Visionen
Der nächste Morgen sah sie auf dem Weg nach Hause, wie sie die wohlriechenden Brisen des Altweibersommers genossen. Die Luft schien lebendig, durch die Herbstregen von der Trockenheit des Sommers regeneriert. Jeder berauschende Atemzug mehrte Valleroys träge Zufriedenheit.
Sie ritten in stetigem, jedoch gemächlichem Tempo, da sie das Verlangen teilten, diesen Moment gegen den rasch nahenden Winter zu bewahren. Links von ihnen schien ein Gebirgskamm, der parallel zu ihrem Weg verlief, lange Finger nach ihnen auszustrecken, wie eine riesige Klaue, die die Erde packte. Die Täler zwischen den Bergrücken wirkten wie felsige, abweisende Rinnen. Hier und dort konnte man ein Überbleibsel uralter Bauweise sehen. Aber zum größten Teil gab es nichts als kahlen, rissigen Fels, der allein von Nebenschleiern aufgeweicht wurde.
Rechts von ihnen wurde das ordentliche Flickwerk von Farmland gelegentlich von quer verlaufenden Landwirtschaftswegen durchzogen. Es war ein Morgen, an dem man es genoß, lebendig und frei zu sein, ein Morgen, der die glücklichsten Erinnerungen der Kindheit und die wildesten Streiche der Jugend heraufbeschwor.
Trotz seiner heiteren Gelassenheit und der Fülle des Gefühls heimzukehren, blieb sich Valleroy brennend dessen bewußt, wie sich dieser Morgen für Aisha präsentieren mußte – wenn sie noch lebte. Gefangen. Sie war nicht der Typ, der sich vor der Bedrohung, sterben zu müssen, zusammenkauerte. Aber selbst für ihren Mut gab es Grenzen.
Mut? Ja, dachte Valleroy, er hatte sie um diesen aufwendigen Mut immer bewundert, von dem ihr nicht bewußt zu sein schien, daß sie ihn hatte. Er erinnerte sich daran, wie er ihn das erste Mal in Aktion erlebt hatte.
Es war ein Tag ganz so wie dieser gewesen – sonnig, mild und fast zu schön. Sie waren damals kaum mehr als Kinder gewesen, die sich für einen Tag allein davonschlichen, um ein paar der gewaltigen Ruinen der Alten zu erkunden. An diesem Tag, erinnerte sich Valleroy, hatten sie das erste Mal über Simes diskutiert.
Die Ruinen waren nichts weiter als ein riesiger, brütender Haufen Schutt mit einem gelegentlich aufragenden Skelett, das sich weigerte einzustürzen. Aber zu dieser Atmosphäre des unberührten Verfalls alternder Würde kam der quälende Schrecken des Sime-Berserkers hinzu.
Hierher, in diesen grotesken, trügerischen, von Höhlen durchzogenen Dschungel, kamen die Opfer des Wechsels, um während ihrer wenigen verwundbaren Stunden dem Getötetwerden zu entgehen. Nicht viele von ihnen überlebten, aber jene, die es schafften, hatten Legenden des Schreckens geschaffen, die wie ein sichtbares Leichentuch an den bizarren Blöcken künstlichen Gesteins klebten.
Valleroy mochte diesen Ort, weil ihn die anderen Leute mieden. Er war wie sein eigenes, privates Eigentum – eine einzigartige Empfindung für ihn. Er wußte, daß er allein den Schlüssel zum sicheren Eindringen besaß – das Sternenkreuz. Mehrere Stunden lang hatten er und Aisha in den Ausläufern des verbotenen Gebietes herumgeschnüffelt. Stück um Stück streiften sie tiefer in das zerklüftete Gelände hinein. Aus einem Impuls heraus lud er sie ein, mitzukommen und den geheimen Tempel zu sehen, den er seinem eigenen Geist errichtet hatte … sein geheimes Versteck.
Sie kletterten über zerbröckelndes Gestein, überhäuft mit zottigen Ranken, Grasbüscheln und gelegentlich auch mit Gestrüpp. Kurz zuvor hatte es geregnet, was frische Pfützen und neu eingeschnittene Rinnen hinterlassen hatte, die ihm die sonst benutzten Wege versperrten. Er wählte seinen Fußhalt mit prahlerischer Leichtigkeit und war sich eindringlich des Eindrucks bewußt, den er auf sie machte.
