Flucht
Doch in der rauhen Wirklichkeit des Morgens verblaßte die idealistische Vision zu einer kindlichen Phantasie, die unmittelbar hinter geheimen Blutsbrüderschaften und in hohlen Baumstämmen versteckten Codenachrichten rangierte … und zwischen Ruinen der von den Alten erbauten Tempeln.
Die pragmatische Tatsache war, daß es für Valleroy überhaupt keine Zukunft gab, wenn er Aisha nicht fand. Er wollte nicht mehr leben, wenn er nicht malen konnte – und er konnte nicht malen, wenn er sich seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Aisha war der Schlüssel für eigenes Land und ein anständiges Altersruhegeld. Sein Aufenthalt in Zeor hatte seine Perspektive verändert. Er war nicht mehr sicher, ob er wollte, daß sie ein Teil dieses Lebens war … wenn sie nicht soweit kam, die Simes wie er zu sehen, Zelerods Weltuntergang zu verstehen …
Allmählich wurde er sich des Wachseins bewußt. Er fühlte, daß er auf dem Feldbett gegenüber einem schwach erhellten Fenster lag. Die Gedanken schwanden in Träume zurück, als er die Augen öffnete. Morgendämmerung drang durch die Risse in den Läden … eine düstere, graue Dämmerung, mit dem scharfen Biß des Winters wieder in der Luft. Neben ihm setzte sich Klyd plötzlich in Bewegung und glitt geschmeidig auf die Füße.
Mit drei schnellen Schritten stürmte der Kanal zum Fenster und stieß es auf, als erwarte er, Horden angreifender Menschenjäger zu sehen, die die kleine Schutzhütte umzingelten.
Besorgt gesellte sich Valleroy zu ihm. Sie blickten auf die sich senkenden schwarzen Wolken und eine verlassene Landschaft hinaus. Weit draußen, jenseits des Tales, entstand eine kaum wahrnehmbare Bewegung.
Valleroy sagte: „Was ist das …“
„Wir sind abgeschnitten“, fauchte Klyd. „Verschwinden wir von hier … schnell!“
Ohne auf Zustimmung zu warten, raffte der Sime ihre wenige Habe zusammen und floh, als entginge er einer tödlichen Falle. Hugh nahm sich den Moment Zeit, etwas eiskaltes Wasser aus einem Krug zu trinken. Dann stürmte er hinter Klyd her, umrundete das Gebäude und rutschte aus, als er in dem schäbigen Stall anhielt.
Sie sattelten in verbissener Schnelligkeit. Klyd wurde zuerst fertig, drehte sich um und half Valleroy. Augenblicke später jagten sie nach Osten, fort von Zeor und in die Berge hinein.
Valleroy beugte sich tief über den langen Hals des Rotbraunen und versuchte das Gesicht vor dem eisigen Wind zu schützen. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen, schaffte er es, den Kanal trotz dessen schnelleren Reittiers in Sicht zu behalten.
Sie rasten durch die frühe Dämmerung nach Osten, als würden sie von Alptraum-Ungeheuern verfolgt. Ihre Pferde bliesen frostige Dampfwolken in das plötzliche Schneeversprechen des Winters. Es dauerte nicht lange, bis die Pferde zu grauweißen Gespenstern, zwischen Fahnen aus Bodennebeln beinahe verschwunden, eingeschäumt waren.
Als die Tiere nicht mehr weitergehen konnten, hielt Klyd an. Er sprang ab und riß Feldflasche und Schlafsack vom Sattel. „Beeil dich. Wir können es noch schaffen.“
„Warte doch!“ stieß Valleroy hervor, wobei er seine Satteltaschen löste. „Egal wovor wir davonrennen, wir rennen in die falsche Richtung! Zeor liegt dort hinten …“
„Das weiß ich! Aber ebenso eine ganze Runzi-Meute.“
„Zwischen uns und Zeor?“
„Richtig. Beeil dich! Ich werde dir helfen, ein Rückenbündel daraus zu machen, hier …“ Der Kanal nahm die Verschnürungen der Bettrolle und befestigte das Bündel auf Valleroys Schultern. „Du wirst beide Hände zum Klettern brauchen. Wir schicken die Pferde nach Imil zurück. Wenn sie es schaffen, müßte dies die Geschichte erzählen.“ Er benutzte die Kanten seines Ringes und kratzte ein Linienmuster in den Sattel eines jeden Reittieres. Nachdem er sie dann nach Norden ausgerichtet hatte, gab er jedem der müden Tiere einen leichten Klaps auf die Kruppe und setzte sie in Richtung Imil in Bewegung. „Gehen wir.“
Valleroys Wille zu diskutieren wurde durch ein zunehmendes Entsetzen davor gelähmt, während eines Schneesturmes zu Fuß durch die Berge des Sime-Territoriums gejagt zu werden. Diese Aussicht wurde nur noch von dem Grauen überschattet, möglicherweise zu einem hilflosen Gefangenen von Killer-Simes zu werden. Er folgte Klyd den Berghang hinauf.
