Bild671.JPG 

Davids Wohnung lag ganz in der Nähe des Strands und damit relativ nahe am Jahrmarkt. Trotzdem durchbrach ich vermutlich die Schallgrenze, als ich mit Höchstgeschwindigkeit dorthin raste.

Seit einiger Zeit bewahrte ich im Auto eine Jagdweste auf, in der ich Messer, Weihwasser, Kruzifixe und andere praktische Werkzeuge für die Dämonenjagd verstaut hatte.

Ich zog sie während der Fahrt unter meinem Sitz hervor und schaffte es sogar, sie anzuziehen, ohne dabei irgendwelche Fußgänger, Verkehrsschilder oder Gebäude in Mitleidenschaft zu ziehen.

Ich raste durch die engen Gassen, wobei ich teilweise auf den Bürgersteig ausweichen musste, um durchzukommen. Etwa einen halben Block von dem Zelt der Wahrsagerin entfernt, trat ich auf die Bremse. Ich parkte und sprang aus dem Auto. Keuchend rannte ich auf das Zelt zu, wobei ich inbrünstig hoffte, dass niemand zu früh auf mich aufmerksam würde.

Die Mühe hätte ich mir gar nicht machen müssen, wie ich bei meinem Eintreffen sah. Es bot sich mir eine schreckliche Szene.

Colby Shelton (zumindest nahm ich an, dass es sich um seine sterblichen Überreste handelte) lag neben der leblosen Wahrsagerin tot auf dem Boden. Dukkar hielt eine Pistole an Davids Schläfe, und dieser rührte sich nicht von der Stelle. Meine Tochter kauerte in einer Ecke, die angsterfüllten Augen weit aufgerissen.

Ehrlich gesagt, sah die Lage der beiden wirklich ziemlich hoffnungslos aus, und ich fragte mich, wie sie in so etwas hineingeraten waren.

Viel Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, blieb mir jedoch nicht.

»Du Monster«, knurrte Dukkar und entsicherte seine Pistole.

»Nein!«, rief Allie. Ihr Schrei genügte, um Dukkar abzulenken, so dass ich etwas Zeit gewann.

Ich wollte mich in keinen Kampf stürzen, bei dem eine Pistole im Spiel war. Gleichzeitig blieb mir keine andere Wahl. Entschlossen rannte ich auf Dukkar zu und traf ihn im Sprung mit einem Tritt unter dem Kinn.

David bemerkte mich zum Glück noch rechtzeitig und ging in Deckung, während Dukkars Kopf nach hinten flog. So leicht verlor Dukkar das Gleichgewicht jedoch nicht.

Ich verpasste ihm erneut einen Tritt, und diesmal gelang es mir, ihm die Waffe aus der Hand zu kicken. Sie schlitterte über den Boden. Allie stürzte sich darauf und hielt sie dann unsicher in der Hand.

»Die nehme ich«, erklärte ich und griff nach der Pistole. David hatte inzwischen Dukkar gepackt und hielt ihn mit den Händen auf dem Rücken fest.

»Ich sollte dich umbringen«, knurrte er drohend. »Nenn mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte.«

»David«, warnte ich ihn.

»Ich bin nicht wie Sie. Mein Herz ist rein«, entgegnete Dukkar.

David schubste ihn von sich. Entweder widerte ihn Dukkar persönlich an oder auch dessen Worte. »Was soll das?«, rief er empört. Er zeigte auf den toten Dämon. »Habe ich nicht dieses Ungeheuer umgebracht, ehe es dich töten konnte? Stimmt das etwa nicht?«

Dukkar starrte David schweigend an, was dessen Zorn nur noch vergrößerte.

»Was zum Teufel glaubst du, von mir zu wissen?«

Der Mann antwortete nicht. Stattdessen wanderte sein Blick von David zu mir und dann wieder zu David zurück. Auf einmal drehte er sich um und raste aus dem Zelt. David wollte ihm folgen, doch ich hielt ihn zurück.

»Lass ihn«, sagte ich. »Lass ihn gehen.« Ich war mir nämlich nicht sicher, ob David ihn nicht doch noch umgebracht hätte, wenn er ihn in die Finger bekommen hätte.

