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Der Jäger, dessen Körper und Seele der nächsten Generation Nahrung und Leben schenkt.

Ziemlich eindeutig, wenn man das Ganze mit klarem Kopf betrachtete. Falls Dukkar Recht hatte und die mathematische Formel in der Prophezeiung tatsächlich auf San Diablo als den Ort des Geschehens hinwies, dann war ich die einzige Jägerin weit und breit, die Mutter war.

Das bedeutete für mich zweierlei: Zum einen war es mir vorbehalten, Goramesh mit dem Himmelsschwert niederzustrecken – oder es zumindest zu versuchen. Und zum anderen bildete meine Tochter tatsächlich die nächste Generation von Dämonenjägern.

»Oder Timmy«, gab Laura zu bedenken, als ich ihr von meinem Gespräch mit Dukkar und meinen diesbezüglichen Überlegungen erzählt hatte.

Wir saßen auf unserer Veranda. Ich warf einen Seitenblick auf sie und runzelte die Stirn. Ihre Bemerkung war nicht dumm. Timmy trug zwar nicht die Gene zweier Jäger in sich, doch das allein bedeutete nichts. Die meisten Jäger stammten aus normalen Familien. Viele waren Waisen wie ich, die von der Forza ausgebildet wurden.

»Und das Rad dreht sich stetig weiter«, sagte ich. »Zuerst verliere ich meine Tochter und dann meinen Sohn.«

»Du hast Allie nicht verloren«, widersprach mir Laura. »Ich würde sogar behaupten, dass vielmehr das Gegenteil der Fall ist.«

»Ich habe sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen«, entgegnete ich. »Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, weil sie wegen des Hausarrests wütend auf mich ist…«

»Und auf sich selbst, weil sie weiß, dass sie ihn verdient hat«, fügte Laura hinzu.

»Glaubst du?«

»Kate, sie wurde Zeugin eines Blutbads. Sie ist nicht dumm. Sie weiß genau, dass deine Regeln nur dazu dienen sollen, sie zu schützen. Sie hat sie gebrochen und wäre dabei beinahe ums Leben gekommen. Ich glaube, dass sie sich in ihrem Zimmer versteckt, um ihre Wunden zu lecken. Allie ist nicht wütend auf dich. Sie ist wütend auf sich selbst. Und vielleicht auch auf David.«

»Da wären wir schon zwei«, sagte ich.

»Du solltest zu ihr gehen und ihr erzählen, was du herausgefunden hast. Diese Neuigkeit mit Goramesh ist doch unglaublich wichtig. Abaddon scheint zwar überall seine Finger mit im Spiel zu haben, doch jetzt erfahren wir auf einmal, dass sich die Prophezeiung auf Goramesh bezieht. Tun sich Dämonen denn oft zusammen?«

»Nein«, antwortete ich. »Das tun sie nicht. Und genau das macht mir auch Sorgen.«

»Dann lass Allie helfen. Erzähl ihr, was Dukkar dir gesagt hat. Und zeige ihr das Schwert. Gib ihr das Gefühl, dass sie Teil des Ganzen ist. Und zwar auf die Weise, wie du das gern möchtest. Mit Büchern, Internet und Training, bis sie wirklich bereit ist.«

»Du bist eine gute Freundin, Laura. Weißt du das eigentlich?«

»Na und ob!«

Ich lachte. »Und zudem unglaublich bescheiden.«

Entschlossen wies sie mit dem Kopf auf die Verandatür. »Geh schon hoch zu ihr. Ich mache mich auf den Heimweg und stürze mich ins Internet. Vielleicht haben wir ja genau auf diese Neuigkeit gewartet. Vielleicht kommen wir jetzt endlich weiter. Eine Verbindung zwischen Abaddon und Goramesh… Ich kann mir zwar noch nicht vorstellen, was das heißen könnte, aber vielleicht finden wir einen Hinweis darauf.«

Laura hatte natürlich wie so oft Recht. Während sie zu ihrem Computer eilte, ging ich mit dem festen Vorsatz ins Haus, mit meiner Tochter zu sprechen.

Ich wurde jedoch durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Für einen Moment überlegte ich mir, nicht zu antworten. Doch als ich auf das Display blickte und eine italienische Nummer sah, hob ich ab.

»Father Ben hat also mit Ihnen gesprochen«, sagte ich, nachdem ich Padre Corletti begrüßt hatte.

»Er macht sich Sorgen um dich«, sagte der Padre. »Und ich auch, mein Kind. Warum hast du dich mir nicht schon viel früher anvertraut?«

Ich setzte mich auf die Couch und nahm ein Kissen, um es an mich zu drücken. Wieder einmal fühlte ich mich so, als ob ich sieben Jahre alt wäre. »Ich habe mich geschämt, Padre. Ich wollte nicht, dass Sie wissen, wie schwach ich sein kann. Er war tot. Und wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte er das auch bleiben sollen.«

»Das stimmt. Du warst schwach, Katherine. Das will ich nicht leugnen. Doch eine solche Schwäche ist natürlich. Es ist eine menschliche Schwäche, nicht schlimmer als vieles andere auch.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Aber was ist mit Eric? Ich mag mir selbst vielleicht keinen Schaden zugefügt haben, aber was ist mit ihm? Ich habe dasselbe Portal geöffnet, das von Dämonen benutzt wird.«

»Und er ist durch dieses Portal gegangen. Ich gebe zu, so etwas ist nicht alltäglich. Aber es ist auch nicht einzigartig. Eric hatte es selbst bereits vorher einmal getan. Nur so war er überhaupt in Davids Körper gelangt, nicht wahr?«

»Schon«, erwiderte ich zögerlich.