Sie waren auf felsigem Boden aus dem Sattel gestiegen. Jetzt kletterten sie einen wirren Haufen von Felsblöcken am Fuß eines der zahllosen Bergrücken aufwärts, die sich von der Kette der Vorberge vor ihnen ausstreckten.
Auf den ersten paar hundert Metern hielt Valleroy mit, aber dann wurde die überlegene Ausdauer des Simes offensichtlich. Allmählich verlor er an Boden. Wie auch immer – ein Blick über das Tal hinaus verlieh zitternden Knien neue Kraft.
Da gab es wirklich eine Reihe von Staubkörnchen, die zwischen ihnen und Zeor eine Kette bildeten und geradewegs über die Schachbrettfelder ritten – anscheinend direkt auf sie ausgerichtet!
Gemeinsam kletterten sie über vom Wetter angenagte Felsbrocken, rutschten auf losem Schotter aus und mühten sich dennoch ab, kein Zeichen ihres Vorbeikommens zu hinterlassen. Von Minute zu Minute ballten sich die Wolken tiefer zusammen, verwandelten sich ein eine schwarze, bedrohliche Masse, nur von einem gelegentlichen Aufleuchten von Weiß gemildert. Das würde ein böser Sturm werden!
Valleroy schlug seinen Kragen hoch, heftete seine Blicke auf Klyds Stiefel und konzentrierte sich aufs Klettern. Die Steppjacke der Zeor-Tracht, die zu leicht erschienen war, um es wert zu sein, getragen zu werden, bot jetzt eine erstaunliche Menge Schutz. Doch er war zu müde, dieses neue Wunder zu hinterfragen. Seine Beine waren noch schwach von dem langen Verbleib im Bett. Alles, was er tun konnte, war, in Bewegung zu bleiben.
Am Mittag schneite es so heftig, daß sie die Spitze des Bergkamms, auf dem sie höher kletterten, nicht mehr sehen konnte. Die großen, nassen Flocken wirbelten herab und schmolzen bei Kontakt. Erschöpft ließ sich Valleroy von dem Kanal eine weitere steile Felswand hinaufhieven und brach dann vor einem Felsblock zusammen. „Ich muß mich ausruhen.“
Klyd stellten einen Fuß auf einen Stein und blickte auf ihrem Pfad entlang nach oben. „Wir müssen einen Unterschlupf finden, bevor es zum Klettern zu rutschig wird.“
Aber Valleroy hatte andere Dinge in seinem betäubten Sinn. „Woher hast du gewußt, daß sie kommen?“
„Die Runzi?“
„Ja. Und warum hast du gewußt, daß es Runzi sind?“
„Selyn-Feld-Potential. Eine Menschenjäger-Gruppe hat ein deutliches Muster. Wer sonst außer den Runzi würde sich in der kalten Dämmerung vor einem Sturm durch die Felder schlagen und unseren Weg nach Zeor versperren?“
„Gute Frage“, sagte Valleroy. „Aber sie waren Meilen entfernt! Wie kommt es, daß du …?“
„Ich hätte sie noch früher bemerkt, aber ich habe die schlechte Gewohnheit angenommen, zu tief zu schlafen. Meine Sensibilität ist groß, selbst für einen Kanal. Sie werden überrascht sein, daß wir nicht in der Falle zappeln.“ Er machte eine nachdenkliche Pause.
„Klyd, ist es nicht ungesetzlich, friedliche Bürger bei ihrer gesetzmäßigen Betätigung anzugreifen?“
„Wer würde schon Anklagen gegen Runzi vorbringen, wenn kein Haushalter als Zeuge dabei wäre? Und wenn tatsächlich ein Haushalter gegen Runzi klagen würde – auf wessen Wort würde man sich verlassen?“
„So läuft das also?“
„So läuft es.“ Klyd gab sich keine Mühe, seine düstere Bitterkeit zu verbergen. „Wenn Klagen vorgebracht werden würden, könnten die Runzi ihre Lizenz verlieren. Aber wir wären immer noch tot.“
„Und Andle würde einfach einen anderen Trupp zusammenstellen, der für ihn arbeitet?“
„Wobei er größtenteils denselben Haufen verwenden könnte. Lizenzen sind nicht teuer, und Andle ist nicht arm.“
Valleroy erhob sich auf die schmerzenden Beine, bevor die Steifheit einsetzen konnte. „Ich sehe, die Simes unterscheiden sich doch nicht so sehr von Gens.“
Klyd streckte die Hand aus, um eine Schneeflocke zu fangen. „Insbesondere mögen es Simes überhaupt nicht, lebendig in Schneewehen begraben zu werden. Ihr etwa?“
„Keinesfalls.“
„Dann laß uns eine hübsche, warme Höhle suchen, in der wir diesen Sturm gemütlich überstehen können.“
„Das ist es mir wert. In dieser Gegend muß es viele geben.“
„Aber auch eine Menge Grizzlybären und Wildkatzen.“
„Ich weiß. Sie überfallen im Gen-Territorium die Viehbauern, und dann verschwinden sie hier herauf, wo wir nicht an sie herankommen können.“
Mit einem Knurren ging Klyd über den weiten Abhang voraus, den sie heraufgeklettert waren, jedoch in Richtung Osten, in die Berge, fort von Zeor. Zweimal sorgte Valleroys Erschöpfung dafür, daß er einen Schritt falsch abschätzte, aber jedesmal war Klyds starke Hand da, um ihn zu stützen. Die ersten kurzen Gestöber hatten sich gemildert, bis sie ihren Unterschlupf gefunden hatten: hoch droben an der Seite einer schroffen Klippe, die von einem längst verschwundenen Gletscher teilweise zermalmt worden war.