»Dieses Stück Dreck«, schäumte er, während Allie auf uns zustürmte und sich in meine Arme warf.

»Was zum Teufel soll das? Was habt ihr hier gewollt?«, fragte ich wütend und atemlos. »Könnt ihr euch vorstellen, welche Angst ich um euch hatte?«

»Wir wussten, wo Shelton sich aufhält«, murmelte Allie leise.

»Ach, wusstet ihr das?«, sagte ich fast schon sarkastisch. Ich konnte kaum an mich halten. »Kommt.« Ich verließ das Zelt, um zu meinem Wagen zurückzukehren. Die beiden folgten mir ziemlich betreten.

»Wir sind nicht mehr rechtzeitig gekommen, um auch noch die Frau retten zu können«, erzählte Allie. »Aber Daddy hat den Dämon erwischt. Zählt das gar nicht?«

»Das zählt sogar einiges«, erwiderte ich. »Nur blöd, dass sich diese Pluspunkte durch die schlichte Tatsache, dass du hier gar nicht sein solltest, in Luft auflösen.«

Ich holte tief Luft. »Weißt du was? Steig einfach in den Wagen.« Allies Verhalten war noch erklärbar. Was jedoch David betraf, so wusste ich da wirklich nicht, wo ich überhaupt anfangen sollte.

»Aber…«

»Los.«

Sie ließ den Kopf hängen und kletterte, ohne weiter zu murren, ins Auto. Ich bezweifelte, dass es mit David genauso leicht sein würde.

»Ich wollte nicht…«, begann er, doch ich ließ ihn nicht weit kommen.

»Weißt du was? Ich will es gar nicht hören.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe dir vertraut«, schrie ich ihn an. »Ich habe dir vertraut, weil ich das immer getan habe. Weil ich dich kenne. Weil ich mir sicher war, dass du unsere Tochter niemals – niemals – in Gefahr bringen würdest. Zumindest hatte ich das angenommen. Aber anscheinend habe ich mich geirrt.« Erneut atmete ich tief durch und sah ihn dann finster an. »Du brauchst mich also gar nicht mehr zu fragen, ob ich dir vertraue. Verstanden? Die Antwort lautet jetzt anders. Von jetzt an lautet sie: Nein, das tue ich nicht.«

Er zuckte zusammen und schloss für einen Moment die Augen – als ob er befürchtete, ich wollte ihm eine Ohrfeige geben. In gewisser Weise hatte ich das soeben getan.

Ich wandte mich wortlos von ihm ab, um zur Fahrerseite des Wagens zu gehen.

»Kate, bitte…«

Doch ich drehte mich nicht noch einmal um. Ich konnte es nicht. Wenn ich jetzt anhielt, würde ich entweder weinen oder um mich schlagen. Keine der beiden Möglichkeiten kam mir sonderlich erstrebenswert vor. Es war besser, David fürs Erste nicht mehr sehen zu müssen.

Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich vor Liebe nicht blind gewesen war. Sein Name ist Eric Crowe, hatte die alte Frau gesagt, die jetzt tot war. Und die Dunkelheit umhüllt ihn wie die Nacht.

War es das, was ich auf einmal sah? Die Dunkelheit, die ihn umhüllte?

Ich dachte an Dukkars Gesicht und die vielen Verletzungen, und ich dachte an die zahlreichen anderen Hinweise auf Davids heftiges Temperament. Und natürlich fielen mir auch die Lügen und die Tatsache ein, dass er Allies Leben bewusst in Gefahr gebracht hatte.

Waren all das Hinweise auf eine dunkle Seite in Erics beziehungsweise Davids Wesen? Hinweise auf etwas Gefährliches, was in ihm brodelte?

