14
Chastity suchte im Durcheinander der Laken und Decken nach ihrem Morgenmantel, der zusammen mit ihrem Nachthemd irgendwie unters Bett geraten war. Sie schüttelte die Sachen aus und zog sie an, da es bereits zwanzig nach acht war und sie keine Zeit hatte, sich richtig anzukleiden. Außerdem war am Weihnachtsmorgen eine gewisse Lässigkeit durchaus akzeptabel.
Sie griff nach ihrer Haarbürste und zerrte sie durch ihr unmögliches rotes Lockengewirr. Ihre Haut glühte rosig, als hätte sie sich in frischer Luft sportlich betätigt, und ihre Augen strahlten. Sex macht schön, entschied sie, ein Gedanke, der sie zum Lachen brachte. Selbstzufrieden und ein wenig schalkhaft dachte sie bei sich, dass sie sich heute nicht benachteiligt fühlen musste, falls ihre Schwestern die Nacht ähnlich kurzweilig verbracht hatten. Sie suchte im Schrank nach ihren Slippern und rannte aus dem Zimmer.
»Fröhliche Weihnachten, Tante Chas.« Als Chastity den Treppenabsatz erreichte, sprang Sarah, noch im Nachthemd, atemlos und strahlend, zerrauft von Schlaf und Aufregung, die Stufen vom oberen Geschoss herunter, wo sich Kinderzimmer und Schulräume befanden.
»An meinem Bett war ein Strumpf!« Das Mädchen schwang den Wollstrumpf. »Eine Orange war drinnen, ein Gummiball und ein Federhalteretui, eine Packung Farbstifte, eine Schleife und Haarspangen in Form von Schmetterlingen und Libellen in den schönsten Farben. Siehst du, sind sie nicht hübsch?«
Sie kramte im Strumpf begeistert nach diesen Schätzen, und Chastity bewunderte sie geduldig und brachte es fertig, so zu tun, als hätte sie diese Dinge nie gesehen, und ein gefüllter Strumpf am Weihnachtsmorgen wäre für sie eine ebenso große Überraschung wie für Sarah.
»Warst du schon unten?«, fragte sie Sarah und ging einen Schritt auf die Treppe zu.
»Nein, ich bin nicht angezogen«, sagte das Mädchen.
Chastity lachte. »Ich auch nicht, aber am Weihnachtsmorgen gelten andere Regeln. Komm mit und sieh dir den Baum an.«
Sarah hüpfte vor ihr die geschwungene Treppe hinunter und blieb unten angekommen stehen. »Meine Güte, so viele Geschenke habe ich noch nie gesehen.« Der Fuß des Baumes war von einem Stapel verpackter Geschenke verborgen.
»Die sind alle für das Personal bestimmt«, erklärte Chastity, die Sarahs große Augen und ihr Entzücken mit Vergnügen beobachtete. Fast war es, als würde man dieses Staunen selbst zum ersten Mal erleben.
»Kann ich näher heran?«
»Ja, aber nicht drangehen.«
Sarah schien geschockt. »Das würde ich nie tun, Tante Chas. Ich werde doch keine Überraschung verderben.«
»Nein, das würdest du nie.« Chastity ließ das Mädchen allein, das voller Scheu die Schätze aus der Ferne bewundernd betrachtete, und machte sich auf die Suche nach ihren Schwestern und deren Ehegatten.
In einem kleinen Familiensalon im rückwärtigen Teil des Hauses stieß sie auf die Gesuchten. Ein Feuer prasselte im Kamin, die Gaslampen brannten. Die klare Nacht war einem kalten, grau verhangenen Tag gewichen, der Schnee verhieß.
»Frohe Weihnachten«, begrüßte sie die Anwesenden und machte die Runde mit Umarmungen und Küssen. »Ihr seht alle bemerkenswert ordentlich aus - entschuldigt meinen Aufzug.«
»Du hast wohl nicht viel geschlafen«, murmelte Constance mit leicht boshaftem Zug um den Mund, und Chastity spürte verärgert, dass sie errötete.
Sie zog es vor, nicht zu antworten, und bemerkte, wie Max und Gideon es vermieden, einander anzusehen. Offenbar hatten Constance und Prudence ihre Erklärung für die verschlossene Tür ihrer Schwester nicht für sich behalten. Natürlich, das war zu erwarten. Aber sie sah ohnehin keinen Grund, etwas zu leugnen.
