Hewlett-Packard

2

»Hallo, Tante Chas.«

»Hallo, Sarah.« Chastity begrüßte die elfjährige Stieftochter ihrer Schwester mit einem Kuss. »Wie ist die Schule?«

»Langweilig«, antwortete das Mädchen mit übertrieben blasiertem Seufzen. »Fürchterlich langweilig.«

Chastity lachte. »Sarah, das glaube ich dir nicht.«

Sarah erwiderte das Lachen. »Na ja, es gibt ein paar Dinge, die ich mag, aber man muss sagen, dass sie langweilig ist, sonst glauben die Leute, es stimmt mit einem etwas nicht.«

Chastity nahm ganz richtig an, dass die fraglichen Leute Sarahs Mitschülerinnen waren. »Das kann ich verstehen«, sagte sie mitfühlend. »Aber es muss schwierig sein zu tun, als würde man sich langweilen, wenn es gar nicht stimmt.«

»Ach, ich bin eine gute Schauspielerin«, sagte Sarah vergnügt. »Ist dies das Kleid, das du heute tragen wirst? Lass mich deine Tasche tragen.«

»Ja, das ist es, und vielen Dank.« Chastity überließ ihre Sachen der eifrigen Kleinen. »Ist Prue oben?«

»Ja, und Daddy ist noch in seinem Büro. Beim Frühstück zankten sie sich, deshalb wird er sicher im allerletzten Moment nach Hause kommen«, vertraute das Mädchen ihr an, völlig unbekümmert wegen dieses nicht seltenen Vorfalls im Hause Malvern.

»Und worum ging es bei dem Streit?« Chastity folgte Sarah durch den schmalen Gang zur Treppe.

»Es hat etwas mit einem Fall zu tun, den Daddy annimmt und von dem Prue glaubt, er solle es nicht tun. Alles habe ich nicht verstanden. Es ging um einen Mann, der für ein Kind nicht zahlen will.« Sarah hüpfte die Stufen hinauf voraus.

Chastity nickte stumm. Wenn Prudence etwas missbilligte, konnte man darauf bauen, dass sie es zum Ausdruck brachte. Und bei Gideon konnte man damit rechnen, dass er ihr riet, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Beide brausten leicht auf.

»Soll ich deine Sachen ins Gästezimmer bringen? Prue ist in ihrem Salon.« Sarah blieb vor einer geschlossenen Tür am oberen Treppenabsatz stehen.

»Ja, danke, Sarah. Ich möchte Prue rasch begrüßen.« Sie lächelte und eilte den Gang entlang zu einer Doppeltür am Ende. Auf ihr leichtes Pochen hin wurde die Tür geöffnet, und Prudence empfing sie mit einer Umarmung.

»Ach, wie bin ich froh, dass du da bist«, sagte sie und zog ihre Schwester in ein hübsches, quadratisches Wohnzimmer, an das sich das große gemeinsame Schlafzimmer der Eheleute anschloss. »Ich bin auf Gideon schlecht zu sprechen.«

»Ja, Sarah deutete so etwas an.« Chastity knöpfte ihren Mantel auf. In ihrer Rolle als ewige Friedensstifterin war sie bereit, sich die Meinung ihrer Schwester anzuhören. »Es ging um einen Mann, der für ein Kind nicht zahlen will.«

»Manchmal glaube ich, Sarah bekommt mehr mit, als sie sollte«, sagte Prudence mit reuigem Schnauben und rückte ihre Brille auf der Nase zurecht. »Ich frage mich, ob wir vor ihr nicht zu offen reden.«

»Sie ist viel zu intelligent, um es falsch aufzufassen«, beruhigte Chastity sie. »Und sie scheut sich nicht zu fragen, wenn sie etwas nicht begreift.«

Prudence lächelte. »Nein, da hast du wie üblich Recht. Gideon ging mit ihr stets sehr offen um, deshalb wäre es nicht gut, dies zu ändern, nur weil ich auf der Szene auftauchte.«

»Genau«, stimmte ihre Schwester zu und legte ihren Mantel über die Lehne eines mit Gobelinstoff bezogenen Stuhles. »Also, berichte, was sich zugetragen hat.«

Prudence füllte zwei Gläser aus einer Sherrykaraffe auf einem Konsolentisch zwischen den zwei hohen Fenstern, deren üppige bernsteinfarbige Samtdraperien zugezogen waren, um den garstigen Winterabend auszusperren. Sie brachte die Gläser ans Sofa. Chastity nahm eines und setzte sich, die Beine kreuzend, und sah ihre Schwester erwartungsvoll an. Sie war es gewohnt, bei beiden Schwestern die einfühlsame Zuhörerin zu spielen.

