KAPITEL 14

Warum treffen manche Gesellschaften katastrophale Entscheidungen ?

Wegweiser zum Erfolg ■ Mangelnde Voraussicht ■ Mangelnde Wahrnehmung ■ Rationales negatives Handeln ■ Katastrophale Wertvorstellungen ■ Andere irrationale Fehlentscheidungen ■ Gescheiterte Lösungsansätze ■ Zeichen der Hoffnung

Jeder Unterrichtprozess hat zwei Beteiligte, die angeblich unterschiedliche Rollen spielen: Der Lehrer vermittelt sein Wissen an die Schüler, und die Schüler nehmen das Wissen vom Lehrer auf. In Wirklichkeit wird jeder aufgeschlossene Lehrer bemerken, dass die Schüler im Lauf des Unterrichts auch Wissen an den Lehrer vermitteln, indem sie die Annahmen des Lehrers anzweifeln und Fragen stellen, an die der Lehrer zuvor nicht gedacht hatte. Diese Entdeckung machte ich vor einiger Zeit wieder einmal, als ich vor hoch motivierten Studienanfängern an meiner Universität, der University of California in Los Angeles (UCLA), ein Seminar hielt. Wir sprachen darüber, wie Gesellschaften mit Umweltproblemen umgehen. Das Seminar war eigentlich ein Probelauf für den Stoff dieses Buches: Ich hatte damals gerade einige Kapitel entworfen, andere befanden sich in der Planung, und ich konnte sie noch in großem Umfang abändern.

Nach der Einführungsstunde hielt ich meinen ersten Vortrag über den Zusammenbruch der Gesellschaft auf der Osterinsel, der in diesem Buch das Thema des zweiten Kapitels bildet. Nachdem ich mit meiner Darstellung fertig war, kam in der Diskussion eine scheinbar einfache Frage auf, die meine Studenten vor ein Rätsel stellte und in Wirklichkeit viel schwieriger war, als ich es mir bis dahin klargemacht hatte: Wie um alles in der Welt konnte eine Gesellschaft die so offenkundig katastrophale Entscheidung treffen, alle Bäume zu fällen, auf die sie angewiesen war?

Ein Student fragte, was der Inselbewohner, der die letzte Palme fällte, dabei nach meiner Einschätzung wohl gedacht habe. Auch im Zusammenhang mit allen anderen Gesellschaften, auf die ich in späteren Vorträgen zu sprechen kam, stellten meine Studenten im Wesentlichen die gleiche Frage. Und auch zu einem anderen, ähnlichen Thema verlangten sie Auskunft: Wie oft richten Menschen absichtlich oder zumindest im Bewusstsein der voraussichtlichen Folgen ökologische Schäden an? Meine Studenten fragten sich, ob die Menschen in 100 Jahren - falls es bis dahin noch Menschen gibt - sich über unsere Blindheit heute ebenso wundern würden, wie wir uns über die Blindheit der Bewohner auf der Osterinsel wundern.

Diese Frage, warum Gesellschaften sich am Ende durch katastrophale Entscheidungen selbst zerstören, stellt nicht nur meine Studienanfänger an der UCLA vor ein Rätsel, sondern auch professionelle Historiker und Archäologen. Der Archäologe Joseph Tainter zum Beispiel bewertet in seinem Werk The Collapse of Complex Societies, dem vielleicht am häufigsten zitierten Buch über Gesellschaftszusammenbrüche, verschiedene Erklärungen für solche Ereignisse in der Geschichte. Dabei äußert er sich skeptisch gegenüber dem Gedanken, sie könnten auf die Erschöpfung ökologischer Ressourcen zurückzuführen sein, weil ihm ein solches Ergebnis von vornherein sehr unwahrscheinlich erscheint. Er stellt folgende Überlegung an: »Diese Ansicht setzt zwangsläufig voraus, dass eine Gesellschaft ihrer eigenen Schwächung untätig zusieht, ohne korrigierend einzugreifen. Hier liegt eine wichtige Schwierigkeit. Charakteristische Merkmale komplexer Gesellschaften sind zentralisierte Entscheidungsprozesse, umfangreicher Informationsaustausch, starke Koordination der Einzelteile, formalisierte Befehlskanäle und die Bündelung von Kräften. Viele dieser Strukturen haben die Fähigkeit oder wurden sogar zu dem Zweck geschaffen, Schwankungen und Mängeln der Produktivität entgegenzuwirken. Mit ihren Verwaltungsstrukturen und ihrer Fähigkeit, Arbeitskräfte und Ressourcen zuzuweisen, dürfte der Umgang mit widrigen ökologischen Bedingungen zu den Dingen gehören, die komplexe Gesellschaften am besten bewältigen. Es erscheint seltsam, dass sie zusammenbrechen sollen, wenn sie ausgerechnet mit den Bedingungen konfrontiert werden, zu deren Bewältigung sie ausgestattet sind. Wenn für die Angehörigen einer komplexen Gesellschaft oder ihre Verwalter erkennbar wird, dass eine grundlegende Ressource zur Neige geht, scheint es die vernünftigste Annahme zu sein, dass rational begründete Schritte zu einer Lösung unternommen werden. Die umgekehrte Annahme - Untätigkeit angesichts der Katastrophe - erscheint so unplausibel, dass wir zu Recht ins Grübeln geraten.«

Tainters Gedankengang veranlasst ihn also zu dem Schluss, eine komplexe Gesellschaft werde wahrscheinlich nicht zulassen, dass es durch fehlerhafte Bewirtschaftung der ökologischen Ressourcen zum Zusammenbruch kommt. Alle in diesem Buch erörterten Fälle zeigen aber sehr deutlich, dass ein solches Versagen immer wieder vorgekommen ist. Wie konnten so viele Gesellschaften derart schwer wiegende Fehler begehen?

Meine Studienanfänger an der UCLA und auch Joseph Tainter stießen auf ein verblüffendes Phänomen: Das Versagen der Entscheidungsprozesse in ganzen Gesellschaften oder gesellschaftlichen Gruppen. Dieses Problem steht natürlich im Zusammenhang mit dem Versagen individueller Entscheidungsprozesse. Auch Einzelpersonen treffen Entscheidungen: Sie lassen sich auf eine schlechte Ehe ein, legen ihr Geld schlecht an, entscheiden sich für den falschen Beruf, scheitern mit ihren Firmen und so weiter. Wenn Gruppen falsche Entscheidungen treffen, kommen jedoch einige weitere Faktoren hinzu, beispielsweise Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedern der Gruppe und die Gruppendynamik. Wie man leicht erkennt, haben wir es hier mit einem komplizierten Thema zu tun, bei dem es keine einfache, auf alle Situationen passende Lösung gibt.

Ich möchte stattdessen eine Reihe von Faktoren benennen, die in Gruppen zu fehlerhaften Entscheidungen beitragen. Diese Faktoren werde ich in vier unscharf abgegrenzte Kategorien einteilen. Erstens sieht eine Gruppe ein Problem unter Umständen nicht voraus, bevor es tatsächlich da ist. Zweitens nimmt die Gruppe das Problem unter Umständen nicht wahr, wenn es bereits eingetreten ist. Nachdem sie es dann wahrgenommen hat, versucht sie drittens unter Umständen nicht einmal, eine Lösung zu finden. Und wenn sie es schließlich zu lösen versucht, gelingt dies unter Umständen nicht. Die nun folgende Erörterung der Gründe für falsche Entscheidungen und Gesellschaftszusammenbrüche mag deprimierend erscheinen, sie hat aber eine ermutigende Kehrseite: Entscheidungen können auch erfolgreich sein. Wenn wir verstehen, warum Gruppen so häufig falsche Entscheidungen treffen, können wir vor dem Hintergrund dieses Wissens möglicherweise Kriterien aufstellen und diese als Leitfaden für gute Entscheidungen nutzen.

Die erste Station auf meinem Weg ist die Erkenntnis, dass Gruppen unter Umständen katastrophale Handlungen begehen, weil sie ein Problem nicht voraussehen, bevor es sich tatsächlich eingestellt hat. Das kann mehrere Gründe haben. Unter Umständen hat die Gruppe mit dem betreffenden Problem noch keine Erfahrungen, sodass sie dafür nicht sensibilisiert ist.

Ein Musterbeispiel für dieses Prinzip ist das Chaos, das britische Siedler sich selbst bescherten, als sie im 19. Jahrhundert Füchse und Kaninchen aus Großbritannien nach Australien brachten. Beide gelten heute als katastrophale Beispiele dafür, wie eingeschleppte Arten sich in einer Umwelt auswirken können, zu der sie ursprünglich nicht gehören (Einzelheiten in Kapitel 13). Besonders tragisch ist der Fall, weil sie - anders als viele schädliche Unkräuter - nicht unabsichtlich in Form winziger Samenkörner eingeschleppt wurden, die man in einem Heutransport übersehen hatte, sondern absichtlich und erst nach großen Anstrengungen. Im weiteren Verlauf rotteten die Füchse viele einheimische australische Säugetierarten aus, die in ihrer Evolution keine Erfahrung mit solchen natürlichen Feinden gesammelt hatten, und Kaninchen verzehrten einen großen Teil der Pflanzen, die als Futter für Schafe und Rinder vorgesehen waren, gewannen in der Konkurrenz gegenüber einheimischen Pflanzenfressern die Oberhand und schädigten den Boden mit ihren Bauten.

