KAPITEL 7
Die Blütezeit von Normannisch-Grönland
Ein Außenposten Europas ■ Grönlands Klima heute ■ Das Klima früherer Zeiten ■ Einheimische Pflanzen und Tiere ■ Die Besiedelung durch die Wikinger ■ Landwirtschaft ■ Jagd und Fischerei ■ Eine integrierte Wirtschaft ■ Gesellschaft ■ Handel mit Europa ■ Das Selbstbild
Als ich nach Grönland (»grünes Land«) kam, war mein erster Eindruck: Der Name ist eine grausame Irreführung. In der Landschaft, die ich vor mir hatte, gab es nur drei Farben: Weiß, Schwarz und Blau, wobei das Weiß bei weitem überwog. Nach Ansicht mancher Historiker wurde der Name tatsächlich in betrügerischer Absicht von Erik dem Roten geprägt, dem Begründer der grönländischen Wikingersiedlung, der damit seine Landsleute veranlassen wollte, sich ihm anzuschließen. Als sich mein Flugzeug, von Kopenhagen kommend, der Ostküste Grönlands näherte, sah ich hinter dem dunkelblauen Ozean als Erstes eine riesige, leuchtend weiße Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte - die größte Eiskappe der Welt nach der Antarktis. Die Küste Grönlands steigt steil bis zu einer eisbedeckten Hochebene an, die den größten Teil der Insel ausmacht und von riesigen, ins Meer abfallenden Gletschern entwässert wird. Hunderte von Kilometern weit flogen wir über die weite weiße Fläche, und als einzige weitere Farbe sah man das Schwarz der nackten Steingebirge, die sich aus dem Meer aus Eis erhoben und sich darüber verteilten wie schwarze Inseln. Erst als das Flugzeug von der Hochebene in Richtung der Westküste in den Landeanflug ging, konnte ich an einer dünnen Grenzlinie am Rand der Eiskappe zwei andere Farben ausmachen: braune Gebiete aus nacktem Kies und den zartgrünen Schimmer von Moos oder Flechten.
Als ich aber in Narsarsuarq gelandet war, dem wichtigsten Flughafen im Süden Grönlands, und dann den von Eisbergen übersäten Fjord in Richtung Brattahild überquerte, wo Erik der Rote seinen eigenen Hof errichtet hatte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass er den Namen Grönland vielleicht doch nicht als falsche Reklame, sondern mit ehrlichen Absichten gewählt hatte. Auf meinem langen Flug von Los Angeles nach Kopenhagen und von dort zurück nach Grönland hatte ich 13 Zeitzonen durchquert und war entsprechend erschöpft. Ich machte mich zu einem kurzen Rundgang durch die normannischen Ruinen auf, aber bald war ich so müde, dass ich nicht einmal die paar hundert Meter zu der Jugendherberge zurückwandern konnte, wo ich meinen Rucksack abgestellt hatte. Glücklicherweise befanden sich die Ruinen mitten auf einer üppigen Wiese mit weichem, mehr als 30 Zentimeter hohem Gras, das aus dem Moos herauswuchs und mit unzähligen gelben Butterblumen, gelbem Löwenzahn, blauen Glockenblumen, weißen Astern und rosa Weidenröschen übersät war. Matratzen oder Kissen waren hier nicht nötig: Ich schlief auf dem weichsten, schönsten natürlichen Bett ein, das man sich nur vorstellen konnte.
