»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Laura und legte mir eine Hand auf die Schulter, während sie einen dampfenden Becher Kakao vor mir auf den Tisch stellte. Ich lächelte sie dankbar an. Ich hatte ihr von der Hölle erzählt, die gerade mein Leben darstellte, und wie es sich für eine beste Freundin gehörte, verwöhnte sie mich nach Kräften.
Padre Corletti hatte uns nicht viele Informationen geben können. Aber offenbar war Abaddons Zeichen in dem Kellergewölbe gefunden worden, wo man den Knochenstaub aufbewahrt hatte. Der Priester, der sich gerade dort aufgehalten hatte, war nur noch in der Lage gewesen, ein einziges Wort auszusprechen – Dezimator –, ehe er ins Koma gefallen war.
Goramesh war allgemein auch unter seinem Beinamen Dezimator bekannt.
»Eines ist jedenfalls sicher«, meinte Eddie. »Ganz offensichtlich gibt es in der Forza ein paar ziemlich faule Eier.« Er sah mich an. »Und fang bloß nicht wieder an, sie zu verteidigen«, fuhr er fort. »Ich behaupte ja gar nicht, dass alle dort korrumpiert sind. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass niemand – nicht einmal ein unbesiegbarer Superheld in Dämongestalt – in die Keller des Vatikans kommen kann, um dort die Lazarus-Knochen zu stehlen, wenn er nicht jemanden hat, der ihm dabei hilft.«
Ich widersprach Eddie zur Abwechslung einmal nicht, was wohl daran lag, dass ich wusste, wie Recht er hatte.
»Es ist im Grunde völlig egal, wie sie an die Knochen gekommen sind«, gab David zu bedenken. »Die Frage lautet doch vielmehr: Was machen wir jetzt?«
»Wenn wir überhaupt irgendetwas tun können«, sagte ich. »Denn solange Gora-don nicht nach San Diablo zurückkehrt, ist er eigentlich nicht unser Problem.«
»Wir können ihn aber zu unserem Problem machen«, meinte er. »Wir können ihm folgen. Ihn jagen und töten, ehe er noch mehr Zerstörung in der Welt anrichtet. Ich finde, das sind wir Father Ben schuldig. Meint ihr nicht?«
»Natürlich«, entgegnete ich, wobei ich mich ziemlich überrumpelt fühlte. »Aber ich kann nicht einfach die Koffer packen und um den Globus reisen. Ich habe ein Zuhause. Eine Familie. Wurzeln.«
»Auch jetzt noch?«, fragte David, woraufhin ihn Laura, Allie und Eddie fassungslos anstarrten.
Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst – dem Mann, den ich von ganzem Herzen liebte. Er hatte eine weitere Grenze überschritten, weil er nicht der einzige Mann war, den ich liebte, und er das genau wusste.
»Kate«, meinte Laura warnend. Offensichtlich begriff sie, was in mir vor sich ging.
Sie machte eine Bewegung mit der Hand, wie Mütter sie benutzen, um ihren Kinder zu bedeuten, bloß brav sitzen zu bleiben.
Ich blieb sitzen. Finster starrte ich vor mich hin, während ich mich fragte, ob ich zur Belohnung für meine Bravheit wenigstens einen Keks bekommen würde.
»Daddy hat Recht«, sagte Allie. »Wir würden ja nicht für immer weg sein. Aber wenn wir eine Spur hätten, dann sollten wir der folgen, nicht wahr? Für Father Ben, meine ich«, fügte sie hinzu.
»Ach, Liebling«, erwiderte ich und merkte, wie mein Herz wieder weicher wurde. »Glaub mir, ich will dieses Monster genauso dringend zerstört sehen wie ihr. Aber dafür bräuchten wir erst einmal eine Spur. Und die haben wir nicht. Wir haben überhaupt nichts, wonach wir gehen könnten.«
»Dann lass uns heute Nacht auf Patrouille gehen«, schlug David vor. »Vermutlich finden wir nichts. Aber vielleicht begegnen wir auch einem Dämon, der uns einen Hinweis darauf geben könnte, wohin Gora-don verschwunden ist.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte Allie und sah zuerst mich und dann David an, ehe sie die Hände faltete wie zum Gebet. »Bitte! Ich werde mich auch ganz brav verhalten. Ehrlich. Ich werde total vorsichtig sein.«
Ich sah David an, dessen Gesicht ausdruckslos wirkte: Diesmal war es meine Entscheidung. David sollte mich nicht noch einmal derart vorführen.
»Gut«, sagte ich und holte tief Luft. »Du kannst mitkommen.«
»Toll!« Allie machte einen Sprung und begann dann begeistert durch die Küche zu tanzen. Ich musste trotz meiner Sorgen lächeln.
»Glaubt ihr wirklich, dass ihr etwas herausfinden werdet?«, fragte Laura. »Ich meine, warum sollte er hierher zurückkehren? Da draußen in der Welt gibt es eine riesige Menge von Friedhöfen. Unendlich viele Leichen, die man wieder zum Leben erwecken kann.«
»Aber es muss einen Grund geben, nach San Diablo zu kommen«, widersprach Allie. »Schließlich sind sie auch das erste Mal hierhergekommen.«
»Aber nur, weil hier die Lazarus-Knochen versteckt waren«, warf ich ein.
»Und warum hat er dann nicht einfach die Knochen genommen und ist verschwunden?«, entgegnete meine Tochter. »Warum ist er hiergeblieben und hat versucht, Tote zu erwecken? Damals warst du doch auch Goramesh auf den Fersen. Er wusste, dass es zu einem Kampf kommen würde. Wieso ist er also nicht einfach verschwunden?«
Ja, warum nicht?
»Die Kleine hat Recht«, meinte auch Eddie. »Gibt es irgendetwas in San Diablo, was diesen Ort besonders geeignet macht, um Tote auferstehen zu lassen?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte ich. »Aber«, fügte ich hinzu, »in dieser Stadt ist alles möglich.«
»Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich, dass Allie Recht hat«, sagte ich später am Abend, als wir am Strand auf Patrouille gingen.