Aus der vorteilhaften Perspektive des Rückblicks erscheint es uns heute unglaublich dumm, dass die Siedler in Australien absichtlich zwei fremde Säugetiere freiließen, die mittlerweile durch unmittelbare Schäden und Bekämpfungsmaßnahmen Kosten in Milliardenhöhe verursacht haben. Heute wissen wir aus vielen anderen, ähnlichen Beispielen, dass die Einführung fremder Arten sich sehr häufig aus ganz unerwarteten Gründen als Katastrophe erweist. Deshalb wird man heute als Besucher oder zurückkehrender Einwohner bei der Einreise nach Australien, in die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union vom Grenzbeamten sofort gefragt, ob man Pflanzen, Samen oder Tiere bei sich hat: Damit soll die Gefahr vermindert werden, dass solche Organismen freigesetzt werden und sich ausbreiten. Aus einer Fülle früherer Erfahrungen haben wir heute (häufig, aber nicht immer) gelernt, zumindest die potenziellen Gefahren eingeschleppter biologischer Arten vorauszusehen. Aber selbst professionelle Ökologen können häufig nicht voraussagen, in welchen Fällen die Einbürgerung solcher Arten gelingt, wann eine solche erfolgreiche Einbürgerung sich als Katastrophe erweist und warum die gleiche Art sich an manchen Stellen nach dem Einschleppen durchsetzt, an anderen jedoch nicht. Deshalb sollten wir uns eigentlich nicht wundern, dass die Australier des 19. Jahrhunderts, die noch nicht unsere Erfahrungen mit den katastrophalen Folgen des Einschleppens gemacht hatten, die Auswirkungen der Kaninchen und Füchse nicht voraussahen.

In diesem Buch haben wir zahlreiche weitere Fälle kennen gelernt, in denen Gesellschaften verständlicherweise ein Problem nicht voraussahen, weil sie zuvor damit noch keine Erfahrung gemacht hatten. Als die grönländischen Wikinger stark in die Walrossjagd investierten, um das Elfenbein der Tiere nach Europa zu exportieren, konnten sie wohl kaum voraussehen, dass die Kreuzzüge den Europäern wieder den Zugang zu asiatischem und afrikanischem Elefanten-Elfenbein eröffnen würde, sodass für Walross-Elfenbein kein Bedarf mehr bestand. Ebenso wenig konnten sie wissen, dass immer mehr Meereis den Schiffsverkehr nach Europa behindern würde. Und die Maya von Copan, die schließlich keine Bodenkundler waren, konnten nicht voraussehen, dass der Boden von den Berghängen nach der Zerstörung der Wälder in die Täler gespült werden würde.

Aber auch frühere Erfahrungen bieten nicht die Gewähr, dass eine Gesellschaft ein Problem voraussieht. Unter Umständen ist die Erfahrung schon so alt, dass sie in Vergessenheit geraten ist. Dieses Problem stellt sich insbesondere bei Gesellschaften, in denen sich keine Schrift entwickelt hat, sodass sie die Erinnerung an längst vergangene Ereignisse mit den begrenzten Möglichkeiten der mündlichen Überlieferung viel weniger gut aufrechterhalten können. Wie wir beispielsweise in Kapitel 4 erfahren hatten, überstand die Gesellschaft der Anasazi im Chaco Canyon mehrere Trockenperioden, bevor sie im 12. Jahrhundert durch eine große Dürre zugrunde ging. Die früheren Dürreperioden hatten sich lange vor der Geburt jener Anasazi ereignet, die von der großen Dürre betroffen waren, und da ihre Gesellschaft keine Schrift besaß, konnten sie diese Krise nicht voraussehen. Ganz ähnlich erging es den Maya in den Niederungen: Auch sie fielen im 9. Jahrhundert einer Dürre zum Opfer, obwohl es solche Trockenzeiten in ihrer Region einige Jahrhunderte zuvor bereits gegeben hatte (Kapitel 5). Die Maya besaßen sogar eine Schrift, aber sie hielten damit keine Wetterberichte fest, sondern nur die Taten ihrer Könige und astronomische Ereignisse; deshalb versetzte auch die Dürre des 3. Jahrhunderts die Maya nicht in die Lage, im 9. Jahrhundert eine Trockenperiode vorauszusehen.

Aber auch in modernen Gesellschaften, in deren schriftlichen Aufzeichnungen es nicht nur um Könige und Planeten geht, greifen nicht zwangsläufig auf frühere, schriftlich überlieferte Erfahrungen zurück. Auch wir neigen dazu, Dinge zu vergessen. Nach der Ölkrise von 1973 mit ihrer Benzinknappheit schreckten wir in Amerika ein oder zwei Jahre lang vor Treibstoff fressenden Autos zurück, aber dann vergaßen wir diese Erfahrung, und heute fahren wir SUVs, obwohl über die Ereignisse von 1973 jede Menge Druckerschwärze vergossen wurde. Als die Stadt Tucson in Arizona in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine schwere Dürre erlebte, schworen sich die beunruhigten Bürger, sie würden ihr Wasser besser bewirtschaften, aber wenig später verschwendeten sie es wie eh und je mit dem Bau von Golfplätzen und der Bewässerung ihrer Gärten.

Ein anderer Grund, warum eine Gesellschaft ein Problem unter Umständen nicht voraussieht, liegt in falschen Analogieschlüssen. Wenn wir uns in einer unbekannten Situation befinden, ziehen wir gern Parallelen zu früheren, bekannten Situationen. Das ist eine gute Methode, wenn zwischen der alten und neuen Situation tatsächlich Analogien bestehen, aber es kann auch gefährlich sein, wenn beide sich nur oberflächlich ähneln. Die Wikinger beispielsweise, die seit dem Jahr 870 nach Island einwanderten, kamen aus Norwegen und Großbritannien, wo es schwere, von Gletschern aufgewühlte Lehmböden gibt. Solche Böden werden aufgrund ihres Gewichtes selbst dann nicht vom Wind wegtransportiert, wenn man ihre Pflanzendecke beseitigt. Als die Siedler in Island auf zahlreiche Baumarten trafen, die ihnen bereits aus Norwegen und Großbritannien vertraut waren, ließen sie sich von der scheinbar ähnlichen Landschaft täuschen (Kapitel 6). Aber der isländische Boden war nicht durch wandernde Gletscher entstanden, sondern durch den Wind, der die leichte, bei Vulkanausbrüchen ausgestoßene Asche transportiert hatte. Als die Wikinger nun die Wälder gerodet hatten, um Weiden für ihr Vieh zu schaffen, war der leichte Boden erneut dem Wind ausgesetzt: Er wurde weggeweht, und ein großer Teil des isländischen Oberbodens verschwand durch Erosion.

Ein tragisches, berühmtes Beispiel aus unserer Zeit für einen falschen Analogieschluss ist die Art, wie Frankreich sich militärisch auf den Zweiten Weltkrieg vorbereitete. Nach dem entsetzlichen Blutbad des Ersten Weltkrieges erkannten die Franzosen, dass sie sich unbedingt gegen eine möglicherweise bevorstehende neuerliche deutsche Invasion schützen mussten. Aber leider ging die Führung der französischen Streitkräfte davon aus, der nächste Krieg werde auf ganz ähnliche Weise ablaufen wie der Erste Weltkrieg, als die Westfront zwischen Frankreich und Deutschland in einem vierjährigen Schützengrabenkrieg praktisch unbeweglich geblieben war. Mit Infanteriekräften, die raffiniert befestigte Schützengräben besetzten, hatte man Infanterieangriffe in der Regel zurückschlagen können, und Offensivkräfte hatten die neu erfundenen Panzer nur einzeln eingesetzt, um die angreifende Infanterie zu unterstützen. Also baute Frankreich an seiner Ostgrenze die Maginotlinie, ein noch höher entwickeltes, aufwendiges System von Befestigungen. In der deutschen Wehrmacht jedoch hatte man nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges erkannt, dass man nach einer anderen Strategie vorgehen musste. Jetzt bildeten nicht mehr Infanteristen, sondern Panzer die Speerspitze der Angriffe. Die Fahrzeuge wurden in eigenen Panzerdivisionen zusammengefasst, überquerten die Maginotlinie in überweidetem Gelände, das bisher als ungeeignet für Panzer gegolten hatte, und nach nur sechs Wochen war Frankreich besiegt. Indem die französischen Generäle eine falsche Analogie zum Ersten Weltkrieg herstellten, begingen sie einen verbreiteten Fehler: Militärs planen einen zukünftigen Krieg häufig so, als werde er wie der vorige ablaufen, insbesondere wenn ihre Seite in dem vorherigen Krieg den Sieg davongetragen hat.

Kommen wir nun zur zweiten Station: Nachdem eine Gesellschaft ein Problem nicht vorausgesehen hat, bevor es eingetreten ist, nimmt sie es unter Umständen auch danach nicht wahr. Dieser Fehler kann mindestens drei Gründe haben, die alle sowohl in der Wirtschaft als auch in der Wissenschaft weit verbreitet sind.

Erstens sind die Ursachen mancher Probleme buchstäblich nicht wahrnehmbar. Die Nährstoffe beispielsweise, die einem Boden seine Fruchtbarkeit verleihen, sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen, und erst in moderner Zeit wurden sie durch chemische Analysen messbar. In Australien, auf Mangareva, in manchen Regionen im Südwesten der Vereinigten Staaten und an vielen anderen Orten hatte der Regen einen großen Teil der Nährstoffe bereits aus dem Boden ausgewaschen, bevor die ersten Menschen sich ansiedelten. Als sie dann kamen und Pflanzen anbauten, verbrauchten diese schnell die verbliebenen Nährstoffe, sodass weitere Landwirtschaft nicht mehr möglich war. Häufig tragen solche nährstoffarmen Böden einen üppig aussehenden Pflanzenbewuchs; die Nährstoffe befinden sich dabei zum größten Teil nicht im Boden, sondern in den Pflanzen, und wenn man diese beseitigt, sind auch die Nährstoffe nicht mehr vorhanden. In Australien und auf Mangareva konnten die ersten Siedler nicht erkennen, dass die Nährstoffe im Boden erschöpft waren; die Bauern in Gebieten, wo tiefere Bodenschichten viel Salz enthielten (beispielsweise im Osten von Montana sowie in Teilen Australiens und Mesopotamiens), konnten nichts von der beginnenden Versalzung wissen, und die Bergleute konnten beim Abbau von Schwefelerzen nicht erkennen, dass die Abwässer ihrer Minen giftiges Kupfer und gelöste Säure enthielten.