Sie folgte, wobei sie nach jedem winzigen Geräusch davonhuschender Nagetiere oder fliehender Vögel verstohlene Blicke abschoß. Er suchte ein paar Meter vor ihr, in Kopfhöhe, einen Pfad aufwärts. Er bewegte sich mit dem ganzen zuversichtlichen Stolz eines Eigentümers in seinem Privatgarten. Deshalb war sie es, die die Leiche entdeckte.
Ihr ersticktes Keuchen brachte ihn in drei hüpfenden Sprüngen zu ihr zurück. Seitlich ihres Weges und unterhalb von ihnen füllte ein großer Regenwassersee eine Vertiefung aus, in der Baumaterial abgetragen worden war. Das Wasser stand spiegelglatt unter dem klaren, blauen Himmel. Nahe der Mitte des Sees schwamm ein Körper mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt, wie um nach etwas gerade außer Reichweite zu greifen.
Selbst von dort, wo sie standen, konnten sie die aufgewölbten Erhebungen sehen, die sich gerade erst entlang der Unterarme entwickelt hatten. Sie wußten, daß sie die mit Flüssigkeit gefüllten Tentakel-Scheiden sahen, bis zu der schmerzhaften Anspannung gestrafft, die dem Durchbruch der Tentakel vorausging. Diese Beinahe-Sime war gestorben, unmittelbar bevor der Wechsel vollendet gewesen war, unmittelbar bevor die Öffnungen am Handgelenk aufgebrochen waren, um die Tentakel freizugeben, die Selyn saugen würden.
„Sei unbesorgt, Aisha. Sie ist tot. Sie kann jetzt niemandem mehr weh tun.“
Aisha hatte sich einmal gequält geschüttelt und die umliegenden Ruinen angeblickt. Sie hatte die Gefahr gekannt, bevor sie zugestimmt hatte mitzukommen. Sie bat jetzt nicht darum zurückzugehen.
Ein paar Minuten lang ging Valleroy neben ihr und hielt ihre Hand. Aber dann wurde der Kletterpfad wieder schwieriger, und sie kamen nur im Gänsemarsch weiter. Sie war eine gute Kletterin, die nie eine Bewegung verschwendete oder zu ermüden schien. Sie war das einzige Mädchen, mit dem Valleroy immer gern unterwegs war.
Schließlich erreichten sie Valleroys privaten Schlupfwinkel. Eigentlich war er wenig mehr als eine Höhle, nur von ein paar zerbrochenen Spiegelstücken erhellt, die so aufgestellt waren, daß sie das Außenlicht reflektierten. An einem sonnigen Tag wie diesem war es drinnen hell und freundlich.
Er hielt das Gewirr von Ranken beiseite, das er gezüchtet hatte, um den Eingang zu tarnen, und winkte sie hinein.
Ihr Keuchen der Anerkennung war Lohn genug. Sie ging einmal in dem Raum herum, schritt von der grob zusammengezimmerten Staffelei, die er in der einen Ecke aufgestellt hatte, an den Zeichnungen vorbei, die ihm gut genug gefallen hatten, daß er sie aufbewahrte, und weiter zu seiner Steinsammlung, die auf einer zerlumpten, aber peinlich sauberen Decke ausgebreitet war. Ihre erstaunte Ehrerbietung zeigte ihm, daß sie den Wert dessen, was sie sah, kannte … ihn kannte und ihn ebensosehr schätzte wie er.
Sie hielt an, von einer seiner Zeichnungen fasziniert. Er selbst war es, dargestellt als erwachsener Sime, der auf einer windumtosten Bergkuppe stand, einen Arm mit Tentakeln erhoben, als bemühe er sich, eine vorbeiziehende Wolke zu berühren. Leise glitt er auf die Bank vor seiner Staffelei und skizzierte sie so, wie sie als Sime aussehen würde.
Das war das erste Mal, daß er ihre Schönheit zu Papier gebracht hatte. Er zeichnete sie, wie sie da vor ihm stand … ernst, empfindsam, offen, nicht verlangend, nicht verdammend.