»Ich bin super!«, rief Allie, die zwischen David und mir lief. »Womit habe ich denn Recht?«
»Dass Goramesh aus einem ganz bestimmt Grund versucht hat, die Lazarus-Knochen gerade hier zu verwenden. Und das muss bedeuten, dass auch Gora-don bald wieder zurück sein wird.«
»Und welcher Grund soll das sein?«, wollte David wissen.
»Da bin ich mir nicht sicher«, gab ich zu. »Aber denk doch mal nach. Goramesh hat ein großes Brimborium darum gemacht, seine Armee von Toten gerade hier zusammenstellen zu wollen, obwohl wir ja auch keine Fässer voll Lazarus-Knochen hatten. Ich frage mich also, für wie viele Leichen so ein kleiner Beutel gut ist?«
»Wie viel hast du gebraucht, um mich wieder zum Leben zu erwecken?«
»Nicht viel«, musste ich zugeben. Ich runzelte die Stirn.
»Vielleicht plant er einfach nur, mit dem Knochenstaub so viele Tote wie möglich zu erwecken, bis er ihm ausgeht. Aber ich glaube, mit dem Staub und unserem Friedhof muss es noch eine andere Bewandtnis haben. Vielleicht ist es ja so, dass die Lazarus-Knochen hier sozusagen eine exponentielle Wirkung entfalten.«
»Du meinst wie eine Kettenreaktion«, sagte Allie. »Ein Toter verbindet sich mit dem nächsten und der wiederum mit seinem Nachbarn, bis sich alle Toten erhoben haben und ihr Zombieding durchziehen?«
»Ja, so in etwa.«
»Aber das können wir nicht beweisen«, gab sie zu bedenken. »Wir haben schließlich keinen Staub mehr übrig.«
»Und außerdem waren wir auf dem Friedhof, als du mich wiedererweckt hast«, fügte David hinzu. »Ich habe nicht bemerkt, dass durch meine Rückkehr ins Leben andere Tote dasselbe getan hätten.«
»Stimmt. Aber du warst ja auch noch nicht begraben. Da war das vielleicht etwas anderes.«
Wir sahen uns an und zuckten mit den Achseln. Es mochte zwar eine ganz passable Theorie sein, aber beweisen konnten wir sie nicht.
»Und? Stellen wir am Friedhof eine Wache ab?«, wollte Allie wissen. »Vielleicht sollten wir dort in regelmäßigen Abständen patrouillieren.«
»Wir müssen auf jeden Fall öfter auf Patrouille gehen«, erwiderte ich. »Aber falls Gora-don tatsächlich vorhat, gerade auf unserem Friedhof seine Armee der Toten zu rekrutieren, wird es ihm nicht schwerfallen, das zu einem Zeitpunkt zu tun, wenn wir nicht da sind. Wir ziehen ab, Gora-don kommt, und ein paar Stunden später – Puff! – haben wir eine Armee.«
»Igitt!« Allie schüttelte sich. »Eine echt gruselige Vorstellung.«
»Kann man wohl sagen«, gab ich zu.
»Aber wir wissen doch gar nicht, ob diese Vorstellung überhaupt zutrifft«, sagte David. »Und heute Nacht werden wir es wohl auch kaum mehr herausfinden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir heute Nacht noch irgendetwas finden. Soweit ich das einschätzen kann, scheint sich der Dämon fürs Erste aus dem Staub gemacht zu haben.«
Er grinste Allie an, die daraufhin mit den Augen rollte. »Aus dem Staub… Mann, Daddy.«
»Tut mir leid, konnte nicht widerstehen«, antwortete David. Er trat zwischen uns und legte einen Arm um die Schultern seiner Tochter. »Wie wäre es, wenn wir für heute abbrechen? Ich glaube nicht, dass es sich noch lohnt, länger auszuharren.«
»Ich auch nicht«, sagte ich.
»Gut.« Er nahm meine Hand. »Rührt euch, Jäger.«
Sanft drückte er meine Finger, und ich erwiderte den Druck. Ich fühlte mich in diesem Moment geborgen und geliebt. Wenn ich ganz ehrlich war, so sehnte ich mich nach David beziehungsweise Eric. Ich sehnte mich nach Nähe und Vertrautheit.
Nach Familie.
Das Dumme war nur, dass wir drei keine Familie bildeten. Jedenfalls nicht mehr.
Sobald ich wieder zu Hause und ins Bett gegangen war, zog ich mir die Decke über den Kopf und weinte. Ich liebte Eric mit jeder Faser meines Wesens, aber mir fehlte Timmy. Und mir fehlte Stuart.
Mir fehlte mein altes Leben.
Am Samstagvormittag beschloss ich, dass Laura dringend heiliggesprochen werden müsste. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ein Nichtkatholik zu einem katholischen Heiligen werden konnte, aber ich nahm mir fest vor, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um sie in diese erlesene Gesellschaft einzureihen. Während ich mich nämlich in dem zu unserer Wohnsiedlung gehörigen Park umsah, in dem es eine Hüpfburg, Essensstände, einen Streichelzoo und zahlreiche Spielbuden für die Kinder gab, wusste ich, was wahre Freundschaft bedeutete. Laura hatte heldenhaft und selbstlos die Rolle der Komiteeleitung auf sich genommen, weil ihre beste Freundin so sehr mit Dämonen und Ehemännern beschäftigt war, dass sie in der normalen Welt der Osterfeste und nachbarschaftlichen Verpflichtungen kaum mehr zu funktionieren vermochte.
Allerdings war es mir bereits vor den dämonischen und ehelichen Problemen schwergefallen, die alltäglichen Pflichten souverän zu bewältigen. Trotzdem war es gut zu wissen, dass Laura mich immer fraglos unterstütze, ganz gleich, was auch geschah.
»Ein gelungenes Fest, nicht wahr?«, meinte sie und reichte mir einen der Eis-Doppeldecker, die das Komitee in meiner Küche vorbereitet hatte.
»Ja, es ist wirklich sagenhaft, was ich alles zustande bringe, wenn ich meine ganze Kraft woanders hineinstecke«, erwiderte ich grinsend.