»Sarah scheint völlig aus dem Häuschen zu sein«, bemerkte sie beiläufig und ging zum Tisch, um sich Tee einzugießen.
»Ja, so schöne Weihnachten gab es für sie noch nie«, sagte Gideon mit liebevollem, wenn auch ein wenig wehmütigem Lächeln. »Ein Jammer, dass eine Elfjährige noch nie so ein Fest erleben durfte.«
»Ach, und wenn sie es erlebt hätte, wäre sie jetzt schon blasiert«, wandte Prudence ein.
»Ja, es würde sie langweilen«, sagte Chastity. »Sie würde sich viel zu alt vorkommen, um dem Zauber noch zu erliegen.«
»Vielleicht habt ihr Recht.« Aber so ganz überzeugt hörte sich Gideon nicht an.
»Wie dem auch sei«, sagte Constance und lenkte das Gespräch in unverfänglichere Bahnen, »was tun wir hier alle eigentlich in aller Herrgottsfrühe?«
»So früh ist es gar nicht », berichtigte ihr Mann sie sanft.
»Nein, das ist meine Schuld«, sagte Chastity und nahm einen Schluck Tee. »Aber warum diese Geheimnistuerei?«
»Ach«, antwortete Max gedehnt. »Das meint ihr.«
»Ja, das«, äußerte seine Frau mit gespielter Entrüstung. »Los, heraus damit.«
»Was für ein uneleganter Ausdruck«, murmelte Max gequält.
Die drei Schwestern verschränkten wie auf ein Kommando die Arme und musterten die zwei Männer, auf die nun drei funkelnde Augenpaare mit unbeirrbarer Konzentration gerichtet waren, bis Max resigniert die Arme hob. »Ich gebe mich geschlagen, Gideon, und überlasse dir das Wort.«
Gideon drehte sich zu dem Schreibtisch in der Ecke um und nahm einen dicken Umschlag heraus. Er griff hinein und zog ein paar Briefbogen heraus. »Einer für dich, Prudence, einer für Constance und einer für Chastity.« Er überreichte einer jeden ein Dokument, dann nahm er wieder neben seinem Schwager Aufstellung. Beide Männer beobachteten die Frauen.
Die Schwestern lasen die Dokumente, die sie in Händen hielten, dann schauten alle drei mit erstauntem Stirnrunzeln auf. »Was ist das?«, fragte Constance.
»Shoe Lane?«, sagte Prudence sichtlich ratlos. »Was soll das sein, Gideon?«
Chastity sagte langsam: »Es sieht aus wie ein Mietvertrag.«
»Genau«, sagte Gideon und blinzelte Max zu. »Genau das ist es.«
»Aber ein Mietvertrag wofür?«, wollte Prudence wissen.
»Für ein Objekt in der Shoe Lane gleich an der Fleet Street.«
»Aber warum?«, fragte Chastity. »Und wofür?«
»Heute Morgen seid ihr aber ein bemerkenswert begriffsstutziges Trio«, antwortete Gideon. »Ist es nicht sonnenklar, was es ist?«
»Nein, ist es nicht«, erklärte Prudence ungeduldig.
Max lachte. »Nie hätte ich gedacht, den Tag zu erleben, an dem die Duncan-Schwestern sprachlos vor Verwirrung sind.«
»Nein ... Moment mal.« Prudence hob die Hand hoch. »Fleet Street... Presse ...«
»Du hast es erfasst«, sagte ihr Mann. »Verfolge den Gedankengang weiter.«
»Zeitungsredaktionen«, warf Constance ein.
»The May fair Lady«, sagte Chastity. Sie tippte mit dem Finger auf den Vertrag. »Das ist der Mietvertrag für ein Büro, stimmt's?«
»Allerdings«, sagte Gideon. Er und Max lächelten breit. »Wir dachten, es wäre an der Zeit, dass die Zeitung eine offizielle Adresse bekommt, zumal ihr nicht mehr unter einem Dach lebt.«
Die Schwestern atmeten zugleich aus, als ihnen die Bedeutung aufging. »Unsere eigene Redaktion«, murmelte Chastity hingerissen.