Als sie sich zu ihm umdrehte, sagte sie verwundert: „Du hast keine Angst … vor dem Wechsel … nicht wahr?“
Zur Antwort reichte er ihr, was er gezeichnet hatte. Sie blickte es mehrere Minuten lang stumm an, wobei ihre Blicke gelegentlich zu dem erhobenen Sime-Arm auf der anderen Zeichnung abschweiften. „Vielleicht hast du recht, Hugh. Vielleicht macht es keinen Unterschied … für die, die überleben.“
„Wir sind jetzt beide über sechzehn. Für keinen von uns ist der Wechsel noch wahrscheinlich.“
Sie wandte sich dem Bild von der windumtosten Hügelkuppe zu. „Bist du enttäuscht?“
Hier, an diesem Ort, sicher vor neugierigen Ohren und der Zensur seiner Kameraden, wagte Valleroy zu antworten: „Ich weiß nicht.“
„Wahrscheinlich wirst du es nie wissen.“
„Wirst du mich melden?“
„Nein.“ Sie ergriff seine Hand und strich mit ihren Fingern auf seinem muskulösen Unterarm entlang, hielt an dem grobknochigen Handgelenk inne, und zog dann eine Linie über die viel zu zarten, übermäßig feinknochigen Finger hinunter. Zum ersten Mal in seinem Leben genierte er sich dieser Hände nicht. „Hugh … vielleicht … hättest du ein Sime werden sollen … vielleicht wirst du es noch … Es ist schon Siebzehnjährigen passiert, sagt man.“
„Nicht oft.“
„Aber es könnte vielleicht … Hoffst du noch?“
„Ich glaube nicht, daß ich je gehofft habe.“
„Aber du hast auch niemals nicht gehofft.“
„Ich bin nicht sicher.“
„Wenn du es nicht … wirst … was wirst du dann mit deinem Leben anfangen? Malen?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Wieso nicht?“
Das konnte er nicht beantworten. Er versuchte es, aber seine Blicke kehrten immer wieder zu dem windumtosten Berg zurück. Es war kein gutgelungenes Gemälde … die Proportionen stimmten nicht … Er hatte zu sehr versucht, seine seltsamen Hände auf ein zu breites Handgelenk zu pfropfen … Die Tentakel waren auch nicht richtig. Aber er hatte nie das Bedürfnis gespürt, das Gemälde mit seinem reiferen Können neu zu malen.
Sie nickte. „Weil Malen zu persönlich ist? Weil du fürchtest, man würde dies hier in allem, was du machst, sehen?“
„Vielleicht. Oder vielleicht, weil Künstler für gewöhnlich am Hungertuch nagen. Davon habe ich genug, es hält ein Leben lang vor. Ich denke, daß ich irgend etwas anfange, was gut bezahlt wird, mit einem frühen Ruhestand. Die Armee vielleicht … oder die Einsatzmannschaften der Bundespolizei. Wenn ich mir meine Pension verdient habe, kann ich den Rest meines Lebens mit Malen verbringen. Ich werde die Arbeiten niemandem zeigen müssen … wenn ich nicht will.“
Jetzt saß Valleroy auf seinem Pferd und ritt gelassen neben einem Sime durch Sime-Territorium. Er war hier, um sein Ruhegehalt damit zu verdienen, daß er Aisha rettete – und alles, was er bisher getan hatte, war, seinen Lebensunterhalt mit Zeichnen zu verdienen. Er glaubte, er müsse sich schuldig fühlen, daß er sich so sehr vergnügte, während Aisha in solcher Gefahr schwebte. Aber es hatte nichts gegeben, was er dazu hätte beitragen können, sie zu finden. Nichts.
Klyd hatte während der vier Tage in Imil viel Zeit verbracht, die kürzlich erworbenen Gens abzuschirmen, Gerüchte aufzuschnappen und diskret nach weiteren Informationen zu sondieren. Aber er war auf keinen einzigen brauchbaren Hinweis gestoßen. Valleroy spürte, daß es jetzt an ihm lag, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber er war hilflos in einer fremden Gesellschaft gefangen. Deshalb ritt er weiter neben dem Kanal her und wechselte darin ab, mal den Tag zu genießen und mal vor Enttäuschung beinahe zu ersticken.