Prudence nippte am Sherry und fing an. »Gideon möchte einen Mann verteidigen, der sich weigert, für ein Kind zu sorgen, das seine ehemalige Geliebte unehelich geboren hat. Dies bedeutet, dass Gideon die Frau angreifen wird ... ihre Moral, ihre Motive. Er behauptet, dass sie nur aus Habgier handelte und mit Absicht schwanger wurde, um den Mann an sich zu ketten. Nun versuche sie, seine Ehe und seine Karriere zu ruinieren.«

Chastity schnitt eine Grimasse. Sie war sich völlig einig mit ihrer Schwester. Jeder andere Standpunkt wäre den Duncan-Schwestern unmoralisch erschienen. »Glaubt Gideon das wirklich?«

»Nein, sicher nicht. Er sagt aber, er würde jeden Fall übernehmen, der ihn interessiert und herausfordert, ohne Rücksicht auf Schuld oder Unschuld.« Prudence schüttelte angewidert den Kopf. »Wir würden bald auf der Straße landen, wenn er lediglich Fälle übernähme, die mit meinen moralischen Vorstellungen vereinbar sind, behauptet er.«

Chastity musste lachen. »Verzeih«, sagte sie, »aber du musst zugeben, dass er vermutlich Recht hat. Wenn wir jeden Fall, der sich ihm bietet, auf Herz und Nieren prüfen, ob er unseren Ansichten von Recht und Unrecht entspricht, könnte er bald seine Anwaltspraxis zusperren.«

Prudence lächelte widerstrebend. »Es ist ja nicht so, dass ich in diesen Dingen unpraktisch denke, aber gerade dieser Fall traf mich an meiner empfindlichsten Stelle.«

»Ja, das sehe ich ein.« Chastity nippte an ihrem Sherry. »Kommt Con heute früher?«

Prudence warf einen Blick auf die Kaminuhr. »Sie sollte schon da sein. Spätestens um sieben, sagte sie, damit uns Zeit für das Geschäftliche bleibt, ehe die Gäste eintreffen.«

»Dann ziehe ich mich jetzt fürs Dinner um, ehe sie kommt.« Chastity stand auf. »Würdest du mir deinen topasfarbigen Schal borgen? Er passt so gut zum grünen Kleid.«

»Aber natürlich. Du brauchst auch ein passendes Band für dein Haar. Ich suche dir eines heraus, wenn ich mich umkleide. Möchtest du ein Bad nehmen? Ich schicke dir Becky als Hilfe.«

»Nein, ich badete am Morgen und komme beim Umkleiden allein zurecht. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mich an eine Zofe gewöhnen könnte.«

»Ach, du würdest staunen, wie rasch das geht«, erwiderte Prudence. »Warte nur, bis du einmal ein Leben in Luxus führst.«

Chastity schüttelte nur lächelnd den Kopf und ging ins Gästezimmer, wo Sarah bereits ihr Kleid aufgehängt hatte.

Ein Krug mit heißem Wasser dampfte auf dem Waschtisch neben einem Stapel dicker Handtücher. Während sie ihre Reisetasche auspackte, überlegte sie, dass ihre Schwestern sich mit bemerkenswerter Leichtigkeit an die luxuriösen Annehmlichkeiten gewöhnt hatten, die ihre wohlhabenden Ehemänner ihnen bieten konnten. Man konnte es ihnen allerdings kaum verübeln, nachdem sie so lange am Rande des Bankrotts leben mussten und auf alle Annehmlichkeiten hatten verzichten müssen, die sie zu Lebzeiten ihrer Mutter genossen hatten - ehe Lord Duncan sein letztes Hemd an den Earl of Barclay verlor. Sie war also sehr wohl imstande, sich allein anzukleiden.

Binnen zwanzig Minuten begab sie sich wieder ins Wohnzimmer ihrer Schwester und knöpfte sich im Gehen die Knöpfe an den engen Ärmeln zu. Prudence, die nun ein schwarzgraues Abendkleid aus Seide trug und das zimtrote Haar auf dem Hinterkopf aufgetürmt hatte, trat aus dem Schlafzimmer, als Chastity die Wohnzimmertür hinter sich schloss.

»Das Kleid ist wunderbar«, sagte Prudence bewundernd. »Dieses Grün passt herrlich zu deinem Haar. Komm, ich will dir das Band reinflechten.« Geschickt brachte sie das topasfarbige Band in Chastitys kunstvoll arrangierten roten Locken unter und drapierte den Schal um ihre Schultern. »Du siehst wie immer reizend aus.« Ein leichter Schatten huschte über ihre hellgrünen Augen. »Du bist dünner geworden, Chas.«

»Ja, ich hatte den Eindruck, das Kleid würde ein wenig lockerer sitzen.« Chastity strich die Falten befriedigt glatt. Als Kleinste der drei Schwestern neigte sie mehr zur Rundlichkeit als die viel größere Constance oder die eckigere Prudence. »Wahrscheinlich esse ich weniger Kuchen«, sagte sie und tat das Thema gut gelaunt ab. »Und wen hast du heute für mich eingeladen?« Auf Zehenspitzen stehend betrachtete sie ihre nun vollendete Frisur im Spiegel über dem Kamin und benetzte einen Finger, um die gewölbten Brauen über ihren braunen Augen zu glätten.

»Roddie Brigham. Das ist dir doch recht, oder?«, fragte Prudence eine Spur ängstlich

»Ja, natürlich. Mit ihm plaudert es sich leicht, so dass wir ab und zu gern zusammen sind«, kommentierte Chastity.

»Das hört sich nicht gerade an, als wärest du vor Begeisterung außer Rand und Band«, bemerkte ihre Schwester.

