Zähle die Tage meines Todes
wie ich die Tage meines Lebens zählte

 

 

 

Das Morgengrauen fand den zentralen Innenhof des Hauses Zeor mit der größten Versammlung angefüllt, die Valleroy bisher dort gesehen hatte. Er vermutete, daß sämtliche vierhundertsoundsoviel Mitglieder, alle ihre Kinder und die meisten der Kandidaten anwesend waren. Aber die Stimmung war düster, erfüllt von einer schwelenden Entrüstung, die allein von dem überwältigenden Kummer im Zaum gehalten wurde … Feleho war ein sehr beliebter Sohn Zeors gewesen.

Valleroy war sich des Zeor-Siegelringes sehr bewußt, der jetzt seine rechte Hand zierte, und er teilte ihre Gefühle. Streng geurteilt hatte er kein Recht auf diesen Ring, solange er Zeor nicht durch Klyd gespendet hatte. Insgeheim zweifelte Valleroy noch immer daran, ob er in der Lage sein würde, dies zu tun. Aber aufgrund des Ringes nahmen jene um ihn an, daß er ein formelles Gelöbnis abgelegt hatte, das sein Leben auf immer mit Zeor verband. Das erweckte in ihm denselben Kitzel gewagter Erregung wie Felehos Anrede „Naztehr“ das getan hatte.

Es war ein gutes Gefühl. Aber gleichzeitig ließ es ihn sich schuldig fühlen. Man sollte sich bei einem solchen Anlaß nicht gut fühlen.

Entschlossen richtete er seine Blicke auf den Sarg, der auf einer eilig errichteten Bahre in der Mitte des Hofes lag. Er war mit einem Tuch in schlichtem Blau verhängt … Zeors Blau. Die Sonne stieg bereits am klaren Himmel auf.

Hrel stand neben der Bahre. Er war in einen knöchellangen Umhang in Zeor-Blau, reich bestickt mit den Zeor-Symbolen, gehüllt. Er las aus einem vorbereiteten Text vor. „Dies ist der Anbruch des Ersten Tages in der Todeszählung von Feleho Ambrov Zeor. Möge es überliefert werden, daß er sich hingab, um einen Spender aus den Pferchen zu retten. Möge es weiter überliefert werden, daß er gestorben ist, weil seine Seitlichen abgetrennt wurden … abgetrennt oberhalb der …“

Hrel würgte an den Worten, und ein Keuchen rieselte durch die Menge der Trauernden. Valleroy sah Mütter ihre Kinder umklammern, als wollten sie sie vor einem ähnlichen Schicksal bewahren.

Klyd trat vor. Er legte eine Hand auf Hrels Schulter. Hrel hustete einmal, räusperte sich und fuhr fort. „Seit der Zeit von Rimon Farris wurden Grausamkeiten gegen uns verübt, um uns von der Verwirklichung unserer Ziele abzuhalten. Der Rolle von Märtyrern wird der Name von Feleho hinzugefügt werden, der aus seinem eigenen freien Willen Ambrov für Zeor wurde. Laßt seinen Tod unseren Mut nicht brechen. Laßt uns seine Last aufnehmen und weitertragen, so daß sein Tod seinen Feinden nicht wahrnehmbar sein wird.“

Es gab einen Augenblick der Stille. Dann setzte an zahlreichen Stellen rings um den Hof ein leises Singen ein. Es war eine Melodie, erfüllt von allem Schmerz, den die Menschheit je gekannt hatte.

Valleroy konnte die Worte nicht voneinander unterscheiden, bis diejenigen in seiner Nähe das Lied aufnahmen. Es war ein einziger Refrain, immer wieder zu Variationen der Grundmelodie wiederholt. „Heute ist der Erste Tag in der Todeszählung von Feleho Ambrov Zeor.“

Als die Sonne über das Dach aufstieg und ihre ersten Strahlen tastend in den Hof hinab schickte, hoben die Träger den Sarg an. In geordneten Reihen folgten die Menschen dem behängten Sarg auf demselben Weg durch die Räume, den Valleroy am gestrigen Morgen gegangen war, unmittelbar bevor er Feleho zum ersten und letzten Mal begegnete, und dann hinaus auf die frisch abgeernteten Felder.

Es war eine lange Strecke, weiter in das Gebiet des Haushalts hinaus, als Valleroy bisher vorgedrungen war. Er hatte nicht bemerkt, wie ausgedehnt die Ländereien waren. Sie kamen am Fabrikkomplex vorbei und gelangten auf eine Lehmstraße, die durch gepflegte Felder führte, die meisten nach der Ernte jetzt kahl. Die Prozession erreichte eine sanfte Anhöhe und betrat den Friedhof des Haushalts Zeor, der eine viel größere Fläche einnahm, als eine Gruppe von vierhundert Leuten beanspruchen würde. Es war ein wohlgepflegter Ort, beschattet von hohen Bäumen und von einem ordentlichen weißen Zaun mit einem bogenförmigen Tor geschützt.

Das Grab war in der Nacht zuvor frisch ausgehoben worden, und man hatte eine Gedenktafel vorbereitet. Als Valleroy über die ordentlichen Grabreihen hinweg schaute, sah er, daß etwa die Hälfte der Tafeln wie die Felehos aus dem dreiteiligen Symbol bestanden, andere jedoch nur aus einem Teil.

Jeder der Trauergäste warf eine Schaufel Erdreich auf den Sarg. Dann beendeten Hrel und Klyd die Aufgabe gemeinsam, ungeachtet des fliegenden Staubes, der ihre sauberen blauen Umhänge besprenkelte.

Valleroy stand auf der Seite, als Felehos Witwe, eine schlichte, aber tapfer beherrschte, schwer arbeitende Sime, Hrel für die Leitung dankte und ihren dreijährigen Sohn in den Haushalt zurückbrachte.