Ein guter Bekannter, der norwegische Archäologe Christian Keller, drückte es so aus: »In Grönland besteht das Leben daraus, gute Stellen mit nützlichen Ressourcen zu finden.« Zu 99 Prozent ist die Insel tatsächlich unbewohnbar, weiß oder schwarz, aber tief in den beiden Fjordsystemen an der Südwestküste gibt es grüne Abschnitte. Die langen, schmalen Fjorde schneiden tief ins Land ein, sodass ihr oberes Ende weit von kalten Meeresströmungen, Eisbergen, salziger Gischt und Wind entfernt ist, jenen Einflüssen, die unmittelbar an der Küste das Pflanzenwachstum unterdrücken. Entlang der meist steilen Fjordufer gibt es hier und da flacheres Gelände mit üppigen Wiesen wie der, wo ich meinen Mittagsschlaf hielt, und solche Orte eignen sich gut für die Viehhaltung. Fast 500 Jahre lang, von 984 bis ins 15. Jahrhundert, wurden diese Fjordsysteme zur Lebensgrundlage für den abgelegensten Außenposten der europäischen Zivilisation; hier, fast 2500 Kilometer von Norwegen entfernt, bauten die Skandinavier eine Kathedrale und kleinere Kirchen, schrieben auf Lateinisch und Altnordisch, schmiedeten Eisenwerkzeuge, hielten Nutztiere, richteten sich mit ihrer Kleidung nach der neuesten europäischen Mode - und gingen schließlich zugrunde.
Ein Symbol für das Rätsel ihres Verschwindens ist die steinerne Kirche von Hvalsey, das berühmteste Gebäude von Normannisch-Grönland, dessen Foto sich in jedem Prospekt zur Förderung des Grönlandtourismus findet. Sie liegt in der Wiesenlandschaft am oberen Ende des langen, breiten, von Bergen gesäumten Fjordes und bietet einen großartigen Blick über ein Gebiet von vielen Dutzend Quadratkilometern. Ihre Mauern, der nach Westen gerichtete Haupteingang, Nischen und Giebel sind noch unversehrt; nur das ursprüngliche, rasengedeckte Dach fehlt. Rund um die Kirche liegen Überreste von Versammlungsräumen, Ställen, Lagerhäusern, Bootshäusern und Weiden, die den Erbauern dieser Monumente den Lebensunterhalt sicherten. Unter allen Gesellschaften des mittelalterlichen Europas ist die von Normannisch-Grönland diejenige mit den am besten erhaltenen Ruinen, und das liegt genau daran, dass ihre Siedlungen im unbeschädigten Zustand aufgegeben wurden, während fast alle anderen wichtigen mittelalterlichen Ortschaften in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent immer wieder erobert wurden und unter späteren Bauwerken verschwanden. Wenn man Hvalsey heute besucht, rechnet man fast damit, dass Wikinger aus den Gebäuden treten, aber in Wirklichkeit ist alles still: Im Umkreis von mehr als 30 Kilometern wohnt praktisch niemand. Wer diese Kirche erbaute, verfügte auch über ausreichende Kenntnisse, um hier eine europäische Gesellschaft nachzubauen und über Jahrhunderte aufrechtzuerhalten - aber das Wissen reichte nicht, um ihr Überleben noch länger zu sichern.
Etwas anderes macht die Sache noch rätselhafter: Die Wikinger teilten sich Grönland mit einer anderen Bevölkerungsgruppe, den Inuit (Eskimos), während sie Island für sich allein hatten, sodass dort kein derartiges Problem ihre Schwierigkeiten verstärkte. Die Wikinger verschwanden auf Grönland, aber die Inuit überlebten - ein Beweis, dass Menschen dort durchaus leben können und dass das Verschwinden der Wikinger nicht unvermeidlich war. Wenn man heute in Grönland über die landwirtschaftlichen Anwesen geht, sieht man wieder die gleichen beiden Gruppen, die sich die Insel auch im Mittelalter teilten: Inuit und Skandinavier. Im Jahr 1721, drei Jahrhunderte nachdem die mittelalterlichen Wikinger ausgestorben waren, übernahmen andere Skandinavier (nämlich Dänen) die Herrschaft über Grönland, und erst 1979 erhielten die Ureinwohner der Insel die Selbstverwaltung. Für mich waren die vielen blauäugigen, blonden Skandinavier die in Grönland arbeiteten, ein verwirrender Anblick, insbesondere wenn ich darüber nachdachte, dass Menschen wie sie die Kirche von Hvalsey und die anderen für mich interessanten Gebäude errichtet hatten und dass sie später ausgestorben waren. Warum wurden die mittelalterlichen Skandinavier letztlich mit den Problemen Grönlands nicht fertig, während es den Inuit gelang?