»Mami! Mami!«
Ich blickte auf, und mein Herz schlug einen Salto rückwärts. Timmy rannte auf mich zu. Ich fing ihn mit beiden Armen auf, hob ihn hoch und wirbelte ihn mehrmals durch die Luft, bis er vor Begeisterung kreischte. »Hallo, großer Mann! Ist es schön, so viel Zeit mit Daddy zu verbringen?«
»Es gibt keinen Affen«, erklärte er betrübt und zog einen Schmollmund. Zuerst begriff ich nicht, was er damit sagen wollte. Doch dann wurde mir klar, dass Stuart in der Firmenwohnung, in der er jetzt mit Timmy lebte, wohl keinen Kabelanschluss und somit auch keinen Coco hatte. Meine armen Männer. Sie hatten es wirklich nicht leicht.
Apropos Männer – der ältere der beiden kam ebenfalls auf mich zu. Er war ganz in Grau gekleidet. In Plüschgrau. Mit Ohren und einem Puschel aus weißer Watte.
Ich musste ein Lachen unterdrücken. »Wenn deine Gegner von dir ein Foto in diesem Aufzug in die Hände bekommen«, meinte ich mit ernster Miene, »dann ist die Wahl wohl gelaufen.«
»Vielen Dank. Vielen herzlichen Dank.«
Ich legte den Kopf zur Seite und blickte Stuart an. »Aber vielen Dank, dass du das übernommen hast. Die Kinder wären bestimmt sehr enttäuscht gewesen, wenn es keinen Osterhasen gegeben hätte.«
»Kein Problem«, erwiderte er und räusperte sich. »Und? Weitere Dämonen gefangen? Bist du noch immer… Wie heißt das? Auf Abruf bereit?«
»In der Zwischenzeit ist nicht viel passiert«, gab ich zu. »Aber ich halte die Augen offen.« Für einen Moment zögerte ich, da ich mir nicht sicher war, ob dies der richtige Zeitpunkt war, um wieder damit anzufangen. »Ich werde nicht aufhören, Stuart. Das verstehst du doch, oder? Was ich tue, ist wichtig. Du hast selbst gesehen, wer unsere Gegner sind. Es ist ein Kampf, der niemals endet, und ich stehe ganz vorn an der Front.«
»Ich weiß«, meinte er. »Und ich respektiere das auch, das kannst du mir glauben. Ich bin sogar ziemlich beeindruckt, auch wenn ich nicht so aussehen mag«, fügte er hinzu und zeigte auf sein Hasenkostüm. »Was du tust, ist bewundernswert, Kate. Zwar ziemlich unvorstellbar, aber dafür umso bewundernswerter.«
»Danke«, sagte ich. Seine Worte berührten mich mehr, als ich erwartet hatte. »Und sonst? Was gibt es Neues bei dir?«
Stuart lachte. Es wirkte völlig ungezwungen und steckte auch mich an.
»Was?«, fragte ich lächelnd.
»Es sind noch nicht einmal achtundvierzig Stunden vergangen, Kate.«
»Oh… Es fühlt sich schon viel länger an.«
»Findest du? Irgendwie freut es mich, das zu hören«, erwiderte er und sah mich dabei so leidenschaftlich an, dass ich trotz seines Hasenkostüms errötete.
»Es gibt übrigens tatsächlich etwas Neues«, sagte er, nachdem ich Timmy abgesetzt hatte und der zu Elena rannte, die ihm wild zuwinkte.
»Wirklich? Was denn?«
»Ich habe noch mehr über das Haus herausgefunden.«
»Du meinst, über das der Greatwaters?«
»Genau. Es hat sich herausgestellt, dass Theophilus Monroe dort einige Zeit gewohnt hat«, erklärte er. Theophilus Monroe war der berühmte Nachfahre unseres Stadtgründers.
»Er hat dort gewohnt?« Das ließ mich aufhorchen. Theophilus Monroe war nicht nur für seinen Stammbaum berühmt, sondern auch für sein großes Interesse an schwarzer Magie. »Im Haus der Greatwaters?«
»Ja. Anscheinend war er so um 1924 mit einer der Greatwater-Töchter liiert. Er hat sogar die Terrasse entworfen, nachdem die ursprüngliche durch ein Erdbeben zerstört worden war.« Er strahlte, als ob er im Lotto gewonnen hätte. »Mit einer solchen Geschichte steigt der Wert des Hauses nochmal um einiges. Bernie und ich glauben jetzt, dass man es uns förmlich aus den Händen reißen wird, wenn wir es erst einmal auf den Markt bringen.«
Mein Herz schlug schneller, während ich nachdachte. »Hat Monroe dann auch die Wendeltreppe entworfen?«
»Du meinst die, die zum Friedhof hinunterführt? Keine Ahnung«, antwortete Stuart. Er runzelte die Stirn. »Aber es könnte sein. Es würde zu Theophilus passen. Schließlich hat er seine Familie und sicher auch deren Grabruhe nicht sonderlich hochgehalten.«
»Es war doch auch die Familie Monroe, die sehr viel Geld in die ersten Renovierungsarbeiten der Kathedrale steckte, nicht wahr?« Die Kathedrale, die ursprünglich zum Pilgerweg Camino Real gehört hatte, war über die Jahre immer wieder restauriert worden.
»Ich glaube schon«, meinte Stuart. »Warum? Wieso willst du das wissen? Du hast schon wieder diesen Blick, Kate…«
»Wirklich?« Ich lehnte mich vor und gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Ein Teil davon gehört Timmy«, erklärte ich. »Ich möchte, dass ihr euch den Kuss brüderlich teilt.«
»Gehst du schon?«
»Ja, denn dank dir«, sagte ich, »habe ich nun dringend etwas zu erledigen.«
»Ich könnte mich natürlich irren«, sagte ich zu David. »Aber es passt alles perfekt zusammen. Theophilus Monroe hat sich immer wieder mit schwarzer Magie beschäftigt. Das ist bekannt.«
»Und er hat eine Terrasse entworfen, von der aus man zum Friedhof hinuntergelangt«, sagte David.