»Du hast nur noch einmal ein Portal für ihn geöffnet, um ihn am Leben zu halten. Und da es sich um die Lazarus-Knochen handelte, sind auch die Wunden seines Körpers wieder verheilt. Katherine, du hast erlaubt, dass er ins Leben zurückkehrt. Du hast es nicht erzwungen. Ob sich Eric nun daran erinnern mag oder nicht, ist unwichtig. Aber letztlich war er es, der die Entscheidung traf, wieder zurückzukehren. Und das tat er aus demselben Grund, aus dem auch du die Knochen überhaupt benutzt hast.«

»Aus Liebe«, murmelte ich.

»Liebe ist eine starke Kraft, die man niemals unterschätzen sollte – nicht wahr?«

Ich nickte, da ich nicht antworten konnte.

»Eric ist nicht anders als zuvor. Wenn überhaupt, dann ist er jetzt stärker, weil es deine Liebe war, die ihn gerettet hat. Nimm ihm das nicht weg. Gerade jetzt braucht er deine Stärke mehr denn je.«

»Was soll das heißen?«

Padre Corletti schwieg.

Doch ich brauchte eine Antwort. »Padre, was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit nur sagen, dass vor Eric schwere Zeiten liegen. Vor David. Er ist derselbe Mann und trotzdem ein wenig anders. Er muss herausfinden, wer er wirklich ist. Und um das zu schaffen, braucht er einen Fels in der Brandung. Du bist stets dieser Fels für ihn gewesen, Katherine. Kannst du das auch jetzt noch sein?«

»Ich denke schon.« Ich überlegte. »Dann hatte Father Ben also Recht? Erics Wutausbrüche und die Risiken, die er mit Allie eingegangen ist – all das sind nur Hinweise auf sein Bemühen, sich in seiner neue Lage zurechtzufinden? All das zeigt nur, dass er sich mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen versucht?«

»Du hast Eric nichts angetan, Katherine. Das darfst du mir glauben. Vertraue ganz einfach deinem Instinkt. Er wird dich richtig leiten.«

Ich musste lächeln. Padre Corletti klang auf einmal wieder so wie damals im Forza-Unterricht. Doch leider sagte mir mein Instinkt etwas anderes, als was mir der Padre zu verstehen geben wollte.

»Gut, das sehe ich ein. Aber mein Instinkt sagt mir auch, dass Sie mir nicht alles erzählt haben.«

»Das stimmt«, gab er zögerlich zu. »Wenn man die Lazarus-Knochen verwendet, fährt die Kraft des Menschen, der sie benutzt, in den Erweckten, und die beiden sind für immer aneinander gebunden – sowohl im Geiste als auch in gewisser Weise durch ihre Körper.«

»Und was bedeutet das genau?«

»Das bedeutet, dass Davids Schicksal eng an das deine geknüpft ist, Katherine. Wenn du einmal stirbst, dann stirbt auch er.«

»Gütiger Himmel«, murmelte ich.

»Ich wusste nicht, ob ich dir das überhaupt sagen sollte«, meinte der Padre. »Aber du hast schließlich das Recht, es zu erfahren. Und ganz ehrlich – ändert dieses Wissen denn irgendetwas?«

»Das meinen Sie nicht ernst, oder?«

»Doch«, erwiderte er. »Katherine, mein Kind. Ich habe dich und Eric zusammen erlebt. Selbst jetzt höre ich noch die Liebe in deiner Stimme, die du für ihn empfindest. Ist dein Leben denn nicht schon eng mit dem seinen verbunden? Bist du nicht für immer mit Eric mit Körper und Seele verbunden?«

Ich schluckte und schloss die Augen, während mir bewusst wurde, wie sehr seine Worte der Wahrheit entsprachen. »Padre«, sagte ich nach einer Weile. »Manchmal kennen Sie mich einfach zu gut.«

»Goramesh?«, fragte Allie, nachdem ich ihr von meinem Zusammentreffen mit Dukkar vor der Kathedrale erzählt hatte. »Wow.« Sie schnitt eine angewiderte Grimasse. Wahrscheinlich dachte sie an das letzte Mal, als sie mit Goramesh und seiner Gefolgschaft zu tun gehabt hatte. Der Sommer, in dem Goramesh hier aufgetaucht war, gehörte bestimmt nicht zu den schönsten, an die sich sie oder Timmy später einmal erinnern würden.

»Ich wollte dich nur kurz auf den neuesten Stand bringen«, sagte ich, auch wenn das nicht ganz stimmte. Meine Unterhaltung mit Padre Corletti hatte ich nämlich geflissentlich ausgelassen. »Du kannst schließlich jede Information gebrauchen, wenn du mir helfen willst.«

»Du erlaubst mir also, dir zu helfen?«, fragte sie kleinlaut.

»Willst du das denn?«

»Ja, auf jeden Fall.«

»Dann darfst du das auch«, sagte ich. »Du kannst uns helfen. Vielleicht kannst du zum Beispiel herausfinden, warum sich Abaddons Gefolgschaft um ein Schwert Sorgen macht, das in Wahrheit Goramesh töten soll.«

Sie hob das Himmelsschwert hoch, das ich auf ihr Bett gelegt hatte, und hielt es mit beiden Händen fest. »Nach etwas Außergewöhnlichem sieht es aber nicht aus«, meinte sie ein wenig enttäuscht.

