15
»Der Titel eines Liedes?«, riet Chastity, als Sarah die glaubwürdige Imitation einer Opernsängerin lieferte. Das strahlende Mädchen gestikulierte und nickte heftig. Es war nach Tisch, und allein Sarah schien noch genug Energie für das Scharadenspiel zu besitzen, während die meisten Erwachsenen nur dem Kind zuliebe ihr Bestes gaben.
Der Schnee, der zunehmend dichter fiel, steigerte das Gefühl der Lethargie nach Tisch. Die Tanten hatten sich für ihr Nachmittagsschläfchen zurückgezogen. Lord Duncan schnarchte leise neben dem Feuer, und die Contessa war in einem tiefen Ohrensessel diskret eingenickt. Laura saß da und widmete sich auffallend ihrem Weihnachtsgeschenk von Douglas. Ab und zu, wenn das Scharadenspiel zu laut wurde, blickte sie mit gequälter Miene auf, stieß einen tiefen Seufzer aus und widmete sich dann wieder ihrer Lektüre. Alle anderen kämpften mit unterdrückten Gähnattacken, bereuten die zweite Portion Weihnachtspudding und heuchelten angestrengt lebhaftes Interesse an Scharaden.
In ein weißes Bettlaken gehüllt, eine Toastgabel schwingend, tat Sarah mit hochmütig zurückgeworfenem Kopf und gebieterisch deutendem Zeigefinger pantomimisch ihr Bestes, um etwas auszudrücken. Ihr Publikum beugte sich aufmerksam, wenn auch ratlos vor, und die Mimik des Kindes wurde zunehmend grotesker.
Douglas stand auf und ging ans Sideboard, um sich ein Glas Port einzuschenken. An der Wand stehend trank er langsam und beobachtete Sarah eine Weile mit gerunzelter Stirn, um dann mit einem Fingerschnalzen auszurufen: »>Rule Britannia<«, worauf ein sonniges Lächeln das Gesicht des Mädchens erhellte.
»Erraten ... wie bist du dahinter gekommen?«
»Du bist eine sehr gute Schauspielerin«, lobte er.
»Bravo, Douglas«, rief Chastity aus und applaudierte ihm. »Gut gemacht, Sarah.« Abgesehen von den Schlafenden und Laura klatschten alle mit, und Sarah strahlte und verbeugte sich übertrieben.
»Wer ist jetzt dran?«, fragte sie eifrig.
»Ich glaube, wir müssen jetzt etwas anderes versuchen«, sagte ihr Vater mit einem tiefen Gähnen. »Ich brauche Bewegung, wenn ich nicht einschlafen soll.« Er stand auf und streckte sich. »Ich hätte nichts gegen einen Spaziergang einzuwenden.«
»Aber nicht bei diesem Wetter«, wandte Max ein, auf die verschneite Fensterscheibe deutend.
»Wir könnten ein anderes Spiel spielen«, schlug Sarah hoffnungsvoll vor.
»Ich weiß«, sagte Prudence. »>Sardinen<. Das wird uns munter machen.« Sie ignorierte das Proteststöhnen ihres Mannes.
»Wie spielt man >Sardinen<?«, fragte Sarah.
»Also ... Das Los bestimmt, wer sich verstecken muss. Nach zehn Minuten begeben sich die anderen auf die Suche nach ihm oder ihr. Wenn jemand den Gesuchten findet, muss er sich mit ihm am selben Ort verstecken, bis am Ende nur mehr eine Person suchend umherirrt.«
»Prudence, dafür bin ich zu alt«, erklärte Gideon.
»Nein, das bist du nicht«, bestritt sie. »Wir nehmen Vater und die Tanten aus, und natürlich die Contessa und Laura, alle anderen spielen mit.« Sie nahm einen Bogen Papier und zerriss ihn in Streifen. »Auf eines der Stücke male ich ein Kreuz, und wer es zieht, ist ES. Sarah, reich mir die Kristallschüssel vom Sideboard.«
Sarah tänzelte durch den Raum, um das Verlangte zu holen, und brachte es ihrer Stiefmutter. Prudence warf die zusammengefalteten Papierstücke in die Schüssel und mischte sie mit den Fingern. »So, Sarah, du machst mit der Schüssel die Runde.«
»Wir sollten die Grundregeln festlegen«, sagte Constance. »Welche Bereiche im Hauses bleiben ausgespart?«
»Die Räume des Personals natürlich und die Schlafräume derjenigen, die nicht mitspielen«, schlug Chastity vor. »Und die Keller und Dachböden.«
»Bleibt immer noch Raum genug zum Spielen«, bemerkte Max und nahm ein Stück Papier aus der Schüssel, die Sarah ihm präsentierte.