Es war keine große Höhle, nur etwa zwanzig Fuß tief und kaum hoch genug, um aufrecht stehen zu können. Aber mit einem brennenden Feuer und einem aufgestapelten Vorrat an Holz sowie mit ein paar eßbaren Wurzeln und Beeren kam sie ihnen wie ein Zuhause vor.
Draußen begann der Wind ernstlich zu heulen, nachdem sie ein paar Kiefernzweige hereingezerrt hatte, die ihnen als Bettstreu dienen sollten. Kurz darauf brach außerhalb der Höhle ein prasselnder Hagelsturm los und bildete einen dunklen Vorhang.
„Niemand könnte uns jetzt noch folgen“, sagte Valleroy.
„Nein, aber sie werden abwarten. Es ist noch nicht richtig Winter. Der Sturm wird nicht lange dauern.“
„Der schmelzende Schnee wird unsere Spuren auslöschen.“
„Sie werden uns finden, wenn wir nicht in Bewegung bleiben.“
„Wohin können wir gehen?“
„Zurück nach Zeor natürlich. Wir werden nach Osten ausweichen, diese Bergkette über den Treadlow-Paß überqueren, dann nach Südwesten durch das nächste Tal marschieren, über den nächsten Bergkamm, und von dort … geradewegs nach Hause.“
Valleroy stellte sich die Landschaft in Gedanken vor und sagte: „Du läßt es so leicht klingen …“
„Wir können es schaffen. Weil wir müssen.“
„Gibt es keine anderen Alternativen?“
„Uns den Runzi zu ergeben. Oder Richtung Innen-Territorium aufbrechen … zurück nach Imil. Das könnten wir in ein paar Wochen harter Wanderschaft erreichen. Doch wir müßten hoch in die Berge ausweichen. Ich würde das lieber nicht versuchen, weil der Winter so bald hereinbricht.“
„Wie lange brauchen wir bis Zeor?“
„Allein könnte ich es wahrscheinlich in weniger als zwei Wochen schaffen … vorausgesetzt, es würde nichts schiefgehen.“
Während Valleroy dies verdaute, setzte er sich beim Feuer nieder. Er war es nicht gewohnt, in irgendeiner Gruppe der Schwächere und Langsamere zu sein. Das nagte.
Draußen pfiff der Wind und mischte sich mit dem Tosen prasselnden Hagels. Es war schwarz wie um Mitternacht, obwohl es kaum Sonnenuntergangszeit war. Der Rauch stach ihm in die Augen, als er einen weiteren kleinen Ast in das Feuer schob.
Valleroy nahm einen der längeren Zweige und kratzte eine grobe Karte in den Staub. „Wir sind hier.“ Er bohrte ein Loch in diese Stelle. „Der Hanrahan-Paß ist dort drüben. Du sagst, es gibt eine Passage hier durch?“
„Treadlow. Etwa hier.“ Klyd nahm den Stock und markierte eine Stelle weiter östlich, als Valleroy gezeigt hatte.
„Und“, sagte Valleroy, „von dort aus willst du das nächste Tal durchqueren und dann über diese Hügelkette?“
„Richtig. Das wird uns nicht weit von der Grenze zum Gen-Territorium entfernt im Flußtal herauskommen lassen. Dann werden wir den Runzi-Kordon westlich umgehen.“
„Angenommen, sie riegeln alles bis ganz zum Fluß hinunter ab?“
„Irgendwie werden wir durchschlüpfen. Dort rechnen sie nicht mit uns.“
„Ich könnte den Hanrahan allein finden“, erwog Valleroy. „Mit ein bißchen Glück wäre ich auf der Gen-Seite, bevor sie merken, daß wir uns getrennt haben … und du könntest todsicher unbehelligt nach Zeor gelangen.“
Das trug Valleroy den seltsamsten Blick ein, den er je von dem Kanal bekommen hatte. „Klyd, sie würden nie vermuten, daß du in deiner und nicht in meiner Geschwindigkeit unterwegs bist. Ich werde Stacy Meldung machen und dich wieder am Treffpunkt .“ Er verstummte unsicher. „Was ist los?“
Wortlos stand Klyd auf und ging zu dem nachtverhüllten Höhleneingang. Dort stützte er eine Hand an die Steinwand. Er schien in dem brausenden Sturm nach etwas Unerfindlichem zu suchen.
