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»Was für eine Nervensäge«, erklärte Prudence, als sich die Tür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte. »Chas, nicht einmal du konntest an Signorina della Luca Züge entdecken, die ihr Wesen wettmachen.« Sie äffte den affektierten Akzent der Dame nach.
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Chastity. »Es gibt möglicherweise äußere ausgleichende Züge, wenn man sie nur sucht.«
Constance musterte sie scharf. »Du warst den ganzen Abend in Gedanken, Chas«, bemerkte sie. »Nach Tisch hast du kaum mehr ein Wort gesagt.«
Chastity lächelte nur und nahm sich ein Schokoladestückchen vom silbernen Teller auf dem niedrigen, mit Intarsien verzierten Tischchen vor dem Sofa, auf dem sie saßen.
»Kognak, Constance?«, fragte Gideon, der über die Geschmäcker seiner Schwägerinnen gut Bescheid wusste.
»Danke.« Sie akzeptierte einen Schwenker.
»Likör, Prudence?«
»Grand Marnier, bitte.«
»Für dich das Gleiche, Chastity?«
»Nein, lieber einen Benedictine«, antwortete Chastity. »Der passt besser zur Schokolade.«
Gideon lächelte. Chastitys Vorliebe für Süßes war in der Familie ein ständiges Thema für Witzeleien.
Prudence nahm das Gläschen mit dem süßlichen Orangenlikör und bemerkte: »Hast du vorhin nicht gesagt, du wolltest mit Max etwas besprechen, Gideon? Wegen Weihnachten, glaube ich.«
»Aha«, sagte Max. »Es sieht aus, als wolle man uns fortschicken, Gideon.«
»Immer dasselbe«, klagte Gideon mit gespieltem Seufzen und erhob sich aus einem tiefen Armsessel neben dem Feuer. »Man wirft mich aus meinem eigenen Salon und setzt mich der Kälte aus.«
»In der Bibliothek ist es nicht kalt«, verbesserte Prudence, nahm ihre Brille ab und hielt sie gegen das Licht, um zu sehen, ob sie eine trübe Stelle entdecken konnte. »Nehmt die Kognakkaraffe mit und raucht eine Zigarre.«
»Zu Befehl.« Gideon griff kopfschüttelnd nach der Karaffe. »Komm, Max, mein Leidensgefährte im Exil.« Die zwei Männer gingen hinaus und überließen den lachenden Schwestern den Salon zur ausschließlichen Benutzung.
»Also«, sagte Prudence, setzte die Brille auf und ließ sich neben Chastity nieder. »Was hast du ausgebrütet, Chas?«
Chastity nahm sich noch eine Schokolade und trank einen winzigen, aber köstlichen Schluck Benedictine. »Die alten Mönche wussten genau, was sie taten«, sagte sie, ihr Glas ans Licht haltend.
»Los, Chas.« Constance beugte sich vor und schob die Schüssel mit dem Naschwerk außer Reichweite ihrer Schwester.
»Ach, wie unfair«, schmollte Chastity, stellte aber ihr Likörglas ab.
»Äußere ausgleichende Züge«, gab Prudence ihr das Stichwort.
»Ach ja, mir kam ein Gedanke ... eigentlich zwei. Neuerdings habe ich viele Ideen.« Das klang ziemlich selbstzufrieden. »Unsere Freundin Laura ist zwar eine echte Nervensäge, doch wäre es möglich, dass es Menschen gibt, die diese Eigenschaft für nebensächlich halten, wenn sie durch andere Werte ersetzt wird.«
»Ja ...?«, äußerte Constance mit fragend hochgezogener Braue.
»Meint ihr, dass sie sich einen Mann angeln will?«, fragte Chastity. »Es ist der einzige Grund, warum jemand Wirbel und Aufwand einer Vorstellung bei Hof und dazu noch die ganze Saison auf sich nimmt,, Zumal in ihrem Alter.«
Ihre Schwestern nickten einträchtig. »Für wie alt schätzt du sie?«, fragte Prudence mit gerunzelter Stirn. »Ende zwanzig, Anfang dreißig?«
»Ohne kleinlich sein zu wollen«, sagte Constance, sichtlich nicht um Großzügigkeit bemüht, »würde ich auf Anfang bis Mitte dreißig tippen. Habt ihr die Falten in den Mundwinkeln und unter den Augen gesehen?«
»Die können von ihrer unentwegten Verdrossenheit herrühren«, wandte Chastity vernünftig ein. »Wenn man viel die Stirn runzelt und die Mundwinkel nach unten verzieht, zeigen sich vorzeitig Falten, wie mir schon öfter auffiel.«
»Nehmen wir also an, sie sucht einen Mann, und zwar dringend. Was schlägst du vor, Chas?«, kam Prudence zur Sache.