»Das tun mythische Dinge selten.«

»Verstehe«, erwiderte Allie. »Okay. Dann lass mich nachdenken.«

Sie legte das Schwert wieder behutsam auf ihr Bett, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm sich einen rosafarbenen Notizblock. »Welche Hinweise haben wir bisher?«, fragte sie. Sie begann zu schreiben, während sie weiter mit mir sprach. Ich stellte mich hinter sie, um einen Blick über ihre Schulter zu werfen.

»Vergeltung trifft auf Rache«, sagte sie.

»Goramesh und Abaddon«, ergänzte ich. Zumindest wussten wir jetzt, dass diese zwei Dämonen höherer Ordnung in Verbindung zueinander standen und sich beide auf San Diablo zu konzentrieren schienen.

»Und wer ist dann der Auserwählte?«

»Vielleicht ein Dämon höherer Ordnung, den sie zum Leben erwecken wollen?«, schlug ich vor.

»Du meinst so ähnlich wie ein gefangener Dämon, den sie befreien möchten?«, hakte Allie nach. Offenbar besann sie sich auf ihre bisherigen Erfahrungen mit der Welt der Dämonen.

»Vielleicht«, antwortete ich. Ehrlich gesagt, war ich mir nicht sicher.

»Auf jeden Fall ist das eine Möglichkeit. Ich lasse sie mal auf der Liste stehen.«

»Dann gibt es noch das, was die Wahrsagerin gesagt hat«, fuhr ich fort. »Das mit dem ›Schatten des Herrn‹.«

»Stimmt«, erwiderte Allie und schrieb alles pflichtbewusst auf.

»Und dann noch die Sache mit dem Tag, ehe das geheiligte Blut geflossen ist.«

»Ach ja! Und dann noch das mit der Nacht. Wie war das noch mal? Wenn der Tag zur Nacht wird oder so ähnlich?«

»Zum Abend wird«, verbesserte ich sie. »Der eine wird den anderen ergänzen«, fügte ich hinzu und schloss die Augen, um mich besser erinnern zu können, »so dass sich die Prophezeiung in nichts auflöst.«

»Was könnte das bedeuten? Dass du Goramesh doch nicht umbringen kannst?«

»Oder vielleicht passiert das erst, wenn ich ihn bereits getötet habe.«

Sie sah mich nachdenklich an. »Das würde mir besser gefallen.«

»Mir auch.«

»Fällt dir sonst noch etwas ein?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das war es.« Ich ging zur Tür.

»Mami?«

»Was, Liebling?«

»Es tut mir leid.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, wie ich das auch immer tat, wenn ich nervös war. Dann betrachtete sie eingehend ihre Füße. »Ich wusste, dass ich Mist baue, als ich zu Daddy und auf Patrouille und so gegangen bin. Aber ich wollte einfach nur…«

»Bei deinem Vater sein«, beendete ich den Satz für sie. »Ich weiß, mein Schatz. Du bist nicht die Einzige, der das Ganze leidtut. Ich hätte Himmel und Erde in Bewegung setzen sollen, damit ihr Zeit miteinander verbringen könnt. Verzeihst du mir?«

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, als sie mich überrascht ansah. »Ja, natürlich.«

»Gut.«

»Ich habe dich lieb, Mami. Du bist die Beste – weißt du das?«

Ich lächelte, während ich gegen die Tränen ankämpfte, die in mir aufstiegen. »Nein, das bin ich nicht«, erwiderte ich. »Aber ich versuche es zumindest.« Insgeheim nahm ich mir fest vor, es in Zukunft noch deutlicher zu versuchen.

Dann warf ich Allie eine Kusshand zu und ließ sie allein. Ich ging nach unten, holte tief Luft und holte mein Handy aus der Tasche. David hob nach dem ersten Klingeln ab. Anstatt mich zu begrüßen, entschuldigte er sich als Erstes bei mir.

»Warte«, unterbrach ich ihn. »Es ist an mir, mich zu entschuldigen. Ich hätte von Anfang an besser zuhören und dir und Allie erlauben müssen, einander zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich das nicht getan habe. Vielleicht hatte ich Angst und habe nach irgendwelchen Ausreden gesucht. Aber inzwischen ist mir klargeworden, dass ich dir nicht einfach die Tür vor der Nase zuschlagen kann. Das werde ich nie können. Und deshalb müssen wir eine Lösung finden. Gemeinsam.«

»Du hattest Angst?«, fragte er. »Vor mir?«

»Ja… Vielleicht… Ich weiß nicht.« Ich legte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Vor uns. Vor meinem Leben. Vor dem, was geschehen kann, seit du wieder da bist. Aber mit meiner Angst habe ich euch beide nur verletzt. Das tut mir sehr leid.«

»Ich hätte sie niemals mitnehmen dürfen«, entgegnete David.

»Da will ich dir nicht widersprechen«, erwiderte ich. Als er lachte, wusste ich, dass wir das Schlimmste überstanden hatten. »Übrigens gibt es noch etwas, was du wissen solltest«, sagte ich und erzählte ihm von meinem Wiedersehen mit Dukkar vor der Kathedrale.

»Und das Schwert ist jetzt bei dir?«

»Ja.« Ich hatte es in Allies Zimmer liegen gelassen, wo es bestimmt in Sicherheit war. Zumindest würde Stuart es dort nicht finden, da er ihr Zimmer als einen gefährlichen Ort betrachtete, den man nur mit Gasmaske und Schutzanzug betreten konnte.