Haufig wird ein Problem auch deshalb nicht wahrgenommen, weil die Verantwortlichen zu weit entfernt sind, eine Ursache, die in großen Gesellschaften oder Unternehmen von Bedeutung ist. Der größte private Landbesitzer in Montana zum Beispiel, ein Holzkonzern, hat seinen Hauptsitz nicht in dem Bundesstaat, sondern 650 Kilometer entfernt in Seattle (Washington). Da die Manager nicht vor Ort sind, ist ihnen unter Umständen nicht klar, dass das Unkraut in ihrem Waldbesitz ein großes Problem darstellt. Gut geführte Unternehmen vermeiden solche Überraschungen, indem sie regelmäßig Manager ins Feld schicken, damit sie sich ansehen, was dort wirklich los ist. Das Gegenteil zu den Fehlern weit entfernter Manager sind die Erfolge durch Verantwortliche vor Ort. Dass die Bewohner Tikopias auf ihrer winzigen Insel und die Hochlandbewohner in Neuguinea in ihren Tälern seit über 1000 Jahren erfolgreiches Ressourcenmanagement betreiben können, liegt unter anderem daran, dass jeder Einzelne auf der Insel oder in dem Tal das gesamte Gelände, von dem die Gesellschaft abhängig ist, genau kennt.

Vielleicht am häufigsten kommt es vor, dass eine Gesellschaft ein Problem nicht wahrnimmt, wenn dieses die Form eines allmählichen Trends annimmt, der sich hinter starken Schwankungen verbirgt. Das wichtigste Beispiel aus unserer Zeit ist die globale Erwärmung. Heute wissen wir, dass die weltweiten Temperaturen in den letzten Jahrzehnten langsam angestiegen sind und dass Veränderungen der Atmosphäre, die von Menschen verursacht wurden, dabei die wichtigste Ursache darstellen. Das Klima war aber nicht jedes Jahr genau um 0,01 Grad wärmer als im Jahr zuvor. Wie wir alle wissen, schwankt das Klima unregelmäßig von Jahr zu Jahr: Der eine Sommer ist um drei Grad wärmer als der vorherige, der nächste legt noch einmal um vier Grad zu, dann geht es um zwei Grad nach unten, wieder vier Grad nach oben, ein Grad nach unten, fünf Grad nach oben, und so weiter. Bei derart großen, unvorhersehbaren Schwankungen dauerte es sehr lange, bis man den durchschnittlichen Aufwärtstrend von 0,01 Grad pro Jahr erkannte. Das war der Grund, warum die meisten professionellen Klimaforscher, die dem Gedanken an eine globale Erwärmung zuvor skeptisch gegenüberstanden, sich erst vor wenigen Jahren überzeugen ließen. Während ich diese Zeilen schreibe, ist der amerikanische Präsident G. W. Bush immer noch nicht überzeugt, dass es die globale Erwärmung wirklich gibt; er glaubt nach wie vor, es sei noch mehr Forschung erforderlich. Ähnlich schwierig war auch für die mittelalterlichen Bewohner Grönlands die Erkenntnis, dass ihr Klima sich allmählich abkühlte, und Maya und Anasazi konnten kaum erkennen, dass es bei ihnen immer trockener wurde.

Politiker bezeichnen solche allmählichen, hinter starken Schwankungen verborgenen Trends häufig als »schleichende Normalität«. Wenn es mit Wirtschaft, Schulen, Verkehrssituation oder irgendetwas anderem nur langsam bergab geht, erkennt man kaum, dass jedes Jahr im Durchschnitt ein wenig schlechter ist als das vorherige, und damit sinkt auch der allgemeine Maßstab für »Normalität« ganz allmählich und unmerklich ab. Erst nach einigen Jahrzehnten und einer langen Reihe solcher geringfügigen alljährlichen Veränderungen wird plötzlich mit einem Schlag klar, dass vor einigen Jahrzehnten alles viel besser war und dass das so genannte Normalniveau gesunken ist.

Ein anderer Begriff, der mit der schleichenden Normalität zusammenhängt, ist die »Landschaftsvergesslichkeit«: Man hat vergessen, dass die Landschaft vor 50 Jahren ganz anders aussah, weil von Jahr zu Jahr nur ein ganz geringfügiger Wandel eingetreten ist. Ein Beispiel sind die Gletscher und Schneefelder in Montana, die durch die globale Erwärmung abschmelzen (Kapitel 1). Nachdem ich als junger Mann im Sommer 1953 und 1956 im Big Hole Basin in Montana war, kam ich erst 42 Jahre später - 1998 -wieder dorthin, und seitdem besuchte ich die Gegend mindestens ein Mal im Jahr. Zu meinen besonders lebhaften Jugenderinnerungen gehörte das Bild des Schnees, der selbst im Sommer die Berggipfel in der Ferne bedeckte und bei mir das Gefühl hervorrief, die Niederung sei unterhalb des Himmels von einem weißen Band eingeschlossen. Ich weiß noch, wie ich mit zwei Freunden am Wochenende eine Campingtour unternahm und bis zu diesem magischen Band aus Schnee hinaufkletterte. Da ich die Schwankungen und das allmähliche Verschwinden des sommerlichen Schnees in den dazwischenliegenden 42 Jahren nicht miterlebt hatte, war ich 1998 bei meiner Rückkehr ins Big Hole Basin verblüfft und bestürzt, dass das weiße Band fast weg war; in den Jahren 2001 und 2003 war es dann tatsächlich vollständig abgeschmolzen. Als ich meine ortsansässigen Bekannten auf den Wandel ansprach, waren sie sich der Veränderung kaum bewusst: Unbewusst hatten sie das Band (oder sein Fehlen) jedes Jahr nur mit wenigen vorangegangenen Jahren verglichen. Schleichende Normalität und Vergesslichkeit machen es ihnen schwerer als mir, sich an die Verhältnisse während der fünfziger Jahre zu erinnern. Solche Erfahrungen sind ein wichtiger Grund, warum die Menschen ein Problem unter Umständen erst dann wahrnehmen, wenn es zu spät ist.

Nach meiner Vermutung ist die Landschaftsvergesslichkeit auch zumindest ein Teil der Antwort auf die Frage meiner Studenten, was der Bewohner der Osterinsel wohl sagte, der den letzten Baum abholzte. Unbewusst stellen wir uns eine plötzliche Veränderung vor: In einem Jahr ist die Insel noch mit einem Wald aus hohen Palmen bedeckt, die Wein, Früchte und die Balken für Transport und Aufbau der Statuen liefern; im folgenden Jahr ist nur noch ein einziger Baum übrig, den ein Inselbewohner in einem Anfall von unglaublicher Dummheit fällt. In Wirklichkeit kam es höchstwahrscheinlich von Jahr zu Jahr zu einer fast unmerklichen Veränderung der Waldbestände: Ja, dieses Jahr fällen wir da drüben ein paar Bäume, aber hier, auf diesem aufgegebenen Feld, wachsen schon wieder die ersten Keimlinge. Ein Unterschied war vermutlich nur für die ältesten Inselbewohner zu erkennen, die sich an ihre Kindheit und die Zeit vor Jahrzehnten erinnerten. Ihre Kinder konnten die Erzählungen der Eltern über einen hohen Wald vermutlich ebenso wenig begreifen wie meine siebzehnjährigen Söhne, denen meine Frau und ich davon berichten, wie Los Angeles vor 40 Jahren aussah. Auf der Osterinsel wurden die Bäume immer weniger, kleiner und unwichtiger. Als die letzte ausgewachsene, früchtetragende Palme gefällt wurde, besaß die Spezies schon längst keinerlei wirtschaftliche Bedeutung mehr. Nun blieben zum Abholzen von Jahr zu Jahr nur noch kleine und immer kleinere Palmen-Keimlinge sowie andere Büsche und Bäumchen. Niemandem fiel es auf, als der letzte kleine Palmen-Keimling fiel. Die Erinnerung an den wertvollen Palmenwald, der vor Jahrhunderten auf der Insel gestanden hatte, war längst der Landschaftsvergesslichkeit zum Opfer gefallen. Umgekehrt wurden die Wälder im Japan der frühen Tokugawazeit so schnell zerstört, dass die Veränderungen der Landschaft und die Notwendigkeit vorbeugender Maßnahmen für die shoguns viel einfacher zu erkennen waren.

Der dritte Schritt auf dem Weg zum Versagen ist der häufigste und überraschendste. Er erfordert die ausführlichste Beschreibung, weil er vielfältige Formen annehmen kann.