Sie durfte allein gehen, bevor irgendein anderer den Friedhof verließ. Valleroy dachte, dies müsse der einsamste Gang eines Lebens sein, und er entschloß sich, den Mann zu töten, der ihn notwendig gemacht hatte, selbst wenn es den Rest seines Lebens dauerte.

Die ferne Gestalt der Witwe wurde von den ungeschlachten Schatten des Fabrikkomplexes verschluckt. Die anderen begannen, sich auf das Friedhofstor zuzubewegen, nachdem sie Gräber von anderen, die ihnen lieb gewesen waren, besucht hatten. Einer nach dem anderen schenkten sie Klyd ein paar Worte, gelobten ihm unsterbliche Treue, dankten Hrel und gingen allein oder mit ihren Kindern jenen staubigen Weg entlang zurück.

Schließlich drehte sich Hrel zu Klyd um, wollte die Worte des Gelöbnisses sprechen, aber Klyd hielt eine Hand hoch, Tentakel deuteten auf Valleroy. Da er mehrere hundert Wiederholungen mit angehört hatte, schaffte er es, das Treuebekenntnis aufzusagen, ohne stottern, aber während seine Worte zu Klyd mit echter Ernsthaftigkeit gesprochen wurden, wurden sie, zu Hrel gesprochen, sinnlose Geräusche.

Der Sime schien es nicht zu merken. Seine ganze Aufmerksamkeit wirkte nach innen gekehrt, selbst als er Klyd seine Treue gelobte und sich auf den Heimweg machte.

„Ich verstehe, wie du das mit Hrel meinst“, sagte Valleroy, als sie endlich allein waren. „Es könnte wohl klappen. Aber weiß er, daß möglicherweise er die Ursache für Felehos Ermordung gewesen ist?“

„Wir hatten ein langes Gespräch miteinander. Wenn er die Ursache war, so weiß er das.“

„Ich bin froh, daß ich nicht an seiner Stelle bin.“

„Und er ist froh, daß er nicht an deiner Stelle ist.“

Valleroy tastete über die Grabtafel. „Sag mir – warum zwei Arten von Tafeln?“

„Das Dreiblatt wird verwendet, um die Gräber von Märtyrern zu kennzeichnen.“

Valleroy stieß einen Pfiff aus. „So viele!“

„Alle haben sich für unsere Prinzipien hingegeben. Das ist ein hoher Preis, in jeder Währung. Man wird sie nicht vergessen.“

Voller Unbehagen wechselte Valleroy das Thema. „Wieviel von diesem Land gehört zu Zeor?“

„In dieser Richtung“, sagte Klyd, wobei er nach Süden zeigte, wo das Gen-Territorium lag, „bis ganz zum Fluß. Dort drüben bezeichnen die Hügel unsere Grenze. Auf der anderen Seite der Hofgebäude liegt die Stadt Valzor. Von Valzor bis zum Fluß kennzeichnet nur unsere Zaunlinie Zeors Grenze.“

„Aber nur dieser kleine Teil ist kultiviert.“

„Wir dehnen die Fläche jedes Jahr aus, aber es geht nur langsam, wegen des Gesetzes. Wir können nur die aufnehmen, die wir ernähren können. Und es gibt eine Kopfsteuer auf jeden Gen, den wir behalten. Das Geld dient zur Unterhaltung der Pferche. Die Zahl der Simes, die sich uns anschließen, ist sehr klein. Aber trotz alledem wachsen wir. Eines Tages wird das gesamte Territorium abgetrennt sein. Es wird keine Zäune mehr geben, keine Grenzen und keine Perversen.“ Er machte einen tiefen Atemzug, als sammle er sich wieder von den Rändern eines großen Traumes. „Aber jener Tag liegt weit entfernt, und wir haben heute einen Auftrag zu erledigen, an diesem Ersten Tag in der Todeszählung von Feleho Ambrov Zeor.“

Als sie den Weg zum Hof zurückschritten, sagte Valleroy: „Ich bin heute morgen an den Ställen vorbeigegangen. Unsere Pferde werden inzwischen gesattelt bereitstehen. Du leitest eine straffe Organisation.“

„So muß es sein, Naztehr“, antwortete Klyd und schritt voraus, um allein zu gehen, wie es die anderen getan hatten. Es war eine fremde Sitte für Valleroy, aber er ehrte sie wie all die anderen. Zweifellos würde er die Bedeutung dessen eines Tages verstehen. Er folgte, wobei er zu Großvaters glänzenden Fenstern mit der Gewißheit hinaufblickte, daß ihn der alte Mann beobachtete, obwohl er fast blind war.

In Zeors Reisetracht gekleidet, mit robusten Reittieren aus Zeors Ställen, so nahmen sie die Straße über die Felder nordwestlich des Haushalts in Richtung dessen, was Klyd eine Haupt-Landstraße genannt hatte. Als sie diese gegen Mittag erreichten und sich genau nach Norden und Iburan wandten, war Valleroy ein wenig verblüfft festzustellen, daß es eine Kiesstraße war, die entlang eines Weges angelegt war, der vermutlich von den Alten stammte. Sie war entweder gerade oder ganz leicht gekrümmt, und sie verlief genau dort, wo sie wollte, wobei sie sich sogar tief in Hügel grub, um eben zu bleiben. Die Oberfläche bestand aus einer fremdartigen, pulverigen Substanz, offenbar dazu bestimmt, schnell zu trocknen, Pferdehufen guten Halt zu bieten und Wagenräder nicht zu behindern. Nur in der Mitte der Radfurchen war die Kiesgrundlage freigelegt. Die Gens, dachte Valleroy, konnten von den Simes bestimmt das eine oder andere über Straßenbau lernen.