»Zu einem Friedhof«, fuhr ich fort, »der perfekt zu sein scheint, um eine Armee von Toten zu rekrutieren.«
»Das alles verstehe ich«, meinte David. »Aber was wollen wir dann in der Kathedrale?«
»Wir müssen noch Nachforschungen anstellen«, erwiderte ich, stellte den Motor ab und öffnete die Autotür. »Ich bin mir sicher, dass ich unten in der Krypta ein paar Kisten gesehen habe, die mit Dokumenten der Monroe-Familie gefüllt sind. Wenn wir Glück haben, finden wir darin Notizen und Zeichnungen, die Theophilus für den Entwurf der Terrasse angefertigt hat.«
»Das wäre ein echter Durchbruch«, meinte David.
Ich warf ihm einen Blick zu. »Wir hatten so lange Pech, dass wir jetzt einfach Glück haben müssen.«
»Wohl wahr«, sagte er.
In die Krypta und das Archiv gelangt man durch die Sakristei von St. Mary. Als wir durch die Kirche liefen, blieben wir kurz stehen und entzündeten im Gedenken an Father Ben eine Kerze.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich David, der etwas grün um die Nase war.
»Alles in Ordnung«, erwiderte er. »Ich bin nur müde und erschöpft. Aber es geht schon.« Er wies auf die schwere Metalltür, die zu der Krypta führte. »Komm, lass uns gehen.«
Ich eilte voran, schob die schwere Tür auf und ging vorsichtig die steile Steintreppe in das unterirdische Gewölbe hinunter. Hier hatte ich bereits viele Stunden verbracht, an die ich nicht gern dachte. »Es sind diese vier da drüben«, sagte ich und zeigte auf eine Reihe großer Kisten, die am anderen Ende an der Wand standen. »Und ich wette mit dir, dass sie voller Ungeziefer sind.«
»Dann schauen wir mal nach«, schlug David vor und hievte die erste Kiste auf einen Tisch. Er öffnete den Deckel. Tatsächlich war ein Krabbeln zu hören, als Licht ins Innere fiel. Aus diesem Grund hatte ich mich in letzter Zeit auch immer wieder um die Arbeit hier unten gedrückt. Ungeziefer. Für mich gab es kaum etwas Ekelhafteres!
Er hievte eine weitere Kiste vor mir auf den Tisch, die ebenso von Ungeziefer wimmelte. Wir machten es uns so bequem, wie es die Umstände zuließen. Das Recherchieren gehörte zu jenem Bereich meines Berufs, der mich am meisten langweilte, was wohl daran lag, dass es einfach langweilig war. Außerdem fand ich nichts in den Dokumenten, was mich vom Gegenteil überzeugt hätte.
David hingegen war wie immer fasziniert. Er verbrachte wesentlich mehr Zeit als ich damit, sich jede Seite genau durchzulesen, ehe er umblätterte und sich an den nächsten Text machte.
»Du weißt schon, dass es hier nicht um die Bewertung eines seltenen Buchs geht«, sagte ich nach einer Weile. »Wir suchen nach einer Antwort. Könntest du vielleicht etwas schneller sein?«
»Sorry«, erwiderte er. »Eine alte Angewohnheit.«
»In letzter Zeit scheinst du dieser alten Angewohnheit recht häufig gefrönt zu haben.«
Er runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Father Ben hat mir erzählt, dass du häufig hier gewesen seist«, erwiderte ich. »Möchtest du mir vielleicht den Grund dafür nennen?«
Er sah mich an und schenkte mir dann eines seiner geheimnisvollen Lächeln. »Ehrlich gesagt, nein, Kate. Jedenfalls noch nicht.«
Ich nickte, obwohl ich mich unverhältnismäßig stark verletzt fühlte. »Also noch mehr Geheimnisse«, murmelte ich.
Er seufzte und schob die Dokumente beiseite, die er gerade betrachtet hatte. »Wir haben jetzt keine Zeit, uns darüber zu unterhalten«, sagte er. »Schließlich gibt es einiges, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Aber ich kann dich beruhigen. Es hat nichts mit dem hier zu tun, und es kann warten. Ich werde dir bestimmt davon erzählen. Okay? Vertrau mir ganz einfach.«
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, entgegnete ich und fügte dann hinzu: »Ich verstehe dich schon. Es tut mir leid. Natürlich vertraue ich dir.«
»Katie, ich will dich nicht verletzen oder etwas vor dir verheimlichen«, sagte er und sah mich zärtlich an. »Vergessen wir es einfach für den Moment. Einverstanden?«
Ich nickte und konzentrierte mich wieder auf die Unterlagen vor mir. Er hatte Recht. Wir hatten wirklich genügend zu tun.
Es war eine Arbeit, die uns noch bis zum nächsten Morgen um halb sechs beschäftigt hielt.
Ich biss ein Stück von dem Hamburger ab, den David eine Stunde zuvor geholt hatte. »Fast wie in alten College-Zeiten«, sagte ich. »Als wir in letzter Sekunde für die Prüfungen gelernt haben.«
»Du bist doch gar nicht aufs College gegangen«, entgegnete David lächelnd.
»Nein, ich nicht. Aber du.« Eric hatte während unserer aktiven Zeit als Dämonenjäger das College besucht und in Los Angeles seinen Abschluss gemacht. »Ich habe einfach nur zugesehen und begriffen, dass ich nachts lieber schlafe, als zu lernen.«
»Zum Schlafen ist es jetzt zu spät«, meinte er und zeigte auf seine Armbanduhr. »Es ist schon Morgen. Sollen wir aufhören?«
»Kommt gar nicht infrage«, antwortete ich. »Wir haben es fast geschafft. Jetzt gibt es nur noch eine Kiste, die wir uns teilen können.«
David stieß einen lauten Seufzer aus. Er hievte die letzte Kiste auf den Tisch und zog gleichzeitig mit mir einen Stapel Papiere heraus, so dass sich unsere Hände flüchtig berührten.
»Ich finde, es ist ziemlich lauschig hier unten«, sagte er und lächelte verführerisch.