Anders als Joseph Tainter und fast alle anderen angenommen haben, bemühen sich Gesellschaften häufig selbst dann nicht um die Lösung eines Problems, wenn es ihnen aufgefallen ist. Die Gründe für eine solche Unterlassung fallen zum großen Teil unter einer Überschrift, die Wirtschaftsfachleute und andere Sozialwissenschaftler als »rationales Verhalten« bezeichnen. Die Ursache sind Interessenkonflikte zwischen Menschen, das heißt, manche Menschen kommen auf den richtigen Gedanken, dass es ihren eigenen Interessen nützt, wenn ihr Verhalten anderen Menschen schadet. Als »rational« bezeichnen Wissenschaftler solche Verhaltensweisen gerade deshalb, weil sie einer vernünftigen Überlegung erwachsen, auch wenn diese ethisch angreifbar ist. Die Täter wissen, dass sie häufig mit ihrem schlechten Verhalten davonkommen, insbesondere wenn dieses nicht durch Gesetze verboten ist oder wenn die Gesetze nicht effizient durchgesetzt werden. Sie wiegen sich in Sicherheit, weil es sich in der Regel nur um wenige Personen handelt, die durch die Aussicht auf große, sichere, unmittelbare Gewinne höchst motiviert sind, während sich die Verluste auf eine große Personenzahl verteilen. Deshalb haben diese Verlierer kaum einen Beweggrund, dagegen anzukämpfen - jeder Einzelne verliert nur wenig und würde selbst dann, wenn der Minderheit ihre Beute abgenommen wird, erst sehr viel später einen geringen, unsicheren Gewinn erzielen. Ein Beispiel sind die so genannten perversen Subventionen, riesige staatliche Geldbeträge zur Unterstützung von Industriezweigen, die ohne die Subventionen unwirtschaftlich wären wie die Fischerei vieler Regionen, der Zuckeranbau in den Vereinigten Staaten und der Baumwollanbau in Australien (der indirekt subventioniert wird, weil der Staat das Wasser für die Bewässerung bezahlt). Die relativ wenigen Fischer oder Pflanzenzüchter setzen sich lautstark für die Subventionen ein, die einen großen Teil ihres Einkommens ausmachen, die Verlierer dagegen (alle Steuerzahler) erheben ihre Stimme viel weniger laut, weil die Subventionen, auf den Steuerbescheid des einzelnen Bürgers umgelegt, jeweils nur einen kleinen Geldbetrag ausmachen. Solche Maßnahmen, die auf Kosten einer großen Mehrheit einer kleinen Minderheit nützen, werden besonders häufig in Demokratien ergriffen, in denen kleine Gruppen das »Zünglein an der Waage« bilden, wie beispielsweise die Senatoren der kleinen Bundesstaaten im US-Senat oder kleine religiöse Parteien, die in Israel häufig für das Machtgleichgewicht eine Bedeutung haben, wie sie im parlamentarischen System anderer Staaten kaum möglich wäre.

Häufig hat rationales negatives Verhalten die Form »gut für mich, schlecht für dich und alle anderen« - oder kurz gesagt: Es ist egoistisch. Ein einfaches Beispiel stammt wiederum aus Montana, wo die meisten Angler es auf Forellen abgesehen haben. Einige wenige bevorzugen jedoch den Hecht, einen größeren Raubfisch, der im Westen Montanas nicht heimisch ist; sie setzten mehrfach verbotenerweise Hechte in einigen Seen und Flüssen im Westen Montanas aus, wo sie die Forellen fraßen und somit die Forellenfischerei zugrunde richteten. Das war gut für die wenigen Hechtangler und schlecht für die weit größere Zahl der Forellenangler.

Mehr Verlierer und höhere finanzielle Verluste erzeugten die Bergbauunternehmen in Montana bis 1971: Wenn eine Mine geschlossen wurde, ließ man ihre Abwässer mit Kupfer, Arsen und Säure einfach in die Flüsse laufen, weil kein Gesetz von den Unternehmen verlangte, eine Mine nach der Schließung aufzuräumen. Im Jahr 1971 erließ der Bundesstaat Montana ein solches Gesetz, aber die Firmen stellten fest, dass sie einfach das wertvolle Erz gewinnen und dann Insolvenz anmelden konnten, bevor ihnen die Aufwendungen für die Aufräumungsarbeiten bevorstanden. Dies hatte zur Folge, dass die Bürger Montanas und der gesamten Vereinigten Staaten insgesamt für Aufräumkosten von 500 Millionen Dollar aufkommen mussten. Die Manager der Bergbauunternehmen hatten richtig bemerkt, dass das Gesetz ihnen in die Möglichkeit eröffnete, das Geld ihrer Unternehmen einzusparen und ihrem eigenen Interesse durch Bonuszahlungen und hohe Gehälter zu nützen, wenn sie gleichzeitig ein Durcheinander anrichteten und die Belastungen der Gesellschaft überließen. Aus der Wirtschaft könnte man unzählige weitere Beispiele für solche Verhaltensweisen anführen, aber sie sind nicht so allgegenwärtig, wie manche Zyniker annehmen. Im nächsten Kapitel werden wir uns mit der Frage beschäftigen, wie solche Ergebnisse aus der Notwendigkeit erwachsen, dass Unternehmen so viel Geld verdienen, wie staatliche Vorschriften und Gesetze sowie die Einstellung der Öffentlichkeit zulassen.

Eine besondere Form des Interessenkonflikts wurde unter dem Namen »Tragödie der Allmende« oder »Tragödie des Gemeineigentums« bekannt; sie ist eng verwandt mit Konflikten, die als »Gefangenendilemma« und »Logik des kollektiven Handelns« bezeichnet werden. Nehmen wir einmal an, dass viele Verbraucher eine im Gemeinschaftsbesitz befindliche Ressource nutzen - Fischer fangen beispielsweise Fische in einem Teil des Ozeans, oder Schafhirten lassen ihre Tiere auf der Gemeindewiese grasen. Beuten alle diese Ressource zu stark aus, geht sie durch Überfischung oder Überweidung zur Neige, bis sie schließlich geschrumpft oder völlig verschwunden ist, sodass alle Verbraucher darunter leiden. Deshalb wäre es im gemeinsamen Interesse aller Nutzer, wenn sie sich einschränken und auf eine übermäßige Ausbeutung verzichten. Aber solange es keine wirksamen Vorschriften darüber gibt, wie viel der einzelne Verbraucher entnehmen darf, wird jeder zu Recht die gleichen Überlegungen anstellen: »Wenn ich nicht diesen Fisch fange oder meine Schafe auf jener Wiese weiden lasse, tut es ein anderer Fischer oder Schafhirte, also hat es keinen Sinn, wenn ich auf Überfischung oder Überweidung verzichte.« Demnach entspricht es dem rationalen Verhalten, wenn man die Ressourcen ausbeutet, bevor der nächste Verbraucher dazu in der Lage ist, auch wenn dies schließlich zur Zerstörung des Gemeineigentums führt und deshalb alle Verbraucher schädigt.

Tatsächlich hat diese Logik dazu geführt, dass viele gemeinschaftliche Ressourcen übermäßig ausgebeutet und zerstört wurden, andere blieben aber trotz der Ausbeutung über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hinweg erhalten. Tragische Fälle sind die übermäßige Nutzung und der Zusammenbruch der meisten Fischbestände im Meer sowie die Ausrottung zahlreicher großer Tiere (große Säugetiere, Vögel und Reptilien) auf allen ozeanischen Inseln oder in Kontinenten, die im ersten Abschnitt der letzten 50 000 Jahre von Menschen besiedelt wurden. Zu den positiven Beispielen gehören die Erhaltung vieler lokaler Fischgründe, Wälder und Wasserquellen, beispielsweise der Forellenfischerei und der Bewässerungssysteme in Montana, die ich in Kapitel 1 beschrieben habe. Hinter solchen positiven Ergebnissen können drei verschiedene Handlungsweisen stehen, welche die nachhaltige Nutzung gemeinsamer Ressourcen ermöglichen und diese dennoch erhalten.

Eine nahe liegende Lösung besteht darin, dass die Regierung oder eine andere äußere Kraft mit oder ohne Aufforderung durch die Verbraucher eingreift und eine Quotenregelung durchsetzt. Diesen Weg gingen die shogun und daimyo im Japan der Tokugawazeit, die Inkakaiser in den Anden sowie die Prinzen und reichen Grundbesitzer im Deutschland des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Holzgewinnung. In manchen Fällen (beispielsweise auf dem offenen Meer) hat er sich jedoch als nicht praktikabel erwiesen, in anderen verursacht er übermäßige Kosten für Verwaltung und Aufsicht. Eine zweite Lösung ist die Privatisierung der Ressourcen: Man verteilt sie an mehrere Einzeleigentümer, die dann im eigenen Interesse motiviert sind, sie klug zu bewirtschaften. Diese Methode wandte man im Japan der Tokugawazeit auf mehrere gemeindeeigene Wälder an. Aber auch hier gilt, dass manche Ressourcen (beispielsweise wandernde Landtiere und Fische) sich nicht unterteilen lassen, und einem Einzeleigentümer fällt es unter Umständen noch schwerer als der Küstenwache oder Polizei eines Staates, unberechtigte Eindringlinge fern zu halten.

Die letzte denkbare Lösung für die Tragödie des Gemeineigentums besteht darin, dass die Verbraucher ihr gemeinsames Interesse erkennen und selbst Nutzungsquoten festlegen, die sie durchsetzen und einhalten. Das geschieht in der Regel nur dann, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind: Die Verbraucher müssen eine einheitliche Gruppe bilden; sie müssen gelernt haben, einander zu vertrauen und miteinander zu kommunizieren; sie müssen damit rechnen, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben und die Ressource an ihre Erben weitergeben werden; sie müssen in der Lage sein und die Erlaubnis haben, sich selbst zu organisieren und zu überwachen; und die Abgrenzungen der Ressourcen wie auch die Gemeinschaft der Verbraucher müssen genau definiert sein. Ein gutes Beispiel sind die in Kapitel 1 erörterten Wasserrechte für die Bewässerung in Montana. Die Zuweisung dieser Rechte wurde gesetzlich festgeschrieben, die Bauern unterwerfen sich heute aber meist dem Wasseraufseher, den sie selbst gewählt haben, und lassen ihre Meinungsverschiedenheiten nicht mehr gerichtlich klären. Auch viele andere einheitliche Gruppen gehen klug mit Ressourcen um, die sie an ihre Kinder weitergeben wollen; Beispiele sind die Bewohner von Tikopia, die Hochlandbewohner in Neuguinea, die Angehörigen der indischen Kasten und andere, von denen in Kapitel 9 die Rede war. Diese kleinen Gruppen, aber auch die größeren Bevölkerungen in Island (Kapitel 6) und im lapan der Tokugawazeit waren außerdem durch ihre Isolation motiviert, nach Einigkeit zu streben: Der ganzen Gruppe war klar, dass sie auf absehbare Zukunft ausschließlich mit ihren eigenen Ressourcen überleben musste. Solche Gruppen wussten, dass sie mit der berühmten Ausrede »das ist nicht mein Problem«, einem sicheren Rezept für falsche Bewirtschaftung, nicht überleben konnten.

