Gefangenschaft

 

 

 

Die nächsten drei Tage waren sowohl für Klyd wie auch für Valleroy ein Alptraum. Größtenteils verging die Zeit für Valleroy in einem Dunst bedeutungsloser Eindrücke. Aber mehrere Ereignisse stachen doch mit einer vollkommenen Klarheit hervor, und diese blieben in der Erinnerung des Gens haften.

Als sie am Treffpunkt angekommen waren, hatte sie der Hordenführer seinem Vorgesetzten übergeben, dem Mann, der für die gesamte Begräbnis-Operation verantwortlich war. Bei dieser Armee gab es keinen Putz und Glanz, bemerkte Valleroy, aber die Disziplin war härter, als er es je irgendwo anders erlebt hatte.

Kaum waren sie angekommen, gab man ihnen warmes Essen und zu trinken, Besseres, als sie seit Tagen gehabt hatten. Ohne auf die schweren Ketten zu achten, begann Valleroy, es in sich hineinzuschaufeln, bemerkte dann aber, daß Klyd ihn beobachtete. Er schaute sich um und stellte fest, daß ihn auch die anderen Simes anstarrten. Versuchsweise scharrte er mit dem Löffel über den Teller, wobei er ihre Reaktion aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Es war kein vergiftetes Essen, nein. Aber eine Menge davon war allein für Simes. Er aß gierig, jedoch nur die Dinge, die er kannte.

Knapp bevor er sein Mahl beendet hatte, eskortierte eine andere Runzi-Gruppe einen neuen Gefangenen in das Lager. Es war das junge Gen-Mädchen, das bei ihnen in der Hütte Zuflucht genommen hatte. Sie war in einem derartigen Zustand der Hysterie, daß sie sie nicht einmal erkannte. Aber nicht das schreiende, sich wehrende Mädchen war es, das Valleroy schockierte. Es war auch nicht die Art ihrer Besitzübergabe. Es war Klyds Reaktion auf dies alles.

Sie wurde zwischen die anderen beiden Gefangenen in die Arena gestoßen. Mantel und Jacke wurden ihr heruntergefetzt, was ihre Haut der Kälte entblößte. Dann trat der Anführer der Menschenjäger vor, um sie zu untersuchen, und dabei las er offenbar ihr Feld ab. Er überblickte seine Männer, sonderte einen aus, der offensichtlich die Not hatte, und stieß die beiden zusammen – ein Banditenführer, der die Beute zuteilte.

Angewidert vor Faszination sah Valleroy zu, aber er beobachtete auch Klyd. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Kanals lähmte ihn. Klyd war ein unvoreingenommener Wissenschaftler, der einer Versuchsvorführung beiwohnte. Er war ein Chirurg, der eine Sezierung begutachtete. Er war ein Schauspieler, der einer Vorstellung zusah, um ihre künstlerische Wirkung zu beurteilen, der jedoch gegen jede emotionelle Beteiligung völlig immun war. Sein Gesicht zeigte nicht die Spur eines menschlichen Wesens, das einem Mord zusah.

Alles war innerhalb von ein paar Sekunden vorbei. Als der Sime näher kam, erreichte die Hysterie des Mädchens ihren Gipfelpunkt. Valleroy konnte blaue Flecken sehen, wo sie geschlagen worden war. Bitter dachte er daran, daß man sie wahrscheinlich auch vergewaltigt hatte. Als der Sime sie packte, Begierde in jeden Muskel geschrieben, rollten ihre Augen hoch. Valleroy glaubte, sie wäre ohnmächtig geworden und würde den Sime so um seine Angst-Ration betrügen. Aber der Nichtgetrennte berührte eine Stelle an ihrem Hinterkopf. Sie begann wieder, sich zu wehren, wild und verzweifelt. In diesem Augenblick schlug das Raubtier zu. Ihre rasende Bewegung machte es ihm unmöglich, in Lippenkontakt zu treten. Er nahm seinen fünften Punkt von ihrer Wange ab. Das Ergebnis war dasselbe. Ein Augenblick knochenknackender Starre, gefolgt von sofortigem Tod.

Der Mörder nahm den erschlafften Haufen Stoff und Fleisch lässig auf, ein winziges Bündel, und ging zu dem Massengrab des Schlachtfeldes davon, das gerade zugeschaufelt wurde.