»Und offenbar ist es Goramesh, den ich mit dem Schwert besiegen kann. Nicht Abaddon.«

David stieß einen leisen Pfiff aus. »Glaubst du, dass Goramesh schon früher davon wusste? Als er wegen der Lazarus-Knochen nach San Diablo kam?«

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, erwiderte ich. »Damals bin ich ziemlich vielen seiner Gefolgsleute begegnet, und von denen hat keiner ein Schwert erwähnt.«

»Dann könnte das ein guter Ansatzpunkt sein«, schlug er – ganz der Theoretiker – vor. »Es geht um einen kurzen Zeitraum von wenigen Monaten. Findet doch heraus, wo sich Goramesh gezeigt hat, seit du ihn besiegt hast. Vielleicht erfahren wir so, was er jetzt im Schilde führt. Und dann wäre es interessant zu wissen, ob sich sein Aufenthaltsort mit dem Abaddons überschneidet.«

»Das ist der beste Plan, den ich seit langem gehört habe«, sagte ich. »Hast du Lust, selbst ein paar Nachforschungen anzustellen?«

»Natürlich.«

Ich wartete einen Augenblick und dachte nach, ehe ich die Worte aussprach. »Und würde es dir vielleicht gefallen, wenn du dabei Gesellschaft hättest? Jemand, der auch über Nacht bleibt?«

»Das wäre wunderbar. Aber meinst du nicht, dass Stuart etwas dagegen hätte, wenn du die Nacht mit einem anderen Mann verbringst?«

»Nicht ich«, sagte ich. »Ich meine Allie.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Schweigen.

»Hallo? Bist du noch dran?«

»Ja«, erwiderte er leise. »Und ich würde mich über eine solche Gesellschaft sehr freuen.«

»Wir sind in einer Stunde bei dir«, sagte ich. »Ich erkläre Stuart einfach, dass sie bei einer Freundin übernachtet. Und, Eric? Bitte keine Patrouillen mehr. Okay?«

»Schon verstanden«, antwortete er. »Das wird ein Hausbesuch. Kate?«, fügte er mit einer erleichterten, wenn auch etwas traurig klingenden Stimme hinzu. »Danke.«

Nachdem Allie die Nacht bei Mindy verbrachte – so lautete zumindest die offizielle Version –, verbrachten Stuart und ich den Abend gemeinsam mit unserem kleinen Jungen auf der Couch. Wir verwöhnten Timmy mit einer Schüssel Popcorn und Coco in Spielfilmlänge. Das Himmelreich auf Erden für ein kleines Kind. Auch für mich war das Ganze wunderbar, und ich genoss es, in den Armen meines Mannes zu liegen.

»Bernie und ich wollten nächste Woche mit einigen Investoren über die Finanzierung des Hauses sprechen«, erklärte er mir während des Films und erntete dafür von Timmy einen empörten Blick. »Ist dir das Ganze immer noch recht?«, fügte er flüsternd hinzu.

»Ich vertraue dir«, versicherte ich ihm. »Wenn du mir sagst, dass es funktionieren könnte, dann bin ich dafür. Wir sollten es ausprobieren.«

»Finanziell denke ich, dass wir nicht allzu viel riskieren. Aber kommen wir auch organisatorisch über die Runden? Wir beide, meine ich«, sagte er und betrachtete mich aufmerksam. »Immobilien sollen ja nicht gerade ein stressfreies Hobby sein.«

»Das werden wir schon irgendwie schaukeln«, beruhigte ich ihn.

»Ich liebe dich, weißt du?«, erwiderte er.

»Ich weiß.« Ich schmiegte mich enger an ihn. »Ich liebe dich auch.« Ich holte tief Luft, denn ich erinnerte mich auf einmal an das Versprechen, das ich Laura gegeben hatte. Am Mittwochabend wollte ich Stuart alles erzählen. Nun war Mittwoch, und ich brachte es nicht über mich.

Ich musste endlich den Mund aufmachen und ihm die Wahrheit gestehen. Das wusste ich. Aber irgendwie schaffte ich es nicht, die richtigen Worte zu finden. Es war, gelinde gesagt, eine höllische Woche gewesen. Wo auch immer ich mich hingewandt hatte, war ich auf Dämonen gestoßen. Überall – außer bei Stuart. Mit ihm konnte ich ein ganz normales Leben, mein Haus und einen wunderbar banalen Abend in Familie genießen.

Wie ich es auch drehte und wendete, ich wollte diese Unbeschwertheit nicht aufgeben.

Der morgige Tag lastete bereits schwer auf mir. Auch deshalb zögerte ich, diesen Abend durch ein Geständnis zu vermiesen. In diesem Moment wollte ich einfach nur in meiner Fantasie leben dürfen, in der die Welt noch in Ordnung war.

Also verbrachte ich die letzten Stunden des Tages mit zweien der Männer in meinem Leben. Wir schmiegten uns aneinander, zogen uns immer wieder auf und lachten viel. Trotzdem überlegte ich immer wieder, ob sich aus all den Hinweisen, die wir bisher entdeckt hatten, nicht doch ein stimmiges Bild ergab. Ich befürchtete zudem, dass jederzeit ein Dämon ins Haus einbrechen könnte, um das Schwert an sich zu bringen. Und ich fühlte mich hilflos, da ich noch immer nicht wusste, was Goramesh und Abaddon im Schilde führten und wann sie zuzuschlagen gedachten.

Zumindest gelang es mir, meine Sorgen und Ängste nicht zu zeigen. Doch sie kehrten in meinen Träumen wieder, so dass ich mich derart heftig im Bett hin und her warf, dass Stuart zweimal davon geweckt wurde. Er zog mich immer wieder an sich und flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr.