Mir wurde klar, dass David Allie nicht zum ersten Mal dazu angehalten hatte, vor mir Geheimnisse zu haben. Ich hätte es vielleicht schon früher bemerken müssen, doch erst jetzt ergab alles einen Sinn. Allies Müdigkeit am Montagmorgen. Die Art und Weise, wie sie und David am Sonntag auf dem Jahrmarkt die Köpfe zusammengesteckt hatten. Ganz zu schweigen von den Dingen, die Allie auf einmal über das Himmelsschwert wusste, ohne dass ich ihr etwas davon erzählt hätte.

Die beiden waren also gemeinsam auf Patrouille gegangen und hatten das vor mir verheimlicht.

Hatte Davids Seele tatsächlich Schaden genommen? Und falls ja, bedeutete das dann, dass ich diejenige war, die ihm das angetan hatte?

Ich stieg ins Auto und hielt mich für einen Augenblick mit beiden Händen am Lenkrad fest. Allie, die ebenfalls vorn saß, rückte so weit wie möglich von mir ab. Sie war ein kluges Kind, das musste man ihr lassen.

»Der Dämon ist gar nicht in Abaddons Auftrag gekommen«, sagte sie und brach so das Schweigen, das zwischen uns geherrscht hatte, bis ich auf den Highway eingebogen war.

»Wovon redest du?«

»Als Daddy mit dem Dämon gekämpft hat, meinte er zu ihm, er solle Abaddon ausrichten, der Kampf sei sinnlos und er könne besser gleich aufgeben.«

Ich verkniff mir ein Grinsen. So etwas war immer typisch Eric gewesen. »Und?«

»Der Dämon hat nur verächtlich geschnaubt und erklärt, dass er gar nicht zu Abaddons Gefolgschaft gehöre. Zumindest so lange nicht, bis er der Auserwählte sei. Was kann das heißen, Mami?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Aber es scheint ja so, als ob Abaddon wieder einmal scharf darauf wäre, für immer unbesiegbar zu werden. Vielleicht will ihm dieser Dämon erst dann dienen, wenn ihm keine andere Wahl mehr bleibt.«

»Vielleicht«, erwiderte Allie wenig überzeugt.

»Eines weiß ich aber ganz sicher.«

»Was?«

»Du hast Hausarrest«, sagte ich. »Und zwar diesmal wirklich.«

»Ich weiß«, entgegnete sie. »Das hatte ich mir schon fast gedacht.«

Am Mittwochmorgen brachte ich Timmy zu Fran, damit er mit deren Tochter Elena spielen konnte. Danach fuhr ich als Erstes zu Laura.

Ich parkte vor ihrem Haus und überlegte. Es war zwar noch ziemlich früh, aber ich wusste, dass Laura gegen einen Besuch nie etwas einzuwenden hatte. Sie wachte zudem nicht nur immer früh auf, sondern backte auch zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es war also ziemlich wahrscheinlich, dass ich nicht nur mit einem Lächeln, sondern auch mit einem großen Blaubeermuffin begrüßt werden würde. Ehrlich gesagt, konnte ich beides ziemlich gut gebrauchen.

Ich stieg also aus dem Wagen und ging zur Haustür. Sie war noch verriegelt. Obwohl ich auch zu Lauras Haus einen Schlüssel hatte, klingelte ich diesmal vorsichtshalber. Schließlich hatte sie am Abend zuvor ihren Arzt getroffen. Es war vermutlich besser, nicht einfach unangemeldet hereinzuplatzen.

»Hi«, begrüßte mich Laura, als sie die Tür öffnete und mich überrascht ansah. »Warum bist du nicht einfach hereingekommen?«

»Wegen gestern Abend«, erwiderte ich und schaute ihr über die Schulter, ob ich irgendwelche Anzeichen männlichen Lebens im Haus erkennen konnte. »Oder ist hier nur der Wunsch der Vater des Gedankens?«

»Für ihn kann ich das nicht beantworten«, erwiderte sie. »Aber bei mir wäre das durchaus ein Wunsch gewesen.« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Küche. »Komm rein. Ich backe gerade Muffins.«

Meine Laune wurde sogleich besser. »Blaubeer?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Sie runzelte die Stirn. »Mohn und Zitrone«, entgegnete sie. »Tut mir leid. Wenn ich natürlich gewusst hätte, dass du kommst…«