»Ich glaube, dass sie Geld hat. Ihre Mutter ist vermögend, und Laura ist, soweit wir wissen, das einzige Kind. In Mayfair sind Häuser nicht eben billig, dasselbe gilt für eine Vorstellung bei Hof und eine Saison.«
»Ganz zu schweigen von Araberstuten und Villen in Firenze«, warf Constance ein. »Chas, ich glaube, ich weiß, worauf du abzielst.«
Chastity lehnte sich lächelnd in die Sofakissen zurück. »Ein aufstrebender Modearzt, der kein Interesse an einer passenden, sondern nur an einer reichen Frau hat...«
Ihre Schwestern saßen erst mal wortlos da und begutachteten die Aussicht auf Erfolg aus allen Blickwinkeln. »Glaubst du, unsere Laura wäre an einem Mann interessiert, der erst aufstrebend ist?«, fragte Prudence schließlich.
»Ich könnte mir vorstellen, dass sie gern die Gelegenheit ergreifen würde, ihm zu helfen und ihm den richtigen Weg zur Erlangung seiner Ziele zu weisen«, sagte Chastity grinsend. »Ich sehe sie schon vor mir, wie sie bei Dinnerpartys den Vorsitz führt und alle Welt über die kulturellen Wunder fremder Länder belehrt und ihre Gäste tödlich langweilt.«
Sie beugte sich vor und holte die Schale mit dem Naschwerk mit den Fingerspitzen zurück, um sich noch eine Schokolade zu nehmen, ehe sie sagte: »Ich glaube, sie ist ziemlich dominant. Sicher würde sie es genießen, widerstrebende Patienten aufzutreiben und sie mit offenen Brieftaschen in der Praxis abzuliefern. Es könnte eine perfekte Verbindung werden.« Sie steckte das Schokoladestückchen in den Mund und lehnte sich wieder zurück.
»Ist dein Dr. Farrell dominant?«, fragte Prudence und wechselte mit Constance einen raschen, amüsierten Blick.
Chastity zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, wirklich. Aber der Ton, mit dem er über seine potenziellen Patienten sprach, war so verächtlich ...« Sie zögerte und fuhr fort: »Ich glaube, dass sie einander verdienen. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, dass wir ein wehrloses Geschöpf zu einer Vernunftehe mit einem gefühllosen Mann verdammen.«
»Na schön«, stimmte Constance zu. »Bringen wir sie zusammen, und sehen wir, was sich tut. Wir können sie nicht zur Ehe zwingen. Wenn sie nicht zusammenpassen, werden sie das selbst entscheiden.«
»Bei deinem nächsten Besuchsnachmittag, Con?«, schlug Prudence vor.
»Nein, ich glaube, bei mir wär es besser«, sagte Chastity rasch. »Manchester Square 10, nächsten Mittwoch.«
»Gibt es einen bestimmten Grund?«, fragte Prudence.
»Na ja, ich hatte ja zwei Ideen, müsst ihr wissen.« Jetzt lächelte Chastity, und der unwillige Gesichtsausdruck, der jedes Gespräch über Dr. Douglas Farrell zu begleiten schien, war wie weggewischt. »Was haltet ihr von Vater und der Contessa?«
»Keine schlechte Idee«, meinte Constance. Dann runzelte sie die Stirn. »Dir ist doch klar, dass Laura damit unsere Stiefschwester würde. Und wir könnten Vater unmöglich dazu verdonnern, mit ihr unter einem Dach zu leben.«
»Nein«, sagte Chastity. »Aber wenn wir sie vorher verheiraten, wäre es nicht so schlimm. Wir müssten mit ihr lediglich bei den obligaten Familienanlässen zusammen sein - ebenso wie Vater.«
»Wenn ihre Mutter wieder heiratet, müsste das die Tochter beflügeln, schleunigst den Hafen der Ehe anzusteuern«, bemerkte Prudence.
»Ja, genau«, sagte Chastity befriedigt. »Eine Hand wäscht tatsächlich die andere.«
»Du lädst also beide nächsten Mittwoch ein. Bei Vater wenden wir notfalls Gewalt an, damit er zugegen ist, und Douglas Farrell schicken wir die üblichen Anweisungen«, sagte Constance. »Das heißt Blumen für alle Damen, und eine weiße für Laura.«
»Es müssen Nelken sein«, sagte Prudence. »Um diese Jahreszeit sind es die einzigen Ansteckblumen, die man bekommt.«
»Dann wäre das geregelt.« Chastity nickte. »Gute Abendarbeit.«
Ein leichtes warnendes Pochen an der Tür kündigte die Wiederkehr von Max und Gideon an, die unschwer das verlegene Zusammenschrecken aller drei Schwestern ob der Unterbrechung deuten konnten. »Das Leben welcher armer Seelen wollt ihr mal wieder durcheinander bringen?«, fragte Max.
»Du weißt sehr gut, dass wir nur helfen wollen«, verbesserte seine Frau ihn würdevoll und erhob sich. »Wir sind im Interesse des Guten tätig.«
»Das kannst du diesen bemitleidenswerten Menschen erzählen, deren Leben ohne ihr Wissen erbarmungslos umgekrempelt wird«, sagte Gideon.
