Hewlett-Packard

8

Chastity eilte in einem eisigen Wind die Kensington High Street entlang, den Mantel bis oben zugeknöpft, den Pelzkragen bis zu den Ohren hochgestellt. Sie trug den Hut tief in die Stirn gedrückt, ein langer Fransenschal umhüllte ihren Hals und wehte hinter ihr her. Ihre Hände steckten in pelzgefütterten Lederhandschuhen, ihre Füße in hohen Knöpfstiefeln. Dennoch stand ihr der Atem vor dem Mund, der Wind rötete Wangen und Nasenspitze und war bis zu den Zähnen schmerzhaft zu spüren.

Mrs. Beedles Eckladen erschien Chastity wie ein rettender Hafen, als sie eintrat und die Glocke zum Klingeln brachte. In ihrem Bestreben, die Kälte auszuschließen, knallte sie die Tür geradezu hinter sich zu. Sie atmete erfreut die warme, nach Süßigkeiten und Bäckerei duftende Luft ein.

Beim Klang der Ladenglocke tauchte Mrs. Beedle hinter dem Vorhang auf, der ihre Küche vom Ladenraum trennte. »Hallo, Miss Chas.« Sie strahlte ihre Besucherin an. »Sie sehen aber erfroren aus. Kommen Sie, und trinken Sie ein heißes Tässchen Kakao. Eben habe ich einen Victoria-Biskuitkuchen aus dem Rohr geholt.« Sie hob die aufklappbare Platte des Ladentisches an.

»Ja, man riecht ihn«, sagte Chastity und klatschte in die Hände, um die-Blutzirkulation in den trotz der Handschuhe tauben Fingerspitzen in Schwung zu bringen. »An einem solchen Tag gibt es für mich nichts Schöneres als Kakao und Kuchen.« Sie trat hinter den Ladentisch und senkte die Thekenklappe, ehe sie Mrs. Beedle durch den Vorhang in die Küche folgte.

»Ach, hier drinnen ist es wunderbar warm«, sagte sie anerkennend.

»Setzen Sie sich doch an den Herd, meine Liebe.« Ihre Gastgeberin stellte einen Milchtopf auf die Platte. »Auf dem Bord dort drüben sind ein paar Briefe für Sie.«

»Danke.« Chastity holte die Briefe vom Küchenbord und setzte sich auf einen Stuhl so nahe an den Herd, dass sie fast anstieß. Sie überflog die Umschläge, die alle an The Mayfair Lady adressiert waren, und steckte sie ungeöffnet in ihre Jackentasche, ehe sie die Handschuhe abstreifte und sich von ihrem Schal befreite. »So, das ist schon besser«, seufzte sie behaglich. »Der Wind ist ekelhaft eisig und fegt um jede Straßenecke. Die Leute sind alle blau gefroren vor Kälte - inklusive mir.«

»Ja, heute macht die Kundschaft sich rar.« Mrs. Beedle schnitt ein großes, vor Himbeermarmelade überquellendes Stück Biskuitroulade ab. »Bei diesem Wetter bleiben alle gern zu Hause. So, Miss Chas. Gleich ist der Kakao fertig.«

Chastity nahm den Teller in Empfang und dankte mit einem strahlenden Lächeln. Mrs. Beedle löffelte Kakaopulver in einen Becher und goss mit der dampfenden Milch auf, um danach energisch umzurühren. Dann stellte sie die Tasse auf einen niedrigen Hocker neben den Stuhl ihres Gastes.

Chastity atmete den vollen Schokoladenduft des heißen Getränkes tief ein und brach ein kleines Stück vom Kuchen ab. »Wie geht es Ihnen und Ihrem Geschäft, Mrs. Beedle?«

»Ach, ganz gut, meine Liebe«, gab die Frau zufrieden zurück. »Vor Weihnachten läuft es immer gut.«

»Ob wir wohl weiße Weihnachten bekommen?«, fragte Chastity, die es genoss, in dieser warmen Küche zu sitzen und über Belangloses zu plaudern. Die bimmelnde Ladenglocke unterbrach ihr Gespräch, und Mrs. Beedle lief nach einem Wort der Entschuldigung hinaus.

»Ach, Doktor, jetzt habe ich Sie eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, rief sie aus, als sie in den Laden hinaustrat. »Ich dachte schon, Sie hätten uns verlassen.«

»Vorige Woche zog ich um, Mrs. Beedle«, erklärte Douglas Farrell. »Ins Zentrum.«

Chastity, die reglos dasaß und kaum zu atmen wagte, hielt mit dem Stück Kuchen auf dem Weg zum Mund inne. Ausgerechnet ... das war aber knapp. Fünf Minuten früher oder später, und sie wären zusammengestoßen. Wie um alles in der Welt hätte sie ihre Anwesenheit in dem gar nicht eleganten Kensington erklären sollen? In einem Laden, der als Postadresse für The Mayfair Lady diente? Der Mann war ja nicht dumm. Da er einer möglichen Ehekandidatin bei einem Besuchsnachmittag Chastity Duncans begegnet war, hätte er sich gewiss seinen Reim darauf gemacht.

»Ins Zentrum?«, sagte Mrs. Beedle voller Bewunderung. »Dort möchte ich auch gern hin, vor allem in der Zeit der Feiertage. Ich sehe mir zu gern die großen Geschäfte mit ihren Weihnachtsdekorationen an. Also, was darf es sein, Doktor?«

»Ach, das Übliche ... Lakritze und Bonbons, je ein Pfund, Mrs. Beedle«, sagte Douglas mit seiner angenehmen Stimme. »Außerdem habe ich einen Brief dabei, der abgeholt werden soll.«

»Ach ja. Legen Sie ihn einfach auf den Ladentisch hier drüben, Doktor.« Chastity, die unverändert wie gelähmt hinter dem Vorhang saß, hörte nun, wie Mrs. Beedle Süßigkeiten aus Dosen schüttelte und abwog.