Der Anblick, wie er sich dieses unwichtigen Stück Abfalls entledigte, prägte sich schmerzhaft für immer in Valleroys Gedächtnis ein. Aber die Miene auf dem Gesicht des Kanals war noch schlimmer. Klyds Gesichtsausdruck war etwas, für das man keine Vergeltung üben konnte. Es war kein Verrat, für den ein Gericht verurteilen konnte. Es war eine Desillusionierung, die Valleroys neu gefundene Ideale ins Chaos schleuderte.

Sein Verstand war aufgewühlt, Fragmente von Schönheit wurden verworfen, die gerade begonnen hatten, Bedeutung für ihn zu haben. Eine Sime-Gen-Union? Unmöglich. Die Haushalte unter einem verstärkten Tecton zusammengeschlossen, Zelerods Weltuntergang zu vereiteln? Warum sich die Mühe machen? Eine stolze Stellung, als der Gefährte eines Kanals zu dienen? Abstoßende Vorstellung. Er wollte schreien. Er wollte sich übergeben. Er wollte sich die eigene Kehle aufschlitzen.

Statt dessen marschierte er. Angekettet trottete er hinter einem pferdegezogenen Einsitzer her. Ein paar Fuß hinter ihm kam ein anderes Pferdegespann, noch ein Einsitzer, und danach Klyd, ebenfalls in Ketten.

Valleroys Kleider wurden staubverkrustet. Er war ungestüm froh, daß er Zeors Farben bedeckte. Er wollte diese Uniform herunterreißen und sie vergraben. Sein versteifter Knöchel lähmte vor Schmerz sein Bein. Er war froh darüber, weil das seine Gedanken von dem Jucken an der Stelle ablenkte, wo er sich die Blicke des Kanals auf seinem Rücken einbildete.

Er ließ sich ins Elend sinken, suchte Vergessen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Blicke zu konzentrieren. Wenn sie anhielten, um zu essen, ließ er den Teller vor sich einfach stehen. Schließlich kam ein Sime und stopfte ihm das Essen in den Mund. Er kaute und schluckte, weil er nicht den Willen hatte zu kämpfen. Es machte ihm nichts aus, wenn sie ihn vergifteten.

Sie bogen auf einen Holzfällerweg ab, der in süß duftende, immergrüne Wälder hinaufführte. Die Nächte wurden kälter, aber dem einsamen Gen wurde stets ein Platz ganz nahe am Feuer gegeben. Er bemerkte nicht einmal, daß es keinen gegen ihn gerichteten aktiven Sadismus gegeben hatte. Und was sie dem Kanal antaten, ging ihn nichts an.

Am dritten Morgen bogen sie um eine Kurve der alten Straße, von der Valleroy annahm, daß sie ein Werk der Alten sein mußte. Gleich darauf erreichten sie das Hauptlager der Runzi-Menschenjäger. Zu ihrer Rechten und ein wenig im Westen entdeckte Valleroy den Hanrahan-Paß. Ein tiefes, majestätisches, mit Nadelwald erfülltes Tal lag zwischen ihnen und dem Paß, aber es gab eine alte, gewundene Straße, die das Tal durchquerte; zwischen dem dichten Grün war sie eine kaum sichtbare, immer wieder unterbrochene Narbe. Links von ihnen, auf einer großen, ebenen Lichtung am Fuß einer gewaltigen Klippe, erstreckte sich das Lager.

Das war das erste Mal seit der Ermordung des Flüchtlingsmädchens, daß Valleroy wieder etwas deutlich bemerkte. Mit Mühe konzentrierte er seine Blicke. Sie betraten das Lager unter einem Bogen hindurch, auf dem Runzi-Symbole angebracht waren. Vor ihnen erstreckten sich zwei Reihen provisorischer Hütten auf gedrungenen Pfählen anstelle von Fundamenten. Diese Hüttenreihen endeten erst unmittelbar vor der Granitwand. Offensichtlich waren es Kasernen. Linker Hand waren Ställe und ein Verwaltungskomplex in ebenfalls provisorischen Bauten untergebracht. Rechts von ihnen stand eine Reihe dichtgedrängter, drohend leerer Käfige.