»Aber der Name darf nicht an der Tür stehen«, sagte Prudence nachdenklich. »Unsere Anonymität muss gewahrt bleiben. Wir wollen ja nicht, dass uns ständig Inseratenkunden oder Klienten des Vermittlungs-Service überfallen.«
»Richtig. Ich stelle mir vor, dass ihr eine postlagernde Adresse beibehaltet«, sagte Gideon. »Aber das Büro hat ein Telefon, dessen Nummer ihr ruhig in der Zeitung angeben könnt. Das belebt das Geschäft.«
»Ja, das ist richtig«, sagte Constance. »Und natürlich wird sich keiner unserer Bekannten jemals in dieser Gegend zeigen, so dass wir ungefährdet kommen und gehen können.«
»Genau«, sagte Max. »Ihr werdet dort drei Schreibtische vorfinden, drei Schreibmaschinen, zwei Aktenschränke und ein Telefon.«
»Schreibmaschinen?«, wunderte sich seine Frau. »Aber wir können nicht tippen, keine von uns.«
»Dann könnte ich mir denken, dass ihr es lernen werdet«, entgegnete ihr Mann.
»Ja, natürlich werden wir das«, gab Chastity ihm mit glänzenden Augen Recht. »Denkt doch, um wie viel schneller wir damit sein werden, und der Setzer kann es viel besser lesen.«
»Ihr freut euch also?«, fragte Gideon, der ihre Reaktion noch nicht einschätzen konnte.
»Aber ja, wir sind hell begeistert«, rief Prudence aus und schlang ihre Arme um seinen Nacken. »Momentan waren wir wie vor den Kopf geschlagen.«
»Ja, es übersteigt fast das Fassungsvermögen«, sagte Constance. »Aber es ist wundervoll. Vielen Dank euch beiden.«
Die zwei Männer nahmen nun ein wenig selbstgefällig die dreifachen Umarmungen und Küsse hin, mit denen sie bedacht wurden. Doch es dauerte nicht lange, und die Schwestern saßen vor dem Feuer in eifrige Diskussionen darüber vertieft, was dieses Weihnachtsgeschenk mit sich bringen würde. Max und Gideon beließen es dabei und machten sich auf die Fährte nach einem belebenden Frühstück.
Es war eine halbe Stunde später, als die Tür geöffnet wurde und Lord Duncan eintrat. »Ich fragte mich schon, wo ihr alle steckt«, sagte er. »Falls ihr es vergessen habt ... wir haben ein Haus voller Gäste.«
»Nein, das haben wir nicht vergessen, Vater. Es ist nur ... Gideon und Max haben uns ein erstaunliches Weihnachtsgeschenk präsentiert, und wir versuchen nun, uns über seine Bedeutung einig zu werden«, informierte Chastity ihn und setzte ihre Tasse ab.
»Ach? Was ist es denn?«
»Ich bin nicht sicher, dass du es billigen wirst«, meinte Constance lächelnd. »Vielleicht möchtest du es lieber doch nicht wissen.«
»Unsinn«, erklärte er und verschränkte die Hände im Rücken. »Heraus damit.«
Prudence erklärte es ihm, und Lord Duncan schüttelte ein wenig grollend den Kopf und sagte schließlich: »Tja, was passiert ist, ist eben passiert, nehme ich an. Es handelt sich um erwachsene Männer, und wenn sie ihre Frauen in ihrem Irrsinn bestärken wollen, dann ist das ihre Sache.« Er wandte sich zum Gehen. »Vielleicht solltet ihr jetzt mal lieber Ordnung in das Chaos dieses Morgens bringen.«
»Kein Chaos, Vater«, protestierte Chastity, die aufstand, sich streckte und gähnte. »Es ist ja erst Frühstückszeit.«
»Und du bist noch im Nachthemd«, machte ihr Vater sie leicht konsterniert darauf aufmerksam. »Und deine Stieftochter, Prudence, wartet schon sehr ungeduldig auf den Beginn der Feier.«
»Wir kommen gleich«, beruhigte Prudence ihn. »Chas zieht sich vorher an, nicht wahr?«
»Sofort«, zeigte sich ihre jüngere Schwester bereitwillig. »In einer halben Stunde bin ich fertig.«
Lord Duncan, der abermals einen grollenden Ton hören ließ, marschierte hinaus und ließ seine schuldbewusst lachenden Töchter zurück. »Er nimmt seine Pflichten als Gastgeber aber sehr ernst«, bemerkte Chastity.