»Verzeih.« Chastity drehte sich vor dem Spiegel um und lächelte ihr zu. »Ich mag Roddie ... vor allem deswegen, weil ich mich mit ihm ganz ungezwungen unterhalten kann.« Sie sah Prudence leicht spöttisch an. »Obwohl er mich mindestens dreimal um meine Hand bat, bin ich nicht auf einen Ehemann aus, Prue. Also mach dir keine Hoffnungen.«

»Meine Erfahrung sagt mir, dass man gar nicht auf einen aus sein muss, sie kommen einfach daher«, erwiderte Prudence.

»Was kommt daher?«

Beide drehten sich beim Klang der Stimme um. Der Hauch eines exotischen Parfüms kündigte das Eintreten ihrer ältesten Schwester Constance an.

»Ehemänner«, sagte Prudence.

»Ach ja.« Constance nickte. »Wie wahr. Sie pflegen aufzutauchen, wenn man sie am wenigsten erwartet.« Sie küsste ihre Schwestern. »Du hast keinen gefunden, oder, Chas?«

»Seit gestern nicht«, informierte ihre Schwester sie lachend. »Aber wie gesagt, ich halte nach keinem Ausschau. Zumindest nicht für mich selbst.«

»Ach, haben wir heute einen neuen Klienten bekommen?«, fragte Prudence, der einfiel, dass Chastity als Kontaktperson eine Verabredung wahrgenommen hatte.

Chastity rümpfte ihr Näschen. »Ich würde ihm viel lieber sagen, er solle sich trollen und in anderen Gewässern angeln«, beschwerte sie sich. »Er ist richtig ekelig.«

Constance schenkte für alle Sherry ein. »Darauf kommt es aber nicht an, Chas«, lenkte sie prompt ein. »Wir müssen unsere Klienten ja nicht nett finden.«

»Ich weiß.« Chastity nahm das angebotene Glas und setzte sich auf das Sofa.

»Wie hieß er doch gleich? Doktor irgendwie ...« Prudence ließ sich auf dem Sofa gegenüber nieder.

»Farrell. Douglas Farrell.« Sie nahm einen kleinen Schluck Sherry. »Er möchte in erster Linie eine reiche Frau. Das ist für ihn sozusagen die Grundbedingung.« Sie konnte ihren Abscheu nicht verhehlen.

»Na, wenigstens ist er ehrlich«, warf Constance ein.

»Ja, das ist er allerdings. Seine Frau muss aber nicht nur reich sein, sie muss auch gewillt und gesellschaftlich in der Lage sein, ihm wohlhabende Patienten zu verschaffen.«

»Wo hat er seine Praxis?«

»In der Harley Street. Da er im Aufbau begriffen ist, braucht er eine Kupplerin.«

Ihre Schwestern schnitten Grimassen. »Musst du das so formulieren, Chas?«, fragte Prudence.

»Ich drückte mich auch ihm gegenüber so aus, und er sagte darauf, das sei völlig korrekt. Er nenne die Dinge gern beim Namen.«

»Er war dir absolut unsympathisch«, konstatierte Constance.

»Stimmt.« Chastity seufzte. »Er ist so kalt und berechnend. Und über die Patienten, die er zu gewinnen hofft, sprach er mit großer Verachtung und nannte sie Hypochonder und Simulanten. Da fragt man sich, wie er sich als behandelnder Arzt benimmt.«

Ihre Schwestern betrachteten sie wortlos. Eine so entschlossene Haltung gegen jemanden sah Chastity, der Nachsichtigsten und Unkritischsten von ihnen, so gar nicht ähnlich.

»Du bist doch sonst nicht so strikt gegen Menschen eingenommen«, sagte Constance.

Chastity zuckte die Schultern. »Er hat mich durch seine Forderungen gegen sich aufgebracht.« Aus einem ihr selbst nicht verständlichen Grund hatte sie ihren Schwestern verschwiegen, dass sie Dr. Farrell bei Mrs. Beedle zufällig schon einmal gesehen hatte. Und aus demselben unerfindlichen Grund brachte sie es nicht über sich einzugestehen, dass ihre Abneigung gegen diesen Menschen ihrer Enttäuschung entsprang. Es erschien ihr gegen alle Logik, aufgrund einer heimlichen Beobachtung hinter einem Vorhang hervor von jemandem etwas Bestimmtes zu erwarten.

»Aber du hast ihm doch nicht gesagt, dass wir ihn als Klienten nicht annehmen?« Prudence klang etwas besorgt. Chastity war manchmal imstande, die finanziellen Prioritäten ihres Geschäftes zu vergessen. Allerdings bedeutete das meist, dass sie ihre Schwestern bestürmte, Klienten anzunehmen, nur weil sie ihr Leid taten - ohne Rücksicht darauf, ob sie den Vermittlungs-Service bezahlen konnten.

»Das würde ich nie sagen, ohne euch erst zu konsultieren«, sagte Chastity. »Aber eigentlich täte ich es gern. Ich kann mir nicht vorstellen, eine Frau zu einer so kalten und lieblosen Beziehung zu verdammen.«

»Nicht jede Frau würde es so sehen«, gab Prudence zu bedenken. »Erfolgreiche Ärzte mit einer Praxis in der Harley Street sind sehr begehrte Heiratskandidaten.«

»Das mag schon sein, aber ist es denn richtig, wenn man sich zunutze macht, dass eine Frau so verzweifelt einen Mann sucht, dass sie sich praktisch verkauft? Denn darauf läuft es hinaus.«

»Ach, hier treffen sich also die Ränkeschmiedinnen.« Sir Gideon Malverns angenehme Stimme unterbrach die Unterredung. Er betrat das Wohnzimmer noch in Straßenkleidung. »Guten Abend, Constance, Chastity.« Er beugte sich über Prudence, die sich nicht vom Sofa weggerührt hatte, und küsste sie. »Und wie geht es Ihnen, Frau Gemahlin? Hoffentlich bist du jetzt besserer Laune.«

»Die Frage könntest du an dich selbst richten«, konterte Prudence spitz.