Das ganze Lager wirkte verlassen. Soweit Valleroy sehen konnte, waren keine Gens in den Käfigen und nur sehr wenige Pferde in den Ställen. Vor einem der Gebäude stieg ein wohlriechendes Rauchkräuseln auf, welches das Verpflegungsdepot bezeichnete. Das war das einzige sichtbare Lebenszeichen. Wenn Valleroy die Anzahl hinzurechnete, die mit ihnen ankam, so schätzte er, daß nicht mehr als hundert Bewohner in diesem für achtmal so viele plus Gefangene vorgesehenen Lager sein konnten.

Als sie durch den Torbogen kamen, wurden sie von zwei Sicherheitswachen gezählt, die daraufhin irgendwelche obskuren Daten in zerknitterten Notizbücher verzeichneten. Die Kolonne brauchte nur ein paar Augenblicke, um sich aufzulösen, da jeder Mann seine Aufgabe kannte und sie mit schneller Tüchtigkeit erledigte. Die beiden Gefangenen wurden anderen Wachen übergeben, die sie in numerierte Käfige stießen, als wären sie Säcke mit Kartoffeln für die Speisekammer. Es wurde ihnen nicht die geringste Gelegenheit gegeben, eine Flucht zu versuchen.

Valleroy mußte zugeben, daß sie besser behandelt worden waren, als Gens Sime-Gefangene behandelten. Da der Sime die gefährlichste Bestie auf dem Antlitz der Erde war, gaben sich Gens große Mühe, die Kraft der Gefangenen bei jeder Gelegenheit zu erschöpfen. Die Sime-Gefangenen wurden in Fesseln gehalten, was Valleroy jetzt als unmenschlich schmerzhaft erkannte, besonders für die Seitlichen. Ihnen wurde nichts zu essen oder zu trinken gegeben. Und sie wurden in kurzen Abständen verhört, bis sie starben, manchmal an Auszehrung, aber weit häufiger bei einem berserkerhaften Fluchtversuch.

Gen-Gefangene hatten nichts, was ihre Kerkermeister bedrohen konnte. Dennoch ließen die Simes in ihrer Wachsamkeit niemals nach. Kein Wunder, dachte Valleroy, daß es keine Gen-Gefangenen gab, die zurückkehrten und ihre Geschichte erzählten.

Das Rätsel des Nichtwiederkehrens war es, das den Pferchen der Menschenjäger ihre Aura höchstens Grauens verlieh. Die Wirklichkeit war bei weitem nicht so schlimm. Und auf eine gewisse Art ergab das einen Sinn. Dies waren Profis, die eine wertvolle Ernte einbrachten. Sie waren darauf bedacht, ihre Güter nicht zu verderben, bevor sie den Markt erreichten.

Die Käfige selbst waren rechteckige Kästen, durch eine dreifache Reihe von Stangen der Längsachse nach und durch zwei Dreifachreihen über der breiten Achse in sechs gleiche Verschlage unterteilt. Die Außenwände der Käfige bestanden aus doppelten Reihen von Stangen, eine Reihe fünfzehn Zentimeter von der anderen entfernt, und so versetzt, daß zwischen den Stangen kaum Platz freiblieb.

Die Decken und Böden waren aus festem Metall. Die gesamte Einheit war auf stummelartige, mit Rollen ausgestattete Beine montiert und sah ganz wie ein Zirkus wagen aus.

Die Wachen stellten eine Leiter am Kopfteil einer Käfigeinheit auf und trieben die Gefangenen einzeln hinauf. Der vorderste Wächter wählte aus einem klingenden Bund einen Schlüssel aus, der wie die anderen des Bundes einen numerierten Anhänger trug. Dann zog er eine Falltür im Dach des Käfigs auf. Zwei der anderen Wachen hievten Valleroy in das Loch hinunter. Dann ließen sie los. Er fiel einen Meter tief auf eine kalte Metallplattierung, wo er benommen liegen blieb, weil sein geschwollener Knöchel grellen Schmerz durch seinen Körper jagte.