Am Mittag, als sie in einem schattigen Hain absaßen, um ihre Mahlzeit einzunehmen, sagte Valleroy: „Wenn man Nashmar so reden hört, sollte man meinen, die Straße würde vor unlizensierten Banditen, die auf der Jagd nach versprengten Gens sind, nur so wimmeln, aber wir haben noch keine Menschenseele getroffen.“
Klyd lachte, dann nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Feldflasche. „Nun, der Tag ist erst halb vorbei. Die meisten lizenzlosen Menschenjäger sind jetzt auf den Feldern mit der Ernte beschäftigt. Später werden sie sich auf den Weg nach Hause machen, müde und noch auf ein bißchen Spaß aus.“
„Wie ich hörte, nehmen sie sich auch eines Kanals mit großem Vergnügen an.“
Klyd nickte. „In dieser Jahreszeit suchen sie jedoch nach Gens.“
„Warum ausgerechnet jetzt?“
„Es existiert ein gut florierender Schwarzmarkthandel. Große Felder müssen abgeerntet sein, bevor sie vom Wetter ruiniert werden. Es ist billiger, die Arbeit unter Zusatz zu tun, als andere Simes einzustellen. Aber Zusatz verzehrt gewaltige Mengen Selyn – er kann die Tötungsrate des gewöhnlichen Sime verdoppeln. Es gibt noch einen Faktor. Der normale Sime genießt den Zusatz. Seine Pferch-Ration erlaubt ihm nicht sehr oft, mit voller Wirkungskraft zu funktionieren. Es ist nicht ganz wie Entran – aber vielleicht so ähnlich. Er wird sich auf dem Schwarzmarkt umsehen, wenn er es sich leisten kann. Wenn nicht, macht er sich vielleicht selbst auf die Suche. Ich habe von Gefangenen gehört, die im Frühling eingekerkert und den ganzen Sommer durchgefüttert worden sind – aufbewahrt für die Ernte.“
„Sadisten!“
Klyd schüttelte den Kopf. „Eine der Wurzeln von Zeors Überlegenheit ist, daß ich jedem meiner Simes nach einem regelmäßigen Plan gestaffelte Grade des Zusatzes gewähre. Es ist mehr als ein Vergnügen, Hugh, es ist eine Notwendigkeit.“
„Wie kann sich Zeor das leisten?“
„Wir haben die besten Kanäle. Wir bekommen einen höheren Selyn-Ertrag von jedem Spender der allgemeinen Klasse. Unsere Gefährten sind die besten.“
„Können Menschenjäger zwischen einem gewöhnlichen Haushalts-Gen und einem Gefährten unterscheiden?“
„Nein, aber Gefährten reisen im allgemeinen nicht allein.“
„Wenn die lizensierten Menschenjäger das Gebiet abgrasen, muß die Beute spärlich sein.“
„Manchmal, wenn die Mitglieder eines unlizensierten Haufens frustriert genug sind, gehen sie auf jeden los … Dann greifen sie sogar einen Haushalt an. Vor mehreren Jahren wäre Zeor bei einem solchen Überfall beinahe vernichtet worden.“
„Gibt es kein Gesetz dagegen?“
„Gewiß. Wenn die Angreifer überlebt hätten, wären sie streng gemaßregelt und mit einer hohen Geldstrafe belegt worden. Natürlich hätten wir von diesen Geldstrafen nichts erhalten, um Schäden abzudecken.“
„Oh.“ Valleroy runzelte die Stirn. „Aber ihr habt euch wieder erholt.“
„Nicht wirklich. Großvater ist nie richtig darüber hinweggekommen. Ich habe meine erste Frau und zwei Kinder verloren. Mein Bruder ist getötet worden. Meine Schwester starb aufgrund der erlittenen Wunden bei der Geburt ihres Kindes. Nein, Zeor hat sich nie wirklich erholt. Das ist ein weiterer Grund, weshalb wir Zinter brauchen.“
Valleroy schluckte dies schweigend. „Ich schätze, du hast das ernst gemeint … die Einladungen so früh vorzubereiten. Yenavas Kind wird die Hoffnung auf Zeors Zukunft sein.“