»Schon in Ordnung«, beruhigte ich sie und goss mir einen Becher Kaffee ein. »Du bist schließlich nicht meine Privatbäckerin.«

»Nein, das nicht…« Sie hielt inne. »Kate, was ist los mit dir? Ist etwas passiert? Es geht dir doch nicht um die Muffins, oder?«

Ich bemerkte auf einmal, dass meine Wangen feucht waren. »Entschuldige bitte«, sagte ich. »Die letzten Tage waren etwas viel.«

Laura legte die Topflappen beiseite und verschränkte die Arme. Sie sah mich aufmerksam an. »Das dachte ich mir fast«, erwiderte sie sanft. »Möchtest du darüber sprechen?«

»Ja«, antwortete ich und verstand auf einmal, warum mein Auto sozusagen wie von selbst hierhergefahren war. »Eigentlich schon.«

Ich setzte mich an den Küchentisch, aß gedankenverloren einen Zitronen-Mohn-Muffin und erzählte Laura von Allies heimlichem Verschwinden, um mit David auf Patrouille zu gehen. Ich presste die Lippen aufeinander, als ob ich dadurch die bösen Worte über den Mann, den ich so viele Jahre geliebt hatte, zurückhalten könnte.

Doch es gelang mir nicht. Auch wenn ich es später vielleicht bedauern würde, so konnte ich mich nicht zurückhalten. Ich holte tief Luft und sprach das aus, was ich bisher nur gedacht hatte. »Was ist, wenn die Wahrsagerin Recht hatte? Wenn Erics Seele tatsächlich von Dunkelheit umgeben ist? Er hat mich angelogen, Laura. Oder zumindest hat er geflissentlich etwas weggelassen.« Und dann artikulierte ich noch eine Sorge, die mich fast zu erdrücken drohte. »Und wenn Allie durch David verletzt wird? Oder sogar umkommt?«

»O Kate«, murmelte Laura. »Es tut mir so leid. Aber ich glaube eigentlich nicht…« Sie brach ab und stand auf, um die Spülmaschine einzuräumen. Offensichtlich wollte sie mir nicht in die Augen sehen.

»Was?«, hakte ich nach. »Was glaubst du nicht?«

»Na ja – wodurch sollte Erics Seele denn Schaden genommen haben? Du meinst, weil er in Davids Körper geschlüpft ist?«, erwiderte sie. Da ich ihr bisher noch nichts von den Lazarus-Knochen erzählt hatte, konnte ich sie auch jetzt nicht aufklären.

»Wir erleben ihn doch schon eine ganze Weile, und er wirkt völlig normal«, fuhr sie fort. »Er hilft dir bei der Dämonenjagd und hält sich erstaunlich zurück, wenn man bedenkt, dass du inzwischen mit einem anderen Mann dein Bett teilst. Er hat sogar Nadia klargemacht, sie solle sich verziehen.« Nadia war eine besonders aggressive und betont erotische Dämonenjägerin gewesen, die es vor einiger Zeit auf Eric abgesehen hatte. »Er will nur dich, Kate. Wenn das bedeutet, dass deshalb seine Seele in Mitleidenschaft gezogen sein könnte, dann steckt wohl auch Stuart in ziemlichen Schwierigkeiten.«

Ich vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, auch wenn ich nicht ganz ihrer Meinung war. Aber Laura wusste schließlich nicht alles. »Vielleicht hast du Recht«, antwortete ich.

»Und Allie ist beinahe fünfzehn«, fuhr Laura mit einfühlsamer Stimme fort. »In gewisser Weise befürchte ich, dass du nur nach einer Ausrede suchst.«

Ich legte den Kopf zur Seite und sah sie fragend an. »Was meinst du damit?«

»Sie ist in der Pubertät. Und mehr als das – sie ist in der Pubertät und hat in letzter Zeit viel mitgemacht. Das gemeinsam mit verrücktspielenden Hormonen kann eine ziemlich heftige Mischung ergeben. Du kannst mir glauben. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Ich sah sie an. Ihre Miene wirkte ein wenig traurig. Sie stand zwar mit Mindy noch immer auf gutem Fuß, aber während der letzten Monate hatten sich Mutter und Tochter entfremdet. Ich wollte nicht, dass Allie und mir das Gleiche geschah. Doch ich befürchtete, dass der Zug bereits aus dem Bahnhof fuhr – und zwar mit Eric als Lokomotivführer.