»Das ist ja der Punkt«, wurde er von seiner Frau belehrt. »Wir alle brauchen Bewegung und verschaffen sie uns, indem wir fast durchs gesamte Haus laufen.«
Douglas nahm ein Stück Papier und beobachtete, wie Chastity sich eines nahm. Der rasche Blick, den sie darauf warf, verriet, dass sie nicht das markierte Stück gezogen hatte. Nun entfaltete er sein Los und zerdrückte es fest in der Handfläche. »Sieht aus, als hätte es mich getroffen.« Er stellte sein Portglas ab. »Wie viel Zeit wird mir eingeräumt?«
»Zehn Minuten«, sagte Chastity. »Sie dürfen kein zu beengtes Versteck wählen, da wir uns ja alle hineinpferchen müssen.«
»Ich verstecke mich, wo ich will, Miss Duncan«, verkündete er. Er beugte sich über sie, offenbar, um das Papier in den Papierkorb neben ihrem Sessel zu werfen. Dabei raunte er ihr zu: »In dem Wäscheschrank in deinem Badezimmer, wenn es dir beliebt.« Er richtete sich auf, ohne auf ihren angehaltenen Atem zu achten, winkte den Anwesenden zu und eilte davon.
In der höhlenartigen Halle hielt er inne und lauschte den Klängen der Lieder und dem ungehemmten Gelächter; Geräusche, die aus dem Personaltrakt hinter der mit grünem Filz bespannten Tür im Hintergrund drangen. Er lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und direkt in das Badezimmer, das Chastity ihm am Abend zuvor gezeigt hatte.
Darin befand sich tatsächlich ein Einbauschrank für Wäsche, ein sehr geräumiger, mit breiten Borden, auf denen sich Laken und Handtücher stapelten und die genügend Platz boten, dass sich jemand, selbst ein Mann seiner Größe, mit ausgestreckten Beinen auf den Boden setzen konnte. Er zog die Tür zu, schloss sie aber nicht, lehnte den Kopf an die Wand und wartete.
Es dauerte nicht lange, und er hörte Getöse, Stimmen, Laufschritte. Schließlich wurde die Tür zum Badezimmer mit leisem Quietschen geöffnet. Er schob die Schranktür ein wenig auf, damit er durch den Spalt spähen konnte. Sein Lächeln war etwas boshaft, als er hinausgriff und Chastitys Hand packte.
»Ach«, stieß sie hervor, als er sie in den Schrank zog. »Ich kann es nicht fassen, dass du dein Versteck verraten hast. Ausgerechnet du. Es ist so unsportlich.« Sie plumpste abrupt auf seinen Schoß.
»Unsinn«, widersprach er und strich ihr über den Rücken. »Wenn wir uns schon auf dieses lächerliche Spiel einlassen, ist es nur recht und billig, dass wir uns dabei auch amüsieren.« Er küsste ihren Nacken und ließ sie wohlig erschauern. Er ließ seine Hand nach vorne gleiten und umfasste ihre Brüste, massierte die Spitzen, bis sie sich hart gegen die Seide ihres Kleides drängten.
Er knabberte an ihrem Nacken und sog den Duft ihrer erwärmten Haut ein, dann machte er sich daran, ihr Kleid und ihren Unterrock langsam über die bestrumpften Beine hochzuschieben. Chastity verharrte in Reglosigkeit. In dem beengten Raum konnte sie sich weder umdrehen noch ihre Hände benutzen, um die Liebkosungen zu erwidern, die über ihre Schenkel und dazwischen glitten und den feinen Stoff ihrer Hose in die nunmehr feuchtheiße Spalte ihres Geschlechts drückten.
»Hebe dich hoch«, murmelte er und nahm seine Hand fort, um das Taillenband ihrer Hose zu lösen. Sie kam der Aufforderung nach und half ihm, das Wäschestück hinunterzuschieben, so dass sie nun den rauen Tweed seiner Hose an Schenkeln und Kehrseite spürte. Als er seine Hand unter ihr Gesäß schob, biss sie sich auf die Unterlippe, um keinen Laut von sich zu geben, und wagte kaum zu atmen. Wenn nun jemand ins Badezimmer käme und einen Blick in den Schrank warf ...