»Kannst du mir ein Paar nennen, das wir zusammengebracht haben und das jetzt unglücklich wäre?«, wollte seine Frau wissen.
Gideon hob die Hände und gab sich geschlagen. »Was kann ich sagen, wenn ich nicht einmal die Hälfte kenne?«
»Überlasst diese Dinge uns, so wie wir euch eure Angelegenheiten überlassen«, beschied ihn Prudence.
»Du verleihst deiner Meinung stets Ausdruck«, sagte er milde. »Wird einem Ehemann dasselbe Recht zugestanden?«
»Wenn du fertig bist, Constance: Ich glaube es wird Zeit zu gehen«, sagte Max grinsend.
»Und ich glaube, es ist Zeit, dass ich zu Bett gehe«, beschloss Chastity, vom Sofa aufspringend.
»Sieh doch, was du angerichtet hast«, schalt Prudence ihren Mann mit lachendem Unterton. »Durch deine Streitsucht vertreibst du unsere Gäste.«
»Keine Spur«, stritt er ab. »Sie wollten ohnehin gehen.« Er wandte sich zur Tür. »Constance, Max, ich bringe euch hinaus.«
»Ach übrigens, was habt ihr wegen Weihnachten besprochen?«, fragte Constance, als sie gemeinsam in die Halle gingen.
»Nun, das geht euch wahrhaftig nichts an«, erwiderte Max.
»Überraschungen?« Chastitys braune Augen leuchteten. »Ich liebe Überraschungen, vor allem zu Weihnachten.«
»Dann hoffe ich, dass du nicht enttäuscht wirst. Gute Nacht, Chastity.« Max küsste sie und verabschiedete seine Gäste. Constance umarmte ihre Schwestern, und die Ensors traten hinaus in die frostige Nacht und gingen zu ihrem Automobil, das mit laufendem Motor an der Bordsteinkante wartete, während der Chauffeur in ein schweres Cape gehüllt dasaß.
Chastity gähnte. »Ich wünsche eine gute Nacht, Gideon.«
»Ich komme mit dir hinauf und sehe nach, ob du alles hast, was du benötigst«, sagte Prudence und hängte sich bei ihr ein. »Brauchst du lange, Gideon?«
»Nein, ich lösche nur die Lichter und versperre die Tür«, sagte er. »Das Personal schickte ich schon vor einer Stunde ins Bett.«
Prudence musterte die Anordnung im Gästezimmer mit kritischem Blick. »Ich glaube, du hast alles«, sagte sie und glättete die ohnehin glatte Decke, ehe sie zum Frisiertisch ging. »Da sind Milch und Schokolade und der Gaskocher, falls du heiße Schokolade möchtest.« Es war eine Anspielung auf das nächtliche Ritual der Schwestern in ihrem Vaterhaus, wo sie in ihrem eigenen Salon bei heißer Schokolade beisammen gesessen und die Ereignisse des Abends besprochen hatten.
Chastity schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht nach Schokolade und Benedictine«, sagte sie. »Alles ist geradezu perfekt, Prue, also geh zu Bett. Wir sehen uns morgen.«
Prudence nickte, doch zögerte sie, mit der Hand am Türknauf. »Dieser Douglas Farrell«, sagte sie. »Er scheint dir zutiefst unsympathisch zu sein. Kannst du ihm denn gegenübertreten und tun, was man für ihn als Klienten tun muss, ohne etwas zu verraten?«
Chastity wickelte das topasfarbige Band aus ihrem Haar, ehe sie antwortete. »Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Wir treffen ja nur in Gesellschaft aufeinander. Er wird keine Ahnung haben, dass wir den Vermittlungs-Service repräsentieren. Auch wenn er meine Abneigung spürt, wird es keine Rolle spielen. Antipathie zwischen Menschen gibt es halt häufiger, doch geht man höflich miteinander um. Ich bin sicher, dass ich sie verbergen kann. Es gibt keinen Grund, mit ihm allein zu sein, und in Gesellschaft sorge ich dafür, dass nur unverfängliche Themen zur Sprache kommen.«
»Ja, vermutlich.« Ihre Schwester schien nicht ganz überzeugt. »Gute Nacht, Chas.« Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Chastity betrachtete die geschlossene Tür eine ganze Weile. Sie konnte die Verwunderung ihrer Schwester verstehen, da sie selbst über diese heftige Abneigung gegen einen Menschen staunte, den sie nur einmal getroffen hatte. Wenn sie ihn besser kannte, würde sie vielleicht etwas an ihm entdecken, das ihre Abneigung milderte. Ein erster Eindruck konnte täuschen. Doch sie konnte es sich trotz aller Bemühungen nicht ganz vorstellen, während sie ihren dichten, leuchtend roten Locken die obligaten hundert Bürstenstriche angedeihen ließ, sich wusch und das smaragdgrüne Kleid in den Schrank hängte, ehe sie ins Nachthemd schlüpfte.