Schließlich schluckte sie das Kuchenstück hinunter und leckte die Marmelade von den Fingern. Dann trank sie vom Kakao, sehr bedacht, den Becher geräuschlos vom Hocker zu heben. Zwar würde Douglas als gewöhnlicher Kunde kein Interesse an den Geräuschen zeigen, die aus den Privaträumen der Ladenbesitzerin drangen, doch minderte dies ihre Nervosität keineswegs.

Sie horchte, als das Gespräch mit ein paar Artigkeiten beiderseits zu Ende ging und die Türglocke anzeigte, dass der Kunde gegangen war. Mrs. Beedle kam wieder in die Küche, in der Hand einen Brief. »Das ist aber merkwürdig, Miss Chas«, sagte sie. »Dr. Farrell hinterließ einen Brief für The May fair Lady. Ist das nicht ein Zufall... und Sie sitzen leibhaftig hier bei mir?«

»Ja, allerdings«, musste Chastity zugeben und griff nach dem Brief, den Mrs. Beedle ihr reichte. »Aber es schreiben halt sehr viele unterschiedliche Menschen an die Zeitung.«

»Das ist wohl richtig«, meinte ihre Gastgeberin. »Aber es sieht dem Doktor so gar nicht ähnlich. Warum er wohl schreibt?«

»Ich kann es mir nicht denken«, erwiderte Chastity aufgeräumt und schob den Brief ungeöffnet zu den anderen in die Tasche. Dann stand sie auf und nahm Handschuhe und Schal vom Tisch. »Ich muss laufen, Mrs. Beedle. Haben Sie vielen Dank für Kakao und Kuchen. Jetzt kann ich es mit dem Wetter wieder aufnehmen.«

»So ist es, Miss Chas. Grüßen Sie mir Miss Pru und Miss Con.«

»Danke. Da ich Sie vor Weihnachten nicht mehr sehen werde, wünsche ich Ihnen jetzt schon ein schönes Fest, Mrs. Beedle, und ein glückliches neues Jahr.«

»Ich Ihnen ebenfalls, meine Liebe.« Mrs. Beedle folgte ihr in den Ladenraum.

Chastity öffnete die Tür und spähte vorsichtig hinaus. Douglas bog eben in einiger Entfernung um die Straßenecke. »Wiedersehen, Mrs. Beedle.« Sie winkte und trat hinaus auf den Bürgersteig. Douglas lief in die Gegenrichtung ihres Heimweges, dennoch folgte sie ihm, ohne sich die Sache ernsthaft zu überlegen. Sie wollte nicht mit ihm zusammentreffen, wollte aber unbedingt herausfinden, wohin er mit seinen zwei Pfund Süßigkeiten ging.

An der nächsten Ecke sah sie ihn vor sich, wie er forsch dem Ende der Straße zustrebte. Sie wartete, bis er wieder um die Ecke gebogen war, dann hetzte sie auf höchst undamenhafte Weise los, aus Angst, ihn womöglich zu verlieren.

Die Umgebung wurde zunehmend verkommener und schmutziger. Nur wenige Menschen waren zu sehen - es war effektiv zu kalt und diejenigen, die müßig in Gruppen frierend herumstanden, waren durchwegs sehr ärmlich gekleidet. Die Kinder, die man aus Hauseingängen heraus-und wieder hineinhüpfen sah, waren sogar oft barfuß. Chastity war so entsetzt, dass sie schier die eisigen Pflastersteine an den eigenen Füßen zu spüren vermeinte. Dennoch folgte sie unbeirrt der unverwechselbaren Gestalt des Arztes, der ohne einen Blick nach rechts oder links zielstrebig ausschritt.

»He, Lady, Lady ... 'nen Penny, Lady ... ha'm Sie 'nen Penny?« Das Entsetzen über das Elend um sie herum hatte sie so beansprucht, dass ihr die im Singsang vorgebrachte Frage nicht gleich bewusst wurde. Sie stoppte und drehte den Kopf zur Seite. Eine Gruppe zerlumpter Jugendlicher grinste sie dreist mit ausgestreckten Händen an.

Sie tastete in ihren Taschen unauffällig nach ihrer Münzenbörse und fischte ein paar Pennys heraus, während tief liegende Augen aus schmalen Gesichtern auf sie gerichtet waren und jede Bewegung verfolgten. Die Gruppe rückte näher, als die Münzen in ihrer Hand sichtbar wurden. Die Blicke bekamen etwas Raubtierhaftes. Plötzlich fühlte Chastity sich gefährdet. Ihr Impuls, Farrell zu folgen, war töricht gewesen, doch war es jetzt zu spät zur Umkehr, selbst wenn sie den Weg zurück auf vertrautes Terrain durch das gewundene Straßengewirr gefunden hätte. Sie musste sich ihm zu erkennen geben, obwohl er vermutlich unwirsch reagieren würde, wenn er merkte, dass sie ihm in diese Gegend gefolgt war. Sie warf die Münzen weit weg hinter sich auf die Straße, drehte sich um und nahm die Verfolgung ihrer Beute wieder auf, während die Jungen sich als raffendes, balgendes Rudel auf das Geld stürzten.