„Eigentlich sind die Einladungen noch nicht geschrieben worden. Großvater hat sich geweigert, dem Entwurf zuzustimmen, sie mit leeren Vorderseiten zu versenden. Aber es wird ziemlich gefeiert werden.“
Schweigend aßen sie ihr Mittagessen, bis Valleroy sagte: „Langsam glaube ich, daß Aisha tot sein muß.“
„Gerade jetzt, wo ich zu der Überzeugung gekommen bin, daß sie noch lebt?“
„Warum glaubst du das?“
„Andle hat etwas vor. Ich kann es in meinen Knochen spüren.“
„Sime-Intuition.“
„So etwas gibt es, weißt du. Diesmal plant er etwas Schmutziges. Ich habe Gerüchte kursieren hören, nach denen er damals hinter diesem Überfall auf Zeor gesteckt hat. Ich glaube nicht, daß er das noch einmal versuchen wird … Aber ich glaube auch nicht, daß er vorhat, dieses Mal wieder zu versagen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß er damit nicht durchkommt.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich werde mir etwas ausdenken. Brechen wir auf. Ich bin der Not nahe genug, um mich auf Denraus Gesellschaft zu freuen.“
Nachdem Valleroy seine Feldflasche an den Sattelknauf gehängt hatte, saß er auf und trieb das Pferd zu einem scharfen Galopp an. Denrau war ein echter Gefährte. Irgendwie war dieser Gedanke deprimierend. Er holte Klyd ein, dirigierte sein Pferd neben das des Kanals und bot an: „Wenn wir nach Hause kommen, werde ich die Einladungen entwerfen – wenn du willst.“
Klyd zog scharf an den Zügeln. Einen Moment lang forschte er in Valleroys Augen. Als er sprach, war seine Stimme sanfter. „Hugh, ich habe Denrau nicht erwähnt, um dich zu kränken. Du hast deine Sache gut gemacht, aber Denrau ist speziell für das Dienen ausgebildet.“
„Ich weiß.“ Valleroy wand sich unter diesem fesselnden Blick, überzeugt, daß er auf Denrau nicht eifersüchtig war.
„Wenn du dich entschließt, dich zu qualifizieren, bist du willkommen. Aber Großvater hat recht. Selbst wenn du tatsächlich dienst, bin ich darauf angewiesen, daß auch Denrau da ist.“
„Daraus wird nichts …“
Klyd ließ seinem Pferd wieder die Zügel. „Wir werden geehrt sein, wenn du die Einladungen entwirfst.“
Valleroy ritt den ganzen Nachmittag hindurch und ersann und verwarf in dem verzweifelten Bemühen, seine Gedanken von Aisha fernzuhalten, zahllose unterschiedliche Entwürfe. Als Klyd kurz vor Sonnenuntergang von der Straße in einen Obstgarten abbog, der wohl schon vor den Sime-Kriegen von den Alten aufgegeben worden war, hatte sich Valleroy noch immer nicht für einen bestimmten Entwurf entschlossen.
Klyd saß ab und sagte: „Zeor ist jetzt noch etwa einen Zwölfstundenritt von hier entfernt, und dies ist der letzte annehmbare Lagerplatz an der Straße.“
Valleroy schaute sich auf der Lichtung um. Ein träger Bach schlängelte sich an der einen Seite entlang, eine alte Steinhütte nahm die andere ein. Unter einem Vordach war ein Holzstapel gegen die Hütte gelehnt aufgeschichtet. Eine oft benutzte Axt hing neben einem verschrammten Schlagklotz. „Sieht bewohnt aus“, sagte Valleroy zweifelnd.
„Es gibt keine Seele im Umkreis von fünf Meilen. Die Station wird vom Straßenamt für Reisende unterhalten.“ Klyd führte sein Pferd unter das Dach des Holzschuppens.