Am Morgen erwachte ich in einem relativ leeren Haus. Nur Timmy und ich waren da sowie ein Zettel von Eddie, auf dem er mir mitteilte, dass ihn Stuart zur Bücherei fahren würde. Eine solche Ruhe war mir selten vergönnt. Aber heute lastete die Stille auf mir und ließ mich an all die Dinge denken, die ich immer noch nicht wusste, und an die Gefahr, die stetig näher rückte.

Ich rief David an. Als er und Allie mir dafür dankten, Zeit miteinander verbringen zu dürfen, spürte ich auf einmal einen Frosch im Hals. Die beiden hatten noch immer nichts entdeckt, was uns weitergebracht hätte, aber Father Ben hatte ihnen eine Kiste mit Büchern zukommen lassen, die sie gerade gemeinsam durchgingen.

»Ich kann Allie gleich nach Hause schicken, wenn dir das lieber ist«, sagte David. »Oder ich kann sie heute hierbehalten und dann nach dem Abendessen heimbringen. Ich könnte sie sogar bei Laura abgeben, falls das deine Geschichte glaubwürdiger macht.«

»Gut«, erwiderte ich. Töricht, wie ich manchmal sein konnte, fühlte ich mich ausgeschlossen, wusste aber nicht, was ich dagegen unternehmen sollte. Wir drei bildeten keine richtige Familie mehr. Doch so traurig mich das auch stimmen mochte – ich musste zugeben, dass ich schließlich auch nicht allein war.

»Ich habe zum Beispiel dich«, sagte ich zu Timmy, hob ihn hoch und trug ihn nach draußen in den Garten. Eine Weile sah ich ihm zu, wie er über den Rasen rannte und den Ball, den ich ihm zuwarf, zu fangen versuchte. Danach hockte ich mich neben ihn, und wir spielten gemeinsam im Kies.

»Ich hab dich lieb, Mami«, erklärte er irgendwann und schlang seine kleinen runden Arme um meinen Hals.

Ich zog ihn eng an mich und überhäufte ihn mit Küssen. »Ich hab dich auch sehr lieb, mein Junge.« Mehr als alles auf der Welt wollte ich ihn vor der Bedrohung durch Dämonen wie Abaddon oder Goramesh schützen. Solange ich jedoch keine Antworten auf unsere Fragen hatte, wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Selbst mein ausgezeichnetes Rechercheteam, das ununterbrochen Bücher wälzte und im Internet surfte, schien am Ende seines Lateins zu sein.

Da saß ich nun mit einer ziemlich unheimlichen Prophezeiung, die wie ein Damoklesschwert über mir hing, und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte.

Bestimmt keiner jener Momente, an die ich später gern zurückdenken würde.

»Hast du heute schon mit Father Ben gesprochen?«, fragte Laura, als sie nach dem Mittagessen auf einen Kaffee und ein paar Schokoladenostereier vorbeischaute.

»Wir haben gestern miteinander geredet«, erwiderte ich. »Ich war gleich bei ihm, wie du mir das vorgeschlagen hattest. Über die Dämonen haben wir allerdings überhaupt nicht gesprochen. Heute habe ich versucht, ihn zu erreichen, aber leider ist er nicht ans Telefon gegangen. Vielleicht ist er ja wieder in der Wüste bei der Holy-Trinity-Gemeinde, um ihnen bei ihren Ostervorbereitungen zu helfen. Sein Handy scheint dort jedenfalls nie zu funktionieren.«

»Vielleicht«, meinte Laura. »Aber das bedeutet vermutlich, dass du dich diesmal, was Nachforschungen betrifft, nicht auf ihn verlassen kannst.«

»Während der Karwoche ist er sowieso beschäftigt. Da hat er rund um die Uhr zu tun. Aber ich habe ja noch dich, David und Allie.«

Sie sah mich neugierig an. »Das Gespräch mit Father Ben hat also geholfen?«

»Ja, war eine gute Idee von dir«, gab ich zu. »Vielen Dank.«

»Für dich war es wirklich eine furchtbare Woche, nicht wahr?«

»So schlimm wie schon lange nicht mehr«, gab ich zu.

»In diesem Fall finde ich, dass wir eine Flasche Merlot köpfen sollten. Wir haben sie uns verdient.« Sie betrachtete den Küchentisch, auf dem schon wieder Konfetti, Geschenkpapier und einige leere Eierschalen herumlagen. »Wir haben sie uns wirklich verdient.«

Sie stand auf und nahm eine Flasche aus unserem Weinregal. »Ich mache sie auf. Du bist mit deinem Gips ja noch etwas eingeschränkt.«

»Ehrlich gesagt, hat er sich bisher als ziemlich praktisch erwiesen«, erwiderte ich und betrachtete den geschienten Finger. »Ich sollte vielleicht einfach noch ein kleines Messer da hineinschieben und ab sofort immer so auf Patrouille gehen. Dann noch einen Beutel Weihwasser unter den Arm geschnallt, mit einem Schlauch bis zur Fingerspitze, und los geht’s. Wenn ich dann im rechten Moment den Arm gegen meinen Oberkörper presste, könnte ich meine Opfer auch gleich noch mit Weihwasser bespritzen.«

Eine Weile plauderten wir fröhlich über die zahllosen Möglichkeiten, meine Ausrüstung als Dämonenjägerin zu verbessern. Wir malten uns aus, wie ich einen Wasserball mit Weihwasser füllen oder in meinen Bügel-BH ein kleines Messer schieben könnte. Immer wieder kam uns eine weitere und noch absurdere Idee.