Sie ritten gleichmäßig, Seite an Seite, wobei sie gelegentlich an einem Wagen oder einem anderen Reiter vorbeikamen. Einmal, als zwei schwerbeladene Kornwagen aneinander vorbeifuhren, mußten sie die Straße verlassen. Und mehr als einmal zogen ihre blauen Zeor-Umhänge neugierige Blicke auf sich oder verursachten in offenem Abscheu geschürzte Lippen.

Jeder andere Sime, dem sie begegneten, trug die bevorzugte Sime-Waffe, die lange, geschmeidige, über den Gürtel gewickelte Peitsche. Diese Nichtgetrennten ließen geringschätzige Blicke über Klyds bloße Hüften streichen, während der Kanal ihre Haltung mit einer offenkundig vorgetäuschten Unschuld ignorierte.

Entlang dieser Hauptschlagader waren auf beiden Seiten Bauernhäuser in die Landschaft getupft, und hier und da erblickte man die Silhouetten kleiner Städte. Valleroy sah das grüne Banner über einer solchen Ansammlung von Häusern wehen und wußte, daß es das Vorhandensein eines Pferchs bedeutete. In der weiten Ferne, am Hang eines Hügels hinter dem bannergeschmückten Gebäude, sah er grünbekleidete Arbeiter Getreide ernten – Gens, die ihre eigene Nahrung zogen, Zuchtmaterial.

Geschichten aus seiner Kindheit stiegen in seiner Erinnerung auf und quälten ihn. Er fragte: „Ist es wahr, daß man Drogen einsetzt, damit die Gen-Frauen in den Pferchen mehr Kinder gebären?“

Klyd warf ihm einen scharfen Blick zu, da er offensichtlich Valleroys wogende Empfindungen spürte. Er bog von der Straße ab, glitt aus dem Sattel und lockerte das Zaumzeug, damit sein Pferd grasen konnte. Valleroy folgte seinem Beispiel. Sie waren seit Stunden ununterbrochen geritten. Er war trotz der Erinnerung an das Begräbnis hungrig genug, um etwas zu essen.

„Die Gens dort werden gut behandelt“, sagte der Kanal, während er sein Mittagessen aus seiner Satteltasche grub.

„Gut behandelt?“ schnaubte Valleroy.

„Gewiß. Sie sind wertvolles Eigentum, oder etwa nicht?“ Klyd nahm die Feldflaschen und setzte sich zwischen ein paar Steinen nieder, von wo aus er einen ruhigen Tümpel am Rande eines Baches sehen konnte. Nur die Geräusche gelegentlich passierender Reiter schmälerten die Stille des warmen Altweibersommer-Nachmittags.

Auf Valleroys ungläubigen Blick hin fuhr Klyd fort: „Nur während der letzten paar Monate, nachdem sie bereits für die Verteilung gekennzeichnet worden sind, ist ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen nicht mehr wichtig. Aber selbst dann werden sie noch gut ernährt.“

„Du bist so schlimm wie all die anderen! Du sprichst rechtschaffen über Abtrennung, und dann debattierst du über sie …“ – er deutete mit einer Hand zu dem Weg hin, auf dem sie gekommen waren, dorthin, wo das grüne Banner kaum über die Anhöhe gesehen werden konnte, und dabei imitierte er unbewußt die Sime-Geste – „… als wären sie nur Vieh!“

Unbeirrt nahm Klyd einen Bissen von einem Laib Schwarzbrot, kaute und schluckte sorgfältig, bevor er antwortete. „Diese Leute sind auch nichts weiter als Tiere.“ Bei Valleroys empörtem Aufstehen mache der Kanal eine ungeduldige Geste. „Setz dich und iß. Vielleicht wirst du etwas lernen, wenn du lange genug still sein und zuhören kannst.“

Mürrisch setzte sich Valleroy wieder hin und biß in den Brotlaib. Das kuchenartige Brot war saftig und mit Flocken von Nußsubstanz und Fruchtstücken durchsetzt. Er fand die Feldflasche mit einem würzigen, sirupartigen Getränk gefüllt, das den Durst stillte, ohne übermäßig zu sättigen. Zwischen zwei Bissen sagte er: „Ich höre.“

„Diese Leute dort drüben …“ – Klyd zeigte mit einem graziösen Tentakel auf das ferne Banner – „… sind nicht deine Leute und sind es nie gewesen. Sie sind in den Pferchen geboren worden. Sie haben keine nennenswerte Sprache, keine Kultur und keine Kunst. Sie haben keine Religion und kaum so etwas wie moralische Leitlinien in ihrem Verhalten. Sie sind tatsächlich fast wie Tiere.“

Klyd hielt inne, um das einwirken zu lassen, und nahm einen kräftigen Zug aus seiner Feldflasche. „Das ist der Hauptgrund, weshalb die meisten Simes da draußen …“ – er machte eine ausgedehnte Handbewegung, die das gesamte Sime-Territorium einschloß – „… nicht glauben können, daß Gens wirklich Menschen sind. Wenn aber Gens keine Menschen sind, dann gibt es keinen Grund, sie nicht so zu töten, wie ihr Tiere schlachtet, um sie zu essen. Wenn Gens keine Menschen sind, dann sind Simes, die sich mit ihnen mischen, um so unglaublich geschickte Spender wie Denrau hervorzubringen und die Spender zu benutzen, weil sie das Töten vermeiden möchten, zweifellos Perverse von der schlimmsten Art. Wenn Gens keine Menschen sind, so folgert daraus, daß die wilden Gens gejagt und verwendet werden können, egal in welcher Weise dies genehm erscheint.

Bis die Kanäle aufkamen, glaubte man ernsthaft, alle Gens seien bloß Tiere … antropoide Kopien von Menschen. Aber dann fanden wir heraus, daß euer Volk, sich selbst überlassen, Sprache, Kultur, Kunst, Religion entwickelte … Alles, was auch wir haben, und vielleicht ein bißchen mehr. Doch es ist wahr, daß die seit Generationen in den Pferchen gezüchteten und aufgezogenen Gens diese Attribute nicht haben. Ich weiß dies, Hugh, weil es meine Aufgabe ist, sie zu nehmen und in Menschen zu verwandeln.