Bis Valleroy seine Sinne wiedergefunden hatte, war Klyd im benachbarten Käfig eingesperrt, und alle Wächter bis auf den letzten waren gegangen, nachdem sie rings um die Käfigseiten bewegliche, durchsichtige Tücher aufgezogen hatten. Kurz darauf begannen Öffnungen im Boden heiße Luft in die Käfige zu blasen. Valleroy setzte sich hin, massierte seinen Knöchel und blickte sich um.

Das Innere des Käfigs war kahl, jedoch sauber. Die drei versetzt angebrachten Reihen von Stangen, die sein Abteil von den benachbarten trennten, boten beinahe eine Art Abgeschiedenheit, doch ohne die Wirkung einer Einzelzelle. Die Abstände zwischen den Stangenreihen maßen hier volle zwanzig Zentimeter. Sie waren so dicht aneinander gestellt, daß höchstens das Handgelenk eines Kindes zwischen sie passen mochte. Es gab keine Möglichkeit, daß Insassen benachbarter Käfige ihre Käfige zu einer Flucht vereinigen konnten.

„Hugh! Komm her!“

Das kaum hörbare Flüstern des Sime zerrte an Valleroys Nerven. Sein erster Impuls war, sich in die hinterste Ecke seines Käfigs zurückzuziehen. Aber bevor er sich bewegen konnte, fragte Klyd: „Ist dies Aisha?“

Das brachte Valleroy sich selbst zum Trotz auf die Füße. Er hatte ganz vergessen, daß sie irgendwo in diesem Lager sein mußte. Er schlurfte an die Stangen heran und sah den Kanal in den Käfig rechts von sich starren. Valleroy schloß ein Auge und bewegte sich hin und her, bis er eine schmale Sicht in den Käfig bekam, der nur eine Ecke mit seinem gemeinsam hatte. Wie auch immer, es genügte. Diese cremebraune Stirn, die gerade Nase und die unverwechselbaren Augenbrauen waren charakteristisch. Ihre Nachbarin war tatsächlich Aisha Rauf.

Doch sie lag da wie bewußtlos, ein knochenloser Haufen auf dem nackten Boden. Sie hatten sie endlich gefunden, aber es würde nichts nützen. „Sie ist tot!“ platzte Valleroy trotz seines Widerwillens, mit dem Kanal zu sprechen, heraus.

„Nein. Sie lebt, aber offenbar hat man sie unter Drogen gesetzt. Wenn sie aufwacht, wird sie mich fürchten, und die Menschenjäger werden zusammenkommen, um das Schauspiel der Schmach eines Kanals zu beobachten.“

„Dafür ist sie zu schlau. Du kannst nicht an sie herankommen, und außerdem bist du ebenfalls ein Gefangener. Wenn es das ist, was sie erwarten, dann steht ihnen eine Enttäuschung bevor.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich bin nur menschlich. Mit dir so nahe, doch unerreichbar, könnte ich noch vor dem Dunkelwerden zerbrechen.“

„Vielleicht genieße ich es, dich sterben zu sehen, so wie du es genossen hast zuzusehen, wie dieses arme Kind ermordet worden ist.“

„Niemand hat dieses Mädchen ermordet. Sie hat Selbstmord begangen.“

„Das ist richtig. Winde dich heraus. Verdreh die Worte. Mir ist es gleich, wie du es nennst. Ich habe die Miene auf deinem Gesicht gesehen!“

„Und was hast du in dieser Miene gesehen?“

„Neugier. Interesse. Ein kalter, berechnender Zuschauer bei einem … einem … Zirkus!“ All der Ekel quoll von neuem in Valleroy empor und ließ ihn vor Abscheu und Selbstmitleid zittern.

„»Neugier«, »Interesse«, »Berechnung« … das will ich zugeben. Aber ‚kalt’ … nein. Niemals. Der Unterschied zwischen dir und mir ist, daß ich einen Krieg führe, während du ein Flüchtling vor diesem Krieg bist. Jeder Offizier im Generalsrang nimmt in Kauf, daß einige aus seinen Truppen sterben müssen, wenn alle den Sieg erringen sollen. So sehr er das vielleicht auch will – er kann nicht versuchen, jedes beliebige Individuum zu ungunsten der Sache zu retten. Der Flüchtling lebt nur für sich selbst und muß die Reste seines eigenen Überlebens in Sicherheit bringen. Keine von beiden Rollen ist beneidenswert.“ Unsagbar müde glitt der Kanal zu Boden, wo er gleich einem weggeworfenen Spielzeug gegen die Stangen gelehnt saß.