Zu Interessenkonflikten durch rationales Verhalten kommt es häufig auch dann, wenn die Gesamtgesellschaft ein langfristiges Interesse an der Erhaltung der Ressourcen hat, der wichtigste Verbraucher aber nicht. Für die kommerzielle Holzgewinnung in den tropischen Regenwäldern beispielsweise sind heute vorwiegend internationale Holzkonzerne verantwortlich, die in der Regel kurzfristige Pachtverträge für Landflächen in einem Staat eingehen, dort den gesamten Regenwald abholzen und ihre Tätigkeit dann in einem anderen Staat fortsetzen. Eines haben diese Konzerne richtig erkannt: Nachdem sie ihre Pacht bezahlt haben, dient es ihren Interessen am besten, wenn sie den Wald so schnell wie möglich abholzen, Vereinbarungen zur Wiederaufforstung nicht einhalten und sich am Ende einfach davonmachen. Auf diese Weise wurden die Wälder in den Niederungen der malaiischen Halbinsel zum größten Teil zerstört, dann folgte Borneo, dann die Salomonen und Sumatra, derzeit sind die Philippinen an der Reihe, und in absehbarer Zukunft wird es Neuguinea, das Amazonasgebiet und das Kongobecken treffen. Was gut für die Holzkonzerne ist, ist für die Bewohner der Regionen schlecht: Sie verlieren die Möglichkeit, Produkte aus den Wäldern zu gewinnen, und haben unter den Folgen von der Bodenerosion bis zur Versandung von Flüssen zu leiden. Es ist auch schlecht für den betroffenen Staat, der einen Teil seiner biologischen Vielfalt und die Grundlage für eine nachhaltige Forstwirtschaft verliert. Die Folgen solcher Interessenkonflikte um kurzfristig gepachtete Landflächen sehen also ganz anders aus, als wenn der Holzkonzern das Land besitzt, sich auf mehrfache Nutzung einstellt und für sich selbst ein langfristiges Interesse feststellt (was auch im Interesse der örtlichen Bevölkerung und des Landes ist). Einen ähnlichen Gegensatz erkannten chinesische Bauern in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als sie verglichen, welche Nachteile die Ausbeutung durch zwei Arten von Kriegsherren mit sich bringt. Es war schlimm, von einem »ortsansässigen Banditen« ausgebeutet zu werden, das heißt von einem in der Gegend verwurzelten Kriegsherrn, der den Bauern zumindest so viel Ressourcen übrig ließ, dass er sie in zukünftigen Jahren erneut ausplündern konnte. Noch schlimmer war jedoch die Ausbeutung durch einen »herumziehenden Banditen«, der den Bauern - ganz ähnlich wie ein Holzkonzern mit kurzfristigen Pachtverträgen - nichts übrig ließ und einfach weiterzog, um dann die Bewohner einer anderen Region auszubeuten.

Ein weiterer Interessenkonflikt kann sich durch rationales Verhalten ergeben, wenn die Interessen der Entscheidungsträger und Machthaber im Gegensatz zu den Interessen der übrigen Gesellschaft stehen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Elite sich von den Folgen ihrer Handlungen abschotten kann: Dann tut sie häufig Dinge, die ihr selbst nützen, ganz gleich, ob sie anderen damit einen Schaden zufügt. Solche Interessenkonflikte fanden ihren krass personifizierten Ausdruck in dem Diktator Trujillo in der Dominikanischen Republik und in der herrschenden Elite Haitis, sie werden heute aber auch in den Vereinigten Staaten immer häufiger, wo die Reichen zunehmend in abgeschirmten Wohnvierteln leben und nur noch Wasser aus Flaschen trinken. Die Vorstände des Enron-Konzerns beispielsweise kalkulierten ganz richtig, dass sie für sich selbst gewaltige Summen abzweigen konnten, wenn sie die Unternehmenskassen plünderten und damit alle Aktionäre schädigten, und sie wussten, dass sie mit diesem Spiel voraussichtlich davonkommen würden.

In der gesamten überlieferten Geschichte führten Handlungen oder Untätigkeit selbstverliebter Könige, Häuptlinge und Politiker immer wieder zum Zusammenbruch von Gesellschaften. Als Beispiele wurden in diesem Buch die Könige der Maya, die Häuptlinge der grönländischen Wikinger und die Politiker des modernen Ruanda genannt. In ihrem Buch Die Torheit der Regierenden beschreibt Barbara Tuchman berühmte historische Beispiele für katastrophale Entscheidungen, von den Trojanern, die das Pferd in ihre Mauern holten, über die Renaissancepäpste, die den protestantischen Aufstand provozierten, bis hin zu der Entscheidung Deutschlands für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg im Ersten Weltkrieg (der die Vereinigten Staaten zur Kriegserklärung veranlasste) und dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, der auf ganz ähnliche Weise 1941 den Kriegseintritt der USA auslöste.

Die Häuptlinge der Osterinsel und die Mayakönige handelten aus Machthunger so, dass die Waldzerstörung nicht verhütet, sondern beschleunigt wurde: Das Ansehen der Mächtigen hing davon ab, dass sie größere Statuen und Denkmäler errichteten als ihre Konkurrenten. Sie waren in einer Konkurrenzspirale gefangen: Jeder Häuptling oder König, der kleinere Statuen oder Denkmäler gebaut hätte, um die Wälder zu schonen, wäre verspottet worden und hätte seine Stellung verloren. Dieses Problem stellt sich immer wieder, wenn es unter Rivalen um das Ansehen geht, denn dieses wird in einem sehr kurzen zeitlichen Rahmen bewertet.

Viel seltener unterbleibt die Lösung von Problemen, die auf Interessenkonflikte zwischen Oberschicht und breiter Masse zurückgehen, wenn die Elite sich nicht von den Folgen ihrer Handlungen distanzieren kann. Wie wir im letzten Kapitel erfahren werden, hat das starke Umweltbewusstsein der Niederländer (einschließlich ihrer Politiker) seine Ursache darin, dass große Teile der Bevölkerung - sowohl Politiker als auch einfache Bürger - in Gebieten unterhalb des Meeresspiegels leben, wo nur Deiche zwischen ihnen und dem Ertrinken stehen; mit törichter Landplanung würden die Politiker sich also selbst in Lebensgefahr begeben. Ganz ähnlich verhält es sich mit den »großen Männern« im Hochland von Neuguinea: Sie wohnen in den gleichen Hütten wie alle anderen, suchen an den gleichen Orten wie alle anderen nach Brenn- und Bauholz, und haben deshalb ein starkes Interesse daran, den Bedarf ihrer Gesellschaft nach nachhaltiger Forstwirtschaft zu befriedigen (Kapitel 9).

In allen auf den letzten Seiten genannten Beispielen wurden bekannte Probleme in einer Gesellschaft nicht gelöst, weil es einigen Menschen nützte, wenn sie bestehen blieben. Im Gegensatz zu diesem so genannten rationalen Verhalten unterblieb die Lösung erkannter Probleme in anderen Fällen wegen »irrationalen Verhaltens«, wie die Sozialwissenschaftler es nennen, das heißt durch Verhaltensweisen, die für alle Beteiligten schädlich sind. Zu irrationalem Verhalten kommt es häufig dann, wenn jeder Einzelne durch widerstreitende Wertvorstellungen hin und her gerissen ist: Wir kümmern uns nicht um einen schlechten Zustand, weil irgendeine tief in uns verwurzelte Wertvorstellung für ihn spricht. Diese verbreitete menschliche Eigenschaft beschreibt Barbara Tuchman mit Ausdrücken wie »Festhalten an Fehlern«, »Starrköpfigkeit«, »Weigerung, Rückschlüsse aus negativen Anzeichen zu ziehen« oder »geistiger Stillstand«. Eine ähnliche Eigenschaft bezeichnen Psychologen als »Effekt der verlorenen Kosten«: Es widerstrebt uns, eine Handlungsweise aufzugeben (oder eine Aktie zu verkaufen), in die wir zuvor bereits viel investiert haben.

Insbesondere religiöse Werte sind häufig tief verwurzelt und werden deshalb vielfach zur Ursache katastrophaler Verhaltensweisen. Die Waldzerstörung auf der Osteri nsel war beispielsweise größtenteils religiös motiviert: Man brauchte Balken für den Transport und die .Aufrichtung der riesigen Steinstatuen, die Gegenstand der Verehrung waren. Auf der anderen Seite der Erde, 15 000 Kilometer von der Osterinsel entfernt, hingen zur gleichen Zeit die grönländischen Wikinger an ihren christlich-religiösen Werten. Diese Werte, ihre europäische Identität und eine konservative Lebensweise ermöglichten ihnen in einer unwirtlichen Umgebung, in der die meisten Neuerungen tatsächlich zu Fehlschlägen werden, in Verbindung mit einer gemeinschaftsorientierten, von gegenseitiger Unterstützung geprägten Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg das Überleben. Aber diese bewundernswerten (und über lange Zeit erfolgreichen) Eigenschaften verhinderten auch, dass sie die tief greifenden Veränderungen vornahmen und sich einzelne Aspekte der Inuit-Technologie zu Eigen machten, mit denen sie ihre Gesellschaft noch länger hätten aufrechterhalten können.