Ich zeigte auf den Stapel, der vor ihm lag. »Los, an die Arbeit.«
Zehn Minuten später blickte er auf. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Schau dir das mal an.«
Ich stand auf, ging um den Tisch und stellte mich hinter ihn. Vor David lag ein kleines Spiralbuch, in dem sich handschriftliche Notizen befanden. »Ich kann das leider nicht entziffern. Du etwa?«, fragte ich.
»Ich habe mir die ersten Seiten schon genauer angesehen«, meinte er. »Es stammt eindeutig von Theophilus Monroe, und ganz offensichtlich hat er sich tatsächlich mit schwarzer Magie beschäftigt. So wie es aussieht, scheint er nach einem Weg gesucht zu haben, die gesamte Stadt mit seinen dunklen Machenschaften zu infiltrieren.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Vielleicht erklärt das ja, warum wir für Dämonen ein solcher Anziehungspunkt zu sein scheinen – und zwar trotz der Kathedrale.«
»Könnte sein«, erwiderte er mit ernster Miene. »Diesem Notizbuch nach scheint er recht gut vorangekommen zu sein. Schau mal.« Er zeigte auf die aufgeschlagene Seite.
»Filum veneficum«, las ich. »O je, mein Latein ist schon ziemlich rostig. Was heißt das?«
»So viel wie ›verzauberter Faden‹«, übersetzte er. »Auf diesen Seiten beschäftigt er sich eingehend mit dem Friedhof.«
»Dann haben wir also gefunden, was wir suchten?«, fragte ich.
»Könnte sein. Aber das ist noch nicht alles. Ich habe diesen lateinischen Ausdruck schon irgendwo einmal gehört. Es ist bestimmt ein Begriff aus der schwarzen Magie.«
»Und was versteht man darunter?«
»Da bin ich mir nicht sicher«, antwortete David. »Ich habe ihn zwar schon gehört, aber das heißt leider nicht, dass ich auch weiß, was sich dahinter verbirgt.«
»Was sollen wir jetzt tun? Vielleicht zu dir fahren und dort im Internet danach suchen?«
»Ich glaube, ich habe eine bessere Idee«, erwiderte er. »Komm mit.«
Er steckte das Notizbuch ein, und wir verließen die alten Gewölbe und die Kathedrale. Draußen stellte ich fest, dass sich der Himmel bereits hell verfärbte. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor, und die Vögel zwitscherten. David zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Kurz darauf fragte er auf Italienisch, ob er mit Padre Corletti sprechen könne. Einige Sekunden später kam der Padre an den Apparat.
David sah sich um, da er sicher sein wollte, dass uns niemand belauschte, und schaltete das Handy dann laut. Hastig erklärte er Padre Corletti, was wir herausgefunden hatten.
»Du irrst dich nicht, was diesen Ausdruck betrifft«, meinte der Padre. »Wir bezeichnen die Kommunikationsart, die körperlose Dämonen unserer Meinung nach verwenden, als filum veneficum. Die Dämonen sind zwar Individuen, können aber durch diesen Zauberfaden miteinander in Verbindung treten.«
»Und was hat das mit dem Friedhof zu tun?«, wollte ich wissen.
»Es scheint, als ob euer Mr Monroe versucht hätte, eine eigene Verbindung in die andere Welt herzustellen. Jedenfalls vermute ich das.«
»Auf dem Friedhof«, sagte ich. »Und Goramesh hat wahrscheinlich geglaubt, dass es ihm gelungen ist. Deshalb wollte er bei seinem ersten Besuch hier die Lazarus-Knochen verwenden. Er nahm an, er würde es schaffen, alle Toten auferstehen zu lassen, wenn er erst einmal einen einzigen von ihnen erweckte.«
»Ja, so in etwa stelle ich mir das auch vor«, meinte Padre Corletti. »Wie viel Uhr ist es bei euch?«
»Etwa Viertel nach sechs in der Früh. Warum?«
»Weil die schwarze Magie meist am stärksten wirkt, ehe an einem besonders heiligen Tag des Jahres die Sonne aufgeht.«
»Heute ist Ostern.« Mir stockte der Atem, als ich in Richtung Osten blickte und sah, wie die ersten Lichtstrahlen über den Horizont stiegen. »Wir können doch nicht schon wieder zu spät dran sein!«
»Wir sind erst zu spät, wenn es vorbei ist«, entgegnete David, klappte sein Handy zu und zog mich zum Wagen.
»Ruf Eddie an«, forderte ich ihn auf, während ich den Schlüssel ins Zündschloss steckte. »Sag ihm, dass er Waffen mitbringen soll. Und Laura soll bei Allie bleiben. Wenn du sie nicht erreichen kannst, dann ruf Stuart an. Ich will nicht, dass Allie allein zu Hause ist. Nicht jetzt, wenn eine Armee von Toten möglicherweise nur wenige Kilometer von unserem Haus entfernt rekrutiert wird.«
Da ich nicht wusste, wo ich sonst hinfahren sollte, lenkte ich den Wagen in die Mitte des Friedhofs. Wir wollten ganz in der Nähe der Engelsstatue parken, bei der Goramesh vor vielen Monaten das erste Mal versucht hatte, seine Armee zu erwecken.
Meiner Meinung nach war es ziemlich wahrscheinlich, dass er auch jetzt wieder hierherkommen würde. Die Statue befand sich nur einen Steinwurf vom Mausoleum der Monroes entfernt und stand zudem direkt unter dem Hügel, auf dem das Haus der Greatwaters thronte.
»Ich hoffe, dass wir nicht falschliegen«, sagte ich, während der Wagen über die befestigten Wege rollte. »Es ist ein großer Friedhof, und ich weiß nicht, wohin wir sonst sollen.«
»Wir liegen nicht falsch«, entgegnete David, der auf einmal sehr konzentriert klang. »Schau.«
Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte, und stieß vor Überraschung einen leisen Schrei aus. Obwohl ich etwas Ähnliches erwartet oder vielmehr befürchtet hatte, erschreckte mich der Anblick von Dutzenden von Leichen, die gerade aus ihren Gräbern krochen, zutiefst. Ich gebe es gern zu: Für einen Moment war ich vor Angst fast erstarrt. Zwei gegen Hunderte und noch dazu einen unbesiegbaren Dämon… Das klang nicht nach einem Kampf, den wir überleben würden.