Valleroy sagte nichts. Wieder geriet seine Welt aus den Fugen. Er hatte gelernt, Klyd zu vertrauen. Dann hatte er gelernt, ihn zu hassen. Jetzt fragte er sich, ob er nicht selbst derjenige war, den er hassen sollte. Er wußte, um was es bei einem Kriegskommando ging. Er sagte: „Aber sie war noch ein Kind …“

„Sie war ein Soldat im größten und längsten Krieg, den die Menschheit je geführt hat. Und wenn er vorbei ist, so wird man ihrer in meiner Familie gedenken, und wir alle werden sie angemessen ehren – für immer. Das verspreche ich.“

Gegen seinen Willen spürte Valleroy, wie ihn Klyds idealistische Vision von neuem in den Bann zog. Das Schlimmste dabei war, daß sie die Erinnerung daran zurückbrachte, was Klyds Tod hinsichtlich Zelerods Weltuntergang für eine Bedeutung haben würde; das brachte auch einen Teil von Valleroys Lebenswillen zurück.

„Hugh, verstehst du denn nicht? Ich konnte ihren Tod nicht sinnlos sein lassen. Ich mußte soviel wie möglich daraus lernen.“

„Lernen? Was? Daß Simes Gens töten?“

„Nein. Warum Simes überhaupt »töten«? Wenn ich wüßte, was es ist, das den Nichtgetrennten zum Töten veranlaßt, so könnte ich vielleicht lernen, diese Eigenschaft für ihn zu simulieren. Dann wäre es leichter, Simes dazu zu bringen, sich abzutrennen. Vielleicht könnten wir diese Technik eines Tages so gut beherrschen, daß es angenehmer wäre, zu einem Kanal zu gehen, als zu töten.“

Wieder Visionen. Valleroy widerstand diesem Zerren an seiner Vorstellungskraft. „Es würde keine Rolle spielen. Ihr wäret noch immer als Perverse verdammt.“

„Perverse sind schlüpfrig. Wenn Perversion für die Mehrheit normaler Leute billig, gewinnbringend und emotional zufriedenstellend ist, dann breitet sie sich aus, bis sie die Norm ist. Kannst du dir vorstellen, wie diese Welt aussehen würde, wenn das Töten als pervers angesehen wäre?“

„Und all das wolltest du lernen, indem du einer Tötung zusahst?“

„Es war eine Gelegenheit, die ich nicht sehr oft bekomme. Ich hätte eine Menge mehr lernen können, wenn es mir erlaubt gewesen wäre, alles aus nächster Nähe zu beobachten. Aber ich war nicht in der Verfassung, das zu tun. Und jetzt bin ich in einer noch schlimmeren Verfassung.“

Als Valleroy den Kanal jetzt mit anderen Augen betrachtete, sah er ein abgezehrtes, tief gefurchtes Gesicht, die Augen in dunkel gefärbten Abgründen der Verzweiflung eingesunken. „Ich habe nicht einmal bemerkt, was sie dir angetan haben.“

Klyd zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich ziemlich gut behandelt. Wenn sie mich unterwegs zur Raserei getrieben hätten, dann hätte ich eine Menge Schaden anrichten können, bis sie in der Lage gewesen wären, mich zu töten. Aber sie haben sich jede erdenkliche Mühe gegeben, zu zeigen, wie gut sie für dich sorgen. Wiederholt haben sie mir versprochen, daß ich dich haben würde, sobald wir angekommen seien, und damit haben sie diese Verzweiflung gebändigt. Standardverfahren.“

„Sie haben versprochen, daß wir …“

„Oh ja. Aber ich habe es nicht wirklich geglaubt. Und ich hatte recht. Siehst du nicht, was sie vorhaben?“

„Damit, daß sie uns nahe zusammensperren, aber nicht nahe genug zum Berühren? Mein Feld muß dich verrückt machen.“

„Tut es auch.“ Die entfernte Sanftheit seiner Stimme unterstrich die heftige Empfindung so, wie dies kein Vorzeigen von Qual gekonnt hätte. „Und sie werden kommen, um dem Schauspiel zuzusehen.“