Ich wischte mir eine Träne weg. »Apropos Hormone«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln. »Ich… Ich habe das Gefühl, als ob sich jeder in meinem Leben irgendwie durch mich verändert hätte. Allie. Du. David.«

»Wie hast du David verändert?«

»Oh.« Ich zögerte. »Verändert ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich meine nur, dass er nicht mehr mein Mann ist, obwohl er das in seiner Vorstellung noch immer sein möchte.«

»Verstehe«, erwiderte sie und nickte so ernsthaft, dass ich mich für meine Lügen schämte.

»Laura, ich…« Ich sprach nicht weiter.

»Was?« Sie sah mich besorgt an. »Kate, du machst mir Angst.«

Zitternd holte ich Luft und hob den Kopf, um sie anzublicken. »Er war gestorben, Laura«, flüsterte ich kaum hörbar. »Er war in jener Nacht auf dem Friedhof gestorben… Und ich… ich habe ihn wieder zum Leben erweckt.«

Sie ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und klammerte sich so sehr an ihren Kaffeebecher, dass ich schon befürchtete, er würde zerbrechen. »Aber… Wie?«

»Mit den Lazarus-Knochen.«

Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte und verschwieg auch meine Ängste und meine Frustration nicht. »Und jetzt weiß ich nicht weiter. Wenn ich ihm nun wirklich etwas angetan habe? Oder auch mir selbst? Wenn ich ihn dadurch verändert habe? Vielleicht sogar zerstört?«

»O Kate. Ich wünschte, du hättest mir das früher erzählt. Natürlich hätte ich auch nichts machen können, aber trotzdem…«

»Ich weiß.« Ich atmete tief aus und fühlte mich auf einmal besser. »Das wünschte ich jetzt auch.«

»Dann glaubst du also, dass die Wahrsagerin vielleicht doch Recht hatte?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Nein… Vielleicht… Ich weiß nicht.«

»Du musst noch mit jemand anderem darüber sprechen. Nicht nur mit mir. Falls du dir um Davids oder auch um deine eigene Seele Sorgen machst, dann solltest du mit einem Priester reden.«

Ich nickte und trank einen großen Schluck Kaffee. Laura hatte Recht. Es gab für mich nur eine Möglichkeit, wieder etwas inneren Frieden zu finden. Denn wie es so schön heißt: Beichten tut der Seele gut.

»Ich bin froh, Sie zu sehen«, sagte ich, als ich im Pfarrbüro Father Ben gegenübersaß. »Ich hatte schon befürchtet, dass Sie noch nicht zurück wären.« Ich spielte mit dem Saum meines T-Shirts, zog einen losen Faden heraus und wickelte ihn mir um den Daumen, bis dieser rot anlief.

»Wenn man Sie so beobachtet, Kate, könnte man vermuten, dass Ihnen etwas auf der Seele lastet.«

»Wie bitte?«

Er wies mit dem Kopf auf meinen gequälten Daumen.

»Oh. Verstehe.« Ich löste den Faden und fühlte mich auf einmal wie eine Schülerin, die im Büro des Direktors saß. Ziemlich lächerlich, ich weiß, vor allem, wenn man bedachte, dass ich freiwillig hierhergekommen war.

»Es tut mir leid, dass ich bisher noch keine Zeit gefunden habe, mich um…«

»Deswegen bin ich nicht hier«, unterbrach ich ihn hastig. »Es geht diesmal nicht um die Forza.« Ich holte tief Luft. »Jedenfalls nicht im üblichen Sinne… Ich möchte mit Ihnen über etwas anderes sprechen, Father. Ober etwas sehr Persönliches.«

Father Bens Miene wandelte sich. Nun befand er sich nicht mehr in der Rolle des alimentatore, sondern in der des Seelsorgers. »Würden Sie sich vielleicht in einem Beichtstuhl wohler fühlen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber es quält mich, und ich muss… Nun, ich möchte mit einem Priester darüber sprechen.«

»Dann sind Sie hier ja richtig«, erwiderte er mit einem ermutigenden Lächeln.