»Ach, das habe ich«, sagte er gut gelaunt. »Und die Antwort ist definitiv bejahend.«

Prudence spürte, wie ihr der Wind aus den Segeln genommen wurde. Ihr Mann hatte eine Methode, sie zu entwaffnen, die jedes Mal erfolgreich war. »Solltest du dich nicht umziehen?«, mahnte sie, und ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Unsere Gäste kommen um viertel nach acht.«

Er nickte und fragte auf dem Weg zum Schlafzimmer über die Schulter: »Kommt Max heute, Constance?«

»Er hatte die Absicht«, sagte sie. »Es sind Parlamentsferien.«

»Ach, sehr gut. Ich wollte etwas mit ihm besprechen.«

»Deinen Fall?«, erkundigte Prudence sich.

»Nein, Weihnachten«, gab er zurück und lockerte seine Krawatte. »Ich bin im Ankleidezimmer, falls jemand mich sprechen will.« Er verschwand im Bad.

»Streit?«, fragte Constance ihre Schwester mit wissend hochgezogener Braue.

»Ach, nur einer seiner Fälle, mit dem ich nicht einverstanden bin.« Prudence schilderte ihr die Sache und stellte befriedigt fest, dass Constance auf den Fall, den Gideon vertreten wollte, mindestens ebenso entrüstet reagierte wie sie. »Nun, im Moment kann man da wenig machen«, sagte Chastity. »Vielleicht kannst du ihn hinter den Bettvorhängen bearbeiten.«

»Das bezweifle ich. Er ist stur wie ein Ochse.« Prudence hörte sich resigniert an.

»Apropos«, sagte Chastity. »Vater.«

Ihre Schwestern schauten sie aufmerksam an. »Gibt es etwas Neues?«, fragte Constance.

Chastity schüttelte den Kopf. »Nicht seit gestern. Aber er macht keine Fortschritte zum Besseren. Sein Gemütszustand ... er ist so niedergeschlagen ... sitzt nur da, starrt vor sich hin, greift ständig zum Whiskey und sucht die Schuld an allem bei sich.«

»Wir müssen ihn da herausreißen«, sagte Prudence.

»Das sagte Jenkins auch.«

»Leichter gesagt als getan«, stellte Constance fest.

»Unterwegs hatte ich eine Idee.« Chastity sah ihre Schwestern zögernd an. »Ich weiß nicht, was ihr davon halten werdet.«

»Sag schon, Liebes.« Constance beugte sich gespannt vor.

»Ich dachte, wenn er vielleicht eine Gefährtin hätte ...« Chastity hielt inne, ratlos, wie sie fortfahren sollte. Was sie vorschlagen wollte, würde ihre Schwestern aufbringen, da es womöglich wie ein Akt der Treulosigkeit am Gedächtnis ihrer Mutter anmutete. »Eine Frau«, sagte sie entschlossen. »Ich dachte mir, wir könnten vielleicht für Vater eine finden ... Schließlich suchen wir ja Ehepartner für Leute in der ganzen Stadt. Seit Mutters Tod sind nahezu vier Jahre vergangen. Ich glaube nicht, dass sie etwas dagegen hätte. Im Gegenteil...«

»Im Gegenteil, sie würde die Idee begrüßen«, unterbrach Constance sie energisch. »Eine brillante Idee, Chas.«

Prudence schwieg noch, und beide schauten sie an. Schließlich sagte sie langsam: »Eine Frau, die finanziell unabhängig ist, wäre perfekt.«

»Besser noch eine Frau, die mehr als nur unabhängig ist«, sagte Constance.

»Aber das ist ja so arg wie Douglas Farrell«, protestierte Chastity. »Es ist durch und durch materialistisch. Ich dachte ja nur, dass eine liebevolle Gefährtin Vater auf andere Gedanken bringen könnte. Sie muss ja nicht reich sein.«

»Nein, nein, natürlich nicht«, beschwichtigte Prudence sie. »Aber wenn sie es wäre, würde es nicht das Glück vergolden? Vater denkt natürlich nicht an Geld, und wir würden ihm schon niemanden präsentieren, der uns nicht zusagt, aber ...« Sie ließ ein Achselzucken folgen. »Geld kann sehr nützlich sein, Chas.«

»Als ob ich das nicht wüsste«, erwiderte Chas. »Ihr glaubt also, ich wäre mit meinen Einwänden gegen Farrells materialistische Haltung zu brav und bieder?«

»Ehrlich gesagt, ja«, sagte Prudence und blickte Constance an, die zustimmend nickte.