»Ach, daran ist sicher die Contessa schuld«, folgerte Constance. »Früher hat er sich um die Hauspartys nie gekümmert und war heilfroh, wenn er die Organisation uns und die gesellschaftlichen Pflichten den Tanten überlassen konnte.«
»Na, ich ziehe mich lieber an, ehe er sich noch mehr aufregt«, entschied Chastity und ging zur Tür.
»Was letzte Nacht passierte, kam noch nicht zur Sprache«, hielt Prudence sie auf. »Sollen wir, Chas?«
Chastity setzte sich abrupt auf die Armlehne eines Sofas und schwang einen im Slipper steckenden Fuß. »Er weiß, dass ich kein Geld habe«, sagte sie und sprach die Gedanken aus, die sie auch unbewusst im Schlaf heimgesucht hatten. »Deshalb wird er nur eine kurze leidenschaftliche Affäre suchen. Und dieses Weihnachtsgeschenk kann ich mir doch gönnen, meint ihr nicht?«
»Bist du sicher, dass es nicht komplizierter werden könnte?«, fragte Constance direkt.
Chastity sog an ihrer Unterlippe und überlegte mit so viel Klarsicht, wie sie aufbringen konnte. »Das kann es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich kann ihm unmöglich eröffnen, dass ich die Pseudo-Französin in der National Gallery war ... Er darf auch nicht erfahren, dass wir drei hinter dem Vermittlungs-Service stecken. Er wäre so gedemütigt, dass er mir nie verzeihen würde. Deshalb nehme ich diese weihnachtliche Affäre als Geschenk der Götter an, und wenn wir wieder in London sind, suchen wir für ihn eine andere Frau. Letzte Nacht wäre nicht passiert, wenn er Laura als mögliche Braut ins Auge gefasst hätte. Er ist nicht der Typ, der aus der Reihe tanzt und eine Liebschaft anfängt, wenn er ernsthaft um jemanden wirbt.«
»Bist du sicher?« Es war Prudence, die diese Frage stellte und ihre Schwester mit zusammengekniffenen Augen beobachtete.
»Ja«, sagte Chastity, und ihre Schwestern konnten das Seufzen in ihrem Ton fast heraushören. »Er ist offen und zielstrebig. Er weiß, was er will, geht los und holt es sich. Er schämt sich dessen nicht, was er tut oder welcher Mittel er sich zur Erreichung seines Zieles bedient. Aber ich konnte ihm bei seiner Arbeit zusehen.«
Sie musterte ihre Schwestern. In ihren Augen lagen Traurigkeit und Überzeugung. »Ein Mann, der zu so viel selbstloser Hingabe fähig ist, begeht keinen Betrug.« Sie senkte den Blick auf ihren schwingenden Fuß und fing den heruntergleitenden Hausschuh mit den Zehen auf. »Und ich bin sicher, er würde sich betrogen vorkommen, wenn er von meinem Schwindel erfährt. Deshalb darf er es nie erfahren. Und deshalb kann es nie kompliziert werden. Wir werden eine kurze und süße Liaison miteinander haben.« Von der Armlehne gleitend, winkte sie ihnen im Hinausgehen aufmunternd zu.
Constance zog eine Braue hoch, als sich hinter ihrer jüngsten Schwester die Tür schloss. »Die Dame protestiert zu laut...«
»Das scheint mir genauso«, gab Prudence ihr Recht. »Falls Chas sich in Douglas verknallt hat, wird sie leiden müssen, sosehr sie auch vorgibt, dass es nur ein leichter Flirt ist.«
»Chas schläft nicht mit ihren leichten Flirts«, bemerkte Constance. »Im Moment können wir nichts tun. Wenn wir aber wieder in London sind ...«
»Mal sehen«, sagte Prudence. »Ich mache mich jetzt auf die Suche nach Gideon und Sarah. Wir gehen heute mit Sarah und Mary zur Kirche, wenn auch eine doppelte Dosis von Dennis' Weihnachtspredigt reichlich übertrieben ist. Was ist mit dir und Max?«
»Ich glaube nicht, dass Max besonders begeistert wäre. Er ist nicht eben gottesfürchtig«, wehrte Constance lachend ab. »Eine Weihnachtspredigt reicht ihm.«
Chastity öffnete die Tür ihres Zimmers und hielt erstaunt inne. Douglas saß im Armsessel am Fenster und las eine Nummer von The Mayfair Lady. Er stand lächelnd auf, als sie eintrat.