Sie ging zu Bett, lehnte sich gegen die Kissen, knipste das Licht aus und beobachtete, wie der Widerschein des Feuers auf der Stuckdecke tanzte. Aus irgendeinem Grund war sie nicht schläfrig. Sie streckte die Hand aus und schaltete das Licht auf dem Nachttischchen wieder ein. Eine wunderbar einfache Sache. Sowohl Gideon als auch Max bedienten sich aller modernen Errungenschaften des täglichen Lebens - sei es elektrisches Licht, Automobil oder Telefon - mit wahrer Leidenschaft.
Im Gästezimmer stand ein kleiner Sekretär mit Federhalter, Tinte und Schreibunterlage. Chastity stand auf und setzte sich an den Sekretär. Sie machte sich daran, den Brief des Vermittlungs-Service an Dr. Douglas Farrell aufzusetzen. Er möge sich am nächsten Mittwoch um fünfzehn Uhr beim wöchentlichen Besuchsnachmittag der Ehrenwerten Miss Chastity Duncan, Manchester Square 10, präsentieren. Dort möge er dem Butler seine Karte übergeben und erklären, dass er ein Gespräch mit Lord Buckingham suche.
Chastity lehnte sich auf dem zerbrechlichen Stuhl zurück und tippte sich mit der Spitze des Federhalters an die Zähne. Natürlich existierte kein Lord Buckingham. Dieser fiktive Lord diente der Vermittlung als Vorwand, um eventuelle Klienten zusammenzuführen.
Sie setzte die Feder wieder an und erklärte, dass Miss Duncan selbst keine Ahnung hätte, wer Dr. Farrell sei, da sie aber mit Lord Buckingham bekannt sei, würde sie den Arzt fraglos willkommen heißen. Sehr gut bekannt, überlegte Chastity schmunzelnd. Da er ihrer Phantasie entsprungen war.
Eine Dame, die Dr. Farrell auf seiner Brautschau vielleicht interessieren könnte, würde eine weiße Nelke tragen. Falls er nach näherer Musterung eine Vorstellung wünsche, würde seine Gastgeberin diese arrangieren, selbstverständlich ohne Fragen zu stellen.
Chastity legte den Federhalter aus der Hand und überflog den Brief. Briefe dieser Art hatte sie schon oft verfasst, so dass sie keinen Fehler finden konnte. Sie unterschrieb mit Vermittlungs-Service, trocknete die Tinte auf dem Papier, faltete den Briefbogen und steckte ihn in einen Umschlag, den sie unter dem Namen des Arztes an Mrs. Beedles Eckladen richtete, wie Douglas Farrell es in seinem Brief gewünscht hatte. Mrs. Beedle agierte nicht nur für die Klienten der May fair Lady und des Vermittlungs-Service als postlagernde Adresse, und Chastity hatte sich einige Zeit den Kopf zerbrochen, aus welchem Grund ein Londoner Arzt eine solche Adresse benötigte. Hatte er denn keine eigene? Es war eine Frage, die in dieselbe Kategorie fiel wie jene, was ein Mann mit so großen gesellschaftlichen Ambitionen in diesem alles andere als noblen Stadtteil suchte.
Sie legte die Stirn in Falten und dachte an das Krankenhaus nahe St. Mary Abbot's. Chastity hatte nie einen Fuß in diese Gegend gesetzt, doch wusste sie - oder glaubte zu wissen -, dass Earl's Road, Warwick Road und Cromwell Road nicht nur wenig repräsentabel, sondern größtenteils schreckliche Slums waren. Dort konnte er mit einer Praxis nur wenig verdienen, was vermutlich Teil seines Problems war. Aber warum verwendete ein Mann, der sich offen und ungeniert eine reiche Frau und eine profitable Praxis zulegen wollte, überhaupt Zeit für die Armen .und Kranken in den Londoner Slums? Womöglich bleibt ihm nichts anderes übrig, überlegte sie. Eventuell war er als Arzt so unfähig, dass nur die Armen, die keine andere Wahl hatten, ihn in Anspruch nahmen. Nach allem, was sie von seiner Haltung im Allgemeinen mitbekommen hatte, würde es ihm sehr schwer fallen, sich bei den Reichen und Angesehenen, deren Ärzte einen Balanceakt zwischen Unterwürfigkeit und Autorität vollbringen mussten, beliebt zu machen. Da ihm dies wohl klar war, suchte er eine Frau mit Verbindungen, die raue Kanten glätten konnte, oder, im Falle der Signorina della Luca, Menschen redselig überfuhr und potenzielle Patienten in seine elegante Praxis trieb wie eine Herde willfähriger Rinder zum Schlachter.
Chastity gähnte, ein wenig enttäuscht von ihrer eigenen Bosheit. Sie war doch sonst nicht so. Sie legte den Brief auf den Sekretär, mit der Absicht, ihn Prues Butler zu geben, damit er ihn am Morgen einwerfen sollte. Dann kletterte sie wieder ins Bett, diesmal, um tatsächlich zu schlafen.