Chastity blickte stirnrunzelnd in ihr Sherryglas. »Na gut. Ich dachte mir ohnehin, dass ihr das sagen würdet. Aber vergesst nicht, dass ihr ihn nicht kennt. Er ist ein mürrischer, berechnender, materialistisch eingestellter Schotte.«

»Aber er ist ebenfalls Arzt«, widersprach Prudence. »Er muss ein Interesse haben, Menschen zu helfen. Das müsste dich ansprechen, Chas.«

»Das würde es auch, wenn ich der Meinung wäre, es sei ehrlich«, sagte ihre Schwester. »Aber er erinnert mich an jene Industriemagnaten alten Schlages, die es nicht kümmerte, welche Mittel sie zum eigenen Vorteil einsetzten oder wer auf dem Weg zu ihrem Ziel unter die Räder kam. Farrell schien zu glauben, dass gegen seine Habgier nichts einzuwenden sei, wenn er sie nur aufrichtig zugab.«

»Und das alles weißt du nach einer kurzen Begegnung in der National Gallery?«, fragte Constance erstaunt.

Chastity errötete leicht. »Es ist ein wenig übertrieben«, gestand sie.

»Wenn du ihm ganz normal bei irgendeiner Gesellschaft begegnest, würdest du ihn eventuell in anderem Licht sehen«, sagte Prudence.

»Wir können keine Einladungen verschicken, ehe wir keine geeigneten Kandidatinnen haben«, wandte Chastity ein.

»Welche Frau in unserem Bekanntenkreis ist so reich und so verzweifelt, dass sie bereit wäre, eine geschäftliche Beziehung unter dem Deckmantel einer Ehe einzugehen?«

»Wenigstens wissen wir, dass sie weder schön noch klug sein muss«, sagte Prudence.

»Oder gar charaktervoll«, sagte Chastity mit einem Anflug von Schärfe. »Wir wissen, dass unser Klient nicht kleinlich ist, was diese Bagatellen betrifft.«

»Der Punkt-geht an dich, Chas.« Prudence stand auf. »Gehen wir hinunter in den Salon, die ersten Gäste werden jeden Moment eintreffen.« Sie steckte den Kopf zur Schlafzimmertür hinein und rief: »Gideon, wir gehen hinunter. Beeil dich.«

Ihr Mann, der eben seine Manschettenknöpfe befestigte, erschien sofort. »Darf Sarah vor dem Dinner im Salon sein?«

»Sie erhofft es sich, aber ich sagte, die Entscheidung würdest du treffen.« Gideon hatte Sarah an die sieben Jahre allein erzogen, und Prudence war erst dabei, sich in ihre neue Rolle als Stiefmutter hineinzufinden - wann es angebracht war zu bremsen oder selbst Vorschläge einzubringen, und wann sie ihre Meinung besser für sich behielt.

»Was meinst du - ist sie alt genug dafür?«, fragte er und drehte sich um, um seine Jacke zu holen.

»Ich denke schon.«

»Dann auf jeden Fall. Ich komme gleich nach.«

Als die drei Damen hinunter in den Salon gingen, drückte Sarah sich in der Halle herum. »Darf ich ein bisschen bleiben, Prue?«

»Ja, bis wir zu Tisch gehen«, sagte ihre Stiefmutter. »Dein Vater sagte, es ginge in Ordnung.« Sie begutachtete das Mädchen, das sich in Vorausahnung seines Einverständnisses in ihr bestes Party-Kleid geworfen hatte. Zwar verdarb die Tinte an den Fingern die Wirkung ein wenig, doch war es nicht der Rede wert. Prudence rückte eine Haarspange zurecht, um eine vorwitzige Strähne hinter Sarahs rechtem Ohr festzustecken. »Vielleicht könntest du die Kanapees herumreichen.«

»Ja, das kann ich«, jubelte Sarah. Nun erst bemerkte sie Constance. »Hallo, Tante Con, ich habe dich nicht kommen gehört. Sicher war ich beim Umkleiden.«

»Ja, so war es gewiss«, pflichtete Constance ihr ernst bei. »Mit deinen guten Ohren hättest du andernfalls mein Kommen niemals überhört.«

Sarah sah sie sekundenlang zweifelnd an, als versuche sie sich darüber klar zu werden, ob man sich über sie lustig mache, entschied dann aber, dass es, selbst wenn es so wäre, keine Rolle spielte. Sie mochte ihre neuen Tanten. Sie behandelten sie nie von oben herab, schlössen sie nie aus und erwiesen sich als erstaunlich kompetent bei kniffligen Hausaufgaben. Und sie waren bei ihrem Vater sehr beliebt.

Sie gingen in den Salon, und Prudence überflog mit einem Blick rasch das Tischarrangement. Alles schien an Ort und Stelle.

»Wer sind die anderen Gäste, Prue?«, fragte Constance. »Jemand, den wir noch nicht kennen?«

»Nur die Contessa della Luca und ihre Tochter Laura. Alle anderen kennt ihr.«

Chastity legte den Kopf schräg. »Das hört sich aber exotisch an.«

»Die Contessa war Gideons Klientin.«

»Eine, die deine Billigung fand«, bemerkte Chastity, die ihren gewohnten Gleichmut wieder gefunden hatte, mit einem Anflug von Schalkhaftigkeit.