Sie spürte ein hartes Hervorschnellen, als er sein Glied aus der Hose befreite, und hob sich just so viel, dass er tief hineingleiten konnte, während seine Finger nicht aufhörten, sie zu streicheln. Sie bewegte sich langsam, hob und senkte sich auf ihm, und hörte, wie sein Atem sich im dunklen
Schrank beschleunigte, spürte seinen Atem heiß und feucht in ihrem Nacken. Schweiß trat ihr auf die Stirn, so sehr musste sie an sich halten, um keinen Laut von sich zu geben, während die Wonne sich steigerte, bis sie konvulsivisch zuckend kam. Als er eine Hand auf ihren Mund legte, um ihren Schrei zu ersticken, schmeckte sie ihren Geruch an seinen Fingern. Dann war es vorüber, und sie ertappte sich dabei, dass sie leise lachte, als die Hitze des Höhepunktes verebbte.
Sie ließ sich gegen seine Brust fallen, zu matt, um ihre Kleider zu ordnen oder sich Sorgen wegen einer etwaigen Entdeckung zu machen. Bis die Badezimmertür geöffnet wurde. Chastity erstarrte und spürte, wie auch Douglas unter ihr kurz stocksteif wurde, ehe seine Hand rasch ihren Rock in Ordnung brachte, so dass er sowohl ihre als auch seine Beine bedeckte. Einem raschen und nicht neugierigen Blick würde sich alles völlig normal darstellen.
Die Schranktür wurde geöffnet.
»Du hast uns gefunden, Con«, formulierte Chastity das Offenkundige. »Hier drinnen ist aber nicht viel Platz.«
»Nein«, musste ihre ältere Schwester ihr Recht geben. »Ich schwinge mich auf das obere Brett. Es ist breit genug, und wenn ich flach daliege, ist für den Kopf noch Platz.« Gesagt, getan. »Douglas, das Versteck ist aber reichlich unbedacht gewählt«, bemerkte sie, nachdem sie sich zurechtgerückt hatte.
»Ja, verzeihen Sie«, erwiderte er und spürte, wie Chastity unwillkürlich vor Lachen geschüttelt wurde. Er berührte ihre Hüfte und versuchte, sie dazu zu bringen, sich so weit anzuheben, dass er wenigstens ihre Unterwäsche hochziehen und seine eigene Hose zuknöpfen konnte. Noch immer von lautlosem Lachen geschüttelt, kam sie der stummen Aufforderung nach.
»Was treibt ihr zwei da unten?«, wollte Constance wissen.
»Gar nichts, es ist nur sehr eng, und ich bin schon ganz steif«, lieferte Chastity eine Erklärung, während Douglas es irgendwie schaffte, das Taillenband ihrer Hose zuzubinden.
»Wenn ihr nicht gefunden werden wollt, solltet ihr still sein«, kam Maxens Stimme aus dem Badezimmer. Er öffnete den Schrank und lugte hinein. »Ach Gott, Farrell, etwas Besseres ist Ihnen wohl nicht eingefallen?«
»Nein«, sagte Douglas. »Absolut nicht.«
Nun gab Chastity es auf und brach in schallendes Gelächter aus. Max schaute auf sie hinunter, dann hinauf zu seiner Frau. »Ist mir hier etwas entgangen?«
»Wenn du heraufkommst und dieses Brett mit mir teilst, finden wir es vielleicht heraus«, gab Constance zurück.
»Nimm zur Kenntnis, dass ich Kabinettsmitglied bin und dass dies hier für einen Mann in meiner Position sehr unwürdig ist«, erklärte Max und erklomm unter großen Schwierigkeiten das Brett. Seine Stimme klang erstickt, weil sein Kopf bis auf die Brust gedrückt wurde, wenn er nicht gegen das obere Brett stoßen wollte. Seine Beine hingen bis in Chastitys Schoß hinunter.