Douglas, der sie nach wie vor nicht bemerkt hatte, bog in eine enge Gasse hinter einer Kirche ein und blieb vor einer Tür in der Mitte der Häuserreihe stehen. Instinktiv wurde Chastity langsamer und hielt den Atem an. Er öffnete die Tür und verschwand im Inneren. Ein eisiger Windstoß pfiff durch die enge Straße und erfasste Unrat vom Pflaster - mit Schmutz durchsetztes Stroh, dreckige Papierfetzen, Kartoffelschalen und anderen, nicht identifizierbaren Abfall. Chastity schauderte, als die Kälte durch ihren dicken Mantel drang. Sie konnte hier nicht ewig stehen bleiben. Die Schultern straffend ging sie zur Tür und stieß sie auf. Sie trat direkt in einen kleinen, trostlosen Vorraum voller Menschen - in der Mehrzahl Frauen und Kinder.

Verwirrt schaute sie um sich. Das Elend, das sie umgab, war überwältigend und verströmte einen unverkennbaren Geruch, der ihr den Atem raubte. Der Raum war sowohl kalt als auch stickig, das Kohlenfeuer verbreitete stinkenden Qualm, der sich mit dem Geruch des Öls in den Lampen mischte.

Douglas, der mit dem Rücken zu ihr gebeugt dastand, sprach mit einer auf einem wackligen Schemel sitzenden Frau mit einem Baby in den Armen. Er griff nach dem Kind, das er ganz selbstverständlich an seine Schulter drückte. »Schließen Sie die Tür«, sagte er, ohne sich umzuwenden. Nun erst merkte Chastity, dass sie noch immer im offenen Eingang stand und kalte Luft hereinströmte. Sie hatte hier nichts zu suchen. Schon im Begriff zurück auf die Straße zu treten und die Tür hinter sich zu schließen, sah sie, dass er einen Blick über seine Schulter warf.

Ungläubig starrte er sie an, während seine große Hand das Köpfchen des Kindes an seine Schulter drückte. »Chastity? Was zum Teufel...«

»Ich sah Sie draußen und folgte Ihnen«, unterbrach sie ihn hastig. »Und dann forderten plötzlich ein paar Jungen Geld von mir, und ich bekam es mit der Angst zu tun. Albern, ich weiß.« Sie sah ihn hilflos an, wohl wissend, dass es eine erbärmliche Erklärung für etwas war, das unleugbar eine eklatante Übertretung darstellte.

Das Baby fing plötzlich zu greinen an, und als Douglas sofort seine Aufmerksamkeit dem Kind zuwandte, war es, als hätte er damit seine unwillkommene Besucherin fortgeschickt. Er berührte das winzige Ohr, und das Kind schrie auf. »Schon gut«, sagte er leise und wiegte das Kleine, während die Mutter mit einer Mischung aus Hoffnung und Hilflosigkeit in den müden Augen zu ihm aufblickte. »Es sieht nach einer Infektion im Ohr aus. Ich denke, wir können etwas für ihn tun«, sagte er mit einem beruhigenden Lächeln. »Kommen Sie ins Sprechzimmer, Mrs. Croaker.« Mit dem weinenden Kind in den Armen trat er durch eine Tür am anderen Ende, und die Frau folgte ihm.

Chastity blieb an der Eingangstür stehen und überlegte, ob sie einfach verschwinden und so tun sollte, als wäre sie nie hier gewesen. Aber irgendwie schien ihr das keine gute Lösung. Da spürte sie, dass etwas an ihrem Rock zupfte und blickte hinunter, in die hohlen Augen eines blassen Mädchens von etwa vier Jahren mit verschorfter und rinnender Nase. Chastity suchte in ihrer Handtasche nach der

Packung Pfefferminzplätzchen, die sie immer bei sich hatte. Sie hielt eines dem Mädchen hin, das sie erst argwöhnisch beäugte, ehe es rasch danach griff und in den Mund stopfte, als müsse es befürchten, jemand würde es ihr wegnehmen.

Die Tür zum inneren Raum öffnete sich, und Mrs. Croaker trat heraus, in den Armen das Kind, das sich beruhigt hatte. Douglas, der hinter ihr auftauchte, winkte Chastity mit finsterer Miene zu sich. Sie spürte, wie stumpfe Blicke aus schmalen Gesichtern sie teilnahmslos musterten, als sie zwischen den Menschen hindurchging und ihm in einen kleinen Raum folgte, dessen karge Einrichtung aus einem Tisch, zwei Stühlen, einem Bücherregal und einem Paravent in der Ecke bestand.

»Was zum Teufel treiben Sie hier?«, beendete Douglas damit seinen Satz von vorhin.

»Das erzählte ich schon. Ich sah Sie und wollte Sie einholen«, sagte sie, als sei es die natürlichste Sache der Welt. »Ich wollte Ihnen eine Frage stellen. Nun, eigentlich mehrere.«

Seine dunklen Augen waren alles andere als freundlich, als er fragte: » Und was kann die Ehrenwerte Miss Duncan in diesen Teil Londons geführt haben?«

»Ich besuchte eine alte Hausangestellte zum Tee«, schwindelte sie schlagfertig. »Sie wohnt in der Kensington High Street, über einem Laden ... über einem Bäckerladen. Wir - meine Schwestern und ich - besuchen sie abwechselnd einmal im Monat. Die arme alte Frau ist sehr einsam. Ich wollte eben gehen, als ich Sie um die Ecke biegen sah, und da dachte ich, es wäre eine günstige Gelegenheit, Ihnen meine Fragen zu stellen.«

Douglas blinzelte sie ungläubig an. »Sie folgten mir sechs relativ anständige Straßen entlang in die Abgründe dieses Viertels, nur um mich etwas zu fragen?«