»So ist es, Chas«, erwiderte Prudence lachend. »Es ging darum, ihr zu ihrem Vermögen zu verhelfen. Sie ist Engländerin, war mit einem italienischen Conte verheiratet und ist seit kurzem Witwe, weshalb sie sich entschloss, mit ihrer Tochter nach England zurückzukehren. Ich kenne beide noch nicht und weiß nur, was Gideon mir berichtete. Er bat mich, sie einzuladen und sie quasi in die Gesellschaft einzuführen. Ich glaube nicht, dass er die Tochter schon kennt. Gideon, hast du Laura della Luca kennen gelernt?«, fragte sie, als ihr Mann eintrat.

»Nein, nur die Mutter. Eine angenehme Person. Ich nehme an, die Tochter ist ähnlich.« Er ging daran, sich einen Whiskey einzuschenken. »Will jemand noch einen Sherry?«

Die Türglocke ertönte, und man hörte, wie Max Ensor den Butler ungezwungen und vertraulich begrüßte. Max trat begleitet von Sarah ein, die ankündigte: »Der Sehr Ehrenwerte Max Ensor, Minister für Transport, Parlamentsabgeordneter für den Bezirk Southwold.«

»Freches Ding«, sagte Max und tippte ihr leicht auf die Wange. Sarah duckte sich und grinste. Sie mochte diesen neu gewonnenen Onkel ebenso wie die Tanten.

»Darf ich dir einen Drink bringen, Onkel Max?«

»Whiskey, bitte. Sarah.« Er gab erst seiner Frau einen Kuss, sodann seinen Schwägerinnen und wechselte mit seinem Schwager einen Händedruck.

»Schwerer Tag?«, fragte Constance, die ihn anlächelte, als er sich auf die Armlehne des Sofas neben ihr niederließ.

»Nein, eher ein träger«, sagte er und wickelte eine rötliche Locke um seinen Finger. »Den ganzen Nachmittag spielte ich Billard.«

»Und ... hast du gewonnen?« Constance wusste, dass ihr Mann ebenso ehrgeizig war wie sie.

»Das fragst du?«

Sie lachte. »Natürlich hast du gewonnen.«

Da der Butler die ersten Dinnergäste ankündigte, war die Zeit vertraulicher Familiengespräche vorbei.

Chastity widmete ihre Aufmerksamkeit pflichtschuldigst Lord Roderick Brigham, der sie zu Tisch führen sollte. Es fiel ihr nicht besonders schwer, da sie ihn seit Jahren kannte und er ein ungezwungener und gewandter Gesellschafter war. Sie vollführten die obligaten Schritte der Geselligkeit ganz automatisch und tauschten launige Begebenheiten aus der Familie aus, als die Contessa della Luca und ihre Tochter angekündigt wurden.

»Kennst du sie?«, fragte Lord Brigham leise.

»Nein. Und du?«

»Nur dem Hörensagen nach. Meine Mutter lernte sie unlängst beim Tee bei Lady Wigan kennen.«

Chastity blickte zu ihm auf, da sie etwas Ungesagtes aus seinem Ton heraushörte. Lord Brighams Mutter, eine etwas einschüchternde Dame, galt als gute Menschenkennerin. »Und?«, fragte sie mit der Lockerheit jahrelanger Freundschaft.

Er senkte den Kopf und näherte seinen Mund ihrem Ohr. »Meine Mutter fand die Contessa charmant, ihre Tochter aber ...« Er ließ den Satz unvollendet.

»Dabei kannst du es nicht einfach belassen«, erwiderte Chastity gedämpft und warf verstohlen einen Blick auf die Neuankömmlinge, die von den Gastgebern begrüßt wurden.

»Eine Langweilerin«, flüsterte er. »Genauer gesagt eine affektierte Langweilerin.«

Chastity ermahnte sich, dass es lieblos war, sich über Klatsch zu amüsieren, konnte aber ein ersticktes Auflachen nicht unterdrücken. Sie vermeinte die Respekt heischende Lady Brigham - zu hören, wie sie ihr Urteil wohl formuliert zum Ausdruck brachte und dabei ihre lange Nase verächtlich anhob.

»Wir lassen uns jetzt besser bekannt machen«, murmelte sie und ging auf die Gruppe zu, die sich vor dem Kamin zusammengefunden hatte.

»Contessa, darf ich Ihnen meine Schwester, die Ehrenwerte Chastity Duncan vorstellen«, sagte Prudence, als ihre jüngere Schwester zu ihnen trat. »Die Contessa della Luca ...« Sie vollführte zwischen den beiden die entsprechende Geste.

Chastity ergriff die Hand der Frau, die, obwohl weit über die mittleren Jahre hinaus, auffallend frisiert war. Ihr ergrautes Haar war zu einem Pompadour aufgetürmt, in dem wippende Straußenfedern steckten. Ihr blaugoldenes Damastkleid, unterlegt und fest geschnürt, war mit seinen Keulenärmeln eindeutig außer Mode, schmeichelte aber der stattlichen Figur der Dame. Und die Diamanten am Hals und an den Ohren funkelten prachtvoll.

»Willkommen in London, Contessa«, sagte sie mit warmem Lächeln.

»Danke, Miss Duncan. Alle sind so nett.« Ihre Sprechweise, zögernd und von einem kaum wahrnehmbaren Akzent getönt, hörte sich an, als wäre ihr Englisch von einer Sprache überlagert, deren Gebrauch ihr vertrauter war.