Valleroy folgte und entdeckte eine Reihe von Boxen, durch eine bruchstückhafte Steinmauer vor Wind und Regen geschützt, die wie ein tragender Strebepfeiler in der Ecke des Gebäudes mündete. Valleroy zog die schwachen Markierungen nach, die neben dem alten Relikt im Boden verblieben waren, und sagte: „Das sieht nach wiederaufgebauten Vorkriegsresten aus.“
„Ist es auch. Wir kümmern uns sehr um den Wiederaufbau. Der Haushalt Frihill spezialisiert sich auf archäologische Forschung und schlägt einen ganz schönen Profit daraus.“
Valleroy schaufelte Korn in den Trog des Pferdes und knurrte: „Sind das diejenigen, die die Fotografie wiederentdeckt haben?“
„Ja. Gleichzeitig mit mehreren anderen Forschern. Sie wurde eher wiedererfunden als wiederentdeckt … Aber wir müssen noch immer eine Menge darüber lernen. Die Alten haben in Sachen Chemie wahre Wunder vollbracht.“
Die modernen Simes vollbringen mit der Chemie ebenfalls Wunder, dachte Valleroy. Aber er sagte nichts. Es hatte wenig Sinn, die Schwächen der Technologie der Gens herauszustellen. Er arbeitete schweigend weiter.
Nachdem die Pferde gründlich versorgt waren, legten sie eine kurze Pause ein und beobachteten den Sonnenuntergang über dem Tal. Es war eine dieser feurigen Herbstgluten, die jeden grauen Wolkenstrich in eine Symphonie strahlender Farbe verwandelten – das vollkommene Ende für einen vollkommenen Tag. Sie sahen gemeinsam zu, bis sich der Rand der Sonne hinter den Horizont senkte und den Himmel an die ersten Sterne abtrat. Nur das rasche Absinken der Temperatur erinnerte sie daran, daß sich der Sommer nicht endlos vor ihnen ausdehnte.
Nach einer Weile trugen sie Holz hinein und zündeten auf dem großartigen Steinherd ihr Feuer an. Valleroy kam es so vor, als sei die winzige Hütte um diese Feuerstelle, die für einen Raum größer als Zeors Speisesaal bemessen schien, herum gebaut worden. Bald machte das Feuer den Raum zu einem behaglichen Zufluchtsort gegen die Kälte der Nacht. Ein köstliches Reisgericht, das das Küchenpersonal von Imil für sie eingepackt hatte, erfüllte die Luft mit einem mundwässernden Aroma.
Klyd teilte die Ein-Teller-Mahlzeit, während Valleroy das geröstete Nußbrot zum Tisch brachte. „Ich bin versucht“, sagte Klyd, „Zinter gegen Imils Chefkoch einzutauschen.“
Valleroy blickte den drahtigen, dunkelhaarigen Sime scharf an. „Meinst du das ernst?“
„Nein, aber ich wünschte, ich täte es. Dies ist wirklich köstlich.“
Valleroy lachte und stach mit Genuß in die aufgehäufte Portion. Es war eindeutig eine der besten Mahlzeiten, die er je zu sich genommen hatte. Sie schmeckte wie pürierte Erbsen in Orangensoße, jedoch mit einer knackigen Beigabe, Äpfeln ähnlich, und scharf wie Nelken, aber salzig-süß. „Weißt du was“, sagte Valleroy, „vielleicht können wir das Rezept mit einem Portrait oder so etwas kaufen?“
„Das hört sich jetzt aber wirklich nach einer Möglichkeit an. Ich werde in derselben Minute, in der wir zu Hause ankommen, ein Verhandlungsteam darauf ansetzen.“
Sie aßen mit von der Reise geschärftem Appetit, ohne sich mit einer Unterhaltung ablenken zu lassen. Nachdem sie dann die Schüsseln in einen Kübel Wasser geworfen hatten, gingen sie hinaus, setzten sich auf die hölzerne Veranda und kauten knackige Äpfel. Der riesige, wie poliert aussehende Mond ging soeben auf, um sein sanftes Strahlen in die Nacht zu ergießen. Vor der Geräuschkulisse von Grillen und dem leise murmelnden Wasser des Baches erhob sich ein gelegentliches Kojotengeheul, die Vorherrschaft des Mondes anzufechten. Valleroy füllte die Lungen mit dem erlesenen Wohlgeruch frisch abgeernteter Felder und seufzte tief. Es war eine verzauberte Nacht, die außerhalb der Zeit stand.