Wie bei den Anasazi, so wurde auch das Schicksal der Norweger in Grönland häufig mit verschiedenen Einzelfaktoren erklärt, ohne dass man aber Einigkeit darüber erzielt hätte, welche dieser Erklärungen stimmte. Eine beliebte Theorie machte eine Klimaabkühlung verantwortlich, die in übermäßig schematischer Formulierung (in den Worten des Archäologen Thomas McGovern) ungefähr lautete: »Es wurde zu kalt, und dann starben sie.« Andere Einzelfaktoren, die zur Erklärung angeführt wurden, waren die Ausrottung der Wikinger durch die Inuit, die Isolierung der Wikinger vom europäischen Festland, Umweltschäden und eine hoffnungslos konservative Einstellung. In Wirklichkeit ist das Verschwinden der altnordischen Grönländer gerade deshalb so aufschlussreich, weil dabei alle fünf Faktoren, die ich in der Einleitung zu diesem Buch beschrieben habe, eine Rolle spielten. Es ist nicht nur im tatsächlichen Ablauf ein umfangreiches Beispiel, sondern auch im Hinblick auf die Informationen, die wir darüber besitzen: Die Wikinger hinterließen schriftliche Aufzeichnungen über Grönland (während die Bewohner der Osterinsel und die Anasazi Analphabeten waren), und außerdem verstehen wir die mittelalterliche europäische Gesellschaft ohnehin viel besser als die Gesellschaften der Polynesier oder Anasazi. Dennoch bleiben auch im Zusammenhang mit diesem am besten belegten Zusammenbruch der vorindustriellen Zeit wichtige Fragen offen.
Wie sah die Umwelt aus, in der die grönländischen Wikinger ihren Aufschwung erlebten, gediehen und zusammenbrachen? Die Wikinger wohnten in zwei Siedlungen an der Westküste Grönlands, die ein wenig südlich vom nördlichen Polarkreis ungefähr auf 61 und 64 Grad nördlicher Breite liegen. Damit befanden sie sich weiter südlich als der größte Teil Islands und auf einer Breite, die mit der von Bergen und Trondheim an der Ostküste Norwegens vergleichbar war. Aber in Grönland ist es kälter als in Island oder Norwegen, weil die beiden Letzteren von dem warmen Golfstrom umspült werden, der aus Süden heranfließt, während sich die grönländische Westküste im Bereich des kalten Westgrönlandstromes befindet, der aus der Arktis kommt. Deshalb kann man das Wetter selbst an den Orten der früheren Wikingersiedlungen, die sich noch des mildesten Klimas in ganz Grönland erfreuen, mit vier Worten beschreiben: kalt, wechselhaft, windig und nebelig.
Heute liegt die Durchschnittstemperatur im Sommer an der Küste in der Region der Siedlungen bei rund fünf bis sechs Grad Celsius und landeinwärts, am oberen Teil der Fjorde, bei 10 Grad Celsius. Das hört sich nicht nach eisiger Kälte an, aber man muss daran denken, dass diese Werte nur für die wärmsten Monate des Jahres gelten. Außerdem kommt von der Eiskappe Grönlands häufig ein starker, trockener Wind, der Treibeis aus Norden mitbringt. Die Fjorde sind deshalb häufig auch im Sommer von Eisbergen blockiert, und der Wind verursacht dichten Nebel. Wie man mir erzählte, kommen große, kurzfristige Klimaschwankungen, wie ich sie während meines sommerlichen Besuches in Grönland erlebte - mit heftigem Regen, starkem Wind und Nebel - häufig vor und machen Bootsfahrten vielfach unmöglich. Schiffe sind aber in Grönland das wichtigste Transportmittel, denn die Küste wird immer wieder von tief eingeschnittenen, verzweigten Fjorden zerschnitten. (Noch heute sind die wichtigsten Bevölkerungszentren Grönlands nicht durch Straßen verbunden; Gemeinden, zwischen denen es Straßen gibt, liegen entweder an derselben Seite eines Fjordes oder an verschiedenen Fjorden, die nur durch eine niedrige Hügelkette getrennt sind.) Ein solches Unwetter vereitelte auch meinen ersten Versuch, die Kirche von Hvalsey zu erreichen: Ich kam am 25. Juli bei schönem Wetter mit dem Schiff in Qaqotoq an, aber schon am 26. Juli war der Schiffsverkehr aus dem Ort durch Wind, Regen, Nebel und Eisberge zum Erliegen gekommen. Am 27. Juli besserten sich die Verhältnisse wieder, sodass wir nach Hvalsey fahren konnten, und am folgenden Tag fuhren wir bei blauem Himmel aus dem Fjord von Qaqotoq nach Brattahlid.