»Und das ist Miss della Luca«, sagte Prudence. »Miss della Luca, meine Schwester Chastity.«

Laura della Luca, groß und dünn, blickte auf Chastity hinunter. Ihr sittsam hochgeschlossenes taubengraues Kleid schlotterte um ihre schmalen Schultern wie um einen Kleiderhaken. Ihr streng in der Mitte gescheiteltes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und über den Ohren aufgerollt. Mit hoheitsvollem Blick verzog sie den schmalen Mund und deutete ein Lächeln an. »Sehr erfreut«, sagte sie in einem Ton, der alles andere als Freude ausdrückte. »Es ist mir so ungewohnt, mit Miss angesprochen zu werden«, sagte sie. »Signorina ist mir viel angenehmer.«

»Wir werden uns bemühen, daran zu denken«, sagte Prudence mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Fremde Umgangsformen sind uns ungewohnt.«

Chastity erhaschte Gideons Blick. Er schien zu merken, dass dieser Gast die scharfe Seite der Zunge seiner Frau gefährlich reizte. Ein Glück, dass dies außer der engeren Familie niemand merkte. Signorina della Luca würde die Pfeile des Spotts gar nicht wahrnehmen, die zielgenau jeden Versuch der Anmaßung treffen würden.

»Ja, ich finde, dass Engländer nicht viel reisen«, sagte die Dame nun. »Dabei erweitern Reisen den Horizont ungemein.«

»Allerdings«, sagte Constance mit einem Lächeln, das jenem ihrer Schwester sehr ähnlich war. »Wie kommt es dann, dass Weitgereiste so oft Verachtung für die Eingeborenen dieses rückständigen Landes hegen?«

Max und Gideon wechselten Blicke, in denen sich widerwillige Belustigung mit einem gewissen Ausmaß an Verzweiflung mischte. Einmal in Fahrt, waren ihre Frauen nicht zu bremsen.

Von Chastity kam Hilfe. »Ach, Sie müssen mir von Italien erzählen«, bat sie. »Meine Schwestern und ich verbrachten mit unserer Mutter längere Zeit in Florenz, doch liegt das schon so lange zurück. Oder kommt es mir nur so vor«, setzte sie hinzu. »Sicher kennen Sie Florenz sehr gut.«

»Ach, Firenze, natürlich«, flötete die Dame. »Wir besitzen eine Villa am Stadtrand. Manchmal habe ich das Gefühl, die Uffizien wären mein zweites Zuhause.«

»Was für ein Glück für Sie«, sagte Chastity. »Wir konnten dort nur einen Monat verbringen.«

»Ein Monat reicht aber aus, um die Galerie sehr gut kennen zu lernen, Miss Duncan«, sagte die Contessa mit angenehmem Lächeln.

»Wenn man sich richtig vertieft, natürlich«, warf ihre Tochter ein. »Aber ich glaube kaum, Mama, dass ein Aufenthalt als Tourist, selbst wenn man einen ganzen Monat aufwendet, mit dem ständigen Leben dort vergleichbar ist.«

»Das Dinner ist serviert, Lady Malvern.« Die sonore Stimme des Butlers machte der Konversation zeitgerecht ein Ende, und Gideon atmete auf.

Er bot der Contessa seinen Arm, während Max auf ein Nicken seiner Schwägerin hin diesen Dienst der Signorina erwies. Paarweise bewegte sich die Gesellschaft nun würdevoll durch die Halle in das Speisezimmer.

Prudence hatte der Contessa den Ehrenplatz zur Rechten Gideons eingeräumt. Die Signorina platzierte sie zwischen Max und einem mit Gideon befreundeten Richter, der rechts von ihr selbst saß. Sie befand sich daher in nächster Nähe zu ihrem Gast. Zum Glück saßen Chastity und Roddie Brigham gegenüber am gleichen Ende der Tafel, so dass die Konversation erleichtert wurde. Constance, die bei Gideon saß, würde sich an den am anderen Ende des Tisches geführten Gesprächen nicht beteiligen können.

»Hat Gideon heute zu den Tafelfreuden beigetragen und etwas gekocht, Prue?«, fragte Chastity ihre Schwester, als sie Platz nahmen.

»Nein, aber er wählte die Speisenfolge aus«, antwortete Prudence. Sie wandte sich an die Signorina. »Miss della Luca, Sie müssen nämlich wissen, dass mein Mann ein hervorragender Koch ist.«

»Ach ... wirklich ... wie ungewöhnlich.« Lauras Blick sprach Bände. »Ein Italiener würde sich niemals in die Küche stellen. Wie unmännlich.«

»Nun ja«, meinte Prudence, »der italienische Charakter unterscheidet sich gewiss beträchtlich vom englischen. Engländer sind um ihre Männlichkeit weniger besorgt, da sie ihnen angeboren ist, meinen Sie nicht auch, Gentlemen?« Sie lächelte ihren Tischherren zu.