„Weißt du“, sagte Klyd, „ich bin noch nie so glücklich gewesen.“
„Ich wollte gerade dasselbe sagen. Irgendwie, obwohl Aisha noch immer vermißt wird und Stacy wahrscheinlich schon Gesucht-wegen-Desertation-Handzettel mit meinem Bild darauf in Umlauf bringt … fühle ich mich glücklich.“
Klyd schleuderte das Kerngehäuse des Apfels in den Obstgarten hinaus. „Ich glaube“, sagte er, „ich weiß, weshalb ich glücklich bin. Es ist ein vorübergehender Zustand. Er wird nicht andauern und soll es auch nicht, aber …“ – er hielt inne und blickte Valleroy zweifelnd an – „… du wirst mich nicht verraten?“
„Meine Lippen sind auf ewig verschlossen! Was ist das Geheimnis des Glücklichseins?“
„Zeitpläne. Oder vielmehr deren Fehlen. Während der letzten acht Tage habe ich ohne Unterbrechungen geschlafen, ohne Notrufe gegessen, und es ist nicht von mir verlangt worden, daß ich ständig nach der Uhr lebe, um dies oder jenes zu tun.“
Auf Englisch sagte Valleroy: „Wir nennen das Urlaub und gönnen uns das einmal im Jahr.“
„Urlaub.“ Klyd kostete das Wort und imitierte den Gen-Tonfall. Dann lieferte er die Entsprechung auf Simelisch. „Jetzt weiß ich, weshalb wegen der Aufträge so viele Streitigkeiten ausbrechen.“
„Du meinst, ihr nehmt keinen Urlaub?“
„Nach dem Wechsel nicht mehr. Es hat bisher nicht genug Kanäle in Zeor gegeben, die all die Arbeit hätten tun können.“
„Ihr solltet ein massives Ausbildungsprogramm beginnen, um mehr Leute in diesen Beruf zu bekommen.“
„Kanäle werden geboren, nicht bloß ausgebildet. Und sie sind sehr selten.“
„Nun, dann braucht ihr ein wirksames Anwerbeprogramm. Eines, das darauf ausgerichtet ist, mehr Kanäle als Nichtkanäle anzulocken.“
„Die meisten Kanäle wissen nicht einmal, daß sie Kanäle sind, bis sie sich kurz nach der Reifung abtrennen. Die Abtrennung ist für einen Kanal viel schwerer als für einen gewöhnlichen Sime.“
„Sind Kanäle wirklich so sehr anders?“
„Oh ja. Anatomisch und psychologisch. Eine separate Mutation. Manche sagen, eine vollkommenere, denn wenn alle Simes Kanäle wären, würde Zelerods Weltuntergang nicht über uns hereinbrechen.“
„Das habe ich nie verstanden. Warum diese apokalyptische Vision?“
„Überleg einen Moment. Ein Nichtgetrennter braucht zwischen zwölf und dreizehn Tötungen im Jahr. In jedem Jahr seines Erwachsenenlebens. Vor hundert Jahren waren das im Durchschnitt nur zwanzig Jahre. Die meisten Simes sind während des Wechsels an pathologischen Komplikationen gestorben. Heute haben wir eine achtzigprozentige Überlebensrate, und die Lebenserwartung der Simes hat zugenommen. Ein Sime wird normalerweise sechzig oder siebzig Jahre alt. Weißt du, wie alt Großvater ist?“
„Nein.“
„Hundertfünf Jahre. Und in dieser ganzen Zeit hat er nie getötet. Das sind mehr als eintausend Gens, die er nicht getötet hat.“
„Jetzt verstehe ich, was du meinst.“ Valleroy überlegte ein paar Augenblicke lang und zählte die Faktoren in Gedanken auf. Jeder einzelne diente dazu, die Zahl der pro Jahr getöteten Gens zu vermehren. „Was werden die Simes tun, wenn alle Gens ausgerottet sind?“
„Sterben.“ Der Kanal flüsterte das Wort leise in die Nacht. Valleroy konnte die bebende Furcht in diesem einzigen Wort spüren. Das Schwatzen der Grillen stieg zu einem Crescendo an und verfiel dann in eine vorübergehende Stille, wie die von einer zu offenen Bemerkung verlegenen Gäste einer Feier.