Ich erlebte das grönländische Wetter von seiner besten Seite, an der Stelle der südlichsten Wikingersiedlung und im Hochsommer. Als Besucher aus dem Süden Kaliforniens, der an warme, sonnige Tage gewöhnt war, würde ich die Temperaturen als »wechselhaft von kühl bis kalt« bezeichnen. Ich musste immer einen Anorak und darunter T-Shirt, langärmeliges Hemd und Sweatshirt tragen, und häufig nahm ich noch den dicken Daunenanorak dazu, den ich mir für meine erste Reise in die Arktis gekauft hatte. Die Temperatur änderte sich schnell und in großen Sprüngen, und das von Stunde zu Stunde. Manchmal hatte ich das Gefühl, als bestünde meine Hauptbeschäftigung bei meinen Rundgängen auf Grönland darin, den Anorak an- und auszuziehen, um mich immer wieder auf die veränderte Temperatur einzustellen.
Komplizierter wird dieses Bild vom heutigen Durchschnittsklima in Grönland noch dadurch, dass das Wetter sich häufig über kurze Entfernungen und auch von Jahr zu Jahr ändert. Der Wechsel über kurze Entfernungen ist einer der Gründe, warum Christian Keller zu mir sagte, es sei in Grönland so wichtig, die Stellen mit guten Ressourcen zu finden. Die jährlichen Schwankungen wirken sich auf das Wachstum des Weidegrases aus, von dem die Wirtschaft der Wikinger abhängig war, und sie beeinflussen auch die Menge von Meereis, die ihrerseits wieder Einfluss auf die Robbenjagd und die Gelegenheit zu Handelsschiffsreisen hat - beides ebenfalls für die Wikinger sehr wichtig. Die Wetterschwankungen über kurze Entfernungen und von Jahr zu Jahr waren von entscheidender Bedeutung: Grönland eignete sich ohnehin im besten Fall mäßig gut für die Heuproduktion, und deshalb konnten ein geringfügig schlechterer Ort oder Jahrestemperaturen, die geringfügig unter dem Durchschnitt lagen, im Winter zu einem Mangel an Heu für das Vieh führen.
Im Zusammenhang mit den lokalen Unterschieden ist es von großer Bedeutung, dass die eine der beiden Wikingersiedlungen 500 Kilometer weiter nördlich lag als die andere, aber zur allgemeinen Verwirrung wurden sie nicht als Nördliche und Südliche, sondern als Westliche und Östliche Siedlung bezeichnet. (Diese Namen hatten mehrere Jahrhunderte später unglückselige Folgen: Die Bezeichnung »Östliche Siedlung« führte dazu, dass die Europäer an der falschen Stelle - nämlich an der Ostküste Grönlands - nach der lange vergessenen Wikingersiedlung suchten und nicht an der Westküste, wo die Wikinger in Wirklichkeit zu Hause waren.) Im Sommer ist es in der nördlich gelegenen Westlichen Siedlung ebenso warm wie in der Östlichen Siedlung. Die sommerliche Wachstumssaison ist in der Westlichen Siedlung jedoch kürzer (nur fünf Monate mit Durchschnittstemperaturen über dem Gefrierpunkt, im Gegensatz zu sieben Monaten in der Östlichen Siedlung), denn die Zahl der Sommertage mit Sonnenschein und höheren Temperaturen nimmt nach Norden immer mehr ab. Außerdem ist es an der Meeresküste, wo die Fjorde münden und wo die Landschaft unmittelbar dem kalten Westgrönlandstrom ausgesetzt ist, grundsätzlich kälter, feuchter und nebliger als im geschützten oberen Teil der Fjorde im Landesinneren.