Ich dachte für einen Moment nach und nahm dann allen Mut zusammen, um ihm zu gestehen, was ich getan hatte. »Ich habe Gott gespielt«, schloss ich meine Geschichte. »Ich hatte einen kleinen Rest der Lazarus-Knochen übrig, und ich war nicht stark genug, um der Versuchung zu widerstehen. Ich hätte widerstehen müssen, Father. Das weiß ich. Aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht.« Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Lippen, die ganz trocken geworden waren. »Es ging einfach nicht.«

»0 Kate. Wer hätte das in dem Moment gekonnt? Er ist der Mann, den Sie einmal sehr geliebt haben und der erst vor kurzem zu Ihnen zurückgekehrt war. Ihr Handeln offenbart nur Ihre wahre Natur.«

»Und die wäre? Egoistisch und selbstgerecht?«

»Wohl kaum«, sagte er lächelnd. »Wie wäre es mit menschlich?«

Ich nickte, auch wenn ich von seinen tröstenden Worten nicht ganz überzeugt war. »Ich glaube, dass ich etwas Schreckliches getan habe, Father. Und zwar nicht nur, weil ich Gott gespielt habe. Ich habe auch Angst vor dem, was ich vielleicht bewirkt haben könnte…« Ich brach ab, da es mir schwerfiel, meine Ängste laut zu äußern. »Ich befürchte, dass ich David etwas angetan habe – etwas sehr Schlimmes.«

Father Ben runzelte die Stirn und betrachtete mich aufmerksam. »Denken Sie das wirklich?«

Ich nickte mit tränenerfüllten Augen. »Könnte es sein, dass seitdem in Davids Körper nicht nur Erics Seele wohnt, sondern auch die eines Dämons? Seit ich die Lazarus-Knochen verwendet habe, meine ich.«

»Darauf weiß ich leider keine Antwort, Kate. Aber was hat David denn getan, dass Sie so etwas vermuten?«

Ich sank tiefer in den Sessel. Irgendwie wusste ich nicht, wie ich Father Ben das Ganze erklären sollte. »Da sind zum einen seine Wutausbrüche. Er scheint oft sehr angespannt zu sein. Und auch aggressiv. Und dann ist da die Sache mit Allie.« Ich erzählte ihm rasch, was in den letzten Tagen vorgefallen war. »Er hat nicht nur sein Versprechen mir gegenüber gebrochen, sondern er hat sie auch noch absichtlich in eine gefährliche Situation gebracht. Sie hätte dabei umkommen können.«

»Und sonst? Gibt es noch anderes, was Ihnen aufgefallen ist?«

»Er ist einfach nie zu erreichen«, fuhr ich mit leiser Stimme fort. »Und dann gibt es da noch das, was die Frau vom Jahrmarkt über die Dunkelheit gesagt hat, die ihn umgibt.« Ich zog meine Knie hoch und schlang meine Arme um sie. Wie sehr wünschte ich mir jetzt, der Wahrsagerin stärker auf den Zahn gefühlt zu haben!

»Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für ziemlich überspannt. Aber ich bin mir sicher, dass etwas nicht stimmt, Father.«

»Das denke ich auch«, antwortete er mit freundlicher Stimme.

Ich blickte überrascht auf. »Tun Sie das?«

Er nickte. »Vielleicht sind es Schuldgefühle oder Angst. Solche Emotionen bilden oft einen Vorhang, durch den man den anderen betrachtet.«

Ich legte den Kopf zur Seite und sah den jungen Priester nachdenklich an.