Als Stuart schließlich nach Hause kam, hatten wir vier Dutzend Eierkartons gefüllt und über alles gesprochen, was uns auf dem Herzen lag – über den drohenden Untergang von San Diablo oder auch wie sich die modebewusste Dämonenjägerin am besten kleidete.

Ich blickte auf und lächelte meinen Mann glücklich an. Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich mich schon seit Tagen nicht mehr so gut gefühlt hatte.

»Du siehst entspannt aus, Liebling.«

»Ich habe auch den ganzen Tag mit meiner besten Freundin und meinem kleinen Jungen verbracht«, erzählte ich. »Wie sollte ich da nicht entspannt aussehen?«

Nachdem sich Laura verabschiedet hatte und nach Hause gegangen war, stürzte Timmy, nur mit einer kleinen Unterhose bekleidet, zu seinem Vater und schlang seine Arme um ihn. Stuart hob ihn hoch und wirbelte ihn durch die Luft. Dann drückte er ihn an sich. Meine zwei Männer, dachte ich stolz.

Ich lächelte ein wenig sentimental.

»Sollte er nicht schon angezogen sein?«, erkundigte sich Stuart und löste meinen Anflug von Sentimentalität sogleich wieder in Luft auf. »Und was ist mit dir?«

»Wozu?«, fragte ich.

»Für die Kirche«, antwortete er und klopfte auf seine Armbanduhr. »Die Messe beginnt in weniger als einer halben Stunde. Es ist schon nach fünf.«

Ich blickte auf und stellte fest, dass es draußen bereits dunkel zu werden begann. »Heute? Aber heute ist doch erst Mittwoch.«

»Nein, Liebling, es ist Donnerstag. Gründonnerstag, um genau zu sein.« Noch während er diese Worte aussprach, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Sobald der Tag, ehe das geheiligte Blut geflossen ist, zum Abend wird.

Christi Blut. Der Abend vor der Kreuzigung.

Also heute.

Was auch immer die Dämonen geplant haben mochten, eines war mir jetzt klar: Es sollte an diesem Abend bei Einbruch der Dunkelheit geschehen.

Ich sprang auf und warf dabei den Küchenstuhl um. »0 mein Gott! Stuart, es tut mir so leid. Ich kann nicht. Ich muss weg. Sofort!«

»Verdammt, David! Geh ans Telefon!« Ich raste durch die Straßen von San Diablo, das Handy an mein Ohr gepresst. »Mist, wo kann er nur stecken?« Sein Anrufbeantworter sprang an. Ich holte tief Luft. »Ich bin auf dem Weg zu euch. Ich habe bereits auf deinem Handy eine Nachricht hinterlassen. Setze Allie in ein Taxi, und warte vor dem Haus auf mich. Ich erkläre dir dann alles, wenn ich da bin.«

Ich hoffte inbrünstig, dass er die Nachricht bekommen würde. Denn ich brauchte wirklich dringend seine Hilfe.

Prophezeiung hin oder her – ich war nicht scharf darauf, mich allein Goramesh oder Abaddon zu stellen. Außerdem wusste ich nicht, wohin ich sollte.

Ich rief Laura an und erzählte ich rasch, was vorgefallen war.

»Gütiger Himmel«, sagte sie. »Wie hat Stuart reagiert?«

Stuart hatte mich fassungslos angestarrt, vor allem, als ich in Allies Zimmer gerannt und mit dem Schwert und einer hanebüchenen Geschichte wieder heruntergekommen war. Ich hatte einfach behauptet, das Schwert müsse ins Museum zurück. Ein Teil meiner Aufgabe als Komiteemitglied. Dies jedoch war nicht der richtige Zeitpunkt, um Laura ausführlich davon zu berichten.

»Erzähle ich dir später«, sagte ich. »Im Moment muss ich nur wissen, wohin es überhaupt geht. Im Schatten des Herrn. Das hat die Wahrsagerin gesagt. Könntest du versuchen, da irgendetwas Passendes zu finden? Wenn ich Recht habe, passiert heute alles bei Sonnenuntergang.«

»Bin schon dabei«, versprach Laura und legte auf.

Mein Telefon piepte, um mir zu signalisieren, dass ich eine neue Voicemail erhalten hatte. Ich drückte auf den Knopf und stellte den Lautsprecher an. So konnte ich sie hören, während ich über eine rote Ampel schoss.

»Habe deine Nachricht erhalten«, sagte David. »Taxi ist bestellt, und ich warte vor dem Haus auf dich.«

Gut.

Zumindest musste ich mir in dieser Hinsicht keine Sorgen mehr machen. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, wohin wir fahren sollten, sobald David in meinem Wagen saß.

Ich musste an einer Ampel warten, ehe ich in die Straße einbiegen konnte, in der er wohnte. Ungeduldig ließ ich den Motor immer wieder aufheulen, bis der Gegenverkehr abnahm und ich endlich abbiegen konnte.

Ohne nachzudenken, stellte ich den Wagen im absoluten Halteverbot ab und sah, wie Allie und David die Stufen vor seinem Apartmentblock herunterkamen. Ein Taxi wartete bereits vor dem Haus. Ich öffnete meine Wagentür, um auszusteigen, meine Tochter noch rasch zu umarmen und dann David Beine zu machen.

David strich meiner Tochter behutsam eine Strähne aus dem Gesicht. In seiner Miene war deutlich die Liebe zu erkennen, die er für sie empfand, gemischt mit einer gewissen Melancholie. Sie nahm die Tasche, die er ihr reichte, und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

In diesem Moment brach die Hölle los. Und damit meine ich nicht Dämonen.