»Ich habe auf dich gewartet », sagte er. »Ich dachte, früher oder später müsstest du hier auftauchen.« Damit legte er die Zeitung beiseite und querte den kleinen Raum mit ausgestreckten Händen. Er ergriff ihre Hände mit warmem und festem Griff. Dann beugte er sich über sie und küsste sie auf den Mund. »Störe ich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hätte nicht erwartet, hier jemanden anzutreffen.«
»Du warst mit deinen Schwestern sehr lange allein«, sagte er, als ob das eine Erklärung für seine Anwesenheit sei, und ließ ihre Hände los.
»Ja, ich weiß.« Chastity deutete mit einer ausholenden Geste auf ihr Nachthemd. »Ich bin noch immer nicht angezogen. Gideon und Max hatten für uns alle ein Geschenk, und wir brauchten lange, um seine Bedeutung richtig zu würdigen.« Ihr Blick zuckte unwillkürlich zu der Ausgabe von The Mayfair Lady, die Douglas zur Seite gelegt hatte.
Er folgte ihrem Blick und sagte: »Du scheinst ja eine eifrige Leserin des Blattes zu sein. Überall finde ich es bei dir vor.«
»Ach ja, wie ich schon sagte, hat es für uns eine besondere Bedeutung«, sagte sie und nutzte die Chance, die Saat zu düngen, die ihre Schwestern gesät hatten. »Mein Vater verlor den Großteil seines Vermögens an den Mann, der diese Zeitung auf Verleumdung verklagte. Natürlich bekam Vater sein Vermögen nicht zurück, doch war es eine gewisse Genugtuung, dass der Earl des Betruges überführt wurde.« Sie öffnete den Kleiderschrank. »Die Familie hat jetzt kein Geld mehr, aber wir schlagen uns irgendwie durch.«
»Ich bin nicht sicher, ob Lord Duncans finanzielle Situation mich etwas angeht«, wehrte Douglas ab.
»Ach, das wissen doch alle«, sagte Chastity obenhin und mit erstickter Stimme, während sie unter den Sachen in ihrem Schrank kramte. »Wir haben keine Geheimnisse.« Sie schloss die Augen ob der Lüge und verkroch sich noch tiefer im Schrank.
»Wie dem auch sei«, sagte er. »Könntest du da mal hervorkommen, da ich nicht grundlos hier Wurzeln geschlagen habe.«
Chastity krabbelte rücklings aus dem Schrank, wohl wissend, dass ihre Wangen ziemlich gerötet waren. Douglas drehte sich seitlich zum Sessel und griff nach einem hübsch verpackten Päckchen. »Ich wollte dir mein Weihnachtsgeschenk unter vier Augen überreichen.« Während er es ihr hinhielt, lag ein leicht ängstliches Lächeln auf seinem Gesicht und in den dunklen Augen.
»Oh«, sagte sie, nahm das Päckchen entgegen und drehte es hin und her. »Aber ich habe nichts Besonderes für dich. Wir besorgen nur Kleinigkeiten für alle, um sie unter den Christbaum zu legen.«
»Es bedarf keiner Erwiderung«, sagte er leise. »Pack es aus.«
Chastity kämpfte mit den Bändern und wickelte es dann aus dem Papier. »Himmel«, strahlte sie. »Wie schön!« Sie schüttelte die Falten des Tuches aus. Dabei fielen die Bernsteinperlen zu Boden. Douglas bückte sich, um sie aufzuheben.
»Die sind ja hinreißend, einfach perfekt«, jubelte sie entzückt, als er sie hochhielt. »Und sie passen zum Tuch. Wie klug von dir.« Sie umfing sein Gesicht und küsste ihn. »Ich komme mir so schlecht vor, weil ich nichts für dich habe.«
»Das sollst du nicht«, sagte er mit gefurchter Stirn. »Es genügt mir zu wissen, dass dir die Geschenke gefallen. Du würdest mir die Freude am Schenken nehmen, wenn du dir jetzt den Kopf über eine entsprechende Revanche zerbrichst.«
Sie nickte und akzeptierte, dass er Recht hatte, und küsste ihn wieder. »Ich werde sie heute tragen. Ich besitze ein Kleid, das genau dazu passt.«
»Zeig es mir.« Er ging an den noch immer offenen Schrank.
»Was verstehst du denn von weiblicher Garderobe?«, neckte sie ihn.