Und, Hugh“, sagte der Kanal und beugte sich leidenschaftlich vor, „wir haben Erfolg! Wir haben immer wieder gezeigt, daß auch der stumpfäugigste Bewohner der Pferche unter den richtigen Gegebenheiten zu einem echten menschlichen Wesen erblühen kann. Das ist der Grund, weshalb Andle und alle seine Anhänger eine solche Angst vor uns haben. Simes gefällt Mord nicht mehr als euch.“

„Was geschieht mit denjenigen in den Pferchen Geborenen, die den Wechsel durchmachen?“

„Die meisten von ihnen sterben beim Wechsel … An den Drogen, mit denen sie ihr ganzes Leben lang gesättigt worden sind. Die wenigen, die überleben, werden zu Pferch-Wächtern ausgebildet … Sie haben wenig Erinnerung an ihre Kindheit und sehr wenig Intelligenz. Nach dem Wechsel leben sie selten länger als zehn Jahre.“

Zynisch lächelte Valleroy. „Oh, ein notwendiges Übel?“

Klyd antwortete nicht und wich Valleroys Blick aus. Ausnahmsweise wünschte sich Valleroy, er könnte Klyds Empfindungen lesen. „Was ist mit den Gefangenen? Lehren sie nicht …“

„Gefangene werden nie mit dem Bestand gemischt. Man hat schon vor langer Zeit gelernt, daß das nur Gewalt hervorruft.“

„Also könnte Aisha unmöglich dort drüben sein?“ Valleroy konnte seinen Blick nicht von dem Banner losreißen.

„Nein, ausgeschlossen. Das ist ein von der Regierung unterstützter Betrieb. Wenn sie von den Runzi gefangengenommen worden ist und wenn sie noch lebt, dann steckt sie entweder irgendwo in der Wildnis in einem Menschenjäger-Pferch, oder sie wird zur Auktion gestellt.“

Valleroy überdachte das, während er an einem frischen, knackigen Apfel kaute. Klyd wußte mehr über die Tötungs-Verteilung der Gens als irgend jemand vom Außen-Territorium wissen konnte. Sie folgten dem besten Hinweis, der sich ergeben hatte. So frustrierend es auch war, aber es gab absolut nichts, was sie sonst noch tun konnten. Wenn man Felehos Tod in Betracht zog – er hatte sterben müssen, weil er diesem gleichen Hinweis gefolgt war –, so mußte es genau der richtige Hinweis sein.

Dennoch fühlte sich Valleroy schuldig, weil er nur gemütlich im Schatten saß und einen Apfel verspeiste, während Aisha vielleicht um Hilfe schrie – irgendwo. Solange er sich bewegte oder von einem Projekt in Anspruch genommen war, konnte er ruhen, zufrieden damit, daß er genug tat. Aber in dem Moment, wo er anhielt, um zu rasten, beschwor sein Verstand jedesmal quälende Alpträume, die ihn zwingen wollten, aufzuspringen und zu ihrer Rettung zu eilen … Aber er wußte nicht, in welche Richtung er stürmen sollte!

Er machte einen tiefen Atemzug, streckte sich aus und lehnte sich gegen den Baum. Klyd saß im Lotos-Sitz und beobachtete einen Schwarm Zugvögel, so hoch am blauen Himmel, daß Valleroy nicht sagen konnte, was für Tiere es waren. Der Sime schien sich in diesem Moment nicht um die Welt zu kümmern, doch Valleroy wußte, daß Klyd von allen Agenten Stacys den gefährlichsten Weg ging. „Sag mir eines, Klyd.“

„Wenn ich kann.“

„Warum tust du das?“

„Was?“

„Oh, alles … Ich schätze, es läuft auf Kollaboration mit dem Feind hinaus. Für Stacy arbeiten. Nach Aisha suchen. Deine Freunde auf gefährliche Missionen schicken und ihnen nicht sagen, warum. Kein anderer Sime tat auch nur eines dieser Dinge. Warum bist du anders?“

„Oh. Ich schätze, es ist die Art, wie ich die Geschichte sehe oder vielmehr meinen Platz darin. Nur ein Mitglied eines Haushalts würde so etwas tun – und nur ein Kanal könnte es. Es muß ein Kanal sein, dessen Haushalt an das Gen-Territorium grenzt. In diesem Distrikt heißt das – Zeor. Es muß das Oberhaupt eines Haushalts sein, denn nur ein Oberhaupt kann ein für Stacy nützliches Informationsnetz bauen. Und es muß jemand sein, der zu den Gen-Behörden Kontakt hat. Ich kenne keinen anderen in dieser Position.“

„Weil du also der einzige bist, der es kann, mußt du es tun? Das hört sich nicht sehr logisch an.“

„Das ist es aber, wenn du zugibst, daß irgend jemand eine Brücke zwischen uns und ihnen schlagen muß.“

Valleroy bemerkte nicht einmal, daß Klyd »zwischen uns und ihnen« statt »uns und euch« gesagt hatte. Er war noch immer nicht zufriedengestellt. „Wie kam es, daß du Stacy kennenlerntest?“

Die Vögel waren schon längst in der Ferne verschwunden, aber Klyd starrte noch immer hinauf, als spiele sich vor dem Himmel ein Schauspiel ab. „Ich war unterwegs, um an Zeors Westgrenze den Baumbestand am Flußufer zu überprüfen. Wir waren der Meinung, er könnte für selektives Fällen geeignet sein. Ich bin allein geritten, da ich nicht vorhatte, den Besitz zu verlassen. Ich wollte gerade mein Lagerfeuer für die Nacht anzünden, als ein sehr erschöpfter Gen auf die Lichtung heraustaumelte … direkt in meine Arme. Er wurde von einem jungen Sime gejagt, der den Wechsel gerade hinter sich hatte und rasend war vor Not. Das war das erste Mal seit Generationen, daß der Flußtunnel benutzt wurde.“