»Warum ist das so merkwürdig?«, schoss Chastity mit einem Anflug von Hochmut zurück, von dem sie hoffte, er würde ihrer Geschichte mehr Wahrscheinlichkeit verleihen. »Wenn ich jemanden auf der Straße sehe, mit dem ich sprechen möchte, ist es doch nicht merkwürdig, wenn ich ihm folge und seine-Aufmerksamkeit zu wecken versuche?«

Douglas schüttelte ungeduldig den Kopf. »Warum haben Sie nicht gerufen, als Sie mich sahen?«

Gute Frage, dachte Chastity, doch spürte sie, dass eine ehrliche Antwort ihr an diesem Punkt nicht helfen würde. Douglas wirkte nicht so, als hätte er viel Verständnis für schlichte Neugierde. »Ich tat es«, log sie. »Aber Sie hörten mich nicht. Und Sie gingen sehr schnell. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte ich mich verirrt, so dass mir nichts übrig blieb, als Ihnen zu folgen. Wo sind wir eigentlich?«, setzte sie hinzu.

Sein Mund verkniff sich. Er konnte den Abscheu in ihren braunen Augen sehen, hörte ihn aus ihrer Frage heraus. Fast glaubte er Marianne zu hören, die ihm dieselbe Frage im selben Ton stellte. »Leider befinden Sie sich hier nicht auf gewohntem Terrain«, sagte er mit unüberhörbarer Verachtung.

Chastity errötete leicht. »Ich hätte nicht gedacht, dass es Ihres ist«, sagte sie. »Das ist wohl kaum die Harley Street.«

Er musterte sie schweigend, und sie kam sich wie ein Insekt unter dem Mikroskop vor, bis er trocken sagte: »Nein, das ist es nicht. Aber wenn Sie für' sich bleiben, nichts oder niemanden anfassen und nicht zu tief atmen, bleibt zu hoffen, dass Sie sich nichts Unappetitliches holen.«

Ihre Röte wurde tiefer. Gewiss, sie war hier ein ungebetener Eindringling, doch hatte sie nichts getan, um seine Verachtung zu verdienen. »Ich gehe jetzt und suche eine Droschke«, sagte sie mit so viel Würde, wie ihr zu Gebote stand.

»Eine absurde Idee«, fuhr er sie an. »Sie glauben doch wohl nicht, dass Droschken in diesen Straßen ihrem Gewerbe nachgehen.«

Chastity tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. »Wenn Sie mir sagen würden, wie ich aus diesem Straßenlabyrinth herausfinde und einen Punkt erreiche, der mir einigermaßen bekannt ist, überlasse ich Sie Ihrer Arbeit. Auf Sie warten viele Patienten.«

Er antwortete nicht sofort, doch die Zornesfalten auf seiner Stirn über den dichten Brauen wurden tiefer. Dass diese feine Dame ihre Nase in seine diffizilen Angelegenheiten steckte, war das Allerletzte, was er brauchte. Wenn sie nämlich nicht den Mund halten konnte, würde es in kürzester Zeit die ganze Stadt erfahren. Und wie viele reiche Patienten würden gewillt sein, einen Arzt zu konsultieren, der gleichzeitig eine Praxis in den Slums hatte? Sie würden ihn tunlichst meiden. Doch nun war der Schaden schon geschehen, und er konnte sie nicht guten Gewissens unbegleitet ziehen lassen.

»Ich bezweifle sehr, ob Sie in dem Straßenlabyrinth, wie Sie es nennen, selbst auf sich achten können«, sagte er schließlich. »Sie können sicher sein, unwillkommene Aufmerksamkeit zu erregen. Auch wenn diese Umgebung Sie anwidert, müssen Sie warten, bis ich Zeit habe, Sie nach Hause zu bringen. Setzen Sie sich dorthin.« Er deutete auf einen Stuhl neben dem Fenster.

Sie wollte ihm sagen, dass anwidern nicht das richtige Wort war. Sie fand die Umgebung armselig, ja verzweifelt; sie erfüllte sie mit Entsetzen und Mitgefühl, doch angesichts seines ironischen Tones wollte sie verdammt sein, wenn sie ihm das sagte. »Ich setze mich ins Wartezimmer«, erklärte sie und wandte sich zum Gehen.

»Das halte ich nicht für empfehlenswert«, warnte Douglas. »Dort lauern jede Menge ansteckender Krankheiten auf eine zarte Pflanze wie Sie.«

»Und Sie sind dagegen immun?«, fragte sie zunehmend schärfer. Sein schroffes und feindseliges Gebaren war ihr unbegreiflich. Ein gewisses Ausmaß an Unmut billigte sie ihm zu, doch dies ging zu weit, und sie war nicht gewillt, es ihm durchgehen zu lassen. »Sie bedenken wohl nicht, dass Sie diese Krankheiten auf Menschen übertragen könnten, mit denen Sie in Ihrem anderen Leben zu tun haben, Dr. Farrell?«

»Seien Sie versichert, Miss Duncan, dass ich mich gründlich desinfiziere«, entgegnete er unverändert verächtlich.

Chastity ging ins Wartezimmer und fand einen leeren Sitz. Kinder heulten und schnieften; die Mütter teilten Schläge und Liebkosungen ohne Unterschied mit leeren Blicken aus. Alle bibberten vor Kälte. Chastity verteilte ihre letzten Pfefferminzdrops und wünschte, sie hätte mehr bei sich gehabt. Angesichts dieses großen Elends waren sie nur ein karger Trost. Doch vermittelten sie ihr wenigstens das Gefühl, ein wenig helfen zu können. Sie hüllte sich bei diesen Gedanken enger in ihren Mantel, während Douglas sich zwischen seinen Patienten bewegte und leise mit jedem im Warteraum sprach, ehe er ihn ins Sprechzimmer führte.