»Wer fehlt noch?«, fragte Chastity. »Prue und Gideon natürlich. Und Sarah. Mary spielt doch nicht mit, oder?«
»In ihrem Interesse hoffe ich es«, brummte Max. »Und wer als Nächster kommt, muss sich im Bad verstecken.«
Wieder wurde die Badezimmertür geöffnet, und Sarah rief: »Ich habe euch entdeckt. Ihr habt die Schranktür offen gelassen.«
»Weil zu wenig Platz für alle ist, wenn man sie schließt«, erklärte Chastity. »Aber du bist klein genug, um auf das oberste Brett zu klettern. Schaffst du es?«
»Ganz leicht«, sagte Sarah zuversichtlich. Sie kletterte über Max und Constance und kauerte sich auf dem obersten Brett zusammen. »Das ist aber lustig.«
»Das kommt auf die Länge der Beine an«, murmelte Max.
Prudences Auftauchen wenige Minuten später gab ihm den Rest. »Mir reicht's«, erklärte er. »Auf Gideon warte ich nicht mehr.«
»Das musst du nicht, er ist da«, sagte Gideon von der Tür her. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, brach er in Lachen aus. »Wie unbedacht von Ihnen, Farrell.«
»Das Spiel heißt >Sardinen<«, schwang Chastity sich zu seiner Verteidigung auf. »Es geht ja darum, dass man sich irgendwo zusammenpfercht.«
Max sprang von seinem Hochsitz und drückte die Hände ins Kreuz. »Haben Sie in Ihrer medizinischen Trickkiste etwas gegen Rückenschmerzen, Farrell?«
»Ich würde einen Whiskey verschreiben«, riet Douglas. Er hatte Hemmungen, Chastity in Anwesenheit aller von sich herunterzuschieben, da er nur eine nebelhafte Vorstellung davon hatte, wie weit sie beide zugeknöpft waren.
» Hilf mir, Max.« Constance streckte ihrem Mann die Hände entgegen, und er hob sie halb vom Brett herunter. Dann griff er nach Sarah und half ihr herunterzuspringen.
»Kommt ihr zwei selbstständig da raus?«, fragte Prudence vom Rand der Badewanne aus, auf der sie saß.
»Ich habe es hier sehr bequem«, sagte Chastity. »Sie nicht, Douglas?«
»Aber ja doch«, log er zähneknirschend. »Völlig bequem.«
Max spähte zu ihnen herein und räusperte sich. »Na, dann lassen wir euch in Ruhe.« Er richtete sich auf und wies mit ausholender Geste zur Tür. »Kommt, Leute, wir gehen und denken uns das nächste teuflische Spiel aus.«
»Meinst du, dass sie es ahnten?«, fragte Chastity, als sich die Tür hinter der Gruppe geschlossen hatte.
»Ich nehme an, es handelt sich um eine rhetorische Frage«, erwiderte Douglas und schob sie von sich. »Lass mich um Himmels willen aufstehen, bevor meine Beine völlig gefühllos werden.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es deine Beine sind, die dir Sorgen bereiten«, kicherte Chastity und kroch aus dem Schrank. Sie richtete sich auf, hob Rock und Unterrock bis zur Mitte an, damit sie ihre Hose festbinden und ihre Strumpfbänder kontrollieren konnte.
Douglas drehte dem verlockenden Anblick stöhnend den Rücken, um seine eigene Kleidung in Ordnung zu bringen. »Fertig?«
»Fertig.« Chastity prüfte ihre Erscheinung im Spiegel und benetzte eine Fingerspitze, um ihre Augenbrauen zu glätten. »Jede Wette, dass es Gezwinker und anzügliche Bemerkungen gibt, wenn wir erscheinen.«
»Tja, die Schuld liegt allein bei uns«, gab er vergnügt zu.
»Entschuldigung, Dr. Farrell, Sie haben die alleinige Schuld«, berichtigte sie. »Sie haben angefangen.«
»Ja, das habe ich.« Er lächelte friedlich. »Aber sag bloß nicht, du hättest es nicht genossen.«
»Das hätte ich nie gesagt«, gluckste sie und ging zur Tür.