„Der Gen war Stacy?“

„Und der junge Sime war Stacys Neffe. Der Junge hat sich Zeor angeschlossen, und Stacy und ich sind Freunde geworden.“

„Dann muß ich ihm also begegnet sein, ohne etwas darüber zu wissen.“

„Nein. Du van war ein Märtyrer des letzten Pogroms. Er hatte keine Kinder.“

„Oh.“ Das war alles, was Valleroy dazu äußern konnte. Klyds Tonfall kündete von einer Tragödie, die tunlichst begraben blieb. Er sammelte seine Sachen ein. „Wir brechen jetzt besser auf.“

Es war lange nach Sonnenuntergang, und die Pferde bliesen frostige Wolken, als sie das Halbweg-Haus erreichten, das der einzig sichere Ort war, die Nacht zu verbringen, wie Klyd behauptete.

Das Gebäude war ein umgebautes Landhaus, offenbar über einem Vorkriegsgebälk wieder aufgebaut. Sie bezahlten die Stallgebühren für die Pferde und trotteten, das zusammengerollte Bettzeug in der Hand, durch die Vordertür.

Drinnen hieß sie warme Luft willkommen. Der große Hauptraum erinnerte entfernt an den einer Schenke und verfügte über ein prasselndes Feuer, das auf einer Seite von einem steinernen Herd überdeckt war. Eine Handvoll anderer Reisender machten es sich in den vereinzelt stehenden gemütlichen Sesseln bequem, wärmten ihre Füße oder dösten. Eine gemütliche Couch, die einst aus rotem Plüsch gewesen sein mochte, war mit den Musterkoffern eines Vertreters überhäuft. In einer Ecke zog ein Kartenspiel mehrere Zuschauer an. Sie alle waren Simes, stellte Valleroy fest. Und sie alle betrachteten ihn mit jener federstählernen Wachsamkeit, die nur einem Sime zu eigen ist.

Er rückte näher an Klyd heran, während der Kanal im Fremdenbuch unterschrieb, einen Zimmerschlüssel bekam und ein Ritual vollführte, das mit den Finanzen zu tun hatte. Es war das erste Mal, daß Valleroy Sime-Geld gesehen hatte, und er wurde sich dessen bewußt, daß er keines hatte.

Als er Klyd die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf folgte, zuckte er mit den Schultern. Wenn die Blicke von den Simes im Raum etwas zu bedeuten hatten – besonders die des Vertreters –, dann wußte Valleroy, daß er ohne Klyd nicht mehr lange genug leben würde, um noch welches zu benötigen.

Während sie auspackten, betrachtete Valleroy den Raum. Er war schäbig und abgenutzt, aber sauber. Ein kleines Gemälde von einem Sonnenuntergang an einer Wand sah aus, als sei es von einem Kind gemalt. Es gab einen Sessel, klumpig und mit zerbrochenen Federn, und ein einzelnes, durchhängendes Bett.

„Ich denke, ich werde den Fußboden vorziehen“, sagte Valleroy und wählte eine Stelle aus.

„Oh nein! Was ist, falls »zufällig« das Zimmermädchen hereinkommt? Das sprengt die Deckung bis hinauf zum Mond! Der Reise-Gefährte eines Kanals schläft immer im gleichen Bett, ißt am gleichen Tisch und bleibt in Armesreichweite des Kanals.“

„Warum? Ich soll doch ein Mensch sein, stimmt’s?“

„Es geht um den Eindruck. Die Haushalte versuchen, den Gedanken zu verkaufen, daß sich ein Sime mit einem Gen verbinden kann, ohne zu töten. Du mußt sie durch konkrete Handlungen davon überzeugen, daß du keine Angst vor mir hast … daß du mich aus deinem eigenen freien Willen beschützt. Ich werde dich nie anweisen, dies oder jenes zu tun, wenn sie es hören können. Verstehst du?“

„Ich glaube schon.“

„Gut.“ Klyd blinzelte verschwörerisch. „Ich werde etwas zu essen holen.“

„Dann werde ich das auch tun“, sagte Valleroy und folgte ihm wieder nach unten.

Das gewaltige Schweigen, das hereinbrach, als sie durch den Aufenthaltsraum gingen, ließ eine Gänsehaut auf Valleroys Hals entstehen – besonders die schmierige Art, wie sich der Vertreter umdrehte und sie anblickte, als sie vorbeigingen. Aber er spielte seine Rolle, hielt den Kopf hoch und versuchte, der Stolz von Zeor zu sein. Ärmel an Ärmel marschierten sie durch die Doppeltüren, die ins Speisezimmer führten.

Der lange Eßtisch war verlassen, aber der Koch hatte zwei neue Teller für sie aufgedeckt. Dampfende Suppe vertrieb den Rest der Steifheit vom Ritt des Tages. Köstliche Kartoffeln, frischer Salat, Nuß-Fruchtbrot, das Brot stark geröstet und in einer dicken Soße schwimmend, vollendeten das reichlichste Mal, das Valleroy seit der Überquerung des Flusses gegessen hatte. Klyd wies ihn diskret auf die Speisen hin, die nicht für Gens gedacht waren, wobei er kommentierte, der Koch erwarte von ihm, daß er die doppelten Sime-Portionen nehme.