Es ließ Valleroy seinen Atem anhalten, als fürchtete er, die Grillen hätten auf dieses Todesurteil reagiert – als könnten simple Insekten davon wissen und es verstehen. Dann nahmen sie ihr zirpendes Lied wieder auf, und Valleroy seufzte den bizarren Eindruck fort. „Also sollte das Tecton rekrutieren … eine mit aller Energie betriebene professionelle Kampagne … Massenpsychologie … all das.“
Klyd streckte die langen Beine aus, lehnte sich halb auf die Stufen zurück und betrachtete die Sterne. „Das ist im Innen-Territorium nicht nur illegal, sondern auch ungehörig. Die Gen-Gesellschaft hat sich auf Gebieten, die hier völlig weiße Flecken sind, eine hohe Stufe der Vollendung bewahrt. Wir haben Fotografie, Fruchtbarkeitsdrogen, ein bißchen rudimentäre Elektronik und eine gewisse Sachkenntnis in der Chemie. Ihr habt auf Massenproduktion basierende Industrien, mathematische Soziologie und verschiedenartige grundlegende Kenntnisse, die uns völlig fehlen.“
„Eine perfekte Situation für ein Bündnis?“
„Eine Situation, die ein Bündnis erfordert. Es gibt keine Wahl. Es ist nur die Frage, ob die Rasse lange genug überleben wird, um damit anfangen zu können.“
Valleroy schnippte das Kerngehäuse seines Apfels in einem hohen Bogen Richtung Mond. „Wenn die Kanäle zwischen dem gewöhnlichen Sime und dem Gen stehen, dann hätten wir vielleicht gerade noch eine Chance.“
„Aber nur den knappesten Hauch einer Chance.“ Klyd zog die Beine an und wandte sich dem Gen zu, wobei eine eifrige Erregung in jeder Linie seines angespannten Körpers geschrieben stand. „Die Sime-Gen-Union wird zuerst auf dem Vertrauen in die Kanäle basieren müssen. Aber schließlich werden alle Gens als Gefährten ausgebildet sein. Kein Gen wird mehr Grund haben, sich vor einem Sime zu fürchten. Kanäle werden dann einfach nur Menschen sein … nicht mehr Sklaven eines Talents, das zu erben wir uns nicht gewünscht haben.“ Er machte eine Handbewegung. „Schau dir die Sterne an und sag mir, was du siehst.“
„Tausende von Tupfern.“
„In den alten Büchern heißt es, sie sind Sonnen … viele davon genau wie unsere und wahrscheinlich mit Planeten fast wie der unsrige. Vielleicht sogar mit Menschen wie uns, wer weiß? Die Alten hatten sie gerade erst angefangen zu erforschen, als die Mutationen anfingen.“
„Den Himmel erkunden?“ Valleroy konnte das nicht ganz glauben, aber die mächtige Vision, die Klyd heraufbeschworen hatte, kam ihm an diesem stillen Abend schrecklich wichtig vor.
„Hugh, sie sind tatsächlich auf dem Mond und dem Mars herumgelaufen! Sonden haben sie sogar noch weiter hinausgeschickt.“ Klyd nahm Valleroys Hand, ergriff sein breitknochiges Handgelenk, um den Kontrast zwischen der klaren Einfachheit des Gen-Armes und der komplizierten Harmonie der Sime-Konturen sichtbar zu machen. „Schau dir unsere Hände an und sag mir, sie gehören nicht zusammen! Wiedervereint wird die Menschheit zu den Sternen fliegen … und weiter … Es gibt keine Grenzen für das, was wir schaffen können, wenn wir aufhören, einander zu töten und lernen, die Stärken und Schwächen des anderen zu gebrauchen.“
Neben der Hand des Simes erschienen Valleroy die eigenen Finger mehr wie Gen-Finger als je zuvor. Mit einer jähen Anstrengung riß er seinen Blick von den Sime-Tentakeln los und schaute den Mond an. Seine Mutter hatte ihm Geschichten von Männern und Frauen erzählt, die auf dem Mond lebten. Er hatte immer geglaubt, es habe sich dabei um Märchen gehandelt. Jetzt ließ die Großartigkeit dieser Vision Tränen in seine Augen treten. Seine Stimme war ein belegtes Flüstern, als er sagte: „Jaaaah … zusammen könnten wir es schaffen.“
Er fühlte sich, als hätte er sein Leben einer Sache gewidmet, die größer als sein eigenes Dasein war – und es war ein außerordentlich gutes Gefühl.