Dieser Arzt war ein ganz anderer Mensch als der weltgewandte Mediziner aus der Wimpole und Harley Street ... und ganz anders als der Mann, der Musik liebte und ein charmanter und geistreicher Tischpartner sein konnte, ganz zu schweigen von dem Mitpassagier in der Droschke, der sich reichlich dreiste Freiheiten herausnahm.

Er war ganz entschieden Jekyll und Hyde. Aber warum arbeitete er hier? Waren dies die einzigen Patienten, die ihn aufsuchten? Oder war es einfach so, dass seine Praxis in der noblen Harley Street noch nicht gut lief und er diese hier aufgeben konnte? Konnten diese Leute ihn überhaupt bezahlen? Gewiss nicht viel.

Oder war es seine freie Entscheidung ?, dachte sie plötzlich und beobachtete, wie er auf dem schmutzigen Boden vor einer älteren Frau niederkniete, deren arg geschwollene Füße in Lumpen gehüllt waren. Er wickelte die Lumpen ab, hielt die verformten Füße in den Händen und tastete sacht die Fesseln ab. Chastity kam blitzartig zu der Erkenntnis, dass er diese armen Leute mit einem Gefühl behandelte, dem der Begriff Liebe entsprach. Sie hingen an seinen Lippen, und ihre Blicke folgten ihm, während er zwischen ihnen hin und her ging. Aber wie um alles in der Welt war diese Szene mit der eleganten Praxis in der Harley Street in Einklang zu bringen?

Warum benahm er sich so verächtlich, so feindselig, wenn er mit Liebe tat, was er tat? Wenn er stolz auf seine Arbeit war? Es war ja, als sei es ihm peinlich, als hätte man ihn bei etwas ertappt, dessen er sich schämte.

Fast zwei Stunden lang saß Chastity an der Wand und versuchte sich unsichtbar zu machen. Zumindest war nun die Antwort auf Lakritze und Bonbons gefunden, dachte sie, wobei ihr auffiel, dass die meisten Patienten beim Weggehen eine Arznei mitnahmen und die Kinder ausnahmslos mit einer Hand voll Süßigkeiten die Praxis verließen. Schließlich rief er den letzten Patienten auf, und sie saß allein im Wartezimmer. Sie erhob sich von dem wackligen Stuhl, steif und fast erfroren vom langen Stillsitzen, ging an den Kamin und streckte die Hände dem spärlichen Feuer entgegen.

Sie hörte, wie die Tür des Sprechzimmers geöffnet wurde, und er sagte: »Bringen Sie Maddie in zwei Tagen wieder, Mrs. Garth. Es ist sehr wichtig, dass ich sie mir noch einmal anschaue. Vergessen Sie es nicht.« Chastity drehte sich langsam um und sah, wie er eine dünne Frau und ein noch dünneres Kind zur Tür brachte.

»Die Armen«, sagte sie reichlich hilflos.

»Ja, das trifft genau zu. Sie sind arm.« Er ging an ihr vorüber zum Kamin und bückte sich, um das Feuer zu versorgen, dann richtete er sich auf und löschte die Lampen. »Nun, war es ein interessanter Nachmittag? Vielleicht sogar ein lehrreicher?« Wieder enthielt sein Ton eine feindselige Note, so als wolle er sie herausfordern.

»Nein, ich fand es bedrückend«, sagte sie. »Ich kann verstehen, dass Sie in die Harley Street umziehen wollen.«

»Ach ja?«, sagte er mit kurzem Auflachen. »Wirklich?« Er öffnete ihr die Tür, und sie trat in die eisige Winterluft und wickelte den Schal um den Hals, während er die Tür zuzog.

»Sie schließen nicht ab?«

»Hier gibt es nichts zu stehlen, und jemand könnte gezwungen sein, vor der Kälte Zuflucht zu suchen«, sagte er knapp. Mit gefurchter Stirn lugte er auf sie hinunter. »Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, dieses kleine Abenteuer für sich zu behalten?«

Die Bitte hörte sich an, als hätte er sie nur mit großer Mühe über die Lippen gebracht. Sie sagte ziemlich kühl: »Es ist nicht meine Gewohnheit zu klatschen. Außerdem gehen mich Ihre Angelegenheiten nichts an.«

Er schien nicht sehr überzeugt, doch er sagte nach einem knappen Nicken: »Beeilen wir uns, ich erfriere noch.«

Er nahm ihre Hand und zerrte sie mit sich, während sie etliche Häuserreihen und eine Kirche hinter sich ließen, ein paar armselige Straßen durchhasteten - bis sie unvermittelt in die breite Kensington High Street einbogen. »An der Ecke nehmen wir den Omnibus«, sagte er. »Er fährt direkt zur Oxford Street.«

Chastity wollte schon sagen, dass sie es bei dieser Kälte vorzöge, eine Droschke zu nehmen, hielt aber den Mund. Nach allem, was sie heute gesehen hatte, hätte es sie nicht gewundert, wenn der Doktor kein Fahrgeld gehabt hätte. Sie hatte es, doch eingedenk seiner Reaktion auf ihre Anspielung, er leide unter Geldknappheit, wollte sie eine Wiederholung dieser Szene nicht riskieren, indem sie anbot, die Fahrt selbst zu bezahlen.