Noch ein weiterer lokaler Unterschied fiel mir bei meinen Reisen in Grönland auf: In manche Fjorde fließen Gletscher, in andere jedoch nicht. In den Fjorden mit Gletschern entstehen ständig neue Eisberge, solche ohne Gletscher nehmen dagegen nur jene Eisberge auf, die aus dem offenen Meer hineintreiben. Bei meinem Besuch im Juli war beispielsweise der Igalikufjord (an dem die Wikingerkathedrale liegt) frei von Eisbergen, weil in ihn kein Gletscher hineinfließt; der Eiriksfjord (wo sich die Ortschaft Brattahlid befindet), in den ein Gletscher mündet, war mit Eisbergen übersät; und der nächste Fjord in nördlicher Richtung, Sermilikfjord genannt, besitzt mehrere große Gletscher und war völlig mit Eis verstopft. (Diese Unterschiede und die großen Schwankungen in Form und Größe der Eisberge waren einer der Gründe, warum mir in die Landschaft in Grönland trotz ihrer wenigen Farben immer wieder so interessant erschien.) Als Christian Keller eine abgelegene archäologische Fundstätte am Eiriksfjord untersuchte, ging er häufig zu Fuß über den Hügel und besuchte einige schwedische Archäologen, die an einer Stätte am Sermilikfjord arbeiteten. Im Lager der Schweden war es beträchtlich kälter als bei Christian, und entsprechend war auch der Wikinger-Bauernhof, den die unglückseligen Schweden sich für ihre Untersuchung ausgesucht hatten, wesentlich ärmer als jener, mit dem Christian sich beschäftigte (weil es an der Stelle der Schweden kälter war, sodass man weniger Heu ernten konnte).
Sehr deutlich werden die alljährlichen Wetterschwankungen auch an den Heuerträgen der Schaffarmen, die seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Grönland ihren Betrieb wieder aufnahmen. In feuchteren Jahren wachsen die Pflanzen stärker, was für die Viehzüchter allgemein vorteilhaft ist: Sie können mehr Heu ernten, um damit ihre Schafe zu füttern, und die wilden Karibus haben mehr Gras als Nahrung (sodass man sie in größerer Zahl jagen kann). Fällt aber während der Heuernte im August und September zu viel Niederschlag, geht der Ertrag wiederum zurück, weil das Heu kaum noch trocken wird. Ein kalter Sommer ist schlecht, weil das Graswachstum sich verlangsamt; ein langer Winter ist schlecht, weil man die Tiere dann länger im Stall halten muss, was mehr Heu erfordert; und ein Sommer, in dem aus dem Norden viel Treibeis kommt, ist ebenfalls schlecht, weil sich dann der dichte Sommernebel einstellt, der das Wachstum des Grases behindert. Solche Wetterschwankungen machen das Leben für die heutigen Schafzüchter in Grönland zu einer Lotterie, und den gleichen Effekt müssen sie auch im Mittelalter auf die Wikinger gehabt haben.
Diese Klimaveränderungen kann man heute in Grönland von Jahr zu Jahr und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt beobachten. Aber wie steht es mit den Klimaschwankungen früherer Zeiten? Wie war das Wetter beispielsweise zu der Zeit, als die Wikinger nach Grönland kamen, und wie veränderte es sich im Lauf der fünf Jahrhunderte, in denen sie sich dort halten konnten? Wie kann man über historische Klimaverhältnisse in Grönland etwas in Erfahrung bringen? Dazu verfügen wir über drei Hauptinformationsquellen: schriftliche Aufzeichnungen, Pollen und Eisbohrkerne.