In dem kahlen Raum war es eiskalt trotz des kümmerlich flackernden Kohlenfeuers im Kamin. Die Frau auf dem Strohsack wand sich stumm und erduldete stoisch, was sie schon sechsmal erduldet hatte.
Douglas Farrell richtete sich nach der Untersuchung auf und sagte leise: »Ellie, komm mit der Kerze näher.«
Das Mädchen, das aussah, als wäre es nicht älter als acht, brachte dem Arzt eilig den Kerzenstummel. Sie hielt ihn wie verlangt in die Höhe, den Blick vor den Qualen der Mutter abwendend.
»Hast du das Wasser abgekocht?«, fragte Douglas sanft, während er den gewölbten Unterleib abtastete.
»Das macht Charlie«, erwiderte das Kind. »Ma wird doch wieder gesund, oder, Doktor?«
»Deine Mutter weiß, was los ist«, gab er zurück. Die Frau krümmte sich, und seine Hände griffen rasch zwischen die blutverschmierten Schenkel. »Ruhig halten die Kerze, Ellie.«
Die Frau schrie unvermittelt auf, das erste Mal seit den Wehen, während ihr Körper konvulsivisch zuckte. Ein blutgetränktes Bündel erschien zwischen den Händen des Arztes, der rasch und geschickt die Atemwege des Kindes freimachte. Ein dünner Schrei ertönte, der blaue Körper färbte sich rosig. »Ein Junge, Mrs. Jones«, sagte er, durchschnitt die Nabelschnur und band sie ab. Dann legte er das Kind seiner Mutter an die Brust. »Klein, aber kerngesund.«
Die Frau sah das Kind erschöpft und mit leerem Blick an, dann führte sie mit erfahrenen Fingern den kleinen Mund an ihre Brust. »Hoffentlich habe ich diesmal mehr Milch«, murmelte sie.
Douglas drehte sich um und wusch sich die Hände in einem Becken mit kaltem Wasser. Das heiße Wasser war für
Mutter und Kind bestimmt. In dieser Bruchbude gab es nicht genug Brennstoff, um mehr als eine Schüssel voll Wasser zu wärmen. »Ich schicke Ihnen die Hebamme«, sagte er.
»Nein, Doktor. Wir schaffen das allein«, protestierte die Frau matt. »Unsere Ellie kann beim Putzen helfen. Nicht nötig, dass Sie die Hebamme bemühen.«
Douglas widersprach nicht. Er wusste, dass kein Geld für die Dienste der Hebamme vorhanden war, und dass die älteste Tochter inzwischen genug Erfahrung hatte. Er beugte sich über die Frau, befühlte ihre Stirn und sagte leise zu Ellie: »Sollte sie fiebern, musst du mich sofort holen. Verstanden?«
»Ja, Doktor.« Das Kind nickte heftig.
Er drückte die Hand des Mädchens auf und legte eine Münze hinein, worauf er die Finger darüber fest schloss. »Hol dafür Kerzen, einen Eimer Kohle und Milch für deine Ma«, ordnete er an. »Und lass es deinen Dad nicht sehen.«
Das Mädchen nickte ernst und drückte die geschlossene Faust an seinen zerlumpten Rock. Der Arzt tätschelte die Schulter des Kindes und ging hinaus, nicht ohne den Kopf unter dem niedrigen Türstock des schmalen Durchgangs zu beugen, der den hinteren Raum vom vorderen trennte, wo es mit Feuer, Licht und Einrichtung nicht besser bestellt war. Lumpenhaufen, über den Boden verteilt, dienten als Betten. Ein zerbrochener Stuhl stand neben einem Herd, auf dem in einem Gefäß über einem Dreifuß eine erbärmliche Wassermenge über ein paar Kohlen kochen sollte und von einem etwa fünfjährigen Jungen bewacht wurde, der aber ebenso auch ein paar Jahre älter sein konnte, da er im Wachstum sichtlich zurückgeblieben war.
»Charlie, wo ist dein Dad?«
»Drüben in der Kneipe«, sagte der Junge und starrte in den Topf, als könne er damit das Wasser zum Kochen bringen.
»Lauf rüber und sag ihm, dass du einen kleinen Bruder hast«, sagte Douglas und hob das Gefäß vom Feuer.
»Er ist sicher sternhagelvoll«, gab das Kind uninteressiert von sich.
»Sag ihm, er soll sofort kommen. Sag, dass ich es dir auftrug.« Zum ersten Mal war sein Ton streng. Das reichte, um dem Jungen Beine zu machen.
»Er wird mir eine scheuern«, befürchtete er allerdings.
»Nicht, wenn du dich duckst«, sagte Douglas trocken. »Wenn er betrunken ist, bist du flinker als er. Ich kenne dich doch.«
Ein schwaches Grinsen erhellte das schmutzige Gesicht. »Ja, das bin ich, Doktor.« Er ging zur Tür. »Geht es Ma gut?«
»Ihr und dem Kleinen geht es gut«, erwiderte Douglas. »Ich bringe Ellie das Wasser. Lauf los und hol deinen Dad.« Der Junge lief davon, dass seine bloßen Füße nur so auf dem eisigen Pflaster klatschten.