»Ich kenne David Long inzwischen recht gut, Kate«, erklärte Father Ben. »Ich habe ihn sowohl vor als auch nach den Lazarus-Knochen erlebt. Er ist ein guter Mensch, Kate. Er besucht regelmäßig die Messe und hilft auch häufig in der Gemeinde.«

»Schon, aber…«

»Kate – nichts, was Sie mir erzählt haben, ist außergewöhnlich. Ich kann Sie gut verstehen. David beziehungsweise Eric hat sehr viel durchgemacht. Obwohl wir alle versuchen, rational und gelassen zu bleiben, sind wir doch nur Menschen. Als Mensch kann man nicht alles ertragen.«

»Und was ist mit seinen Wutausbrüchen?«, wollte ich wissen.

Father Ben zuckte mit den Achseln. »Unter den gegebenen Umständen halte ich seine Wutausbrüche für nichts Ungewöhnliches.«

»Aber Allie…«

»Er ist ihr Vater, Kate, und ihm wurde seine Rolle als Erzieher mehr oder weniger entrissen. Außerdem hat er keinerlei Erfahrung mit einem Mädchen in der Pubertät. Er weiß nur, wie er sich in Allies Alter gefühlt hat. Oder wie Sie damals waren. Sind die Dinge, die er mit Allie unternommen hat, denn so anders als das, was er in seiner eigenen Jugend erlebt hat?«

»Das nicht, aber…«

»Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Dämon zu tun haben, Kate. Es ist vielmehr ein Problem zwischen Eheleuten.«

»Eheleuten?«

Er hob die Hände. »Zugegebenermaßen haben wir es hier nicht mit einer typischen Ehe zu tun. Aber die Thematik, um die es geht, ist nicht ungewöhnlich. Es geht um Erziehungsfragen und Grenzen.« Er sah mich ernst an. »Vielleicht kann ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht als Ihr alimentatore, sondern als Ihr Priester und Seelsorger zur Seite stehen.«

Eine solche Antwort hatte ich wahrhaftig nicht erwartet. »Meinen Sie, dass Sie uns als Eheberater zur Seite stehen möchten? David und mir?«

»Wir könnten schon heute mit einem ersten Gespräch beginnen. Er war bis kurz vor Ihrem Eintreffen hier. Wenn wir ihn gleich anrufen, kommt er bestimmt gern zurück.«

»Er war hier? Warum?«

»Er hat etwas recherchiert«, erwiderte Father Ben vage. »In letzter Zeit hat er sich ziemlich häufig im Archiv aufgehalten.«

Das war neu für mich. Trotz Father Bens Versuche, mich zu beruhigen, machten mich Davids heimliche Recherchen und seine Fahrten nach Los Angeles nervös.

»Soll ich ihn anrufen und bitten, dass er wieder zurückkommt?«

»Nein, danke«, antwortete ich und stand auf. Ich zwang mich dazu, Father Bens Theorie zumindest in Erwägung zu ziehen. »Wahrscheinlich übertreibe ich.«

Er sah mich fragend an, als ob er sich nicht ganz sicher wäre, ob er mir glauben sollte. Ich war mir selbst nicht sicher. Ein Teil von mir wollte Father Bens Überlegungen ganz einfach akzeptieren können, während ein anderer Teil weiterhin das Schlimmste befürchtete.

»Ich habe noch eine Idee«, erklärte der Priester. »Darf ich das Ganze mit Padre Corletti besprechen? Vielleicht ist er ja in der Lage, Ihre aufgewühlte Seele ein wenig zu beruhigen.«

»Natürlich dürfen Sie das«, erwiderte ich und blieb in der Tür stehen. »Ich bin sehr froh, dass es Sie gibt, Father. Sie sind nicht nur ein ausgezeichneter alimentatore und ein begnadeter Priester, sondern vor allem auch ein wahrer Freund.«

In seinen Augen spiegelte sich das Lächeln wider, das nun um seinen Mund spielte. »Danke, Kate. Es bedeutet mir viel, das zu hören.«

»Dann glauben Sie also wirklich nicht, dass meine Seele in Gefahr ist?«

»Weil Sie die Knochen benutzt haben, um David ins Leben zurückzurufen?«

Ich nickte mit zusammengepressten Lippen.