Valleroy folgte, blieb neben ihm stehen und starrte ebenfalls in den Sturm hinaus. „Klyd, verstehst du denn nicht? Sie werden es nie vermuten, weil es so total von den Haushalts-Idealen abweicht, daß …“
„Sie könnten es vermuten, wenn sie herausgefunden haben, wer du bist.“
„Aber sie haben es nicht herausgefunden – es ist unmöglich.“
„Sie haben mich so viele Male der Verschwörung und des Verrats verdächtigt – sie sind davon überzeugt, daß es wahr sein muß.“
„Aber sie haben keinen einzigen Beweisfetzen.“
„Du bist lebender, atmender Beweis. Wir wissen nicht, was Hrel weitergemeldet hat, aber du kannst sicher sein, wenn Andle Aisha tatsächlich hat und wenn er weiß, wer sie ist … dann weiß er auch, wer und was du bist.“
„Aber Enam hat mich nicht töten können, deshalb gibt es keinen Beweis.“
„Wenn Andle dich, Aisha und eine jener Zeichnungen in die Hände bekommt, die du von ihr gemacht hast, dazu ein Muster deiner Arbeit in Imil … ein Sime-Gericht kann genauso geschickt eins und eins zusammenzählen wie ein Gen-Gericht.“
Plötzlich zitternd, sagte Valleroy: „Feleho hatte eine meiner Skizzen?“
„Ja, das hatte er.“
„Du glaubst nicht, ich könnte es allein schaffen?“
„Zum Gen-Territorium? Du könntest es wahrscheinlich, obwohl es riskant wäre. Dem Gerücht nach liegt das Runzi-Hauptlager zwischen hier und Hanrahan.“
„Aber die meisten von ihnen werden das Tiefland nach uns durchkämmen. Wenn wir beide einfach in Zeor auftauchen und die ganze Sache überhaupt nicht erwähnen … werden sie auch nicht in der Lage sein, etwas zu sagen. Dann können wir neu anfangen …“
„Das ist es, was du versuchen willst?“
Etwas im matten Tonfall des Sime ließ Valleroy aufhorchen. Er überlegte sorgfältig. „Nun, ich sehe nicht, was wir sonst tun könnten.“
Abrupt drehte sich Klyd um, ergriff Valleroys Hand und hielt sie in den Feuerschein hoch. Das Zeor-Wappen an Valleroys Finger verstreute Lichtmuster auf die Höhlen wände. Ganz plötzlich ließ Klyd die Gen-Hand los und ging in die Wärme der Höhle zurück.
Er setzte sich nahe dem Feuer nieder und stocherte mit harten, ruckartigen Bewegungen darin herum.
Valleroy sah das zartknochige Farris-Antlitz prüfend an – so typisch für diese besonders begabte Familie von Kanälen –, von unten durch die orangene Flamme erhellt. Die dunklen Augen waren in tiefem Schatten verborgen, während die Wangen wie fest um die sensiblen Farris-Lippen gezwängte blaue Flecken wirkten. Es war das Gesicht eines enttäuschten Menschen, der über sich selbst wütend war, weil er etwas Unvernünftiges erwartet hatte.
Plötzlich dämmerte es Valleroy, was er vergessen hatte. Die Not! Klyd hatte nicht mehr als – er zählte rasch – fünf Tage, vielleicht höchstens eine Woche, bis er die Not bekommen würde!
Sacht bewegte sich Valleroy und setzte sich dem Sime gegenüber ans Feuer. Seine Gedankenlosigkeit hatte den Mann tief verletzt. Aus irgendeinem Grund war dies für Valleroy von Bedeutung. Es war sogar sehr von Bedeutung. Er flüsterte: „Für Zeor, auf ewig. Ich glaube, das habe ich gemeint.“
Klyd schaute rätselhaft auf. „Du glaubst?“
„Nein. Ich weiß es. Ich werde nicht gehen, wenn du der Meinung bist, daß es besser wäre, ich bliebe. Aber ich bin kein ausgebildeter Gefährte. Ich nehme an, ich könnte Zeor durch dich spenden – aber deiner Not könnte ich nicht dienen. In den letzen paar Tagen habe ich gelernt, die Gefährten sehr zu respektieren. Aber ich bin keiner von ihnen.“
„Nein. Bist du nicht. Noch nicht. Wenn du ein bißchen Zeit und ein bißchen Glück hast … vielleicht wirst du nicht dienen müssen, bis du bereit bist.“
„Ich bezweifle, ob ich je bereit sein könnte!“
„Du wirst. Du hast das Talent.“
„Es scheint, ich habe viele Talente, und keines verursacht auch nur den geringsten Ärger.“
Klyd verdaute das mehrere Minuten lang.
Die Zungen aus gelb-orange-farbenen Flammen leckten hartnäckig an dem Baumstamm, der das Herz des Feuers bildete. Wenn ich bei Klyd bleiben muß, dachte Valleroy, und ihn behindere, dann wird keiner von uns Zeor je wiedersehen. Und das, weil er darauf bestanden hatte, sich in die Suche nach Aisha einzumischen!
„Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen“, sagte Klyd. „Ich habe zugestimmt, dich ins Innen-Territorium zu führen, obgleich ich die Risiken besser kannte als du.“
„Die Kanäle sind nicht die einzigen Leute, die für ihre Taten auch die Verantwortung übernehmen, weißt du.“ Das trug ihm einen weiteren dieser scharfen Blicke ein, gefolgt von einem mißbilligenden Stirnrunzeln.
„Klyd, ich wünschte, du würdest aufhören, meine Empfindungen zu lesen!“
„Ich wünschte, du würdest aufhören, unangenehme Empfindungen zu produzieren!“
Sie funkelten einander streitlustig an, während die Hagelkörner gegen die Bergwand krachten. Das Feuer prasselte zwischen ihnen, versprühte eine Kaskade von Funken, die beide vor Überraschung zurückzucken ließen. So plötzlich wie er aufgekommen war, brach der beiderseitige Zorn in Lachen aus, das in einem Schmunzeln verebbte.
„Es tut mir leid“, sagte Valleroy. „Ich kann nicht viel dafür … wie ich empfinde!“
„Und ich reagiere empfindlicher als gewöhnlich auf die Nager deiner Emotionen.“
„Du spürst die Not bereits?“
„Nein. Die Vorahnung der Not … ein Gespenst der Realität. Aber du bist der einzige Gen im Umkreis von Meilen. Und wir sind … zu einer Nähe gelangt. Ich habe keine Abwehr gegen dich.“
Valleroy senkte verlegen den Blick. Es schien irgendwie nicht zu diesem schnellen, fähigen, kräftigen Mann ihm gegenüber zu passen, Schwächen zu haben. „Ich … denke, wir sollten lieber ein bißchen schlafen.“
„Wenn wir Glück haben, können wir vielleicht schon morgen früh einen baldigen Aufbruch starten.“ Klyd breitete seinen Schlafsack über einem Haufen Fichtennadeln in sicherem Abstand vom Feuer aus. Valleroy tat dasselbe.
Es bestand keine Notwendigkeit, Wache zu halten. Nichts konnte sich in diesem treibenden Regen/Schnee/Eis-Gemisch bewegen. Mit dem Rücken zum Feuer zusammengerollt, konzentrierte sich Valleroy darauf einzuschlafen.
Das war ein Fehler, dachte er etwa eine Stunde später. Der Schlaf flieht vor der Konzentration. Der Duft der Fichtennadeln hatte ihn an Aisha und an die Hoffnungen erinnert, die er sich auf ein gemeinsames Leben mit ihr gemacht hatte. Sein Verstand beschwor Visionen von dem kleinen Haus herauf, das sie haben würden, einer kleinen Ranch, einem festen Einkommen – gerade genug, daß er sich der echten Kunst widmen konnte, jener Kunst, die aus der Seele kommt.
Es war ein alter Traum, und er merkte, daß er ihn Stück für Stück in Frage stellte. Er war sich nicht sicher, ob er Aisha haben wollte, wenn sie in ihrer Haltung gegenüber den Simes nicht soweit gekommen war wie er. Und er war sich nicht sicher, ob er nur diese kleine Ranch haben wollte. Er wollte noch immer malen – aber nicht mehr nur für sich allein. Der Traum schien seicht, ohne Gestalt, ohne Bedeutung, ohne Sinn. Aber er kam nicht darauf, was fehlte.
Er stieß einen Seufzer aus und rollte sich herum. Die Steppjacke bot nicht genügend Schutz gegen die Kälte, die um das Feuer herum eindrang. Er zitterte.
„Hugh?“
„Ich dachte, du schläfst.“
„Ich sage dir, ich habe das Schlafen aufgegeben. Es ist eine gefährliche Gewohnheit. Aber du brauchst deine Ruhe.“ Der Kanal kam, beugte sich über Valleroy, berührte Gen-Hände und -Gesicht. „Du frierst.“
„Mir fehlt nichts.“
„Komm hier herüber, neben mich. Wir werden unsere Wärme unter beiden Decken sammeln.“
„Nein, wirklich …“
„Naztehr.“ Klyds Stimme knisterte von der Ungeduld eines Menschen, der daran gewohnt war, daß man ihm gehorchte.
„Ich komme, Sectuib.“ Valleroy wußte, daß es unvernünftig war, aber er vollzog diesen Umzug nur äußerst widerstrebend. Dennoch konnte er nicht leugnen, daß seine Zähne klapperten. Als sie beide Decken auf sich gehäuft hatten, war ihm fast behaglich.
Aber dann merkte er, daß Klyds Tentakeln seine Haut suchten und sanft seinen Hals streichelten. Er konnte nichts dafür, daß er sich gegen diese Berührung versteifte.