Die moderne Welt bietet aber auch eine Fülle von Beispielen für bewundernswerte weltliche Wertvorstellungen, an denen wir festhalten, obwohl sie unter den gegenwärtigen Bedingungen keinen Sinn mehr haben. Die Australier brachten aus Großbritannien die Tradition der Schafzucht zur Wollproduktion, der hohen Preise für Landflächen und der Identifikation mit dem Mutterland mit. Damit gelang es ihnen, einen demokratischen Industriestaat aufzubauen, der von allen anderen derartigen Staaten (mit Ausnahme Neuseelands) weit entfernt ist. Mittlerweile bemerken sie aber auch, dass die überkommenen Wertvorstellungen ihre Kehrseite haben. Dass die Bürger Montanas sich in jüngerer Zeit so stark dagegen sträubten, die durch Bergbau, Holzgewinnung und Landwirtschaft verursachten Probleme zu lösen, liegt vor allem daran, dass diese drei Branchen die wirtschaftlichen Säulen des Bundesstaates waren und dass sie sich mit der Vorstellung von Pioniergeist und Identität verbinden. Ebenso hegen die Bürger Montanas als Anhänger individueller Freiheit und Selbstversorgung einen Widerwillen gegen die heutige Notwendigkeit, staatliche Planungen zu akzeptieren und individuelle Rechte einzuschränken. Im kommunistischen China wollte man nicht die Fehler des Kapitalismus wiederholen, und das führte dazu, dass ökologische Bedenken als ein weiterer kapitalistischer Fehler verächtlich gemacht wurden -mit der Folge, dass China heute unter gewaltigen Umweltproblemen leidet. In Ruanda war das Ideal der großen Familien in einer Zeit hoher Kindersterblichkeit zweckmäßig, heute aber führt es zu einer katastrophalen Bevölkerungsexplosion. Für mich hat es den Anschein, als ob auch die starrsinnige Opposition gegen ökologische Bedenken in den Industrieländern heute auf Wertvorstellungen zurückzuführen ist, die wir uns in jungen Jahren angeeignet und später nie mehr hinterfragt haben.

Die Entscheidung, tiefste innere Werte aufzugeben, wenn sie offensichtlich mit dem Überleben nicht mehr vereinbar sind, ist schwierig und schmerzhaft. Von welchem Punkt an würden wir als Einzelne lieber sterben, statt Kompromisse zu schließen und weiter zu leben? In moderner Zeit haben tatsächlich Millionen Menschen vor der Entscheidung gestanden, ob sie ihr eigenes Leben retten sollten, indem sie Freunde und Verwandte verrieten, sich einer bösartigen Diktatur unterwarfen, praktisch als Sklaven lebten oder aus ihrer Heimat flüchteten. Ähnliche Entscheidungen müssen auch ganze Nationen und Gesellschaften manchmal treffen.

In jeder derartigen Entscheidung steckt ein Element des Glücksspiels: Häufig weiß man nicht genau, ob das Festhalten an entscheidenden Werten tödlich sein wird, oder ob man umgekehrt in jedem Fall überlebt, wenn man sie aufgibt. Als die Wikinger in Grönland weiterhin als christliche Bauern lebten, trafen sie letztlich die Entscheidung, lieber als christliche Bauern zu sterben denn als Inuit zu leben; sie verloren das Glücksspiel. Als fünf kleine osteuropäische Staaten sich der überwältigenden russischen Armee gegenübersahen, gaben Estland, Lettland und Litauen 1939 kampflos ihre Unabhängigkeit auf, die Finnen kämpften von 1939 bis 1940 und blieben unabhängig, und die Ungarn kämpften 1956 und verloren ihre Unabhängigkeit. Wer mag beurteilen, in welchem Land die Menschen klüger waren, und wer hätte im Voraus prophezeien mögen, dass die Finnen das Spiel gewinnen würden?

Für Wohl oder Wehe einer Gesellschaft ist es vielleicht von entscheidender Bedeutung, dass man weiß, an welchen Wertvorstellungen man festhalten sollte und welche man besser durch neue Werte ersetzt, wenn die Zeiten sich ändern. In den letzten 60 Jahren haben die mächtigsten Staaten der Welt alte, geliebte Wertvorstellungen aufgegeben, die zuvor einen entscheidenden Bestandteil ihres nationalen Selbstbildes darstellten, aber an anderen haben sie festgehalten. Großbritannien und Frankreich gaben ihre jahrhundertealte Rolle als unabhängig handelnde Weltmächte auf; Japan verzichtete auf militärische Tradition und Streitkräfte; und Russland beendete das langjährige Experiment mit dem Kommunismus. Die Vereinigten Staaten haben sich in erheblichem Umfang (aber wohl nicht vollständig) von den früheren Werten der legalen Rassendiskriminierung, der legalen Fremdenfeindlichkeit, der untergeordneten Rolle der Frauen und der sexuellen Unterdrückung verabschiedet. In Australien steht derzeit die Stellung als ländlich-bäuerliche Gesellschaft mit britischer Identität auf dem Prüfstand. Oft sind gerade jene Gesellschaften und Einzelpersonen erfolgreich, die den Mut zu derart schwierigen Entscheidungen aufbringen und dann das Glück haben, ihr Spiel zu gewinnen. Ähnlichen Entscheidungen steht heute auch die Welt als Ganzes im Zusammenhang mit ihren Umweltproblemen gegenüber - mit diesem Thema werden wir uns im letzten Kapitel beschäftigen.

Die genannten Beispiele zeigen, wie irrationales Verhalten im Zusammenhang mit Wertkonflikten eine Gesellschaft in manchen Fällen davon abhält, eine Lösung anerkannter Probleme zu versuchen, in anderen jedoch nicht. Aber auch andere irrationale Motive führen häufig dazu, dass Probleme nicht angegangen werden: Unter Umständen lehnt die Öffentlichkeit jene ab, die ein Problem als Erste wahrnehmen und ansprechen - so erging es der Grünen Partei in Tasmanien, die als Erste gegen die Einführung von Füchsen auf der Insel protestierte. Oder die Öffentlichkeit tut Warnungen als unbegründet ab, weil frühere Warnungen sich als falscher Alarm erwiesen haben; dann ergeht es ihr wie dem Hirtenjungen in Äsops Fabel, der immer wieder »Wolf!« geschrien hat, und als dann tatsächlich ein Wolf kommt, werden seine Hilferufe ignoriert. Oder die Öffentlichkeit wehrt die Verantwortung mit der Behauptung »das ist nicht unser Problem« ab.

Häufig unterbleibt der Versuch, ein erkanntes Problem zu lösen, weil bei ein und derselben Person ein irrationaler Konflikt zwischen kurz- und langfristigen Motiven besteht. Die Bauern in Ruanda und Haiti sind wie Milliarden andere Menschen auf der Welt entsetzlich arm und können in ihrer Verzweiflung nicht weiter denken als bis zu der nächsten Mahlzeit. In Gebieten mit tropischen Korallenriffen töten arme Fischer ihre Beute mit Dynamit und Cyankali (wobei sie nebenher auch die Riffe zugrunde richten), um heute ihren Kindern etwas zu essen zu geben, obwohl sie gleichzeitig ganz genau wissen, dass sie ihre zukünftige Lebensgrundlage zerstören. Auch Regierungen handeln immer wieder aus einer kurzfristigen Perspektive heraus: Sie fühlen sich durch bevorstehende Katastrophen überfordert und widmen ihre Aufmerksamkeit ausschließlich den Problemen, die unmittelbar vor der Explosion stehen. So erzählte mir beispielsweise ein Bekannter, der enge Verbindungen zur derzeitigen Bundesregierung in Washington hat, was er in der Hauptstadt erlebte, als er im Jahr 2000 kurz nach den Wahlen zum ersten Mal wieder in das Zentrum der Macht kam: Die neue Regierung hatte sich einen »90-Tage-Horizont« gesetzt. Sie erörterte nur Probleme, die das Potenzial hatten, innerhalb der nächsten 90 Tage zur Katastrophe zu führen. Wirtschaftswissenschaftler versuchen, eine solche irrationale Einengung des Blickwinkels auf kurzfristige Profite rational zu rechtfertigen, indem sie zukünftige Gewinne »diskontieren«: Sie behaupten, man solle eine Ressource besser heute ausbeuten, als einen Teil davon für eine zukünftige Verwertung unbeschädigt zu lassen, weil man die Gewinne aus der gegenwärtigen Nutzung wieder investieren kann, sodass die auf diese Weise angehäuften Investitionen in der Zeit bis zu einer zukünftigen Ausbeutung die gegenwärtige Nutzung wertvoller machen als jene in der Zukunft. In diesem Fall hat die nächste Generation die negativen Folgen zu tragen, aber diese Generation hat heute keine Wählerstimmen und kann sich nicht beschweren.