Die Tür zum Gesellschaftszimmer war weit offen gelassen worden. Die Blicke der Simes verdarben Valleroys Verdauung. Er sagte auf Englisch: „Jedesmal, wenn ich mein Messer aufnehme, bekomme ich den deutlichen Eindruck, als würde gleich der ganze Raum über mich herfallen.“

Glucksend erwiderte Klyd auf Englisch: „Sprich Simelisch, das ist eindrucksvoller.“

„Und“, sagte Valleroy und wechselte die Sprache mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst überraschte, „werden sie?“

„Sie finden den Anblick eines scharfen Bestecks in den Händen eines Gen … mhhh … verwirrend.“

Valleroy wollte gerade antworten, als ihn ein kalter Windstoß von der Eingangstür her still sein ließ. Zwei Gestalten stolperten in das Gesellschaftszimmer und blinzelten ins helle Licht. Benommen legte Valleroy sein Messer hin.

Die erste Gestalt war ein Sime, in eine einfache Reithose und kurze, unverzierte Jacke gekleidet. Hinter ihm, an einer Kette, die an einen Eisenkragen geschmiedet war, von welchem drei grüne Plaketten herunterhingen, stand der erbärmlichst aussehende Gen, den Valleroy je gesehen hatte. Er war kaum im Jungenalter, dünn und unterentwickelt. Seine Haut wirkte gebräunt, verglichen mit seinem weißen, knielangen Hemd. Unter dem Hemd trug er nichts als seine Gänsehaut.

Der Gen war buchstäblich blau vor Kälte, schien sich der Wärme des Kamins aber nicht bewußt zu sein. Er stand still, die Blicke gesenkt, wie ein dressiertes Tier, ohne den Willen, sich zu bewegen, solange er nicht gezogen wurde.

Als die Tür hinter dem Paar zuknallte, erhob sich Klyd halb von seinem Stuhl, die Blicke auf den Sime geheftet. „Hugh, der Bursche da hat die Not!“

Valleroy riß seine Blicke von dem Gen los und inspizierte dessen Besitzer. „Er zittert. Sieht ziemlich schwach aus.“

In diesem Augenblick begegneten die Blicke des Simes denen Klyds, huschten respektvoll über Valleroy hinweg und tauchten wieder in die des Kanals. Der Sime führte seinen Gen hinter sich her und kam auf Klyd zu. Auf halbem Weg stolperte er … etwas, was Valleroy noch bei keinem Sime erlebt hatte.

Blitzartig war Klyd an seiner Seite und half ihm in einen Sessel, wobei er seinen Körper zwischen den Sime und den Gen schob.

Valleroy eilte an die Seite seines Kanals, ohne zu wissen, was unter diesen Umständen von einem Gefährten erwartet wurde.

Nach einem Moment kam der Junge wieder zu Atem. „Ich habe meiner Mutter auf ihrem Sterbebett versprochen, daß ich dieses Mal nicht mehr töten werde. Aber … kann nicht. Zeor ist zu weit …“ Mit einem plötzlichen Aufwallen von Kraft versuchte der Sime, auf die Füße zu springen. „Muß …“

Klyd bewegte sich mit dieser unglaublichen Sime-Schnelligkeit und riß die Kette aus den Händen des Jungen. Er reichte Valleroy das Ende, als der Sime sich bemühte, den Gen zu erreichen.

Aber Klyds überlegene Kraft hielt ihn zurück. „Ich bin der Sectuib Farris vom Haushalt Zeor. Komm mit mir nach oben. Ich werde dir dienen. Es ist nicht weit. Nur die Treppe hinauf. Du kannst es soweit schaffen, nicht wahr? Du bist einen solch langen Weg gekommen. Er hat dich soviel Pein gekostet. Nur ein bißchen weiter, und du hast es geschafft.“

„Zeor?“ fragte der Sime erstaunt. „Sectuib … Sie …“

„Ich bin es, und ich werde es tun, wenn du mit mir nach oben kommst.“ Als Klyd auf die Treppe zuging, noch immer vorsichtig zwischen dem Sime und dessen potentiellem Opfer, fuhr er fort, in derselben professionell überzeugenden Stimme, die er bei seinen Patienten verwendete, Ermunterungen zu flüstern.

Valleroy brachte den Gen an der Kette. Gerade als er einen Fuß auf die dritte Stufe setzte, schrie die alte Frau, die am Tresen arbeitete: „Nein! Ich lasse in meinen Räumlichkeiten keine dreckigen Perversionen zu!“ Und sie machte Anstalten, hinter ihnen herzukommen.

Plötzlich erzürnt, fauchte Valleroy sie an. „Sie lassen es nicht zu …! Und wie werden Sie den Sectuib Farris aufhalten?“

Valleroy spürte, wie sich die anderen Simes im Raum strafften. Sie konnten ihn innerhalb von fünf Sekunden auslöschen, aber er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurückweichen zu können. Er wagte einen wilden Vorstoß ins Dunkel und vertraute darauf, daß Klyd nichts Illegales tun würde. „Der Junge hat um die Hilfe des Sectuib gebeten, weil er verhindern will, diesen hier zu töten.“ Für alle sichtbar hielt er die weißbemalte Kette hoch. „Der Sectuib hält sich im Rahmen des Gesetzes, wenn er diese Hilfe gewährt, wo und wann immer sie gesucht wird! Wir haben ein Zimmer gemietet. Was wir darin tun, ist unsere Angelegenheit, solange wir das Gesetz befolgen!“

Die elektrische Spannung im Raum schwoll an, und sie würde ihn vernichten. Trotzig stieß Valleroy das Kinn hoch, marschierte die Stufen hinauf und zog den Gen hinter sich her. Fast konnte er spüren, wie sich die Blicke des Vertreters in seinen Rücken bohrten. Als er am oberen Ende der Treppe ankam, brachen unten die Simes in heftigen Streit aus, der sowohl gegeneinander gerichtet war als auch gegen den arroganten Gen.

Als Valleroy ihr Zimmer erreichte, war schon alles vorbei. Der Sime-Junge lag auf dem Bett, auf der Seite zusammengerollt, und schluchzte stoßweise. Klyd ließ sie eintreten und ging dann wieder zurück, um diese zerbrechlich wirkenden Schultern zu halten, bis das Schluchzen aufhörte.