»Dorthin«, befahl David. »Fahr über den Rasen, und mähe dabei so viele um, wie du nur kannst!«
»Gut«, antwortete ich und zwang mich dazu, positiv zu denken. Wir konnten nicht verlieren. Denn wenn wir verloren, dann würden sich meine Kinder in großer Gefahr befinden – von der Welt ganz zu schweigen.
Ich raste mit dem Wagen über eine Gruppe von fünf Leichen, die gerade aus ihren Särgen klettern wollte. Es gelang mir, ein paar Köpfe zum Rollen zu bringen.
»Das ist wirklich das Widerlichste, was ich je erlebt habe«, murmelte ich.
»Kann man wohl sagen. Da hinüber!« Wieder folgte ich Davids Finger und bemerkte, dass wir uns kurz hinter der Engelsstatue befanden.
»Wenn sich die Toten bereits erhoben haben«, sagte ich, »ist Gora-don vielleicht schon weg.«
»Ich weiß nicht«, meinte David grimmig. »Ich glaube, er ist noch da.«
»Weil er in der Nähe sein muss, um die Zombies zu kontrollieren?«
»Das sind keine Zombies, Kate. Genauso wenig wie ich. Vergiss das nicht.«
Ich zuckte zusammen. »Stimmt. Natürlich nicht.« Ich wusste das natürlich. Schließlich hatte ich selbst genug Erfahrung mit den Lazarus-Knochen gesammelt. Es waren tote Körper, die in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehrten. Portale öffneten sich, und Dämonen konnten so in die zahllosen Hüllen fahren. »Und warum sollte er dann noch hier sein?«
»Um seinen Triumph mitzuerleben«, antwortete David. »Warum sollte er jetzt weg? Er ist doch inzwischen unbesiegbar geworden.«
»Irgendwie will ich das nicht so ganz glauben«, sagte ich und trat auf die Bremse, da es um eine Kurve ging.
»Er glaubt es aber«, entgegnete er. »Vermutlich will er auch hierbleiben, weil er weiß, dass wir kommen. Er möchte uns beide tot sehen – mehr als irgendjemand anderen auf der Welt.«
»Schön, zu wissen, dass man geliebt wird«, meinte ich trocken, während wir mit höchster Geschwindigkeit um die Statue kurvten. Dahinter war tatsächlich Gora-don, wie David das angenommen hatte. Er saß auf einem Grabstein und starrte uns aus schwarzen Augen an.
»Los, auf in den Kampf!«, sagte David, riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen.
Ich nahm meine Jagdweste und das Schwert, die beide auf dem Rücksitz gelegen hatten, und folgte ihm. Zumindest versuchte ich es. Eine Gruppe von fünf neu rekrutierten Dämonen hatte sich vor meiner Autotür versammelt. Hastig rutschte ich auf Davids Seite des Wagens, sprang dort heraus und rammte dem ersten Dämon, der sich mir entgegenstellte, meine Fingerschiene ins Auge.
»Ihr könnte nicht gewinnen«, erklärte Gora-don gelassen.
»Seht euch um. Meine Armee hat sich erhoben, und heute wird der Tag der Rache sein.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach ich. Wahrscheinlich klang ich nicht ganz so tollkühn, wie ich das gern gewollt hätte. Denn in diesem Moment sprang mich ein weiterer Dämon an und schleuderte mich zu Boden. Er versetzte mir einen kräftigen Hieb in den Bauch, so dass mir für einen Augenblick die Luft wegblieb.
»Kate!«, schrie David und fuhr mit seinem Stock durch die Luft, um dem Dämon einen Schlag zu verpassen, was ihm auch gelang. Das Monster kam ins Wanken und ließ mich los. Ich benutzte das Himmelsschwert und schlug ihm den Kopf ab. Dann stieß ich ihm noch vorsichtshalber die Klinge ins Auge. Schließlich wollten wir keine kopflosen Dämonen, die durch unsere Straßen zogen.
»Erhebt euch, meine Kinder. Erhebt euch!«, rief Gora-don und breitete die Flügel aus. Er streckte sich, ohne sich jedoch vom Grab zu erheben. »Erhebt euch und gehorcht meinen Befehlen!«
Um uns herum gingen noch mehr Gräber auf. Staubige Tote kletterten aus dem Erdreich hervor. Aus allen Ecken des Friedhofs marschierten Dämonen auf uns zu. Langsam und rhythmisch, als ob sie wüssten, dass sie sich nicht mehr beeilen mussten. Und sie hatten Recht. Wir waren wirklich verloren. Im Grunde war es nun egal, ob wir sofort oder erst in fünf Minuten untergingen.
»Nein!«, rief ich und zog die Wasserpistole mit Weihwasser heraus, die ich in der Westentasche verstaut hatte. Das Wasser traf mehrere Dämonen, deren Fleisch daraufhin zu zischen begann. Zumindest wurden sie dadurch etwas aufgehalten, so dass ich mich umdrehen und zwei weitere Dämonen vollspritzen konnte.
Ich durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Ich musste positiv denken. Ich besaß das Schwert des Himmels, und obwohl es mich das letzte Mal so schmählich im Stich gelassen hatte, hatte ich den Glauben daran doch noch nicht verloren. Irgendwie würde es uns gelingen, zu gewinnen. Gora-don konnte nicht unbesiegbar sein, denn das hätte ja bedeutet, dass es bereits um uns geschehen war. Und das wollte ich nicht einsehen.
»Ihr Narren!«, zischte der Dämon. Mit einem Flügel wies er in den Himmel. »Jetzt, meine Kinder. Bringt es zu einem Ende.«
Die Dämonen, die sich bisher nur langsam bewegt hatten, wurden nun schneller. Sie kreisten uns ein und wollten sich auf uns stürzen.