Douglas folgte ihr nicht unmittelbar. Nachdenklich wandte er sich dem Spiegel über dem Waschbecken zu und prüfte sein Spiegelbild. Er sah aus wie immer, doch war er nicht derselbe. Wenn er daran dachte, wie er sich in den letzten vierundzwanzig Stunden benommen hatte, erkannte er sich kaum wieder. Er war nicht der Mann, der lustvolle Spielchen in einem Wäscheschrank trieb. Er war viel zu ernsthaft, um sich überhaupt auf Spiele einzulassen ... viel zu sehr auf seine Arbeit fixiert. Sein Leben war wohl geordnet und verlief in Bahnen, die er selbst schon Vorjahren für sich festgelegt hatte. Er gab leidenschaftlichen Impulsen niemals nach, und sein Selbsterhaltungsinstinkt war ausreichend geschärft, um ihn davor zu bewahren, sich mit völlig unpassenden Frauen einzulassen. Und Chastity Duncan - keck, kampflustig, spielerisch und viel zu klug - war für einen Mann mit seinen Bedürfnissen denkbar ungeeignet. Er konnte es sich nicht leisten, sich von Leidenschaft ablenken zu lassen, nicht in der realen Welt der zielbewussten Hingabe an seine Arbeit. Er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass er Chastity keine Minute vergessen würde, wenn er sich darauf einließe. Sie würde in seinem Bewusstsein und seiner Phantasie so lebendig und anspruchsvoll sein wie in Wirklichkeit.
Das alles war ihm klar, doch schien es keine Wirkung oder Bedeutung zu haben. Er entschied, dass sie im Moment ein anderes Universum bewohnten, in dem die üblichen Regeln keine Geltung hatten. Allein der Gedanke an sie zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und erfüllte ihn mit tiefer und befriedigender Freude. Während der Gedanke an Laura della Luca nur Gereiztheit und vages Unbehagen verursachte. Nicht dass er die Signorina noch als mögliche Braut betrachtete, andernfalls er nicht mit Chastity im Bett gelandet wäre. Er hatte es sich nicht eingestanden, doch stimmte es.
Also, was nun? Er schüttelte den Kopf. Er wusste keine Antwort und klammerte sich an den tröstlichen Gedanken, dass derzeit keine Antwort nötig war. In den nächsten Tagen würde er nirgends hingehen, so dass er ebenso gut diese neue und erstaunliche Seite seines Charakters erforschen konnte, die sich ihm so plötzlich enthüllt hatte. Ihm wurde klar, dass er sich im Spiegel zulächelte. Ein einfältiges, ganz und gar selbstzufriedenes Lächeln. Du lieber Gott, er erkannte sich wirklich nicht wieder.
»Bei diesem Wetter muss die Jagd abgeblasen werden«, erklärte Lord Duncan später am Abend. Am Fenster des Salons stehend blickte er hinaus in Dunkelheit und Flockenwirbel, die Hände im Rücken verschränkt. »Verdammtes Sauwetter ... Verzeihung, Contessa«, sagte er mit einer reuigen Verbeugung zu der Dame.
»Keine Ursache, Lord Duncan«, erwiderte die Contessa mit einem Winken vom Bridgetisch aus. »Ich habe schon viel Schlimmeres zu hören bekommen.«
»Verdammt ... trotzdem«, wiederholte Seine Lordschaft und drehte sich wieder zum Fenster um. »Jagdfrühstück, Jagd ... alles muss abgesagt werden ... ein Jammer.«
»Hat der Master Nachricht geschickt, man solle absagen?«, fragte Constance und wählte eine Karte aus ihrem Blatt.
»Noch nicht, aber er wird nicht anders können. Bei diesem Wetter können die Hunde nicht hinaus, gar nicht zu reden von den Pferden.« Er ging wieder an den Bridgetisch und nahm seine Karten auf. »Was wurde ausgespielt?«
»Karo zehn«, informierte ihn seine älteste Tochter.
»Ach, du spielst Trumpf?« Er stotterte herum, spielte dann mit widerwilligem Seufzen den Karobuben aus und sah zu, wie sein Schwiegersohn mit der Dame folgte. Die Contessa legte ein Coeur hin.
Constance lachte und machte den Stich. »Unser Rubber, glaube ich, Max.«
Die Türglocke erklang zugleich mit dem großen Türklopfer, der energisch betätigt wurde. »Ich öffne«, sagte Chastity. »Vermutlich Nachricht von Lord Berenger.«
Sie ging zur Haustür, als der ein wenig gerötete Jenkins, dessen tadellose Erscheinung etwas gelitten hatte, aus der Küchenregion auftauchte. »Schon gut, Jenkins«, sagte sie über die Schulter. »Das übernehme ich. Lassen Sie sich bei Ihrer Feier nicht stören.«
Er beschränkte sich auf eine etwas unsichere Verbeugung und zog sich wieder zurück - einziger Hinweis darauf, dass er den flüssigen Weihnachtsfreuden reichlich zugesprochen hatte.