„Ganz ruhig. Dies wird nur einen Moment dauern, und dann wird dir wärmer sein.“
„Was machst du?“
„Ich helfe dir nur, die Hilfsmittel deines eigenen Körpers anzuzapfen. Danach wirst du schlafen.“
Valleroy versuchte zu tun, was ihm gesagt wurde, aber die feuchten Seitlichen hinterließen kribbelnde Spuren auf seiner Haut. Er schrie fast.
„Ruhig, Hugh. Ich versuche keinen Transfer.“
Klyd sprach weiterhin in diesem unendlich überzeugenden Tonfall, der in Valleroys Geist eindrang und alle verknoteten Ängste löste. „Jetzt werde ich dich einschlafen lassen. Wenn du aufwachst, ist es Tagesanbruch.“
Valleroy lag still, als die Sime-Tentakel seine Arme umschlagen und die unnachgiebigen, unpersönlichen Lippen seinen Mund in diesem Kuß berührten, der kein Kuß war.
Es kam ihm so vor, als hätte er nur mit den Augen gezwinkert, und schon umstrahlte die bleiche Schwermut eines durchnäßten Tages Klyds Silhouette vor dem Höhleneingang.
In dem Augenblick, in dem Valleroy merkte, daß es Morgen war, drehte sich der Sime um. „Endlich bist du wach. Ich habe mir überlegt, ob wir versuchen sollen, heute morgen loszugehen. Es sieht so aus, als würde es noch einmal schneien.“
„Es würde uns bestimmt nicht gefallen, wenn wir da draußen von einem Schneegestöber erwischt werden.“ Valleroy stieß die Decken beiseite und machte sich auf, an der Wetterinspektion teilzunehmen. Soweit sie sehen konnte, sammelten sich im Westen schwarze Wolken wie zu einem Angriff auf eine gigantische Bergfestung. Im Osten schwebte ein zerfetztes Stück blauen Himmels, vom Sonnenaufgang rotumrandet, über den Berggipfeln. Felsen und Bäume waren von funkelnden, klaren Eishüllen überzogen. Klebrige Schneeklumpen besprenkelten die Windseite jeder Fläche.
Valleroy schüttelte den Kopf. „Wir brauchen Sonne, damit dieses Eis schmilzt, bevor wir klettern können.“
Noch während sie hinausblickten, trieb ein dichter Vorhang aus Schneeflocken vom Westen herbei und löschte die Szenerie aus. Kalte Böen fauchten in ihre Höhle und schickte sie beide eilends zum Feuer zurück.
„Wir werden einfach abwarten müssen“, sagte Valleroy und teilte die wenigen verbliebenen Knollen und Beeren aus. Das würde, zusammen mit dem Suppenpulver, das sie noch hatten, einen weiteren Tag ausreichen. Aber es würde ein Tag des knurrenden Magens sein.
Valleroy vertrieb diesen Gedanken aus seinem Sinn. Er hatte in letzter Zeit gut gegessen. Mehrere Tage Fasten würden ihm nichts anhaben. „Komm schon und iß, Klyd. Es gibt nichts anderes zu tun.“
„Nein. Heb es auf. Du kannst es später vielleicht gebrauchen.“
„Du mußt essen.“
„Der Sime-Körper verarbeitet Selyn, keine Kalorien. Du brauchst Kalorien, kein Selyn.“
Valleroy schlürfte seine heiße Suppe. Er wußte, daß Simes nur aßen, um körperaufbauende Stoffe zu ersetzen, aber dennoch fühlte er sich schuldig. „Zeor muß sich inzwischen fragen, wo wir sind. Wir könnten gerettet werden.“
„Nein. Runzi hat das Tal unter Kontrolle. Es liegt an uns, nach Hause zu kommen. Aber heute können wir das nicht mehr, deshalb lege ich mich schlafen.“
„Ich dachte, du hättest das Schlafen als schlechte Angewohnheit aufgegeben.“
„Menar-Schlaf. Er reduziert die grundlegende Selyn-Verzehrrate. Mit etwas Glück könnte er die Voll-Not ein paar zusätzliche Stunden hinausschieben. Das mag den entscheidenden Unterschied ausmachen.“
„Ist das in dieser Kälte sicher?“
„Nein. Wenn ich zu tief sinke, wache ich vielleicht nie wieder auf.“
„Ich nehme an, ein echter Gefährte wüßte dich davor zu schützen?“
„Du bist feldstark, also dürfte es kein Problem für dich sein, mich zu wecken. Jeder direkte Kontakt wird mich wieder zurückholen, falls ich morgen bei Tagesanbruch nicht von allein daraus aufwache. Inzwischen halte nur das Feuer am Brennen.“ Er ging zum Eingang der Höhle, um den Himmel noch einmal gründlich abzusuchen, aber der Schnee fiel dicht und schwer, und es gab kein Anzeichen, daß sich dies ändern würde.