Erstens konnten die grönländischen Wikinger lesen und schreiben, und sie wurden von ebenfalls lesekundigen Norwegern besucht; für uns, die wir uns heute für das Schicksal der Wikinger in Grönland interessieren, wäre es sehr schön, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, Berichte über das Wetter ihrer Zeit zu verfassen. Aber leider taten sie das nicht. Für Island dagegen besitzen wir zahlreiche Berichte über das Klima in verschiedenen Jahren; darin werden kaltes Wetter, Niederschlag und Meereis beschrieben. Entsprechende Angaben finden sich in Form beiläufiger Bemerkungen in Tagebüchern, Briefen, Annalen und Berichten. Diese Informationen über das isländische Klima sind auch für die Aufklärung der Klimaverhältnisse in Grönland von einem gewissen Nutzen, denn wenn es während eines Jahrzehnts in Island kalt war, galt das Gleiche in der Regel auch für Grönland, auch wenn die Übereinstimmung nicht vollkommen ist. Auf sicherem Grund bewegen wir uns jedoch, wenn wir Bemerkungen über das Meereis rund um Island im Hinblick auf ihre Bedeutung für Grönland interpretieren, denn genau dieses Eis machte es so schwierig, mit dem Schiff von Grönland nach Island oder Norwegen zu gelangen.
Die zweite Informationsquelle über das Klima vergangener Zeiten sind Pollenproben aus Eisbohrkernen, die von Palynologen aus Seen und Sümpfen in Grönland gewonnen wurden. Diese Pollenforscher sind uns mit ihren Erkenntnissen über die Vegetation früherer Zeiten auf der Osterinsel und im Gebiet der Maya bereits begegnet (Kapitel 2 und 5). Im Schlamm am Boden eines Sees oder Sumpfes zu bohren, mag uns Laien nicht besonders aufregend erscheinen, aber für Palynologen ist es das Paradies: Je tiefer die Schlammschichten liegen, desto mehr Zeit ist seit ihrer Ablagerung vergangen. Durch Radiokarbondatierung der organischen Substanzen in einer Schlammprobe kann man feststellen, wann die betreffende Schicht sich abgesetzt hat. Pollenkörner verschiedener Pflanzenarten sehen unter dem Mikroskop unterschiedlich aus, sodass der Palynologe anhand des Pollens in seiner Schlammprobe etwas darüber aussagen kann, welche Pflanzen in dem betreffenden Jahr in der Nähe des Sees oder Sumpfes wuchsen und ihren Pollen freisetzten. Mit zunehmender Klimaabkühlung verschiebt sich das Verhältnis immer stärker von den Bäumen, die Wärme brauchen, zu den kältetoleranten Gräsern und Seggen. Die gleiche Veränderung beim Pollen kann aber auch bedeuten, dass die Wikinger immer mehr Bäume abholzten: deshalb haben die Palynologen auch andere Methoden entwickelt, mit denen sie zwischen diesen beiden Deutungen für eine Abnahme der Menge an Baumpollen unterscheiden können.
Die bei weitem genauesten Erkenntnisse über das Klima Grönlands in früheren Zeiten schließlich liefern die Eisbohrkerne. Im kalten und vorübergehend auch nassen Klima Grönlands bleiben die Bäume klein. Sie wachsen nur an bestimmten Stellen, und ihr Holz verrottet schnell. Deshalb findet man in Grönland nicht die Balken mit wunderbar erhaltenen Jahresringen, mit deren Hilfe die Archäologen bei den Anasazi in den Wüsten der südwestlichen USA die Klimaveränderungen von Jahr zu Jahr rekonstruieren konnten. Aber auch in Grönland haben die Archäologen Glück: Statt Baumringen können sie Eisringe untersuchen -oder genauer gesagt, Eisschichten. Der Schnee, der Jahr für Jahr auf die Eiskappe Grönlands niedergeht, wird durch das Gewicht, das in späteren Jahren hinzukommt, zu Eis zusammengepresst. Der Sauerstoff in dem Wasser, aus dem Schnee oder Eis besteht, setzt sich aus drei verschiedenen Isotopen zusammen, das heißt, er enthält drei Arten von Sauerstoffatomen, die in ihrem Kern eine unterschiedliche Zahl umgeladener Neutronen besitzen und deshalb ein unterschiedliches Atomgewicht haben. Die bei weitem vorherrschende Form des natürlichen Sauerstoffs ist mit 99,8 Prozent der Gesamtmenge das Isotop Sauerstoff-16 (das heißt Sauerstoff mit dem Atomgewicht 16), aber es gibt auch einen