Zum Glück kam der Bus rasch. Er war ziemlich voll, Douglas aber schob sie ohne viel Umstände in die Mitte, wo ein Sitz oder vielmehr ein halber frei war, da die andere Hälfte von einer großzügig proportionierten, mit Päckchen bela-denen Frau in Anspruch genommen wurde, die eine umfangreiche Handtasche auf den Knien hielt, der sie ihr Strickzeug entnommen hatte. Chastity zwängte sich neben sie, und Douglas musste stehen, eine Hand auf der Sitzlehne, während er sich mit der anderen an einer Halteschlaufe festhielt. Er war so groß, dass diese seine Schulter berührte und er sie erreichen konnte, ohne sich danach recken zu müssen.

»Also, welche drängenden Fragen wollten Sie mir stellen?«, erkundigte er sich und gab dem Schaffner einen Sixpence als Fahrpreis, während der Omnibus ruckartig anhielt.

Da Chastitys beleibte Sitznachbarin aussteigen wollte, hatte Chastity Zeit, ihre hastig erfundene Rechtfertigung zu überdenken. Nach den Ereignissen des Nachmittags erschien sie ihr reichlich matt. Mit gemurmelten Entschuldigungen quetschte die Frau sich an ihr vorüber, mit gefährlich baumelnden Päckchen und Stricknadeln, die bedrohlich aus der weit offenen Tasche ragten. Als sie schließlich den Mittelgang überwunden hatte, Entschuldigungen, Püffe und Kratzer im Gefolge, rutschte Chastity auf den von der Vorgängerin angenehm erwärmten Fensterplatz, und Douglas setzte sich neben sie.

»Nun?«, drängte er.

Die Ausrede war matt, aber mehr hatte sie nicht. »Ich war nicht sicher, ob wir uns vor Weihnachten noch einmal sehen würden, und ich habe Ihre Adresse nicht«, sagte sie. »Ich wollte fragen, was Sie für den Aufenthalt auf Romsey planen?«

»Das war die Frage ... mehr nicht?«, äußerte er ungläubig. »Sie folgten mir in die finsteren Abgründe von Earl's Court, um mich etwas so Banales zu fragen?«

»Sie mögen es banal nennen«, stieß Chastity hervor, die nun in die Defensive geraten war. »Als Ihre Gastgeberin finde ich es nicht im Mindesten banal. Beabsichtigen Sie am Heiligen Abend oder am Christtag zu kommen? Und wie lange wollen Sie bleiben? Werden Sie Personal mitbringen? Das sind lauter wichtige Fragen.«

Er legte den Kopf zurück und lachte ohne die geringste Spur von Heiterkeit. »Wichtige Dinge, lieber Gott! Ja, ich nehme an, für manche Menschen sind sie wichtig.« Er drehte den Kopf und fixierte sie. »Wie können Sie nach allem, was Sie heute Nachmittag zu sehen bekamen ... Nein, verzeihen Sie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß sehr wohl, dass man von jemandem wie Ihnen kein Verständnis erwarten kann.«

Von jemandem wie Ihnen. Es war nicht die Kälte, die Chastity frösteln ließ. Wofür hielt er sie denn? Sie war geschockt, entsetzt und voller Mitleid mit diesen Menschen. Unter anderen Umständen hätte sie Douglas Farrell grenzenlos bewundert, doch seine Feindseligkeit verbot ihr das geradezu. Außerdem musste er die Absicht haben, diese Praxis aufzugeben, sobald er sich unter den Reichen und Angesehenen dieser Stadt mit einer vermögenden Frau an seiner Seite niedergelassen hatte. Das alles konnte sie allerdings nicht vorbringen, weil sie ja von der Rolle einer Gattin bei seinen ehrgeizigen Plänen nichts wissen durfte. Auch nichts von der Verachtung, mit der er auf die vornehme Welt, die seine Taschen füllen sollte, herabsah. Dies alles hatte er nur der verschleierten Vermittlerin enthüllt. Und es war genau diese Verachtung, die er ihr den ganzen Nachmittag gezeigt hatte.

Spitz erwiderte sie: »Da Sie diese Menschen wegen einer leichteren und lukrativeren Praxis im Stich lassen wollen, steht es Ihnen nicht zu, mit Steinen zu werfen, Dr. Farrell.«

Er schwieg, denn er hatte ihren Abscheu gesehen, hatte gesehen, wie sie vor den Unglücklichen in seinem Wartezimmer zurückgeschreckt war. Er dachte nicht daran, seinen Atem zu verschwenden und ihr alles zu erklären.

Plötzlich sagte Chastity: »An der nächsten Haltestelle steige ich aus und nehme eine Droschke.« Sie stand auf. Ihr Gesicht wirkte, unter der flackernden Straßenbeleuchtung, die ins Innere des Fahrzeuges fiel, sehr bleich.

Douglas wollte sie aufhalten, wollte sogar eine Entschuldigung versuchen, doch war er von ihrer Blässe beunruhigt, die als Gegensatz zu ihrem roten Haar noch erschreckender wirkte. Er hatte den Eindruck, sie würde in Tränen ausbrechen. »Ich bringe Sie ...«

»Nein, das werden Sie nicht«, unterbrach sie ihn schroff. »Danke, nein. Lassen Sie mich vorbei?«

Er stand auf, und sie drückte sich an ihm vorüber und drängte sich zum Ausgang durch. Er setzte sich wieder, die Lippen zusammengekniffen. Er war nur knapp einer Katastrophe, die alle seine Pläne gefährdet hätte, entgangen. Er war wütend gewesen, weil Chastity ihn in die Zwangslage gebracht hatte, ihr ein Versprechen zu entlocken, als sei St. Mary Abbot's etwas, dessen er sich schämte. Ebenso wütend war er über ihr Auftauchen in seiner Praxis, weil er das Gefühl hatte, das Elend seiner Patienten würde jemandem preisgegeben, der es nicht nachempfinden konnte - aber auch, weil sie eine Bedrohung seiner Privatsphäre und seiner Pläne darstellte.