»Gora-don«, rief ich David zu. »Wir müssen uns auf ihn stürzen. Wenn wir den Schöpfer töten, dann beseitigen wir auch seine Armee.«
»Bist du dir sicher?«
Ich erinnerte mich daran, was Padre Corletti zu mir gesagt hatte – wie David und ich auch jetzt noch miteinander verbunden waren. »Ja«, erwiderte ich. »Ich bin mir sicher. Absolut.«
»Leichter gesagt als getan«, antwortete David. »Vor allem, nachdem er unbesiegbar sein soll.«
»Es muss eine Möglichkeit geben«, erklärte ich, schleuderte meine inzwischen leergeschossene Wasserpistole beiseite und stürzte mich auf einen Dämon. Ich stieß ihm meinen geschienten Finger ins Auge, um mich dann umzudrehen und denjenigen abzuschütteln, der mich währenddessen am Bein gepackt hatte. »Hast du heute denn keine weiteren Tricks auf Lager?«, fragte ich David.
»Dummerweise habe ich das Kardinalfeuer diesmal zu Hause gelassen«, erwiderte er, während wir beide um uns traten. Eine schier endlos wirkende Horde von Angreifern baute sich vor uns auf. »Sorry.«
»Das wäre wirklich perfekt gewesen«, gab ich zurück.
»Diesmal hätte es aber auch gewisse Nachteile gehabt«, meinte er und rammte einer alten Dame, die sich gerade auf ihn werfen wollte, die Spitze seines Stocks ins Auge.
Ich schnitt eine Grimasse, als sich der Pulk vor mir teilte und ein weiterer Dämon auf mich zuraste. Gora-dons triumphales Gelächter hallte über den ganzen Friedhof. Mir stockte der Atem, denn das, was ich da sah, schockierte mich zutiefst.
Eric.
Frisch seinem Grab entstiegen, war nun auch sein Körper mit Hilfe der Lazarus-Knochen ins Leben zurückgekehrt.
»Nein!«, rief ich, ohne die Augen von Erics sterblicher Hülle zu wenden. Gora-don flog durch die Lüfte und landete mit ausgebreiteten Flügeln direkt vor David.
»Was ist los mit dir, Katie?«, fragte Erics Körper. »Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«
»Töte ihn, Katie!«, rief David. Doch ich zögerte. Ich konnte nicht anders. Ich zögerte, und in einem Bruchteil dieser Sekunde packte er mich und riss mich an sich, um mir den Arm um den Hals zu legen. Gute zehn Meter von mir entfernt kämpfte David gegen Gora-don und konnte mir nicht helfen. Wenn ich also überleben wollte, musste ich das allein tun.
»Zeit zu sterben, Liebling«, knurrte Eric. Die Worte hallten noch in meinem Inneren wider, als ihn ein Weihwasserstrahl mitten ins Gesicht traf.
»Nimm deine schmutzigen Hände von ihr«, rief Stuart. Vor Erleichterung wäre ich beinahe ohnmächtig geworden.
Ich entwand mich dem dämonischen Eric und sah, wie Stuart und Eddie auf mich zugerannt kamen. Sie waren beide mit großen Wasserpistolen, Messern und jeweils einer Armbrust bewaffnet.
»Du sahst so aus, als ob du unsere Hilfe brauchen könntest«, meinte Eddie.
»Jetzt werdet ihr alle sterben«, erklärte Eric, schüttelte sich und raste auf Stuart zu.
Eddie erwischte ihn erneut mit einer Ladung Weihwasser im Gesicht und rief mir dann zu, ich sollte David helfen. »Ich kümmere mich um den da«, sagte er und nickte in Richtung Stuart, dem es bisher ganz gut gelang, sich selbst zu verteidigen. »Benutze das Schwert. Es wird dir helfen.«
Da mir dieser Vorschlag mehr als zusagte, rannte ich zu David und Gora-don, die noch immer miteinander kämpften. David bedrohte den Dämon mit dem Degen aus seinem Stock, doch das Monster parierte mühelos.
»Schwächling«, zischte es. »Glaubst du wirklich, dass du gegen mich gewinnen kannst? Es ist sinnlos. Du brauchst es nicht einmal zu versuchen. Komm lieber auf meine Seite. Ich mache dich zu meiner rechten Hand.«
»Nein, vielen Dank!«, entgegnete David, während ich mit gezücktem Schwert auf den Dämon zustürmte, um es ihm mitten ins Herz zu stoßen.
Gora-don lachte nur. »Siehst du«, sagte er und schien nicht einmal verletzt zu sein. »Nett von dir, meine liebe Kate, dass du mir bei meiner Beweisführung hilfst. Ich bin unbesiegbar. Auch wenn Goramesh in mir steckt, so ist er doch nicht mehr er selbst. Die Prophezeiung«, fuhr er fort, faltete seine Flügel zusammen und reckte sich in Richtung Himmel, »ist hinfällig geworden.«
»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Es muss einen Weg geben.«
»Närrin«, zischte die Kreatur. »Du kleine Närrin.«
»Kate!«, rief Stuart in diesem Moment. »Kate!«
Ich drehte mich um und erbleichte. Stuart wurde von drei Dämonen gleichzeitig angegriffen. Eddie, der noch immer in seiner Nähe war, versuchte sich einen Weg zu ihm zu bahnen, doch es gelang ihm nicht. Es waren einfach zu viele Dämonen, die auch ihn attackierten, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als sich zu verteidigen.
»Warte, Stuart! Ich komme!« Ich wollte zu ihm, doch ein Schwarm Dämonen stellte sich mir in den Weg. Obwohl ich sie alle mit dem Schwert niederzustrecken vermochte, war kein Ende in Sicht. Es kamen immer mehr.
Nein, schrie ich in meinem Inneren. Das konnte nicht das Ende sein. Wir durften nicht sterben. Das Böse durfte nicht siegen.
Aber genau das tat es. Obwohl ich das Schwert in Händen hielt, das uns angeblich den Sieg bringen sollte, verloren wir diesen Kampf.
Wir versagten. Das Schwert hatte uns im Stich gelassen.
Oder?
Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, als mir etwas dämmerte.