„Wie heißt du, Junge?“ fragte Klyd sanft.

„Heshri Sikal.“

„Was ist der Grund, daß du deine Mutter so zufriedenstellen willst?“

Heshris Blicke bohrten sich in die Augen des Kanals und forschten dort nach etwas.

„Nein, Heshri, es sollte keine Respektlosigkeit sein. Aber die Entschlossenheit, die du gezeigt hast, wird selten aufgebracht, um jemand anderem eine Freude zu machen. Sie muß von innen kommen. Warum willst du dich abtrennen?“

„Ich habe die Zahlen von Zelerod gelesen. Es ist beängstigend. Wenn er recht hat, werde ich es nicht mehr erleben, den Enkeln meiner Mutter über den Wechsel zu helfen.“

Klyd erhob sich und schritt durch den Raum dorthin, wo sich der Gen in dem einzelnen Sessel zusammenkauerte, die Füße unter sich gezogen, die trüben Augen niedergeschlagen. Als der Kanal auf die erbärmliche Gestalt hinunterblickte, sagte er: „Er hat recht, Heshri. Zelerod hat … erschreckend … recht.“

Die Stille dehnte sich aus, bis Valleroy sagte: „Wer ist Zelerod, und womit hat er recht?“

Klyd schüttelte sich, als erwache er aus einem Traum. „Er ist der Mathematiker, der prophezeit hat, daß die menschliche Rasse innerhalb von hundert Jahren, vielleicht weniger, ausgelöscht sein wird – und zwar wegen der zunehmenden Zahl von Simes, die längere Erwachsenenleben leben und so viele Gens töten, daß es nicht mehr genug geben wird, um uns am Leben zu erhalten. Zelerod beweist anhand mathematischer Berechnungen, daß allein durch den Kanal das Überleben gesichert ist. Wir haben das schon seit Generationen gewußt, aber die Nichtgetrennten wollten es nicht akzeptieren … bis es einer der Ihren voraussagte und bei dem Versuch, sich abzutrennen, starb, weil er zu alt war.“

Klyd drehte sich um und sah den Jungen an, der noch immer auf dem Bett lag. „Jetzt akzeptieren sie es, und ein paar von ihnen, immer wieder einmal einer, kommen zu den Haushalten. Je mehr es akzeptieren, desto verängstigter werden Andle und seine Anhänger … und um so gefährlicher.

Heshri, dies ist mein Gefährte, Naztehr Hugh.“ Heshri sprang auf, als stehe er vor einer Heirat, verbeugte sich und sagte: „Ich bin höchst geehrt …“

Das verblüffte Valleroy nach den Prügeln, die sein Ego von den Nichtgetrennten unten bezogen hatte. Er sagte: „Nicht so geehrt wie ich …“

Klyd kicherte. „Setzt euch, ihr beiden. Derjenige, der am meisten Ehre verdient, hat sich uns noch nicht angeschlossen …“ Der Kanal ging in die Hocke, um sein Gesicht in das Blickfeld des Gen zu bringen. Er wischte mit der Hand vor diesen starr blickenden Augen hin und her. Der Gen blinzelte nicht einmal, als Klyd mit einem Vordertentakel seine Nase berührte.

„Nun, nach ein paar Wochen in Zeor wird er aufwachen.“

„Er sieht aus, als würde er unter Drogen stehen“, sagte Valleroy. Das simelische Wort, das er gebrauchte, bedeutete eher ‚unter Medikamenten’, und deshalb setzte er das englische Wort hinzu.

„Zum Teil“, pflichtete Klyd bei, „aber selbst ohne die Drogen wird es lange brauchen, bis er sich entwickelt. Aber trotzdem gibt es Hoffnung. Ich habe schlimmere Fälle gesehen.“

„Sectuib“, sagte Heshri, „er gehört Ihnen – für Ihre Dienste.“

„Heshri, du mußt lernen, daß er niemals Eigentum ist.“ Der Kanal knurrte, als er die Verschlüsse an dem Metallkragen des Jungen in Angriff nahm. „Er ist ein Mensch. Betrachte ihn als krank oder geistig gestört, aber dennoch als einen Menschen.“

„Ja, Sectuib.“

Der Kragen löste sich mit einem metallischen Knirschen. Klyd wickelte die Kette darum und legte ihn auf die Frisierkommode. „Wir werden ihn Norbom nennen, bis er sich seinen eigenen Namen wählen kann.“

„Dann werden Sie mich in Zeor akzeptieren?“

„Nein. Es ist nicht meine Angelegenheit, dich zu akzeptieren. Vielmehr bist du es, der uns akzeptieren muß. Du wirst viele Monate lang nicht bereit sein, diese Entscheidung zu treffen. Abtrennung ist weder kurz noch angenehm.“

„Ich fühle mich … jetzt … normal.“

„Jetzt – ja. Aber nach sechs oder acht Monaten kann es schon wieder anders sein. In der Zwischenzeit wirst du in Zeor willkommen sein. Ich werde deine Beitrittserklärung morgen früh schreiben. Du wirst Norbom mitnehmen und für mich eine Nachricht nach Hause bringen, denn Hugh und ich reiten nach Iburan weiter.“

„Gern, Sectuib.“

„Geh nach unten und iß etwas. Ich werde Hughs Dienste hier brauchen. Kannst du die Zimmermiete aufbringen?“

„Ich denke ja, Sectuib.“

„Hier.“ Klyd fischte ein paar Münzen aus seiner Tasche und drückte sie in die schmale Hand. „Kopf hoch. Du repräsentierst dort unten Zeor, und sie wissen es alle. Achte auf den Vertreter. Andle bedient sich Burschen seiner Sorte.“

„Ja, Sectuib.“ Der Junge reckte sich zu seiner vollen Größe auf und ging, sich seines neuen Status sehr eindringlich bewußt.