„Wie lange noch, bis …?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe bereits die schwere Not, aber noch stehen mir für ein paar Tage Selyn-Reserven zur Verfügung. Ich werde lange vor dem Tod die Beherrschung verlieren. Hast du jemals eine Auszehrung miterlebt?“

„Ein- oder zweimal. In der Armee. Gefangene.“

„Gewöhnliche Simes. Schrecklich genug, aber schnell. Dies hier … wird nicht schnell gehen.“

Valleroy war nicht der Meinung, daß die Leiden, deren Zeuge er gewesen war, schnell beendet gewesen waren. Er war wegen der Erschießung des zweiten Simes, den sie gefangengenommen hatten, degradiert worden. „Vielleicht passiert etwas zu unseren Gunsten. Wir sind bald fällig für etwas Glück.“

„Wer gibt sich jetzt vagen Hoffnungen hin?“

Valleroy lachte, aber es kam zu rauh heraus. „Schuldig, General, Sir. Ich würde mich meiner Einheit gern wieder anschließen, Sir.“

Trotz der zunehmenden Pein in sich lächelte Klyd. „Du bist ein durch Patent ernannter Offizier in dieser Armee, Naztehr. Die Gefährten sind unser Elitekorps und unsere Geheimwaffe.“

Valleroy spürte, daß seine Ohren bei dieser unkomplizierten Einwilligung rot wurden. Es kam ihm vor, als seien sie immer bereit gewesen, ihn aufzunehmen, aber er hatte die Sache, die er am meisten wollte, immer wieder von sich gewiesen: für etwas über sein eigenes kleines Leben hinaus leben … für etwas Bedeutsames.

Es dauerte nicht lange, bis die Wache gewechselt und das Mittagessen ausgeteilt wurde. Nahe der Mitte der Außenwand seines Käfigs glitt ein Teil des Bodens zur Seite und machte ein vertieftes Abteil sichtbar. Hierin fand er einen zugedeckten Nachttopf, der stark nach Desinfektionsmittel roch, und einen mit warmem Essen behäuften Holzteller. Die Tasse und der Löffel waren ebenfalls hölzern und schmeckten durch das Desinfektionsmittel leicht bitter. Aber das Essen war gut und der Nachttopf willkommen.

Nachdem Valleroy fertig war, stellte er das hölzerne Geschirr in das Fach zurück und wartete. Kein Käfig war ausbruchsicher. Er war entschlossen, die schwache Stelle in diesem hier zu finden. Die Stangen waren es nicht. Sie waren fest in Boden und Decke eingesetzt, und es gab kein Anzeichen von Rost, der die Konstruktion schwächte. Valleroy wußte nicht, wie sie dieses Kunststück fertigbrachten, aber es schien nicht wichtig. Wenn er nicht ausbrechen konnte, würde er sich einen anderen Weg einfallen lassen müssen, um hier herauszukommen.

Das hieß, auf alles zu achten, ganz gleich wie unbedeutend es war. Eine Sache, die er bemerkt hatte, war, daß sie Klyd nur Brühe und Wasser gegeben hatten. Nicht weil sie ihn verhungern lassen wollten. Sie sahen einfach keinen Grund, einen Sime zu ernähren, der die Not hatte. Klyd auch nicht. Er rührte das Wasser kaum an, und an der Brühe schnupperte er nicht einmal. Für Valleroy bedeutete das, Klyd würde zu schwach zum Davonlaufen sein, falls sie eine Flucht bewerkstelligen konnten. Sie würden sich ein paar Pferde besorgen müssen.

Seine Geduld machte sich später am Vormittag bezahlt. Er paßte sorgfältig auf, wie die Wache gewechselt wurde. Die Mittagsablösung benutzte einen Schlüssel, der den gleitenden Teil des Bodens verriegelte und die Seite des Faches öffnete, aus dem er das hölzerne Besteck herausholte. Jetzt wußte Valleroy, wie die Vorrichtung funktionierte, aber damit war er der Flucht nicht näher. Offenbar war es unmöglich, beide Türen gleichzeitig geöffnet zu halten. Dies konnte er testen, indem er bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit seine Tür aufzudrücken versuchte.