Valleroy hatte eine Nuß zu knacken. Ihm gefiel diese Idee nicht. Bevor er Zeit hatte, einen Einwand zu formulieren, hatte Klyd seinen Platz unter den Decken wieder eingenommen und war sofort eingeschlafen. Valleroy fand sich damit ab, sich kalt, einsam und hungrig zu fühlen. Es war nicht das erste Mal, daß er einen erbärmlichen Tag zu verbringen hatte … und er hoffte, es würde nicht der letzte sein. Er seufzte und streckte die Beine aus.
Alles in allem hatte er Glück gehabt. Da er im Gen-Territorium aufgewachsen war, hatte er sich keine Sorgen zu machen brauchen, falls er zu einem relativ hilflosen Gen reifen würde – und nachdem seine Mutter und sein Vater beide Gens waren, war die Wahrscheinlichkeit dafür groß gewesen.
Er versuchte, sich vorzustellen, wie eine Kindheit auf der Sime-Seite der Grenze war. Für Kinder, die die Tötung viele Male gesehen hatten, die den Wahnsinn der Not miterlebt hatten und die überwältigende Stärke des Simes, mußte es der schlimmstmögliche Schrecken sein, den sie sich vorstellen konnten, ein Gen zu werden. Ihre Nachbarn, ihre Eltern, ihre Schwestern und Brüder, ihre Schulkameraden – alle würden sie plötzlich als Objekt für eine Vorzugstötung betrachten.
Die Ungewißheit und Unsicherheit waren für sie eine genauso schwarze Wolke, wie sie es für ein Kind im Gen-Territorium waren. Nur daß man auf der Gen-Seite der Grenze den Wechsel zu einem Sime-Erwachsenen fürchtete – gejagt, verachtet, gehaßt von Verwandten und Freunden. Wie viele Halbwüchsige, die sich hilflos im Griff des Wechsels befanden, hatten versucht, sich vor ihren Eltern zu verstecken, und waren, als ihnen dies nicht gelang, von denen zu Tode geprügelt worden, die einst Liebe zu ihnen bekannt hatten.
Und wieviel von der Elternliebe war entstellt von der Angst, daß sich dieses Kind verwandeln und sie angreifen könnte, während sie schliefen? Es ist ein Wunder, dachte Valleroy, daß es auf beiden Seiten der Grenze überhaupt geistig normale Erwachsene gibt!
Aber vielleicht war das der Kern des Problems. Andles Simes waren in Angst aufgewachsen, Gens zu werden. Sie akzeptierten ohne Frage, daß der natürliche Instinkt noch stärker war als elterliche Liebe. Wenn er so mächtig war, dann mußte er moralisch sein. Sie mußten Gens in eine untermenschliche Kategorie einordnen, um zum Töten fähig zu sein. In dieser Hinsicht waren sie nicht richtig bei Verstand.
Andererseits mußten die Gens davon überzeugt sein, daß Simes die böse Brut des Teufels waren, gesandt, die Unversehrtheit der nichtmutierten Gestalt der Alten zu vernichten. Die Mission des Gen war es, die Rasse rein zu halten. So gesehen war es in Ordnung, Simes zu töten, weil Simes keine richtigen Menschen waren, sondern lediglich vollkommen böse Kreaturen, die wie Menschen aussahen, solange sie Kinder waren. In dieser Hinsicht waren die Gens nicht richtig bei Verstand.
Valleroy legte einen neuen Ast ins Feuer und sah zu, wie sich der Ruß an der Decke sammelte. Er hatte bis jetzt nie bemerkt, wie anders seine eigene Kindheit im Grunde genommen gewesen war. Seine Mutter hatte ihn geliebt – vorbehaltlos, von ganzem Herzen, ohne die geringste Einschränkung. Und er hatte sie geliebt und ihr vertraut, weil er wußte, sie hätte ihn als Sime wie als Gen genauso geliebt. Viele Male hatte sie mit ihm geprobt, was er tun mußte, wenn er sich im Wechsel befand. Sie hatte ihn auf dem geheimen Pfad zur Grenze gebracht und ihm gesagt, wie er die grünen Banner der Pferche fand. „Du kannst nichts mitnehmen außer meiner Liebe zu dir. Aber die mitzunehmen darfst du nicht vergessen.“
Sie hatte nicht lange genug gelebt, um sehen zu können, in welche Richtung sein Leben führen würde. Aber sie hatte sich eigentlich nicht so sehr gesorgt. Er war ihr Sohn, so oder so. Nachdem sein Vater gestorben war, hatte ihre Haltung das geborgene Leben seiner Kindheit durchdrungen. Es war dasselbe Gefühl gewesen, das er in Zeor von neuem entdeckt hatte. Anerkennung als Person, nicht als Körper.
Für einen kurzen Augenblick fiel ihm Yenavas Wissenschaftsklasse im Schulgarten ein. So oder so – sie haben nichts zu fürchten, hatte sie gesagt. Es war später am gleichen Tag gewesen, daß ein kürzlich von außerhalb der Haushalte aufgenommener junger Gen Valleroy das Geheimnis der besonderen Fähigkeiten der Gefährten anvertraut hatte. Sie wußten von Kindheit an, daß sie sowohl als Sime wie auch als Gen einen sicheren Platz in der Erwachsenenwelt haben würden. Vielleicht war das die Eigenschaft gewesen, die Klyd während jenes Augenblicks zwischen den Gewächshäusern in ihm gespürt hatte.
