenheit erklären soll.“

„Oh, sag einfach, daß ich ein Mädchen kennengelernt habe, das nicht im Innen-Territorium leben will. In ein paar Monaten werden sie alle das Warum verstehen.“

Klyd nickte. „Also auf ein Wiedersehen. Bis wir wieder zusammenkommen.“

Valleroy zog sein Pferd herum, damit er Knie an Knie neben Aisha reiten konnte. „Auf Wiedersehen – und viel Glück in Arensti.“

„Dort werde ich kein Glück brauchen. Ich habe den Siegerbeitrag.“

Die Pferde wirbelten die wohlriechenden Fichtennadeln mit einem brausenden Trommelwirbel auf, und so trennten sie sich. Die Gens ritten Richtung Hanrahan-Paß, und der einzelne Sime sah einem einsamen Beerdigungsgang entgegen. Die Zukunft war ihnen allen hinter Schleiern verborgen, so nebelverhangen wie das Sonnenlicht, dessen Strahlen die gewölbten Schatten jener Freiluftkathedrale durchdrangen, die jetzt für alle Zeiten durch das geheiligt war, was sich hier ereignet hatte.