Den Rest des Nachmittags verbrachte er mit der Untersuchung der Deckentür und der durchscheinenden Folien – es war dem Material, das die Kinder für ihre Treibhäuser verwendet hatten, sehr ähnlich. Es war auf Walzen gelagert und wurde wie ein Fenster-Rollo heruntergezogen. Am unteren Rand gab es eine Luftschlitz-Öffnung, die frische Luft hereinließ, und eine weitere entlang der Oberseite. Die warme Luft aus den Heizöffnungen machte die Käfige ziemlich erträglich, wenn nicht komfortabel.

Die Zelle war groß genug, um Gymnastik zu erlauben. Eine Möglichkeit, die Stangen zu erklettern, gab es nicht. Sie waren zu dicht gesetzt, um selbst einer kleinen Person zu gestatten, ein Bein darum zu bekommen, und sie waren so glatt poliert, daß Hände abrutschten. Und sollte es ein Gefangener wirklich bis zur Decke hinauf schaffen, so befand sich die Falltür noch immer gute vier Fuß entfernt in der Mitte des Käfigs.

Auch auf den Käfigen war ein Wächter stationiert. Jeder Flüchtige würde mit ihm ringen müssen, selbst in einer nebligen Nacht. Selyn-Felder waren für einen Sime genauso gut wie klare Sicht. Klyd konnte mit dem Wächter fertig werden, vorausgesetzt, er war in einer guten Verfassung. Aber der Kanal hatte den ganzen Tag damit verbracht, in der hintersten Ecke seines Käfigs zu liegen; seine Augen waren offen, doch er atmete mit einer erzwungenen Regelmäßigkeit. Es war eine unsichtbare, hoffnungslose Schlacht, die er austrug, doch eine entscheidende in Valleroys Krieg. Entkommen erschien ihm sinnlos, wenn er Klyd nicht nach Zeor und Aisha nicht zu Stacy zurückbringen konnte.

Beim Abendessen entschied Valleroy, daß die einzige Möglichkeit, jemals wieder aus diesem Käfig herauszukommen, diejenige war, die Menschenjäger dazu zu veranlassen, ihn herauszuholen. Dies schien ihm in dem Augenblick, in dem sie ihm in den Sinn kam, eine sehr kluge Idee zu sein, aber als er versuchte, eine Möglichkeit zu ersinnen, um sie auszuführen, merkte er, daß es einfach kein Argument gab, das er verwenden könnte und sie überzeugen würde.

Falls er krank wurde, würden sie ihn vermutlich einfach sterben lassen. Gefährten waren für die Tötung nicht zu gebrauchen, und sein Tod würde in Klyds Käfig voraussichtlich ein ziemliches Drama verursachen – also hatten sie nichts zu verlieren, wenn sie ihn sterben ließen. Mit den Wachen konnte er nicht sprechen, weil er nur ein Tier oder ein Perverser war.

Er hakte seine Liste von Gefangenentricks gerade zum viertenmal ab, als ein durchdringender Schrei die Stille zerfetzte und ihn hastig in die Ecke schickte, die er mit Aishas Käfig gemeinsam hatte. Obwohl Klyd den ganzen Nachmittag über in einer Halbtrance gewesen war, war er zuerst da, umklammerte die Stangen und starrte mit geweiteten Augen in den Nachbarkäfig.

Valleroy sah mit entsetzlicher Faszination zu, wie das willensstarke, mutige Mädchen, das er so sehr geliebt hatte, gleich einem kranken Tier in der hintersten Ecke ihres Käfigs kauerte. Sie zitterte in psychotischer Furcht, Speichel troff aus ihrem aufklaffendem Mund, die Augen quollen hervor. Und sie schrie ihr Grauen mit jedem Atemzug hinaus, bis ihre schöne Stimme nur mehr ein rauhes Krächzen war. Aber auch dann fuhr sie noch fort zu schreien, wie aus Gewohnheit … unbeseelt.

„Aisha!“ brüllte Valleroy immer wieder, aber es zeigte keine Wirkung, außer möglicherweise ihre Angst noch zu vermehren. Unfähig zu begreifen, was mit ihr geschehen war, wandte sich Valleroy an den Kanal.