»Dank meiner sechs Schwestern sehr viel«, versicherte er ihr und ging die Kleider durch, die an der Stange hingen. »Also, mal sehen ...«
»Hör zu«, sagte sie lachend. »Ich werde jetzt mein Bad nehmen, inzwischen kannst du etwas für mich aussuchen.«
»Na schön«, sagte er aus den Tiefen des Schrankes. »Geh und mach das. Wenn du die Tür nicht abschließt, komme ich in einer Minute und wasche dir den Rücken.«
»Das halte ich für keine gute Idee.« Chastity ging zur Tür. »Auf diese Weise kämen wir nie hinunter, und auf mich warten Gäste.«
»Na ja ...« Douglas stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Dann muss ich mich eben zurückhalten.«
»Zügeln«, sagte Chastity. »So nennt man das.«
»Zügeln und mich in Keuschheit üben«, sagte er mit einem Blick über die Schulter, eine Hand voll maisgelber Seide ans Licht haltend.
Sie lachte und ließ ihn allein, ehe sie der Versuchung erliegen konnte.
Sie beeilte sich im Bad, und als sie in ihr Zimmer zurückkam und es leer vorfand, empfand sie einen Anflug von Enttäuschung. Das maisfarbige Seidenkleid lag auf dem Bett, das Tuch war kunstvoll darüber drapiert, darauf lagen die Bernsteinperlen. Eine perfekte Kombination, wie sie zugeben musste. Dr. Farrell hatte tatsächlich ein Auge für diese Dinge.
Als sie schließlich angekleidet war, eilte sie hinunter. Die Kirchgänger waren bereits unterwegs, und der Frühstückstisch war abgeräumt, so dass sie gleich weiter in die Küche ging, wo Mrs. Hudson das Regiment über blubbernde Suppen und Soßen, Bratgänse und dampfenden Weihnachtspudding führte.
»Frohe Weihnachten, Mrs. Hudson. Kann ich etwas tun?«, fragte Chastity, als sie sich eine Scheibe Brot abschnitt und aus der Speisekammer Butter und Marmelade holte.
»Nein, nein, nichts, Miss Chas«, wehrte die Haushälterin freundlich ab. »Alles läuft bestens. Um ein Uhr steht der Lunch auf dem Tisch.«
»Wunderbar, Jenkins habe ich heute noch gar nicht gesehen.« Chastity bestrich das Brot dick mit Butter und Marmelade. »Ich wollte wissen, wann morgen die Bescherung für das Personal sein soll.«
»Er ist mit dem Silber in der Pantry«, sagte Mrs. Hudson, die Hände tief in einer Schüssel mit Salbei-Zwiebel-Füllung.
Chastity nickte, den Mund voller Marmeladebrot, und ging in die Butler-Pantry, wo Jenkins mit Filzschürze dasaß und das Silberbesteck polierte. »Sollte das nicht jemand anderer machen, Jenkins?«, fragte Chastity.
»Keinesfalls, Miss Chas. Das Silber gehört zu meinen Obliegenheiten«, erwiderte Jenkins entsetzt. »Ich würde es niemandem anvertrauen.«
Chastity lächelte und machte keine weiteren Einwände. Sie stellte ihre Frage, bekam die Antwort und ging wieder in den Haupttrakt des Hauses. Auf der Suche nach den anderen durchschritt sie die verschiedenen Gesellschaftsräume, in denen gespannte Vorfreude zu herrschen schien, so als hielten die Wände den Atem an und warteten, dass etwas begänne. Die Kerzen auf dem Baum brannten, Feuer prasselte im großen Kamin in der Halle sowie im Salon und in der Bibliothek. Kein Mensch war zu sehen. Sie wusste, dass Prudence und ihre Familie zur Kirche gegangen waren und die Tanten sie allem Anschein nach begleitet hatten, doch war nirgends eine Spur von ihrem Vater, von Max, Constance oder den della Lucas zu entdecken. Am auffallendsten aber erschien es ihr, dass Douglas Farrell durch Abwesenheit glänzte.
»Es fängt zu schneien an, Miss Chas«, sagte Madge, die mit einem Kohleneimer aus dem Küchenbereich auftauchte. »Weiße Weihnachten ... wie es sich gehört.«
Chastity lief zur Haustür und öffnete. Ein Schwall kalter Luft drang herein. Sie schloss die Tür hinter sich und blieb auf der obersten Stufe stehen, die Arme fest vor der Brust verschränkt. So blickte sie zum bleiernen Himmel auf, aus dem lautlos dicke weiße Flocken herunterschwebten. Kein Vogel war zu hören, kein Laut von irgendwoher, während der Boden allmählich unter einem jungfräulich weißen Belag verschwand.