Douglas brachte das Wasser in das Hinterzimmer und gab dem kleinen Mädchen noch ein paar Anweisungen, ehe er ging und gebückt unter der Tür auf die Straße hinaustrat, im Gehen seinen Mantel zuknöpfend.
Einen Moment hielt er inne, streifte die Handschuhe über und stellte den Kragen auf, während sein Blick die Gasse nach beiden Seiten entlangwanderte. Er fasste die Eckkneipe ins Auge und wartete, bis Daniel Jones heraustrat, rotäu-gig und mit verschwommenem Blick. Er beobachtete, wie der Mann schwankend näher kam, dicht vor ihm der tänzelnde Charlie. Nun erst machte Douglas sich auf den Weg. Im nüchternen Zustand kein schlechter Mensch, neigte Daniel auch im Suff eher zu weinerlicher Gefühlsduselei als zu Gewalt. Die Ankunft eines neuen Erdenbürgers, den es durchzufüttern galt, würde ihn nicht weiter rühren, da er keinerlei Verpflichtung fühlte, dieses oder die anderen Mäuler zu stopfen, die er in die Welt gesetzt hatte.
Auf dem Weg zu seiner Praxis hinter St. Mary Abbot's machte Douglas Station bei Mrs. Beedle, die ihn mit gewohnter Fröhlichkeit und Herzenswärme begrüßte. »Bisschen frisch draußen, nicht, Doktor? Viel zu tun?«
»Eine Entbindung«, sagte er. »Ein strammer Junge.«
»Ach, wie nett. Der Postbote brachte heute Morgen zwei Briefe.« Sie langte hinauf zu dem Bord über dem Ladentisch und händigte ihm seine Post aus.
Er nahm sie mit einem gemurmelten Dank entgegen, wünschte ihr einen schönen Tag und trat ins Freie, während er die Umschläge begutachtete. Einer kam von seiner Mutter. Auch die Handschrift des anderen auf dickem Bütten erkannte er sofort. Der Vermittlungsservice hatte geantwortet.
Er steckte beide in die Manteltasche und strebte seiner Praxis zu. Sie lag in den unteren Räumen eines mehrgeschossigen Reihenhauses gleich hinter der Kirche. Wie üblich drängten sich im vorderen Raum Frauen und rotznasige Kinder. Es war kalt und düster, das Feuer im Kamin fast heruntergebrannt. Er begrüßte alle mit Namen, warf Kohle aufs Feuer und zündete die Kerzen an. Dann winkte er eine Frau mit einem Baby an der Brust und einem Kleinkind, das sich an ihre Schürze klammerte, zu sich. »Kommen Sie herein, Mrs. Good. Wie geht es Timmy heute?«
»Ach, der Ausschlag ist schrecklich, Herr Doktor«, klagte die Frau. Sie wandte sich dem kratzenden Kind zu und versetzte ihm einen Schlag aufs Ohr. »Schluss jetzt, hörst du!« Sie seufzte, als das Kind sich wimmernd das Ohr rieb. »Er hört einfach mit Kratzen nicht auf. Nicht um alles auf der Welt.«
Douglas setzte sich hinter den zerschrammten Tisch, der ihm als Schreibtisch diente. »Sehen wir uns das mal an, Timmy.« Er untersuchte die nässenden Ekzeme auf den Armen des Kindes, dann holte er von einem Bord einen Salbentiegel herunter. »Verreiben Sie das dreimal täglich auf die Flecken, Mrs. Good. Es müsste rasch helfen. In einer Woche kommen Sie mit ihm wieder.«
»Danke, Herr Doktor.« Die Frau tat den Tiegel in ihre geräumige Schürzentasche. Zögernd holte sie eine Kupfermünze hervor. »Was bin ich schuldig, Herr Doktor?«
Die Münze war ein Penny, wie Douglas sehen konnte. Dafür bekam man einen Laib Brot oder einen halben Liter Milch. Die Kosten für die Salbe waren damit nicht annähernd abgedeckt. Aber diese Menschen hatten ihren Stolz. Tatsächlich war es im Allgemeinen das Einzige, was sie besaßen. Er lächelte. »Einen Penny, Mrs. Good.«
Sie legte ihn mit dem entschlossenen Nicken dessen, der sich einer Verpflichtung entledigt, auf den Tisch. »Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Los, Timmy, und kratz dich ja nicht wieder!«
Douglas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr sich durch sein dichtes Haar, kaum dass sich die Tür hinter seinen
Patienten geschlossen hatte. Er betrachtete den Penny auf dem Tisch, nahm ihn in die Hand und warf ihn in eine kleine Blechschachtel. Ein hohles Klirren ertönte, als die Münze sich zu der kleinen Menge ihrer Vorgängerinnen gesellte.