Er fand Klyd ebenfalls zitternd, während Schweißperlen Rinnsale über sein tief gefurchtes Gesicht herunterzogen. Aber der Kanal schaffte es irgendwie, sich energisch genug zusammenzureißen und auf Valleroy zuzugehen. „Komm … hier herüber.“ Er ging voraus, an ihrer gemeinsamen Wand entlang, dann hockten sie sich an den Außenstangen nieder. Klyd sackte zu Boden, noch immer quälte ihn sichtbares Zittern. „Diese Angst! Hilf mir, Naztehr. Hilf mir.“

Valleroy versuchte, die Hand zwischen den Stangen hindurchzudrücken, aber sie blieb am Handgelenk stecken, so daß sie die mittlere Reihe von Stangen nicht mehr berühren konnte. „Das will ich, Sectuib. Aber ich kann dich nicht erreichen. Ich verstehe nicht, was sie bewegt. Ich weiß nicht, wie ich es beenden soll.“

Klyds Zittern legte sich unter dem Einfluß von Valleroys emotioneller Nager, aber das Feld des Gen war eine Folter anderer Art. Mit geschlossenen Augen legte Klyd den Kopf auf die Knie und sagte: „Man hat sie unter Drogen gesetzt. Ich habe davon gehört, aber nie wirklich geglaubt, daß es jemand tun würde. Eine von Drogen herbeigeführte Angst, benutzt, um das Töten zu würzen. Paßt zu Andles Charakter.“

Valleroy schüttelte benommen den Kopf. „Beinahe jedesmal, wenn ich feststellte, daß Simes auch nur Menschen sind, entdecke ich einen neuen Schrecken, schlimmer als jeder Aberglaube.“

„Dies hier ist neu, sogar für mich. Ich glaube, sie haben ihr eine Überdosis gegeben und müssen sie jetzt ruhigstellen, solange sie darunter leidet.“

„Muß immer noch überdosiert sein. Sie hat vor ihrem eigenen Schatten Angst. Sie wird an Herzversagen sterben.“

Wie auf ein Stichwort marschierte ein Trupp Wachen an die rückwärtige Seite des Käfigs heran. Drei von ihnen kletterten auf das Dach. Einen Moment später waren zwei davon in Aishas Käfig hinunter gesprungen und preßten eine Atemmaske auf ihr Gesicht. Ein purpurgeränderter Zylinder war an der Maske befestigt. Valleroy hörte das Zischen entweichenden Gases. Augenblicke später verfiel Aisha wieder in Bewußtlosigkeit.

Beide Wächter drehten sich um, sprangen zur Decke hoch und ergriffen den Rand der Öffnung. Jeder hievte sich so mühelos heraus, als ersteige er eine Treppe. Dann knallte die Falltür zu. Die Männer der Abteilung marschierten mit vielen Rückwärtsblicken auf Klyd davon. Die einzigen Worte, die Valleroy finden konnte, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern in diesem Moment zu beschreiben, waren »erwartungsvoll lüsterne Mienen«. Sie waren Sadisten, die sich auf einen Festschmaus vorbereiteten.

Als sie gegangen waren, wischte sich Klyd mit seinem Mantel das Gesicht ab und atmete ein wenig leichter.

„Sectuib, könntest du das schaffen?“

„Was?“

„Aus diesem Käfig da springen.“

„Wenn die Tür nicht von oben verschlossen wäre, gewiß. Das bedarf kaum der Steigerung. Aber sie werden diese Tür erst aufschließen, wenn ich unzweifelhaft tot bin.“

„Sobald ich die Gelegenheit dazu bekomme, schließe ich sie auf.“

Der Kanal starrte durch die Stangen auf die Bruchteile von Valleroys Gesicht, die er sehen konnte. „Und ich dachte, ich würde im Delirium reden. Besser, du schläfst etwas.“ Er zog sich hoch und wankte vorsichtig in die hintere Ecke zurück, wo er seine liegende Stellung wieder einnahm.

Valleroy war dankbar, daß sein Partner noch kämpfte. Aber man konnte nicht sagen, wann er aufgeben würde. Um das Feldgefälle zwischen ihnen zu minimalisieren, ging Valleroy in die entfernteste Ecke seines Käfigs und bereitete sich darauf vor, die Nacht mit Pläneschmieden zu verbringen. Aber er schlief mit dem eintönigen Pochen seines Knöchels ein.