kleinen Anteil (0,2 Prozent) Sauerstoff-18 und eine noch kleinere Menge Sauerstoff-17. Alle drei Isotope sind nicht radioaktiv, sondern stabil, aber man kann sie mit einem als Massenspektrometer bezeichneten Instrument unterscheiden. Je wärmer es ist, wenn der Schnee entsteht, desto höher ist der Anteil an Sauerstoff-18 in seinen Wassermolekülen. Deshalb enthält der sommerliche Schnee aus jedem Jahr einen höheren Prozentsatz an diesem Isotop als Schnee, der im Winter gefallen ist. Und aus dem gleichen Grund ist Sauerstoff-18 im Schnee aus einem bestimmten Monat eines warmen Jahres stärker vertreten als in jenem aus dem gleichen Monat eines kalten Jahres. Wenn man also die Eiskappe Grönlands anbohrt (was entsprechend spezialisierte Wissenschaftler mittlerweile bis in eine Tiefe von ungefähr drei Kilometern getan haben) und den Sauerstoff-18-Gehalt in Abhängigkeit von der Tiefe misst, so stellt man fest, dass er wegen der regelmäßigen jahreszeitlichen Temperaturschwankungen vom Sommer eines Jahres über den Winter zum nächsten Sommer auf und ab geht. Ebenso kann man nachweisen, dass der Sauerstoff-18-Gehalt im Sommer beziehungsweise im Winter verschiedener Jahre unterschiedlich ist, weil die Temperatur von Jahr zu Jahr unberechenbar schwankt. Die Eisbohrkerne aus Grönland liefern den Archäologen also ganz ähnliche Informationen wie die Jahresringe aus dem Gebiet der Anasazi: Wir können daraus die Sommer- und Wintertemperaturen der einzelnen Jahre ablesen, und zusätzlich sagt die Dicke der Eisschicht zwischen zwei aufeinander folgenden Jahren etwas über die Niederschlagsmenge in dem betreffenden Zeitraum aus.
Darüber hinaus kann man einen weiteren Aspekt des Wetters aus den Eisbohrkernen ableiten, nicht aber aus den Jahresringen der Bäume: die Windverhältnisse. Stürmische Winde verwehen die Salzgischt aus dem Ozean rund um Grönland unter Umständen weit ins Landesinnere über die Eiskappe und lassen sie dort einschließlich der Natriumionen aus dem Meerwasser als Schnee fallen. Auch Staub aus der Atmosphäre, der weit entfernt in trockenen Gebieten der Kontinente entstanden ist und große Mengen von Calciumionen enthält, gelangt mit dem Wind auf die Eiskappe. Beide Ionen fehlen in Schnee, der sich aus reinem Wasser gebildet hat. Findet man sie in einer Schicht der Eiskappe in hoher Konzentration, kann das bedeuten, dass man es mit einem stürmischen Jahr zu tun hat.
Kurz gesagt, können wir das frühere Klima Grönlands aus isländischen Aufzeichnungen, Pollenuntersuchungen und Eisbohrkernen rekonstruieren, und die Bohrkerne ermöglichen es sogar, die Wetterverhältnisse einzelner Jahre nachzuzeichnen. Was haben wir auf diese Weise bereits in Erfahrung gebracht?
Erwartungsgemäß hat sich herausgestellt, dass das Klima vor rund 14 000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, wärmer wurde; die Fjorde Grönlands waren nun nicht mehr »eiskalt«, sondern nur noch »kühl«, und an ihren Ufern entwickelte sich ein niedriger Wald. Aber das Klima blieb während dieser 14 000 Jahre nicht langweilig und immer gleich: In manchen Phasen wurde es kälter, dann kehrten mildere Verhältnisse wieder. Diese Klimaschwankungen waren entscheidend dafür, dass amerikanische Ureinwohner die Insel bereits vor den Normannen besiedeln konnten. In der Arktis kommen nur wenige Tierarten - vor allem Rentiere, Robben, Wale und Fische - als Nahrung infrage, aber diese wenigen Arten sind häufig in großer Zahl vorhanden. Wenn eine solche Tierart jedoch ausstirbt oder an einen anderen Ort zieht, können die Jäger nicht wie bei der großen Artenvielfalt in niederen Breiten auf Alternativen zurückgreifen. Deshalb ist die Geschichte der Arktis einschließlich Grönlands eine Geschichte von Menschen, die kamen, viele Jahrhunderte lang große Gebiete besiedelten und dann einen Niedergang erlebten, verschwanden oder ihre Lebensweise ändern mussten, weil die Klimaveränderungen auch Veränderungen bei den Beutetieren mit sich brachten.