»Wenn ich daran denke, wie oft Sie uns vor den Ausgeburten der Hölle bewahrt haben, könnte ich mir vorstellen, dass Gott Ihnen zumindest einen Fehltritt verzeiht.«

»Danke.« Ich holte tief Luft, verabschiedete mich und verließ sein Büro. Ich wusste, dass er mich trösten wollte. Doch die Tatsache, dass er von einem Fehltritt gesprochen hatte, zeigte mir, dass meine Angst nicht unbegründet gewesen war.

Jemand folgte mir.

Ich war aus dem Pfarrbüro getreten und ging über den Platz zwischen dem Bischofssaal und der Kathedrale. Nirgendwo war jemand zu sehen. Doch ich hörte Schritte hinter mir. Meine Hand in der Tasche, die Finger um den Griff meines Stiletts gelegt, drehte ich mich rasch um.

Dukkar, der direkt hinter mir stand, hob beide Hände. Er hatte einen großen Seesack geschultert und sah mich mit geweiteten Augen an. »Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Was zum Teufel wollen Sie?«

»Ich möchte Ihnen das hier geben«, erwiderte er und stellte den Seesack vor meine Füße. Er machte ihn auf, fasste hinein und holte etwas heraus, was in ein schmutziges Tuch eingewickelt war. Im Schatten der Marienstatue, neben der wir standen, schlug er das Tuch auf.

»Das Gladius Caeli«, erklärte er schlicht. Er neigte den Kopf und blickte zu Boden, während er stumm beiseitetrat. Ich stieß einen leisen Schrei aus. Vor mir sah ich ein altes, exquisit geschmiedetes Schwert mit einem reich verzierten Griff.

»Es ist wunderschön. Ist das wirklich das Himmelsschwert?«

»Das ist es«, antwortete Dukkar. »Es kann nur von Ihnen allein geführt werden. Der Jäger, dessen Körper und Seele der nächsten Generation Nahrung und Leben schenkt, dieser Jäger soll das Schwert führen und den Dezimator niederstrecken, um ihn für alle Ewigkeit zurück in die Hölle und in den Tod zu schicken. Es gibt noch mehr als diese Worte«, fuhr er fort. »Eine mathematische Formel, deren Einzelheiten ich zwar nicht kenne, aber derentwegen unser Volk weiß, dass dies der richtige Ort ist. Diese Stadt – San Diablo.«

Er trat einen Schritt zurück und zeigte auf den Seesack und das Schwert. »So erfüllt sich«, sagte er, »die Prophezeiung. Das Schwert gehört Ihnen.« Er wies mit dem Kopf auf das Schwert.

»Den Dezimator?«, fragte ich fassungslos. »Goramesh? Ihn wird das Schwert töten?«

»Ja, für diesen Dämon wurde es geschmiedet.«

»Und nicht für Abaddon?«

Dukkar sah mich verwundert an. »Nein, für Abaddon bestimmt nicht.«

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und versuchte, zu begreifen, was ich gerade erfahren hatte. »Die Wahrsagerin hat behauptet, nichts über eine Prophezeiung oder ein Schwert zu wissen.«

»Sie wusste nicht, ob sie Ihnen trauen kann«, antwortete er. »Ich weiß es auch nicht.«

»Warum?«

»Seinetwegen. In ihm steckt ein Dämon.«

Ich begann zu zittern. Das Ganze gefiel mir immer weniger. »Und in mir?«

»In Ihnen? Auch Sie sind nicht unbefleckt. Aber letztlich bleiben Sie rein.«

»Dann vertrauen Sie mir also inzwischen doch?«, hakte ich nach.

Er zögerte einen Moment und nickte. »Wenn der Dämon sterben soll, bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen zu vertrauen.« Er trat noch einen Schritt zurück und neigte den Kopf, als ob er mir zu Diensten stünde. »Ich weiß nicht, ob Sie unsere größte Hoffnung sind. Aber ich weiß, dass Sie unsere einzige sind.«

Ich zuckte zusammen. Das klang nicht gerade nach einem echten Vertrauensbeweis. Aber offenbar war es das Einzige, was ich momentan bekam.