Chastity kämpfte mit dem Riegel, und als sie die Tür aufzog, fegte ein Windstoß mit einem Flockenwirbel herein. Erstaunt begrüßte sie den Besucher. »Frohe Weihnachten, Lord Berenger, wir erwarteten zwar Nachricht von Ihnen, ahnten aber nicht, dass Sie sich selbst dem Unwetter aussetzen würden.«
»Ach, ich dachte, ich überbringe die Hiobsbotschaft persönlich, Chastity. Ihr Vater wird sicher sehr enttäuscht sein.« Seine Lordschaft, oberster Jagdleiter, betrat energisch mit den Füßen stampfend die Halle. Seine sonst rosigen Wangen waren von der Kälte hochrot.
»Na, dann kommen Sie herein in die Wärme«, lud Chastity ihn ein und überlegte, dass George Berenger, ein kinderloser Witwer in mittleren Jahren, ein einsames Fest hinter sich haben musste.
»Ach, George, treten Sie ein«, begrüßte Lord Duncan seinen Nachbarn mit ausholender Geste. »Whiskey ... Kognak ... Sie können Ihr Gift wählen.«
»Whiskey, Arthur, danke.« Er ließ sich von Chastity Mantel und Schal abnehmen, trat ans Feuer und rieb seine kalten Hände. Dann nahm er den Whiskey in Empfang, den sein Gastgeber ihm reichte, und verbeugte sich, als er jenen, die er nicht kannte, vorgestellt wurde. »Lassen Sie sich beim Bridge nicht stören.« Er deutete auf den Kartentisch.
»Ach, Max und ich haben eben den Rubber gewonnen, Lord Berenger«, sagte Constance mit schlecht verhohlener Befriedigung. »Ich bezweifle sehr, ob Vater und die Contessa heute Lust auf eine weitere Niederlage haben.«
»Eines schönen Tages wirst du dich übernehmen, denk an meine Worte«, drohte Lord Duncan seiner Tochter mit erhobenem Zeigefinger, ehe er sich wieder seinem Gast zuwandte. »Die Jagd ist also abgesagt?«
»Leider«, musste Berenger mit einem Seufzer eingestehen.
»Na ja, macht nichts.« Lord Duncan klang nun erstaunlich unbekümmert. »Setzen Sie sich doch, mein Lieber.« Er deutete auf das Sofa, auf dem nach wie vor Laura mit ihrem Buch saß. Lord Duncan setzte sich gegenüber, neben die Contessa, zu der er sagte: » Sie hätten doch morgen an der Jagd nicht teilgenommen, meine Liebe ... oder?«
»Nein, das ist kein Sport, den ich sonderlich schätze«, erwiderte die Contessa lächelnd.
Die Duncan-Schwestern wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Damit war erklärt, wieso ihr Vater seine Enttäuschung so rasch überwunden hatte.
»Ach, wie ich sehe, lesen Sie Dante, Miss della Luca«, sagte Lord Berenger und beugte sich näher, um einen Blick in Lauras Buch zu werfen. »Noch dazu auf Italienisch. Nun, ich war immer der Meinung, dass bei einer Übersetzung viel von der Bedeutung verloren geht.«
»Allerdings.« Laura sah ihn aufgeschreckt und voller Interesse an. »Sie lieben Italien, Mylord?«
»Ich verbrachte dort drei Jahre«, erwiderte er. »Als Student in Florenz.«
Laura machte große Augen. »Firenze«, sagte sie schwärmerisch. »Meine Vaterstadt.« Sie legte eine Hand auf ihre flache Brust. »Eine Stadt, die im Herzen eines jeden lebt, der sie kennt. Finden Sie nicht? Sie sprechen natürlich Italienisch.«
Das fließende Italienisch, in dem er antwortete, entlockte Laura ein anerkennendes Nicken und Lächeln. Sie unterbrach ihn in ihrer Muttersprache und gestikulierte dabei, als gelte es, ein ganzes Orchester zu dirigieren. Wer hätte gedacht, dass George Berenger, ein eher derber und scheinbar wenig gebildeter Gutsbesitzer, über so verborgene Tiefen verfügte, dachte Chastity bei sich. War dies eine Situation, die man zum Vorteil des Vermittlungs-Service wenden konnte? Sie warf Prudence einen Blick zu und fragte sich, ob dieser ein ähnlicher Gedanke gekommen war. Prudence, die eine Braue hochzog, stand vom Backgammon-Brett auf, über dem sie mit Sarah gesessen hatte, und schlenderte beiläufig an den Flügel.