Vielleicht hatte uns das Schwert gar nicht in Stich gelassen. Vielleicht hatten wir uns nur geirrt, wer der Erwählte aus der Prophezeiung war.
Ich wirbelte herum und schlug dabei einen Dämon entzwei. Hinter mir trieb Gora-don noch immer sein teuflisches Spiel mit David, der inzwischen blutend am Boden lag. Er war von den Klauen des Monsters am ganzen Körper zerkratzt.
Für den Dämon war das Ganze wirklich nur noch ein Spiel. Er hielt sich für unbesiegbar und hatte vor, sich so lange mit David und mir zu amüsieren und uns zu quälen, bis er seine Rachegelüste befriedigt hatte. Dann würde er von uns ablassen und uns töten.
Ich biss die Zähne zusammen. Nein, so weit würde es nicht kommen – jedenfalls nicht, wenn ich irgendetwas damit zu tun hatte.
Stuarts Schreie hallten über den Friedhof, und ich wusste, dass uns kaum mehr Zeit blieb.
»David!«, rief ich und warf ihm das Himmelsschwert zu. Verblüfft sah er es auf sich zukommen. »Benutze es. Benutze es jetzt!«
»Was?«
»Vertraust du mir?«, entgegnete ich.
Er antwortete mir nicht, sondern rammte das Schwert, das er aufgefangen hatte, bis zum Heft in Gora-dons Magengrube.
Zuerst geschah nichts. Doch dann schien eine Flut von violettem Licht den Dämon zu umtosen. Seine ungläubige Miene hatte beinahe etwas Komisches an sich.
»Wie?«, rief er. »Das geht nicht.«
Doch offenbar ging es durchaus. Das violette Licht verzehrte ihn, und das Monster verschwand mit einem lauten Knall. Gleichzeitig stürzte die Armee der Toten zu Boden. Es blieben nur die menschlichen Hüllen zurück, während die dämonischen Wesen in den Äther gerissen wurden.
Ich sah mich auf dem Friedhof um, der wie ein Schlachtfeld aussah. Was würde wohl der Friedhofswärter sagen, wenn er die ausgegrabenen Leichen fand?
»Was ist passiert?«, rief Stuart. Er lag zwar noch auf dem Boden, doch seine Stimme klang kräftig.
»Wir haben gewonnen«, antwortete ich und atmete tief durch.
»Ja, das haben wir«, sagte Eddie.
Nur David schwieg. Er sah mich fragend und ein wenig fassungslos an.
»Ich war nicht diejenige, von der die Prophezeiung sprach«, erklärte ich.
Auf einmal hatten so viele Hinweise einen Sinn ergeben: Erics blutige Hand hatte vor vielen Jahren die Tür zu Abaddons Kammer geöffnet. Seine immer wieder nur mühsam unterdrückte Aggressivität. Die Schwärze seiner Augen. Und Abaddons rätselhafte Bemerkungen, die er sowohl in Gestalt von Gora-don hier auf dem Friedhof als auch nach Father Bens Opferung gemacht hatte. Er hatte sich auf das Kardinalfeuer bezogen und von den einstürzenden Wänden gesprochen.
Die Prophezeiung bezog sich nicht auf mich, die ich ein Kind geboren hatte, das ebenfalls zu einer Dämonenjägerin heranwachsen würde.
Sie bezog sich auf Eric, in dessen Seele eine neue Art von Jäger entstand. Ein dämonischer Jäger, der einmal gefangen gewesen war, sich aber durch dasselbe Kardinalfeuer befreien konnte, das uns vor Abaddons Zorn gerettet hatte.
Ich begriff nicht ganz, wie es geschehen war, und auch nicht, warum.
Aber Gora-dons Tod bewies, dass ich Recht hatte.
Eric war zum Teil ein Dämon geworden… Und er kämpfte seit Jahren gegen diese dunkle Seite seines Charakters an.
»Kate…«, sagte er, und ich begriff, dass er verstanden hatte. Und mehr als das: Er kannte das Geheimnis seines geteilten Wesens.
»Es ist in Ordnung«, erwiderte ich und strich ihm mit der Hand über die Wange. Ich berührte das Gesicht des Mannes, den ich so gut zu kennen geglaubt hatte, während ich jetzt allmählich erst begriff, wie wenig ich in Wahrheit von ihm wusste.
»Kate«, sagte er. »Ich liebe dich. Es ist nicht, was du denkst…«
Ich hielt eine Hand hoch, um ihm am Weitersprechen zu hindern. »Ich liebe dich auch«, erklärte ich. »Und das wird sich auch nicht ändern.« Ich schloss die Augen und holte tief Luft, da mir klar wurde, was ich da gerade gesagt hatte. Aber es entsprach der Wahrheit, und ich hatte nicht vor, diese noch länger zu leugnen.
»Ich verstehe zwar nicht alles«, fuhr ich fort. »Aber ich vertraue dir, David. Ich weiß, dass du mir alles erklären wirst, wenn es an der Zeit ist.« Erneut atmete ich tief durch und gab ihm dann einen Kuss auf die Wange. »Doch jetzt muss ich mich erst einmal um meinen Mann kümmern.«
»Kate«, murmelte Stuart, als ich mich neben ihm niederkniete. »Du führst ein recht aufregendes Leben.«
»Ja, es hat so seine Momente«, erwiderte ich. »Geht es dir gut?«
»Ich fühle mich zwar noch etwas lädiert, aber ich werde überleben.«
»Ich auch«, erklärte ich. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, Stuart. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Ich weiß schon, welche Art von Belohnung ich möchte.«
»Wirklich?«, fragte ich amüsiert.
»Dich«, erwiderte er schlicht. Er warf einen Blick auf David. »Allerdings scheint da mehr zu sein, als mir bisher klar war. Es gibt mehr zwischen dir und David, als ich verstehe. Aber ich werde um dich kämpfen«, fügte er hinzu.
Er sah mich an – voller Liebe und voller Entschlossenheit.
»Und weißt du was, Kate?«, sagte er, und seine Worte trafen mich mitten ins Herz. »Ich werde diesen Kampf nicht verlieren.«