Dann hörte sie Stimmen, den tiefen Bariton ihres Vaters, die höhere, angenehme Stimme der Contessa, in die sich Lauras dünnes Trillern mischte. Die Gruppe, die nun um die Hausecke bog, beeilte sich im Schnee, gefolgt von Douglas mit einigen Schritten Abstand. Er sieht ein wenig verstimmt aus, dachte Chastity, bis er den Kopf hob und sie dastehen sah.
Er ging schneller und überholte die anderen, als er zur Tür lief. »Meine Liebe, Sie werden sich den Tod holen«, sagte er besorgt. »Sie haben ja nicht einmal einen Mantel an. Gehen Sie hinein.« Er nahm ihren Ellbogen und schob sie zurück in die Wärme der Halle.
»Ich habe meinen Schal«, sagte sie und befingerte das feine Material. »Er ist so groß, dass er als Umschlagtuch dienen kann.«
»Für draußen war er nicht gedacht«, schalt er und lächelte dann. »Aber er passt dir einmalig.«
»Ja«, sagte sie und sonnte sich in der Wärme seines Lächelns, im Wissen um geteilte Leidenschaft. »Ich weiß.«
»Hereinspaziert, liebe Contessa, nur herein«, drängte Lord Duncan, der im Eingang den Schnee von den Schuhen trat. »Wir hätten uns gar nicht ins Freie wagen sollen. Ich wusste ja, dass es schneien würde. Geben Sie mir Ihren Mantel, Miss della Luca, und gehen Sie ans Feuer. Sie sehen total erfroren aus.«
Laura wirkte tatsächlich erfroren - weiß und noch spitzer als sonst, mit bläulichen Lippen. »Die Kälte bin ich nicht gewohnt, Lord Duncan«, erklärte sie übertrieben zitternd. »Das Klima hier ist wirklich brutal.«
»Völlig unzivilisiert«, stimmte Chastity zu. »Kommen Sie ans Feuer. Ich bringe Ihnen Kaffee oder etwas anderes, das Sie wärmt.«
»Whiskey«, verkündete Lord Duncan. »Das einzig Wahre ... Nichts kann sich mit ihm messen.«
Laura verzog den Mund zu einem angewiderten Schmollen. »Danke, Lord Duncan, aber ich rühre scharfe Getränke nicht an.«
Seine Lordschaft, verblüfft ob dieser Erklärung, überging diese Absonderlichkeit dezent und wandte sich an die Contessa. »Sie, meine Liebe, trinken sicher ein Gläschen mit mir. Ich will es gleich holen. Sie auch, Farrell! Sie können einen Whiskey gebrauchen.« Ohne auf Antwort zu warten, enteilte er in die Bibliothek und zu den Karaffen.
»Möchten Sie Kaffee, Laura?«, fragte Chastity, der die junge Frau Leid tat, da sie wirklich erfroren und elend aussah. »Oder vielleicht warme Milch oder heiße Schokolade.«
»Kaffee, vielen Dank.« Laura seufzte. »Natürlich versteht sich niemand so darauf, Kaffee zu machen wie die Italiener.«
Chastity rollte die Augen himmelwärts und erhaschte den Schimmer eines unverkennbar spöttischen Lächelns von Douglas Farrell. Jetzt fing dieser Unsinn wieder an. »Wir tun unser Bestes, Laura«, sagte sie. »Ich werde dafür sorgen, dass man den Kaffee für Sie besonders stark macht. Gehen Sie doch in den Salon, dort zieht es weniger als in der Halle. Douglas, würden Sie Laura und die Contessa an den Kamin im Salon begleiten? Oder haben Sie gar ein Mittel gegen Erkältung zur Hand?«
»Es gibt nichts, was gegen Erkältung schützt«, gab Douglas ein wenig brüsk zurück. »Ich habe etwas dabei, das die Symptome lindert. Aber ich glaube gar nicht, dass Sie sich erkältet haben. Ein warmes Feuer und eine Tasse Kaffee werden Sie wieder aufbauen.« Douglas, der eine halbe Stunde lang Lauras unausgesetzte Klagen über das barbarische englische Landleben und die englische Gastfreundschaft im Allgemeinen über sich ergehen hatte lassen, bot ihr einen Arm, reichte den anderen ihrer Mutter und geleitete sie in den Salon.