Aber das alles war keine ausreichende Entschuldigung für sein unmögliches Betragen. Tatsächlich verstand er nicht, was ihn zu diesem dummen Ausbruch von Feindseligkeit bewogen hatte. Meist verbarg er seine echten Gedanken und Gefühle meisterhaft. Er wusste, dass die Erwartung unrealistisch war, jemand aus Chastitys Milieu würde etwas anderes als Abscheu für die elenden Slumbewohner empfinden. Aus dem Gefühl hatte sie ja auch kein Hehl gemacht, so dass es für ihn eigentlich keine Überraschung war. Ebenso wusste er, dass er von einer Frau, die seine Anforderungen erfüllte, nicht erwarten durfte, sie würde zudem noch Verständnis für seine Mission aufbringen. Längst hatte er sich damit abgefunden, dass es ihm genügen musste, wenn seine Partnerin seiner Arbeit nicht ablehnend gegenüberstand.

Aber wie sollte er die Situation retten? Er konnte nicht gut Weihnachten als Gast einer Frau verbringen, die er so tief gekränkt hatte. Und wenn er um Laura della Luca werben wollte, musste er die Möglichkeit dazu haben. Weihnachten unter einem Dach bot ideale Chancen.

Als der Omnibus mit einem Ruck an der Oxford Street hielt, arbeitete Douglas sich zum Ausgang vor und stieg aus. Die Straße war trotz der Kälte sehr belebt, da alle Welt unterwegs war, um Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Er ging in Richtung Wimpole Street und überlegte seinen nächsten Schritt. Er musste unverzüglich versuchen, Chastity zu versöhnen. Zuerst Blumen, dann ein Entschuldigungsbesuch, der gleichzeitig Gelegenheit bot, die für eine Gastgeberin wichtigen Fragen zu beantworten, vorausgesetzt, sie war noch an den Antworten interessiert.

Als Chastity nach Hause kam, fühlte sie sich noch immer emotional ausgelaugt. Sie eilte an Jenkins vorüber, der ihr die Tür geöffnet hatte, ehe sie den Schlüssel ins Schloss stecken konnte.

»Alles in Ordnung, Miss Chas?«

»Ja ... ja, danke, Jenkins. Ich bin nur halb erfroren«, rief sie über die Schulter, als sie die Treppe hinaufstürmte, der ersehnten und vertrauten Abgeschiedenheit ihres Salons entgegen. Hier war es warm, das Feuer loderte, die Lampen brannten. Sie entledigte sich ihrer Überkleider und warf sie über einen Stuhl an der Tür, ehe sie sich in einen tiefen Sessel am Feuer fallen ließ. Die Füße auf das Kamingitter stützend, schloss sie kurz die Augen.

Jenkins klopfte an und trat mit einem Teetablett ein. »Ich dachte, Sie wären einer Tasse Tee nicht abgeneigt, Miss Chas, ... gegen die Kälte.« Er musterte sie besorgt. »Fühlen Sie sich wohl?«

»Aber ja«, sagte sie. »Sehr wohl, danke. Und der Tee ist herrlich.«

»Es liegen auch ein paar von Mrs. Hudsons Ingwerplätzchen bei.« Er stellte das Tablett auf das Tischchen neben ihr. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Die Kälte hat mich nur sehr müde gemacht. Es erschöpft einen, wenn man sich pausenlos bemüht, sich warm zu halten.« Sie goss sich Tee ein. »Ist Lord Duncan zu Hause?«

»Er kam vor etwa zehn Minuten und sagte, er würde heute zum Dinner nicht da sein.«

»Ach?« Sie setzte sich verblüfft auf. »Sagte er, was er vorhat?«

»Eigentlich nicht«, sagte Jenkins. »Er ersuchte mich nur, ich solle seinen Abendanzug bügeln, und Cobham solle um halb acht wieder vorfahren.«

»Ob er in seinen Klub geht?«, spekulierte Chastity.

»Ich habe keine Ahnung, Miss Chas.«

»Aber Sie glauben es nicht«, stocherte sie gewitzt.

»Seine Lordschaft wandte für die Planung mehr Sorgfalt auf als für einen gewöhnlichen Besuch im Klub.« Jenkins entfernte sich mit einer Verbeugung.

Chastity nippte an dem heißen Tee und zerbröselte nachdenklich ein Plätzchen zwischen Finger und Daumen. Plante ihr Vater einen Abend mit der Contessa? Das sah sehr verheißungsvoll aus. Mit zunehmendem Appetit knabberte sie nun an den Plätzchen und trank hin und wieder einen Schluck Tee. Allmählich wich der Schock über die Ereignisse des Nachmittags. Aber eines stand fest: Sie wollte weder mit Dr. Jekyll noch mit Mr. Hyde wieder etwas zu tun haben.

Da fielen ihr die Briefe in ihrer Manteltasche ein. Sie setzte die Teetasse ab, ehe sie aufstand und die Briefe holte. Meist öffneten sie und ihre Schwestern die an The Mayfair Lady gerichtete Post gemeinsam und besprachen ihre Antwortschreiben. Da sie für den nächsten Tag zum Kaffee bei Fortnum and Mason, wo viele ihrer geschäftlichen Treffen stattfanden, verabredet waren, hielt sie es für angebracht, mit dem Öffnen der Briefe zu warten. Douglas Farrells Schreiben tippte sie sich jedoch grübelnd gegen die Handfläche. Was wollte er von The Mayfair Lady ?