Als die Tür geschlossen war, platzte Valleroy heraus: „Meine Hilfe?“

„Ja. Trotz der Droge könnte Norbom in Panik geraten, wenn ich den Transfer beginne. Ich will, daß du bereit stehst, um zu tun, was immer auch nötig scheint.“

„Klyd, du weißt, daß ich in so etwas nicht ausgebildet bin!“

„Du bist mit der Menge da unten recht gut fertig geworden.“

„Du hast es gehört?“

„Das war wohl unvermeidbar. Du hast mir da für einen Moment Angst eingejagt.“

„Ich habe dir gesagt, ich bin nicht …“

„Auf jeden Fall“, sagte Klyd fest, „brauche ich hierfür die Hilfe meines Gefährten. Deshalb kann ich dich wohl kaum mit Heshri schicken, oder?“

„Wenn du Hilfe brauchst, tust du es besser nicht.“

„Ich muß. Ich habe Heshri fast zweitausend Dynopter von Zeors Konten gegeben … Sie müssen von dem Gen erstattet werden, der ihm zugeteilt war. Außerdem kann ich ihn nicht gut mit einem Feldstark-Gen im Schlepptau da hinausschicken, oder?“

„Wohl kaum. Du bist am Zug. Was soll ich tun?“

„Halte dich nur bereit.“ Klyd nahm den Gen bei der Hand. Er ging gefügig mit zum Bett. Auf der Tagesdecke ausgestreckt, sah die schmächtige Gestalt so gebrechlich aus, daß Valleroy Mitleid empfand.

Klyd begann leise zu summen, keine Worte, die Valleroy unterscheiden konnte, sondern ein beruhigendes Geräusch. Langsam setzte sich der Kanal, nahm die Hände des Jungen, tastete nach den Unterarm-Nerven und stellte mit seinen Seitlichen den lebenswichtigen Kontakt her.

Die Augen des Gens weiteten sich. Klyd zögerte und redete noch immer, um das beginnende Entsetzen zu beschwichtigen. Dann, wie auf ein Signal hin, bückte sich der Kanal und stellte den Lippenkontakt her. Der Junge versteifte sich, da reales Entsetzen seinen Drogennebel durchstach.

Valleroy war sicher, daß er etwas tun mußte. Neidisch erinnerte er sich an den ruhigen Sachverstand, mit dem Denrau Klyd geholfen hatte. Aber Valleroy hatte keine Ahnung, was Denraus gut geschulte Bewegungen tatsächlich bewirkten. Er machte einen halben Schritt auf den Kanal zu, aber so schnell, wie es angefangen hatte, war es vorbei.

Klyd erhob sich und ging erschöpft zum Sessel. „Hugh, kümmere dich um ihn.“ Er schloß die Augen.

Da Valleroy nicht wußte, was er sonst hätte tun sollen, kleidete er den Jungen in eines seiner eigenen Reserve-Kleidungsstücke, wobei er mehrere aus einer ansonsten leeren Frisiertisch-Schublade organisierte Nadeln benutzte. Während dieses ganzen Unternehmens blieb der Junge passiv. Als Valleroy fertig war, stellte er den Gen vor den Spiegel. „So, jetzt siehst du wie Norbom aus, nicht mehr wie eine Nummer.“

„Bestimmt tut er das“, sagte Klyd und erhob sich, um den Gen zu begutachten.

„Ich dachte, du wärst eingeschlafen.“

„Das sollten wir beide schon sein. Bringen wir ihn in den Baderaum, und waschen wir ihn. Heshri wird wohl bald zurück sein, und wir können alle etwas Schlaf gebrauchen.“

„Flippen wir um den Sessel?“

„Was?“

„Die Kinder bekommen das Bett, oder?“

Klyd sprach das englische Wort aus. „Flippen? Heißt das – umdrehen?“

„Ja. Eine Münze flippen. Spielen.“

„Oh nein. Die Gen-Gesellschaft hat bestimmt ihr kulturellen Vorzüge, aber sie unterscheiden sich radikal von denen der Sime-Gesellschaft. Du wirst nach wie vor das Bett mit mir teilen müssen, und du wirst es wie Routine aussehen lassen müssen.“

Valleroy schüttelte sich. „Ja, Sectuib. Aber das alte Weib da unten wird den Kindern kein Zimmer vermieten. Sogar Gen-Augen können das sehen.“

„Stimmt. Wahrscheinlich würde sie uns alle hinauswerfen, wenn ihr Mann damit einverstanden wäre.“

Während sie den Flur entlang zum Waschraum gingen, Norbom zwischen sich, fragte Valleroy: „Warum sollte ihr Mann nicht damit einverstanden sein?“

„Er weiß, daß viele seiner Gäste hier wegen der möglichen Chance Station machen, einen von uns perversen Freaks zu sehen. Wenn sie nach Hause kommen, können sie phantasievolle Geschichten um die schrecklichen Dinge schmücken, die diese ‚dreckigen Leute’ tun. Der Vorfall von heute abend wird diesen Winter manche Versammlung am Feuer in den Bann schlagen … und er wird eine Welle neuer Geschäfte hinter sich herziehen.“

Sie wechselten sich darin ab, Norbom zu beaufsichtigen, und waren auf dem Rückweg in ihr Zimmer, als sich Heshri zu ihnen gesellte. Nachdem sie die Decken ausgeteilt hatten, legten sie sich zur Nachtruhe nieder, und die beiden Simes verfielen sofort in einen tiefen Schlaf, während Valleroy befangen und steif dalag.

Valleroys Finger suchten das Sternenkreuz, das sich gegen seine Brust schmiegte. Das half. Wenn nur Aisha auch solch eine geheime Waffe hätte!