»Was zum Teufel tun Sie da, Sie Schwein?«, brüllte eine mir vertraute Stimme. Plötzlich sprang Stuart, den ich in meiner Verwirrung im ersten Moment kaum erkannte, aus unserem Infiniti und raste auf David und Allie zu. Timmy saß hinten in seinem Kindersitz und beobachtete, wie sich sein Vater auf David stürzte und ihm einen soliden Kinnhaken verpasste.

Ich sprang aus dem Auto, während sich Allie verängstigt zu ihrem Vater herunterbeugte, der durch den Schlag zu Boden gegangen war.

Gerade noch rechtzeitig konnte ich Stuart am Arm packen, ehe er sich erneut auf David stürzte. Dieser rappelte sich gerade mühsam wieder auf. In seinem Gesicht spiegelte sich helle Empörung wider.

»Beruhige dich«, sagte ich und hielt nun David fest, ehe er sich meinen Mann vornehmen konnte. »Denk daran, wie das für Stuart aussehen muss.«

»Kate?« Stuart starrte mich fassungslos an. »Was um Himmels willen ist hier los?«

»Glaub mir. Es ist nicht das, was du denkst.«

»Nicht das, was ich denke? Ich denke, dass ich gerade den Chemielehrer meiner Tochter dabei beobachtet habe, wie er sich ihr gegenüber völlig unpassend verhalten hat. Das denke ich.« Er zog Allie an sich und legte beschützend einen Arm um sie. Dann trat er vor sie, als ob er befürchtete, David könnte sie packen und mit ihr davonlaufen.

Ich hielt währenddessen David weiterhin am Arm fest. Insgeheim befürchtete ich nämlich, dass er sonst Stuart genauso zurichten würde wie zwei Tage zuvor Dukkar. Diese Situation musste so schnell wie möglich geklärt werden. Die Sonne ging bereits unter, und wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren. David und ich mussten los, wenn wir noch eine Chance haben wollten, Abaddon oder Goramesh aufzuhalten. Ich wusste zwar nicht, was die Dämonen planten, aber eines war sonnenklar: Es war bestimmt nichts Gutes.

»Bitte. Stuart, hör zu. Ich weiß, dass du eine Erklärung verdienst. Und die wirst du auch bekommen. Das schwöre ich dir.

Aber die Sonne geht jeden Augenblick unter, und wir müssen jetzt wirklich los!«

»Du willst weg? Mit ihm?«

»Bitte, Stuart. Nicht jetzt. Bring Allie nach Hause, und wir sprechen später darüber.«

»Kate…«

»Verdammt, Stuart! Vertraust du mir, oder vertraust du mir nicht?«

Für einen Moment wusste ich nicht, wie er antworten würde. Doch dann führte er Allie am Ellbogen zu seinem Wagen. »Das wird ein Nachspiel haben. Darauf können Sie sich verlassen«, sagte er drohend zu David.

»Ich weiß«, antwortete dieser. »Sie können mir glauben – das weiß ich.«

»Das Schlüsselwort ist ergänzen«, erklärte David, während ich aufs Gas trat und kurz darauf den Pacific Coast Highway hinaufschoss. »Das meinte jedenfalls Allie, kurz bevor du angerufen hast. Der eine wird den anderen ergänzen, so dass sich die Prophezeiung in nichts auflöst«, zitierte er.

»Ich verstehe es leider immer noch nicht«, musste ich zugeben.

»Als wir diese Zeilen das erste Mal gehört haben, wussten wir nur von Abaddon«, erklärte David. »Jetzt wissen wir, dass auch Goramesh seine Finger im Spiel hat. Und nun beginnt das Ganze Sinn zu machen.«

»Ergänzen«, sagte ich nachdenklich. »Soll das heißen, dass sie sich einfach komplementieren?«

»Nein, sondern dass sie ihre Stärken zusammenlegen und sich auf diese Weise ergänzen«, erwiderte er. »Zumindest vermuten wir das.«

Ich warf ihm einen ungläubigen Blick zu und richtete dann wieder meine Augen auf die Fahrbahn. »So etwas geht, meinst du?«

»Offenbar. Allie hat in einem alten Text einen Hinweis darauf gefunden«, sagte er voll väterlichen Stolzes.

»Aber warum? Welcher Vorteil sollte sich daraus für die beiden ergeben?«

»So weit sind wir leider nicht mehr gekommen«, musste David zugeben. »Da hast du angerufen, und wir mussten abbrechen.«

»Verstehe«, erwiderte ich finster. »Aber wohin müssen wir jetzt?«

»Das ist die große Frage«, meinte er. »Es könnte überall sein.«

Mein Handy klingelte. David klappte es auf und stellte es laut, damit wir beide mithören konnten. »Leider hatte ich kein Glück«, ertönte Lauras Stimme. »Ich kann nichts finden. Das Einzige, was mir einfällt, ist eine Kirche. Die ganzen religiösen Hinweise scheinen darauf hinzudeuten.«

»Im Schatten des Herrn«, murmelte David.

»Dann fahren wir zur Kathedrale«, schlug ich vor.

»Das ist aber nicht die einzige Kirche in der Stadt«, gab Laura zu bedenken.

»Das nicht«, entgegnete ich. »Aber sie ist die älteste. Und wir wissen, dass sich schon früher einmal Dämonen für diesen Ort interessiert haben.«

Da die beiden auch keinen besseren Vorschlag hatten, fuhr ich also in Richtung Kathedrale. Laura versprach, währenddessen weiterzusuchen. David klappte das Handy zu, und ich begann noch schneller als bisher zu rasen, meine beide Hände fest ans Lenkrad geklammert.