Sie konnte nicht widerstehen. Nicht zuletzt, weil er ihr ureigenes Projekt war oder zumindest, korrigierte sie sich, gewesen war. Sie nahm den Brief mit und ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder, um das Schreiben zu öffnen. Mit ihrem Daumennagel riss sie es auf und zog den einzelnen Briefbogen heraus. Den Briefkopf schmückte eine Adresse in der Wimpole Street ... ganz anders als in seinen früheren Briefen, bei denen er Mrs. Beedles Anschrift benutzt hatte.

An alle, die es angeht:

Ich nahm mit der von Ihnen vorgeschlagenen Dame Kontakt auf und stellte fest, dass sie eventuell in Frage kommt. Unser Vertrag sieht jedoch vor, dass Sie mir bis zu drei Kandidatinnen präsentieren. Wenn Sie daher andere mögliche Damen in Ihrer Kartei haben, würde ich mich freuen, auch deren Bekanntschaft zu machen. Sie erreichen mich unter obiger Anschrift. Ihr ergebener Douglas Farrell, Med.univ.

Chastity las die Nachricht mit wachsender Entrüstung. Es war der arrogante Ton, der sie empörte. Laura della Luca war zwar geeignet, doch wollte er noch ein paar Optionen als Reserve. Wir haben es immerhin mit Menschen zu tun, dachte sie, und nicht mit Brotlaiben: Das Vollkornbrot schmeckt mir, doch möchte ich noch eine Kostprobe vom Mischbrot oder Bauernbrot, ehe ich mich entscheide.

Wäre es nach ihr gegangen, so war die Sache erledigt. Die Agentur hatte den Vertrag erfüllt, indem sie Dr. Farrell eine ideale Kandidatin präsentierte, die Aufgabe der Vermittlerin war beendet. Bis auf die Tatsache, dass er natürlich im Recht war. Man schuldete ihm noch zwei weitere Kandidatinnen.

Sie schob den Brief zurück in den Umschlag. Morgen würden sie besprechen, was sie ihm antworten sollten.

Wieder kündigte Jenkins mit einem diskreten Klopfen sein Eintreten an. Er verschwand beinahe hinter dem größten Strauß Gewächshausrosen, den Chastity je gesehen hatte.

»Der Bote der Blumenhandlung gab dies eben für Sie ab, Miss Chas«, verkündete er hinter dieser floralen Wand gedämpft.

»Allmächtiger!« Sie sprang auf. »Wer schickt das?«

»Das sagte der Junge nicht, aber es ist ein Billett beigefügt.« Jenkins legte den Strauß auf das Sideboard. »Ich hole eine Vase ... oder besser zwei.«

»Ja, bringen Sie die große Kristallschale und die Sevres-Vase, bitte«, sagte Chastity und atmete tief den Duft ein, der den Raum erfüllte. »Sie werden wunderschön darin aussehen. Ach, und eine Schere. Ich muss die Stängel zurückschneiden.«

»Sofort, Miss Chas.« Ein paar hängen gebliebene Blätter vom Rockaufschlag streifend, beeilte Jenkins sich, den Wünschen nachzukommen.

Chastity entdeckte das Kärtchen, das an einem Silberband von den Stängeln hing. Sie erkannte die Handschrift sofort, was nicht verwunderlich war, da sie diese eben erst gelesen hatte. Sie drehte das Kärtchen um.

Meine liebe Chastity, können Sie mir mein ungehobeltes Benehmen je verzeihen ? Ich war heute schrecklich. Da es dafür keine Rechtfertigung gibt, versuche ich erst gar nicht, eine zu finden. Bitte nehmen Sie meine tiefe Entschuldigung entgegen. Douglas.

Chastity las die Zeilen noch einmal. Anmutig, elegant - und völlig aufrichtig klingend. Keine phantasievollen Schnörkel, kein Brimborium. Stammte das Schreiben von Jekyll oder Hyde? So oder so, nur ein immens kleinlicher Charakter würde eine solche Entschuldigung nicht akzeptieren. Und kleinlich war Chastity nicht.

Außerdem war sie sehr neugierig. Wie konnte ein weltgewandter, charmanter, attraktiver Mann sich in einen groben Klotz verwandeln ... eine gute Charakterisierung. Mit den Patienten war er alles andere als schroff umgegangen, rief sie sich in Erinnerung, nur mit der unwillkommenen Besucherin. Zugegeben, sie hatte ihm auf dem Weg zu einer sehr privaten Tätigkeit aufgelauert und dafür nur eine höchst fadenscheinige Ausrede vorbringen können.

Es war tatsächlich irgendwie unpassend, über Dinge wie Weihnachtsvorbereitungen und Dienstboten mit einem Mann sprechen zu wollen, der eben zwei Stunden damit zugebracht hatte, sich sehr einfühlsam um die Ärmsten der Armen zu kümmern. Um die elendsten Einwohner dieser riesigen und gleichgültigen Stadt. Wenn ihr nur ein besserer Vorwand eingefallen wäre. Aber er war ja schon grob und schroff gewesen, ehe sie nur den Mund aufgemacht und Weihnachten erwähnt hatte. War es nur, weil sie auf ein dunkles Geheimnis gestoßen war, oder gab es einen anderen Grund?

Sie würde es nicht herausfinden, wenn sie seine Entschuldigung nicht akzeptierte, nicht alles auf sich beruhen ließ und ihre Einladung für Weihnachten nicht erneuerte. Und außerdem hatte sie nach wie vor ihre Rolle als Vermittlerin zu spielen. Die mögliche Heirat von Laura della Luca und Dr. Douglas Farrell lag in ihrer aller Interesse. Für ein paar Tage musste es ihr gelingen, ihre Aversion zu unterdrücken und die zuvorkommende und hilfreiche Gastgeberin spielen.