Andere mögliche Gründe für die irrationale Weigerung, eine Lösung wahrgenommener Probleme zu versuchen, gehören eher ins Reich der Spekulation. Einer davon ist ein allgemein bekanntes Phänomen der kurzfristigen Entscheidungsfindung, das als »Psychologie der Masse« bezeichnet wird. Einzelne Personen, die zu einer großen, einheitlichen Gruppe oder Masse gehören, werden sich insbesondere dann, wenn diese Masse emotional erregt ist, eher den Entscheidungen in dieser Gruppe anschließen, selbst wenn dieselben Personen zu anderen Entscheidungen gelangt wären, wenn sie allein und in Ruhe darüber nachgedacht hätten. Friedrich Schiller schrieb: »Jeder, sieht man ihn einzeln, / ist leidlich klug und verständig, / Sind sie in corpore, / gleich wird dir ein Dummkopf daraus.« Historische Beispiele für die Wirksamkeit der Massenpsychologie sind die Begeisterung der Europäer für die Kreuzzüge im späten Mittelalter, ungeheure Investitionen in hübsche Tulpen, die in Holland zwischen 1634 und 1636 mit der »Tulipomanie« ihren Höhepunkt erreichte, wiederkehrende Hexenjagden wie die Hexenprozesse von Salem im Jahr 1692 und die Aufhetzung der Massen durch geschickte Nazipropaganda in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Eine ruhigere, kleinere Entsprechung zur Massenpsychologie, die sich in Gruppen von Entscheidungsträgern einstellen kann, wurde von Irvin Janis als »Gruppendenken« bezeichnet. Insbesondere wenn eine kleine, verschworene Gruppe (beispielsweise die Berater des Präsidenten Kennedy während der Kubakrise oder die Berater des Präsidenten Johnson während der Eskalation des Vietnamkrieges) unter belastenden Umständen zu einer Entscheidung gelangen will, führen der Stress und das Bedürfnis nach gegenseitiger Unterstützung und Zustimmung häufig dazu, dass Zweifel und kritische Gedanken unterdrückt werden. Man macht sich gemeinsam Illusionen und gelangt vorschnell zu einer einheitlichen Meinung, die letztlich zu einer katastrophalen Entscheidung führt. Massenpsychologie und Gruppendenken wirken nicht nur in Zeiträumen von einigen Stunden, sondern manchmal auch über Jahre hinweg: Inwieweit sie zu katastrophalen Entscheidungen im Zusammenhang mit Umweltproblemen beitragen, die sich im Lauf von Jahrzehnten oder Jahrhunderten entwickeln, ist allerdings nicht geklärt.

Ich möchte noch einen letzten spekulativen Grund anführen, der auf irrationale Weise dazu führt, dass man sich nicht um die Lösung eines wahrgenommenen Problems bemüht: die Verdrängung. Dieser Begriff hat in der Individualpsychologie eine genau definierte Bedeutung, er hat aber auch Eingang in die volkstümliche Kultur gefunden.

Wenn eine Wahrnehmung schmerzhafte Gefühle hervorruft, wird sie unter Umständen unbewusst unterdrückt: Um die unerträglichen Schmerzen zu vermeiden, leugnet man die Wahrnehmung, obwohl daraus letztlich katastrophale praktische Folgen erwachsen können. Bei den Gefühlen, die eine solche Reaktion auslösen, handelt es sich meist um Entsetzen, Angst oder Trauer. Typische Beispiele sind die Blockade der Erinnerung an beängstigende Erlebnisse oder die Verweigerung gegenüber dem schmerzhaft traurigen Gedanken, dass Ehepartner, Kinder oder gute Freunde sterben können.

Stellen wir uns beispielsweise ein schmales Flusstal unterhalb eines hohen Staudammes vor. Wenn der Damm bricht, würden die Menschen auf einem beträchtlichen Abschnitt flussabwärts in dem herabstürzenden Wasser ertrinken. Befragt man in einer Meinungsumfrage die Einwohner unterhalb des Dammes, wie beunruhigend sie den Gedanken an einen Dammbruch finden, so stellt sich erwartungsgemäß heraus, dass die Besorgnis weit stromabwärts am geringsten ist und mit abnehmender Entfernung zum Damm größer wird. Überraschend ist aber, was man wenige Kilometer unterhalb des Dammes erfährt: Von einer Grenze aus, wo die Angst vor dem Dammbruch am größten ist, sinkt sie bis auf null ab, wenn man sich dem Damm noch weiter nähert! Mit anderen Worten: Die Bewohner unmittelbar unterhalb der Staumauer, die mit größter Sicherheit bei einem Dammbruch ertrinken würden, geben sich völlig unbesorgt. Die Ursache ist Verdrängung: Wenn man jeden Tag zu der Staumauer aufblickt, kann man seine geistige Gesundheit nur dadurch aufrechterhalten, dass man die Möglichkeit eines Dammbruches leugnet. Das Phänomen der Verdrängung ist in der Individualpsychologie gut belegt, es scheint aber auch in der Psychologie ganzer Gruppen vorzukommen.

Und selbst wenn eine Gesellschaft schließlich ein Problem vorhergesehen oder wahrgenommen hat und sich um eine Lösung bemüht, kann sie immer noch aus nahe liegenden Gründen scheitern: Vielleicht reichen unsere gegenwärtigen Fähigkeiten für eine Lösung nicht aus, oder eine mögliche Lösung ist unbezahlbar teuer, oder unsere Bemühungen sind zu schwach und kommen zu spät. Manche Lösungsversuche gehen nach hinten los und verschlimmern das Problem, wie beispielsweise die Einführung der Kröten in Australien zur Bekämpfung der Schadinsekten oder die Unterdrückung von Waldbränden im Westen der Vereinigten Staaten. Viele frühere Gesellschaften (beispielsweise die im mittelalterlichen Island) verfügten nicht über die detaillierten ökologischen Kenntnisse, die uns heute einen besseren Umgang mit den gleichen Problemen ermöglichen. In anderen Fällen entziehen sich ihre Probleme aber auch bis heute einer Lösung.

Denken wir beispielsweise noch einmal an Kapitel 8 und an die Wikinger in Grönland, denen es nach vier Jahrhunderten letztlich nicht mehr gelang, weiterhin zu überleben. Es ist nun einmal grausame Realität:

Während der letzten 5000 Jahre haben das kalte Klima in Grönland und die begrenzten, unberechenbar schwankenden Ressourcen es zu einer unüberwindlich schwierigen Aufgabe gemacht, auf Dauer eine nachhaltige Wirtschaft zu etablieren. Amerikanische Ureinwohner versuchten es in vier aufeinander folgenden Wellen als Jäger und Sammler, aber letztlich scheiterten sie ebenso wie später die Wikinger. Am Nächsten kamen die Inuit dem Erfolg: Sie konnten in Grönland 700 Jahre lang eine autarke Lebensweise aufrechterhalten, aber es war ein hartes Leben, das häufig mit dem Tod durch Verhungern endete. Die heutigen Inuit sind nicht mehr bereit, ihren Lebensunterhalt auf traditionelle Weise ohne Technik- und Lebensmittelimporte mit Steinwerkzeugen, Hundeschlitten zu sichern, oder indem sie mit Harpunen von Fellbooten aus Walle erlegen. Die moderne grönländische Regierung hat bis heute keine autarke Wirtschaft entwickelt, die von fremder Hilfe unabhängig wäre. Wie die Wikinger hat sie mit Viehzucht experimentiert, die Rinder wurden schließlich aufgegeben, und Schafzüchter, die selbst keine Gewinne erwirtschaften können, werden subventioniert. Angesichts dieser historischen Tatsachen ist es nicht verwunderlich, dass die Wikinger in Grönland letztlich scheiterten. Auch das »Scheitern« der Anasazi im Südwesten der Vereinigten Staaten muss man vor dem Hintergrund vieler anderer letztlich »fehlgeschlagener« Versuche sehen, in dieser Region, die sich so wenig für Landwirtschaft eignet, dauerhaft eine bäuerliche Gesellschaft anzusiedeln.

Zu den schwierigsten Problemen gehören heute die eingeschleppten, schädlichen Tier- und Pflanzenarten, die sich häufig nicht mehr ausrotten oder kontrollieren lassen, nachdem sie einmal Fuß gefasst haben. Der Bundesstaat Montana wendet beispielsweise jedes Jahr mehr als 100 Millionen Dollar für die Bekämpfung der Eselswolfsmilch und anderer eingeschleppter Unkräuter auf. Das liegt nicht daran, dass die Bewohner sich nicht um ihre Ausrottung bemühen würden, sondern derzeit ist es einfach unmöglich, die Unkräuter völlig zu beseitigen. Die Wurzeln der Eselswolfsmilch reichen sechs Meter tief in den Boden, sodass man sie nicht von Hand herausziehen kann, und Chemikalien, die gezielt gegen diese Spezies wirken, kosten bis zu 200 Dollar pro Liter. In Australien hat man mit Zäunen, Füchsen, Gewehren, Bulldozern, Myxomatoseerregern und Caliciviren versucht, die Kaninchen zu bekämpfen, aber bisher haben sie alle Bemühungen überlebt.

Das Problem der katastrophalen Waldbrände in den trockenen Bergregionen des nordamerikanischen Westens könnte man vermutlich unter Kontrolle bringen, wenn man die Brandlast mit geeigneten Bewirtschaftungsmethoden vermindern würde; dazu müsste man beispielsweise frisches Unterholz mechanisch ausdünnen und umgestürzte, tote Baumstämme entfernen. Aber diese Lösung in großem Umfang umzusetzen, würde unvertretbar hohe Kosten verursachen. Eine ähnliche kostenbedingte Unterlassung besiegelte in Florida das Schicksal der Schwarzen Strandammer, das gleichzeitig auch die übliche Strafe für zu langes Zögern darstellte (»zu wenig, und das zu spät«). Als der Lebensraum der Vögel schrumpfte, wurden Rettungsmaßnahmen verschoben, weil noch darüber diskutiert wurde, ob der Lebensraum wirklich unter die kritische Grenze zurückgehen würde. Als die Fischerei- und Jagdbehörde der Vereinigten Staaten sich Ende der achtziger Jahre schließlich bereit erklärte, den verbliebenen Lebensraum zu dem hohen Preis von fünf Millionen Dollar anzukaufen, war dieser bereits so stark zerstört, dass die Schwarzen Strandammern ausstarben. Anschließend wurde hitzig darüber diskutiert, ob man die letzten, in Gefangenschaft lebenden Schwarzen Strandammern mit der eng verwandten Scott-Strandammer kreuzen solle, um die ausgestorbene reine Spezies durch die dabei entstehenden Mischlinge zu ersetzen. Als die Genehmigung schließlich erteilt wurde, waren die letzten gefangenen Schwarzen Strandammern bereits alt und unfruchtbar. Sowohl die Erhaltung des Lebensraumes als auch die Kreuzung in der Gefangenschaft wären billiger gewesen und hätten mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg geführt, wenn man früher damit begonnen hätte.