»Spielst du uns etwas vor, Prue?«, fragte Constance, die ihr folgte. »Sollen wir ein Duett versuchen?«
»Ich blättere für euch um«, sagte Chastity und gesellte sich zu ihren Schwestern. »Was meint ihr?«, flüsterte sie und raschelte mit den Noten wie auf der Suche nach einem bestimmten Stück.
»Wie verfrachten wir ihn nach London?«, murmelte Constance, während auch sie so tat, als suche sie etwas im Notenstapel.
»Wenn wir es schaffen, sie in den nächsten Tagen zu verkuppeln, wird er von selbst kommen«, flüsterte Prudence.
»Wir könnten ihn für morgen einladen, da die Jagd ins Wasser fällt«, schlug Chastity vor. »Er muss sehr einsam sein, eingeschneit, ohne Freunde und Familie. Wir könnten sie beim Lunch nebeneinander platzieren.«
»Was wird hier geflüstert?«
Sie fuhren schuldbewusst zusammen, als Douglas plötzlich hinter ihnen stand. »Es geht um die Noten«, sagte Chastity. »Wir suchen ein ganz bestimmtes Stück. Es muss wohl verlegt worden sein.« Sie drehte sich zum Raum um und fragte hastig: »Laura, singen Sie ... vielleicht sogar auf Italienisch?«
»Aber natürlich«, sagte Laura. »Die wirklich große Musik kommt aus Italien. Denken Sie an die Oper ... nur Italiener können Opern komponieren, finden Sie nicht, Lord Berenger?« Sie richtete ihren blassen Blick auf ihn.
»Italienisch ist die Sprache der Oper«, stimmte er ihr zu, und zur großen Verwunderung der Gesellschaft erhob er sich, um eine Arie aus Don Giovanni zu schmettern.
Laura blickte ihn mit hingerissener Aufmerksamkeit an, die Hände an die Brust gedrückt, und als er, ob seiner spontanen Darbietung selbst ein wenig erstaunt, endete, spendete sie ihm mit lautem »Bravo! Bravo, Signore!« Beifall.
»Guter Gott, Menschenskind«, stieß Lord Duncan matt hervox-. »Wusste gar nicht, dass Sie das können.«
»Ach, ich studierte Operngesang ... nahm Stunden ... seinerzeit, in Florenz«, gestand George Berenger sichtlich verlegen. »Nach dem Tod meines Vaters war Schluss damit ... Damals hieß es, zurück nach England und das Gut übernehmen. Seither habe ich dieser Schwäche nicht mehr gefrönt.« Er setzte sich wieder und fuhr sich mit einem großen karierten Taschentuch über die Stirn.
»Von Schwäche kann nicht die Rede sein, Mylord«, flötete Laura. »Die schönste Musik der Welt. Und Ihre wundervolle Stimme ... Wie schade, dass Ihre edleren Empfindungen einem so gewöhnlichen Leben geopfert wurden.« Ihre ausholende Handbewegung umfasste die ganze Banalität ihrer ländlichen Umgebung. »Ein solches Talent zu ersticken ...« Sie seufzte dramatisch. »Tragisch.«
»Nun, tragisch würde ich es kaum nennen, Miss della Luca«, widersprach er.
»Ach, leugnen Sie es nicht ... und bitte, es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich Laura nennen würden.« Sie ergriff mit beiden Händen seine Hand.
»Sieht aus, als hätte il Dottore seine Vorrangstellung eingebüßt«, murmelte Chastity und vergaß ganz, dass Douglas noch immer neben dem Klavier stand.
»Was war das?«, fragte er.
»Ach, nichts«, bekam er von Chastity zu hören, die nur mit Mühe ein Lachen unterdrückte. »Gar nichts.«
Douglas schien nicht überzeugt und beobachtete Prudence, die sich ans Klavier setzte und einen Akkord erklingen ließ, mit misstrauischem Blick. »Gibt es besondere Wünsche?«, fragte sie.