»Ich denke, es hängt mit der Art der Küche zusammen«, warf Max rasch ein. »Soviel ich weiß, ist die Herstellung von Pasta mit großem Zeitaufwand verbunden, und Frauen haben nun einmal mehr Zeit zur Verfügung.«

»Ach, das ist eine Verallgemeinerung, Max«, warf Chastity in der Hoffnung ein, das Gespräch von dem Wettstreit um die Pluspunkte Italiens vor England abzulenken. »Nicht alle Frauen sind den ganzen Tag damit beschäftigt, Journale zu lesen und zu tratschen. Abgesehen davon, stellen sie den Großteil der Arbeitskräfte im Haushalt.«

»Genau das meinte ich.« Nun zog er sie mit Absicht auf. »Hausarbeit entspricht der natürlichen weiblichen Begabung, und die Zubereitung von Speisen ist nur ein Beispiel. Würden Sie mir beipflichten, Richter?«

»Genauso ist es.« Der Richter nickte zustimmend, während er rhythmisch und konzentriert löffelte. »Ganz ausgezeichnet, diese Suppe, Lady Malvern. Ich beglückwünsche die Köchin.«

»Vielleicht kann jemand erklären, warum so viele Spitzenköche Männer sind«, sagte Chastity, die sah, dass Laura della Luca Luft holte. »Zumal in Frankreich. Kennen Sie Frankreich gut, Signorina?«

»Oh, mais oui. Paris ist mein zweites Zuhause.«

»Und ich dachte, das wären die Uffizien«, bemerkte Prudence über ihrem Teller, zu leise, als dass die Signorina es gehört hätte, da diese sich nun über die Pracht des Louvre so eingehend verbreitete, als sei er ihr ganz persönlicher Stolz.

So ging es während des gesamten Dinners weiter. Laura della Luca riss die Konversation an sich und brachte sie hartnäckig pausenlos zu den ihr genehmen Themen zurück, sobald jemandem eine Ablenkung glückte. Sogar Chastity streckte die Waffen.

Erleichtert tauschte Prudence nach dem Essen mit Gideon einen Blick und erhob sich. »Meine Damen, ziehen wir uns zurück?«

Die Herren standen auf, um den Damen zu helfen, und warteten, bis die weibliche Hälfte der Dinnergesellschaft das Esszimmer verlassen hatte.

Prudence ging in den Salon voraus, wo schon der Kaffee für sie bereitstand. »Ich hörte, Contessa, dass Sie ein Haus in Mayfair erwarben«, sagte sie, goss Kaffee ein und gab die Tasse dem Diener, damit er sie weiterreichte.

»Ja, in der Park Lane«, antwortete die Contessa. »Ein sehr hübsches Haus.«

»Aber nicht so groß oder bequem wie unsere Villa bei Firenze«, warf ihre Tochter missmutig ein.

»Für unsere Zwecke groß genug«, widersprach ihre Mutter und nahm ihre Tasse vom Diener entgegen. »Mit einem sehr schönen Garten.«

»Und gegenüber haben Sie natürlich den Hyde Park«, sagte Constance. Sie warf der in Gedanken versunken dasitzenden Chastity einen Blick zu. »Früher sind wir dort gern ausgeritten. Weißt du noch, Chas, als wir Kinder waren.«

Chastity blickte von ihrer Betrachtung der Kaffeetasse auf. »Verzeih ...«

»Die Ausritte im Hyde Park«, erinnerte Constance. »Wir haben sie stets sehr genossen.«

»Ja, o ja.« Chastity schien sich sichtlich zurückkämpfen zu müssen. »Ich genieße sie noch immer, obwohl sich nur selten die Möglichkeit bietet. Unsere Pferde sind auf dem Land, und die Mietpferde, die man bekommt, sind mir meist zu lahm.«

»Ach, ich würde nie ein Reitpferd mieten«, erklärte die Signorina mit einer abwertenden Geste ihrer schmalen Hand. »Sie sind so hart im Maul.«

»Meine Stieftochter reitet dort recht häufig«, sagte Prudence und überbrückte die Unterbrechung.

»Für mich kommen nur erstklassige Pferde in Frage«, fuhr die Dame fort, ohne die Gastgeberin zu beachten. »Ich hatte zu Hause eine wunderschöne Stute, nicht wahr, Mama?«

Ihre Mutter pflichtete ihr bei, und die Signorina ließ sich nun über Freud und Leid des Besitzes einer Araberstute aus, nicht ohne ihren Zuhörerinnen zu verstehen zu geben, dass natürlich keine von ihnen diese Erfahrungen nachempfinden könne.

Unmöglich,- diese Frau, dachte Prudence angewidert, doch lohnte es weder Zeit noch Mühe, sie in die Schranken zu weisen.

Unvermittelt fragte Chastity: »Signorina della Luca, beabsichtigen Sie eine Vorstellung bei Hof? Ein fast unvermeidliches Ritual, wenn man an der Londoner Saison teilnehmen möchte.«

»Ja, sicher möchte ich das«, erklärte die Dame. »Warum sonst sind wir nach London gekommen? Nach Weihnachten wird Mama mich präsentieren. Sie selbst wurde natürlich Königin Victoria vorgestellt.«

»Natürlich.« Chastity lächelte ein wenig vage und gab sich wieder ihren Gedanken hin. Wenn Laura della Luca beabsichtigte, im nächsten Jahr die Saison mitzumachen, musste sie auf der Suche nach einem Ehemann sein. Denn selbst bei wohlmeinendster Einschätzung war sie überfällig. Wie eilig mag sie es haben, unter die Haube zu kommen?, überlegte Chastity.