Als Babygeschrei vor der Ordinationstür ertönte, schob Douglas den Stuhl zurück, um seine nächsten Patienten hereinzurufen.
Es war ein langer und wie immer frustrierender Abend. Allen konnte er nicht helfen; viele seiner Patienten litten an schwer zu behandelnden Leiden der Armut. Selbst wenn es eine Arznei dagegen gab, verfügte er doch nicht über ausreichende Mengen, um allen zu helfen, die ihrer bedurften. Als er zusperrte und nach Hause ging, war er hundemüde.
Sein Zuhause war eine Pension an der Cromwell Road. Der ständige Geruch von gekochtem Kohl und Fischköpfen empfing ihn, als er die dunkle, enge Diele betrat und die Tür schloss.
Seine Wirtin steckte den Kopf aus der Küchentür. »n' Abend, Dr. F., spät sind Sie heute! Hoffentlich ist der Fisch nicht schon vertrocknet.«
»Das hoffe ich auch, Mrs. Harris«, murmelte der Arzt und wandte sich zur Treppe. »Ich komme gleich.«
»Es ist für Sie im Salon gedeckt«, sagte sie. »Ein hübsches Stück Brasse gibt es.«
»Oder gab es«, grummelte der Doktor, während er die mit Linol belegte Treppe erklomm.
»Soll ich unseren Colin in den Red Lion um einen Krug Herbbitter schicken, Dr. F.?«, folgte ihm die Stimme der Wirtin die Treppe hinauf.
Douglas überlegte. Vertrockneter Fisch mit dem unvermeidlichen Püree und matschigem Kohl, und dazu nur Wasser? Er griff in die Tasche, lief ein paar Stufen hinunter und gab Mrs. Harris eine Drei-Penny-Münze. »Einen Krug, wenn ich bitten dürfte, Mrs. Harris.«
»Wird gemacht, Dr. F.« Sie verzog sich erneut in die Küche und rief nach ihrem Sohn.
Douglas ging hinauf, um seine Überkleidung abzulegen. Das Badezimmer, gewöhnlich vom Mieter von Nr. 2 besetzt, war zur Abwechslung mal frei. Er wusch sich Hände und Gesicht, kämmte sich und ging zum Abendessen hinunter.
Er kaute sich durch die wie befürchtet trockene und nach nichts schmeckende Brasse und öffnete den Brief seiner Mutter. In die fünf Seiten eingeschlagen war ein Bankscheck über hundert Pfund. Die beigelegte Notiz lautete: »Sicher gibt es einen guten Zweck, der davon profitiert. Fergus sagt, dass dir das Geld aus dem Treuhandfonds zusteht.«
Douglas faltete den Scheck zusammen und steckte ihn in seine Brusttasche. Fergus, der Familienbanker, hatte nicht die Gewohnheit, seinen Kunden Hundert-Pfund-Schecks aufzudrängen, selbst wenn es sich bei dem Fonds um einen sehr stattlichen gehandelt hätte, was dieser aber gewiss nicht war. Das Geld war von Douglas' Vater für seine Ausbildung angelegt worden, und Douglas war klar, dass davon nur noch sehr wenig vorhanden sein konnte. Geld war bei den Farrells knapp. Seine Mutter war zwar gut versorgt, und seine Schwestern hatten gut situierte Ehemänner, doch hatten sie auch Kinder. Um sich und eine Frau aus passenden Kreisen standesgemäß zu ernähren, hatte Douglas die Praxis seines Vaters übernehmen müssen.
Er trommelte mit den Fingern auf das fleckige Tischtuch, als die Erinnerung an Marianne wieder in ihm aufstieg. Nachdem er seine lukrative Praxis zugunsten einer Slum-Klinik aufgegeben hatte, die seine persönlichen Mittel verschlang, hatte er gleichzeitig Marianne, die zukünftige, ihm angemessene Gattin verloren und sich praktisch der Armut ausgesetzt. Obwohl er sein Bestes tat, um letztere Tatsache vor seiner überbesorgten Mutter zu verbergen, war er - nach dem Scheck zu schließen - anscheinend nicht allzu erfolgreich damit. Es war typisch» dass sie ihr Geschenk so rechtfertigte, dass er nicht ablehnen konnte.
Nun erst widmete er sich dem Brief. Fünf Seiten in ihrer winzigen Handschrift ... Neuigkeiten von den Schwestern und deren zahlreichen Sprösslingen, von den Schrullen der Nachbarn, von den Leuten, die seine Mutter nicht mochte, und das alles gespickt mit Ratschlägen für das Wohlergehen ihres Jüngsten, der noch dazu auch ihr einziger Sohn war.