Aber es gehört mehr als Sicherheit in der Kindheit dazu, ein Gefährte zu werden, dachte Valleroy. Es bedurfte einer Ausbildung und Erziehung, die er nie haben würde. Zum Beispiel war unter Simes weithin akzeptiert, daß sowohl Simes als auch Gens Mutanten waren – und daß keine Gattung den Alten näherstand.
Die Nichtgetrennten benutzten dies, um zu beweisen, daß Gens nicht menschlich waren. Aber Valleroy hatte das Gefühl, daß die Wahrheit allein von den Haushalten gesehen wurde. Er erinnerte sich an die Art, wie Klyd seine Hand umfaßt hatte. „Schau dir unsere Hände an und sag mir, sie gehören nicht zusammen!“ Ein Sime und ein Gen waren nötig, um die Entsprechung eines Alten zu sein.
Vielleicht.
Ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn. Vielleicht wäre Zelerods Weltuntergang ein Segen, eine Möglichkeit, nur Simes überleben zu lassen, die mit Gens zusammenleben konnten, und Gens, die mit Simes zusammenleben konnten … Kanäle und Gefährten. Die Haushalte hemmten die Evolution. Aber dann, dachte Valleroy, hat das Vermeiden menschlichen Elends schon immer die Evolution behindert. Es würde einfach nur länger dauern, dorthin zu kommen, wohin immer sie gingen. Valleroy war nicht in Eile.
Er schürte das Feuer und wanderte unruhig in der Höhle umher.
Gens sahen genauso aus wie die Alten. Aber wie konnte man je herausfinden, ob die Alten Selyn produziert hatten? Als die Simes angefangen hatten, die Geschichte aufzuzeichnen, waren keine Alten mehr am Leben gewesen. Deshalb war alles, was die Simes hatten, eine ungenaue Überlieferung, daß es in der Zeit des Chaos ein paar Leute gegeben hatte, die wie Gens ausgesehen, jedoch kein Selyn-Feld-Potential gehabt hatten. Erwachsene, die so selyn-neutral waren wie Kinder …
Aber dies war nur eine Sime-Überlieferung. Diese Ansicht war niemals bis zum Gen-Territorium durchgedrungen. Sie würde von Gens auch nie akzeptiert werden, es sei denn als pure Propaganda, die die Heiligkeit der Alten unterminieren sollte. Das war eine Heiligkeit, die zu respektieren Valleroy gelehrt worden war. Jetzt merkte er, wie sich dieser Respekt in Abneigung gegen die modernen Gen-Anschauungen verwandelte.
Wenn Andle und seine selbstgerechten Anhänger die Bösewichter unter den Simes waren, so war die Kirche der Reinheit der Bösewicht unter den Gens. Beide verhinderten die Vereinigung, die für das rassische Überleben die einzige Chance war.
Trotz des windgepeitschten Schnees, der um den Höhleneingang wirbelte, konnte Valleroy die Sterne sehen, wie Klyd sie bezeichnet hatte. Er empfand wieder eine neue Hingabe an das Ideal des Haushalters einer Sime-Gen-Union. Das war ein Ziel, wichtiger als das Leben einer jeden einzelnen Person.
Plötzlich kam es Valleroy so vor, als sei er bis zu diesem Augenblick ein Kind gewesen, das sich um das größere Stück Zucker balgte. Von seinem neugefundenen Höhepunkt der Reife aus fragte er sich, was es gewesen war, das ihn all diese Jahre angetrieben hatte. Was spielte seine Kunst eigentlich für eine Rolle, wenn Zelerods Weltuntergang unvermeidlich war? Was konnte er mit seinem Talent bewirken, das auch in vierzig Jahren noch von Bedeutung sein würde?
Diese Frage hallte in seinem Gehirn wider und wider, während draußen der stille Schnee in einer echolosen Fülle schräg vom Himmel fiel. Er schob einen weiteren Scheit ins Feuer und stand auf und streckte sich. Sein Körper war so taub von der Kälte, wie sein Verstand vom Schock der Erkenntnis taub war, daß alles, was er sich je gewünscht hatte, so unglaublich bedeutungslos war. Aber er hatte nichts, um das plötzliche Vakuum zu füllen – außer Klyds Idealismus. Er war eine brennende Realität für den Kanal, aber für Valleroy blieb er abstrakt.
Bis auf die Knochen durchgefroren, kroch er neben dem Sime unter die Decken. Klyd rührte sich nicht einmal, und bald versank Valleroy in einem unbeständigen Schlummer, durchsetzt mit Stunden teilnahmslosen Tagträumens. Der dichte Schneevorhang hielt die Gefahr in Schach, während das bedrückende Warten die Eile abstumpfte, die sie beide bald zum Tod verdammen mochte – oder zu Schlimmerem.