Constance kam die Treppe herunter, als Chastity mit einem Kaffeetablett aus der Küche auftauchte. »Ich holte ihn selbst«, erklärte Chastity. »Alle sind beschäftigt. Die Küche ähnelt einem wahren Inferno - überall dampfende Töpfe und spritzendes Fett.«
Constance nickte verständnisvoll. »Der Schal ist herrlich, Chas. Auch die Perlen. Die kenne ich noch gar nicht.«
»Nein.« Chastity ging mit dem Tablett zur Salontür. »Ein Weihnachtsgeschenk.«
»Ach«, sagte Constance mit verständnisinnigem Lächeln. »Von wem denn?«
»Zerbrich dir nur nicht zu sehr den Kopf«, konterte ihre Schwester und betrat den Salon. »Kaffee, Laura ... hoffentlich nach Ihrem Geschmack ... ich habe ihn selbst gekocht.« Sie stellte das Tablett auf einen niedrigen Tisch. »Zucker? Sicher hilft er gegen Erkältung.«
»Nur ein Stück«, bat die Dame matt aus einem Armsessel heraus, der so nahe am Feuer stand, dass sie mit ihm ans Kamingitter stieß. »Und einen Hauch Sahne.«
Chastity goss Kaffee ein und reichte ihr die Tasse. »Douglas, möchten Sie auch Kaffee?«
»Nein, ich warte auf den Whiskey, danke.«
»Ach, das höre ich gern«, erklärte Lord Duncan von der Tür her. In einer Hand trug er eine Karaffe, in der anderen hielt er mit den Fingern drei geschliffene Gläser. »Constance, meine Liebe, möchtest du Whiskey?«
Seine Älteste schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es ist noch zu früh für mich, außerdem habe ich keinen Spaziergang in der Kälte als Entschuldigung hinter mir. Ich nehme Kaffee.«
Das Zuschlagen der Haustür und ein wachsendes Crescendo an Stimmen kündigte die Rückkehr der Kirchgänger an. Sarah hüpfte ihren Eltern voran in den Salon. Ihre Wangen glühten vor Kälte, Schneeflocken hafteten an Hütchen und Schal. »Weiße Weihnachten«, rief sie aus und breitete die Arme vor dem Fenster aus. »Ist das nicht perfekt? Es könnte nicht perfekter sein.«
»Nein, wirklich nicht«, meinte Chastity. »Und du weißt, was jetzt kommt.«
»Geschenke«, sagte Sarah und wickelte den langen Schal vom Hals. »Ich bin ja so aufgeregt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so aufgeregt war. Stimmt's, Papa?«
Gideon schüttelte ernst den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Wenn um eins gegessen wird, sollten wir mit der Bescherung nicht länger warten«, sagte Tante Agatha. »Meinst du nicht auch, Edith? Die Dienstboten werden sicher schon feiern wollen.«
»Ja, natürlich, Tante Agatha, du hast ganz Recht.« Chastity wechselte einen viel sagenden Blick mit ihren Schwestern. Die Tanten hielten gern den Anschein aufrecht, sie stünden dem Haushalt ihres Bruders vor, eine Fiktion, die zu korrigieren die Schwestern erst gar nicht versuchten.
»Gebt uns fünf Minuten, um die Mäntel abzulegen«, sagte Prudence. »Wir sind voller Schnee.«
»Dazu brauche ich keine drei Minuten«, erklärte Sarah und lief zur Tür. »Kommst du mit, Mary?«
Mary Winston lächelte. »Ich bin dir auf den Fersen.«
Prudence folgte ihnen und blieb nur stehen, um zu Chastity zu bemerken: »Hübsche Perlen, Chas. Und der Schal gefällt mir besonders. Beides kenne ich noch gar nicht.«
»Nein. Ich besitze beides erst seit heute Morgen.«
Der Blick ihrer Schwester flog zu Douglas Farrell, der mit seinem Whiskey neben dem Kamin stand. Ihre Brauen hoben sich unmerklich, dann neigte sie den Kopf, als wolle sie ihm ein Kompliment machen, und folgte Stieftochter und Gatten hinaus.