Dass Gesellschaften und kleinere Gruppen katastrophale Entscheidungen treffen, kann also eine ganze Reihe von Gründen haben: Ein Problem wird nicht vorausgesehen, man nimmt es nicht wahr, wenn es da ist, man versucht nicht es zu lösen, nachdem man es wahrgenommen hat, oder eine Lösung misslingt, obwohl man sie versucht hat. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich berichtet, wie sowohl meine Studenten als auch Joseph Tainter nicht glauben mochten, dass eine Gesellschaft sich von ihren Umweltproblemen überrollen lässt. Jetzt, am Ende dieses Kapitels, sind wir beim anderen Extrem angelangt: Wir haben eine Fülle von Gründen benannt, warum Gesellschaften scheitern können. Alle diese Gründe sind uns aus unserer eigenen Lebenserfahrung bekannt: Für jeden davon können wir Gruppen benennen, die an einer Aufgabe gerade aus diesem Grund gescheitert sind.

Es liegt aber auch auf der Hand, dass den Gesellschaften die Lösung ihrer Probleme durchaus nicht immer misslingt. Wäre es anders, wir wären alle tot oder würden unter den Bedingungen der Steinzeit vor 13 000 Jahren leben. In Wirklichkeit sind die Fehlschläge so bemerkenswert, dass es berechtigt war, dieses Buch über sie zu schreiben - ein Buch von begrenztem Umfang, das nur von einzelnen Gesellschaften handelt und keine Enzyklopädie über alle Gesellschaften der Menschheitsgeschichte darstellt. In Kapitel 9 haben wir gezielt einige Beispiele aus der Mehrheit der Gesellschaften erörtert, die erfolgreich waren.

Warum aber haben manche Gesellschaften Erfolg, während andere aus den verschiedenen in diesem Kapitel beschriebenen Gründen scheitern? Zum Teil liegt es natürlich nicht an den Unterschieden zwischen den Gesellschaften, sondern an den Unterschieden zwischen ihren Umweltbedingungen: Diese werfen in manchen Fällen schwierigere Probleme auf als in anderen. Das kalte, abgelegene Grönland stellte die Menschen beispielsweise vor eine größere Herausforderung als der Süden Norwegens, aus dem ein großer Teil der grönländischen Siedler stammte. Auch die trockene, abgelegene Osterinsel mit ihren geringen Höhenunterschieden und ihrer hohen südlichen Breite war eine größere Herausforderung als das feuchte, weniger isolierte, am Äquator gelegene Tahiti mit seinen höheren Lagen, wo die Vorfahren der Osterinselbewohner vermutlich irgendwann einmal lebten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Würde ich behaupten, solche ökologischen Unterschiede seien der einzige Grund, wenn Gesellschaften Erfolg hatten oder scheiterten, könnte man mich zu Recht des »Umweltdeterminismus« beschuldigen, einer Sichtweise, die unter Sozialwissenschaftlern sehr unbeliebt ist. In Wirklichkeit sind die Umweltbedingungen zwar sicher ein Grund, warum Gesellschaften sich in manchen Regionen schwerer durchsetzen können als in anderen, aber für jede Gesellschaft bleibt dennoch viel Spielraum, um sich durch ihr eigenes Handeln zu retten oder zum Untergang zu verdammen.

Die Frage, warum manche Gruppen (oder einzelne Gruppenoberhäupter) einen der in diesem Kapitel erörterten Wege zum Scheitern einschlugen, während andere das nicht taten, ist nicht leicht zu beantworten. Warum gelang es beispielsweise dem Inkareich, seine trockene, kühle Umwelt wieder aufzuforsten, während es auf der Osterinsel und in Normannisch-Grönland nicht geschah? Die Antwort hat unter anderem mit den persönlichen Eigenarten einzelner Personen zu tun und entzieht sich jeder Voraussage. Dennoch hoffe ich, dass bessere Kenntnis der in diesem Kapitel beschriebenen potenziellen Ursachen für das Scheitern den Verantwortlichen helfen, sich dieser Ursachen bewusst zu werden und sie zu vermeiden.

Ein prägnantes Beispiel, wie sich solche Kenntnisse nutzbar machen lassen, bieten die unterschiedlichen Entscheidungen, die Präsident Kennedy und seine Berater in zwei aufeinander folgenden Krisen rund um Kuba und die Vereinigten Staaten trafen. Anfang 1961 führten schlechte gruppendynamische Prozesse zu der katastrophalen Entscheidung, die Invasion in der Schweinebucht anzuordnen, die zu einem schmählichen Fehlschlag wurde und zu der viel gefährlicheren Kuba-Raketenkrise führte. Wie Irving Janis in seinem Buch Groupthink deutlich macht, lassen die Beratungen über die Schweinebucht zahlreiche Merkmale erkennen, die zu schlechten Entscheidungen führen können: Beispielsweise stellte sich ein verfrühtes Gefühl der demonstrativen Einigkeit ein, persönliche Zweifel wurden unterdrückt, abweichende Ansichten wurden verschwiegen, und der Leiter der Gruppe (Kennedy) lenkte die Diskussion in Richtung möglichst geringer Meinungsverschiedenheiten. In den späteren Beratungen zur Kuba-Raketenkrise, an der wiederum Kennedy und viele der gleichen Berater beteiligt waren, wurden solche Aspekte vermieden, und die Diskussion verlief auf Wegen, die zu produktiven Entscheidungsprozessen führten: Kennedy forderte die Teilnehmer unter anderem auf, kritisch zu denken und freimütig zu diskutieren; Untergruppen setzten sich getrennt zusammen, und gelegentlich verließ er den Raum, um die Diskussion nicht über Gebühr zu beeinflussen.

Warum liefen die Entscheidungsprozesse in diesen beiden Kubakrisen so unterschiedlich ab? Zu einem großen Teil lag es daran, dass Kennedy selbst nach dem Schweinebucht-Fiasko von 1961 eingehend darüber nachgedacht hatte, was bei der Entscheidungsfindung schief gegangen war, und auch seinen Beratern hatte er nahe gelegt, die gleichen Überlegungen anzustellen. Aufgrund dieser Gedanken leitete er die Diskussionen mit den Beratern 1962 absichtlich auf ganz andere Weise.

In diesem Buch war viel von den Häuptlingen der Osterinsel die Rede, von Mayakönigen, Politikern im heutigen Ruanda und anderen Führungsgestalten, die so selbstgefällig ihren Machtgelüsten nachgingen, dass sie auf die grundlegenden Probleme ihrer Gesellschaft nicht mehr achteten. Um die Ausgewogenheit wieder herzustellen, sollten wir uns deshalb nicht nur an Kennedy erinnern, sondern auch an andere erfolgreiche Führungsgestalten. Wer eine explosive Krise so mutig meistert wie Kennedy, verdient unsere Bewunderung. Aber ein wachsendes oder auch nur potenzielles Problem vorherzusehen und energische Schritte zu unternehmen, bevor es zu einer explosiven Krise wird, erfordert Führungsgestalten mit einer anderen Art von Mut. Solche Persönlichkeiten setzen sich der Kritik oder dem Spott aus, weil sie handeln, bevor für alle auf der Hand liegt, dass Taten notwendig sind. Aber es hat viele dieser mutigen, weitsichtigen, starken Persönlichkeiten gegeben, die unsere Bewunderung verdienen. Dazu gehören die shoguns der frühen Tokugawazeit, die in Japan der Waldzerstörung Einhalt geboten, lange bevor sie so weit fortgeschritten war wie auf der Osterinsel; oder Joaquin Balaguer, der (aus welchen Motiven auch immer) sich auf der dominikanischen Seite der Insel Hispaniola nachdrücklich für Umweltschutzmaßnahmen einsetzte, was seine Gegenspieler im westlichen Teil versäumten; die Häuptlinge auf Tikopia, die sich entschlossen, auf ihrer Insel die zerstörerischen Schweine auszurotten, obwohl diese Tiere in Melanesien hohes Ansehen genießen; und die politisch Verantwortlichen in China, die Familienplanung anordneten, lange bevor die Überbevölkerung in China das gleiche Ausmaß erreichte wie in Ruanda. Zu diesen bewundernswerten Führungsgestalten gehören aber auch der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und andere westeuropäische Politiker, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entschlossen, eigene nationale Interessen zu opfern und ihre Staaten in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammenzuführen, wobei ein Hauptmotiv darin bestand, die Gefahr eines neuen Krieges in Europa zu vermindern. Wir sollten nicht nur solche mutigen Führungsgestalten bewundern, sondern auch die mutigen Völker - Finnen, Ungarn, Briten, Franzosen, Japaner, Russen, US-Amerikaner, Australier und andere -, die sich entschieden haben, für welche ihrer tief verwurzelten Wertvorstellungen es sich zu kämpfen lohnte und welche keinen Sinn mehr hatten.

Diese Beispiele für mutige Führungsgestalten und mutige Völker geben mir Hoffnung. Sie bestärken mich in der Überzeugung, dass dieses Buch über ein scheinbar pessimistisches Thema in Wirklichkeit ein optimistisches Buch ist. Wenn wir eingehend über die Ursachen früherer Fehlschläge nachdenken, können wir wie Präsident Kennedy in den Jahren 1961 und 1962 unsere Vorgehensweisen korrigieren und unsere Erfolgschancen für die Zukunft verbessern.