Douglas nahm einen kräftigen Schluck Ale und lachte leise. Nicht auszudenken, was seine Mutter sagen würde, wenn sie ihn in dieser elenden, trostlosen Pension in der Cromwell Road hätte sehen können - wie er am Ende eines elend langen Tages kalten, durch langes Kochen ausgelaugten Fisch in sich hineinschaufelte. Im Moment saß sie sicher im eleganten Haus der Farrells an der Prince's Street in Edinburgh und plante die Speisenfolge für den nächsten Tag, falls sie nicht mit ihren Freundinnen Bridge spielte oder eine ihrer Töchter über einen Aspekt der Kindererziehung oder Haushaltsführung belehrte.
Nicht, dass er seine Mutter nicht geliebt hätte. Er liebte sie. Aber Lady Farrell war eine gründe dame vom alten Schlag, die sich eisern an die starren Prinzipien der viktorianischen Zeit klammerte. Sie hatte ihrem Mann, einem erfolgreichen Arzt, sieben Kinder geschenkt, ehe er mit vierzig verstorben war. Erst das letzte Kind war der lange ersehnte Sohn. Als Witwe hatte sie die Rolle beider Eltern übernehmen müssen, eine Rolle, die sie gern und kompetent ausfüllte. Alle ihre Kinder hatten gewaltigen Respekt vor ihr. Nur ihr Sohn hatte es geschafft, die mütterlichen Fesseln abzustreifen und seinen eigenen Weg zu gehen, wenn auch mit einem nicht geringen Aufwand an Schwindelei.
Douglas faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag. Seine Antwort durfte nicht lange auf sich warten lassen, und sie musste sehr sorgfältig abgefasst sein. Er wollte seine Mutter unbedingt weiterhin über die wahren Umstände seines Lebens und seiner Arbeit im Unklaren lassen. Die Wahrheit würde im günstigsten Fall einen Anfall von Angina pectoris auslösen. Er hatte zwar seine eigenen Ansichten über die Herzattacken seiner Mutter, aber die Auswirkungen wirkten verblüffend echt. So war es unerheblich, ob er sie für eine nützliche Waffe im Arsenal ihrer Mittel zum Beherrschen ihrer Kinder hielt oder nicht.
Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Seine Mutter hatte nie verstanden, warum er sein ihm von Geburt an zugedachtes Leben aufgab, die einträgliche Praxis, die seinem Vater ein Adelsprädikat eingebracht hatte, dank dessen die Farrells zu den Spitzen der Gesellschaft Edinburghs aufgerückt waren. Sie hatte ihr Bestes getan, um sich mit der Auflösung seiner Verlobung mit Marianne abzufinden. Doch bei der ersten Erwähnung, dass ihr Sohn nach London ziehen und dort eine Praxis eröffnen wolle, hatte sie sich für eine Woche ins Bett gelegt und sich der Hilfe ihrer Töchter versichert, die ihn verzweifelt anflehten, er solle bei ihr bleiben. Er hatte sich heftig gesträubt und, wenn man den Schwestern glauben wollte, einen völligen Mangel an Mitgefühl erkennen lassen. Er wusste, dass Letzteres nicht stimmte, ebenso wie er wusste, dass sie nie begreifen würden, warum er das tat, was er tat.
Apropos ... Er griff nach dem zweiten Umschlag, der neben seinem Teller lag, und schlitzte ihn mit seinem Messer auf. Er las den Brief zweimal. Es war ein sehr direktes, sehr praktisch gehaltenes Schreiben.
Nachdenklich schlug er damit gegen die freie Handfläche. Er nahm nicht an, dass er von der verschleierten Dame aus der National Gallery stammte. Der Text ließ nichts von Herablassung oder moralischer Überlegenheit erkennen, sondern gab nur simple Anweisungen, wie es einem geschäftlichen Abkommen entsprach. Persönliches und persönliche Meinungen waren in diesem Fall nicht angebracht, und er war erleichtert, dass derjenige, der den Vermittlungs-Service wirklich führte, dies offenbar sehr wohl wusste. Der Kontaktperson hätte eine diesbezügliche Belehrung nicht geschadet, dachte er spöttisch. Vielleicht würde er an The May fair Lady schreiben und erwähnen, dass das alles andere als professionelle Auftreten der Abgesandten nicht seinen Beifall gefunden hätte.
Er las den Brief noch einmal. Man hatte jemanden für ihn im Auge. Eine Dame, die bei einem Besuchsnachmittag an einer vornehmen Adresse am Manchester Square eine weiße Nelke tragen würde. Nüchtern und völlig anonym, wie zugesagt.
Er ließ den Blick durch den Raum wandern, registrierte die vergilbten Netzvorhänge vor den Fenstern, die fettigen Schutzdeckchen auf den Sesseln, das fleckige Tischtuch. Das Spiel hatte begonnen. Es war Zeit, einen Schritt zu tun. Ein Mann, der Besuchsnachmittage der Ehrenwerten Miss Chastity Duncan am Manchester Square frequentierte, konnte nicht länger in Mrs. Harris' Pension an der Cromwell Road wohnen.
Als er den Stuhl zurückschob, raschelte in seiner Tasche der Scheck. Ja, er würde einem guten Zweck zugute kommen, einem, für den sich sogar Lady Farrell einsetzen würde.