»Wird er Allie nichts antun?«, fragte David. »Stuart, meine ich.«

Ich warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Allerdings bin ich ihm eine Erklärung schuldig. Ich hätte es ihm schon vor langer Zeit sagen sollen.«

»Es tut mir leid. Ich wollte nie…«

»Nicht jetzt«, unterbrach ich ihn schärfer als beabsichtigt. Ich holte tief Luft. »Momentan will ich nicht darüber nachdenken. Zuerst müssen wir herausfinden, wohin es geht. Und dann diese Dämonen aufhalten, ehe sie sich zusammentun – oder was auch immer sie vorhaben.«

Man erreichte die Kathedrale, die auf einem der höchsten Hügel von San Diablo stand, über eine schmale gewundene Straße. Ich raste sie in einem gefährlichen Tempo hinauf. Der Motor des Mietwagens gab sein Bestes, während ich einen langsam dahinkriechenden Lastwagen in einem waghalsigen Manöver überholte. David klammerte sich ängstlich an das Armaturenbrett.

»Sorry.«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte er. »Fahr so schnell du kannst.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir rasten den restlichen Hügel hinauf. Der Parkplatz vor der Kathedrale war voller Autos, denn die Gründonnerstagsmesse hatte bereits begonnen. Ich stellte den Wagen auf dem Behindertenparkplatz ab, und wir sprangen heraus.

»Und wohin jetzt?«, fragte ich, während ich das Himmelsschwert vom Rücksitz nahm. Derart ausgerüstet, würde ich zwar etwas auffallen, doch momentan gehörte Unauffälligkeit nicht zu meinen Prioritäten.

»Schau in der Kirche nach«, schlug David vor. »Ich sehe mich hier draußen um.«

Ich warf einen Blick in die Kirche, wo alles normal zu verlaufen schien. Der Bischof war gerade dabei, seine Predigt zu beenden. Ich schloss das Kirchenportal so leise wie möglich hinter mir.

Draußen traf ich wieder auf David. »Nichts«, sagte er enttäuscht.

»Die Kirche könnten die Dämonen sowieso nicht betreten«, gab ich zu bedenken. »Es sei denn, das Ritual verlangt von einem der beiden besondere Qualen.«

Ein Dämon vermag nicht über geweihten Boden zu gehen, ohne unerträgliche Schmerzen zu leiden. Doch leider brachte uns das nicht weiter. Nun wussten wir zwar, dass das Ritual nicht in der Kathedrale stattfinden sollte, aber mit einem anderen Vorschlag konnte keiner von uns aufwarten.

»Es muss irgendwo hier in der Nähe sein«, meinte David. »Schließlich heißt es ›Im Schatten des Herrn‹. Das muss doch Nähe bedeuten.«

Dem konnte ich nur beipflichten. Allerdings waren keine Schatten zu sehen. Die Sonne war bereits untergegangen, und es war zudem ein bedeckter Tag gewesen.

»Dort ist Westen«, sagte ich. »Das bedeutet, dass unser Ereignis bei Sonnenuntergang…« Ich warf ihm einen gestressten Blick zu, da seitdem mindestens zehn Minuten vergangen waren. »… im Osten stattfinden muss, da die Schatten abends in Richtung Osten zeigen.«

Wir drehten uns beide um und sahen über den Parkplatz zu den Bäumen hinüber, deren Kronen von hier oben gerade noch zu sehen waren.

»Der Park«, sagte ich und dachte an die Unterhaltung, die ich am vergangenen Sonntag mit dem Bischof über den Spielplatz geführt hatte.

»Welcher Park?«, fragte David. Ich rannte bereits auf die Bäume zu, das Schwert in der Hand. Er folgte mir atemlos.

»Dort unten gibt es einen kleinen Park«, erklärte ich, wobei ich mich darum bemühte, so leise wie möglich zu sprechen, damit uns niemand bemerkte. »Es ist ein ziemlich alter Park, in dem die Kinder manchmal nach der Kirche spielen. Aber er gehört nicht zur Kathedrale. Der Boden dort ist sicher nicht geweiht.«

»Klingt vielversprechend«, meinte David und hielt sich an einer Baumwurzel fest, während wir den Hügel hinunterschlitterten.

»Das muss es sein.« Ich war mir auf einmal ganz sicher. »Der Bischof hat mir erzählt, dass dort archäologische Ausgrabungen stattfinden. Angeblich hat man Tierknochen gefunden, und man geht davon aus, dass diese Tiere in einem Ritual geopfert wurden.«

»Ein Dämonenopfer«, schloss David.

»Das könnte zu dem ›Opferblut‹ passen, von dem die Wahrsagerin gesprochen hat.«

»Hoffentlich«, erwiderte er grimmig. »Uns bleibt nämlich kaum mehr Zeit.«

Der Pfad führte um eine scharfe Kurve und dann ziemlich steil den Hügel hinab. Wir versuchten, uns so leise und so schnell wie möglich zu bewegen, und konnten nur hoffen, dass niemand unsere Ankunft bemerkte. Wie sich herausstellte, hätten wir uns die Mühe sparen können. Als wir auf der kleinen Lichtung des Parks auftauchten, war nirgendwo ein Dämon zu sehen.

Stattdessen entdeckten wir Father Ben, der an ein Holzgerüst genagelt war, das einmal zu dem Abenteuerspielplatz gehört hatte. Seine Arme hatte man ausgestreckt. Blut tropfte von seinen Händen, seinen Füßen und aus den zahlreichen Stichwunden in seiner Brust.