Dass Klimaveränderungen für die einheimischen Jäger solche Folgen haben, konnte man in Grönland im 20. Jahrhundert unmittelbar beobachten. Als das Meerwasser sich zu Beginn des Jahrhunderts erwärmte, verschwanden die Robben im Süden Grönlands fast völlig. Später wurde es erneut kühler, und man konnte die Robben wieder besser jagen. Als es dann zwischen 1959 und 1974 sehr kalt war, ging der Bestand der wandernden Robbenarten wegen des vielen Meereises zurück, und entsprechend sank die Fangmenge der einheimischen Robbenjäger; die Grönländer konnten jedoch eine Hungersnot verhindern, weil sie sich auf die Ringelrobben konzentrierten, eine Spezies, die nach wie vor in großer Stückzahl vorhanden war, weil diese Tiere sich Atemöffnungen im Eis schaffen. Ähnliche Klimaschwankungen mit nachfolgenden Veränderungen in der Häufigkeit von Beutetieren waren vermutlich ein wichtiger Faktor für die erste Besiedlung durch amerikanische Ureinwohner um 2500 v. Chr. ihr möglicherweise fast völliges Verschwinden um 1500 v. Chr. ihre nachfolgende Rückkehr, den erneuten Niedergang und die Entscheidung, den Süden Grönlands irgendwann vor der Ankunft der Wikinger um 980 n. Chr. endgültig aufzugeben. Die normannischen Siedler trafen also anfangs nicht auf amerikanische Ureinwohner, sie fanden aber Ruinen, die frühere Bewohner zurückgelassen hatten. Zum Pech der Normannen schuf das warme Klima zur Zeit ihres Eintreffens auch für das Volk der Inuit (Eskimos) die Möglichkeit, sich von der Beringstraße über die kanadische Arktis schnell nach Osten auszubreiten, denn das Eis, das die Kanäle zwischen den nordkanadischen Inseln während der kalten Jahrhunderte völlig verschlossen hatte, taute nun im Sommer und ermöglichte den Grönlandwalen, den wichtigsten Nahrungslieferanten der Inuit, die Durchquerung der Wasserstraßen in der kanadischen Arktis. Wegen dieses Klimawandels konnten die Inuit um 1200 von Kanada in den Nordwesten Grönlands einwandern - und das hatte für die Wikinger schwer wiegende Folgen.
Wie wir aus den Eisbohrkernen ablesen können, herrschte zwischen 800 und 1300 in Grönland ein relativ mildes Klima, das dem heutigen Wetter in der Region ähnelte oder sogar noch geringfügig wärmer war. Diese milden Jahrhunderte werden auch als mittelalterliche Warmperiode bezeichnet. Als die Wikinger nach Grönland kamen, waren also - zumindest nach dem Maßstab des durchschnittlichen Klimas in Grönland während der letzten 14 000 Jahre - gute Voraussetzungen für das Wachstum von Gras und die Haltung von Weidetieren gegeben. Ungefähr ab 1300 setzte in der Nordatlantikregion jedoch eine Abkühlung ein, und das Wetter schwankte von Jahr zu Jahr stärker; damit begann eine Kälteperiode, die bis ins 19. Jahrhundert dauerte und als »kleine Eiszeit« bezeichnet wird. Sie hatte um 1420 ihren Höhepunkt erreicht, und die zunehmenden Mengen an sommerlichem Treibeis zwischen Grönland, Island und Norwegen brachten den Schiffsverkehr mit der Außenwelt zum Erliegen. Erträglich oder sogar nützlich war das kalte Wetter für die Inuit, die nun Jagd auf Ringelrobben machen konnten, aber den Wikingern, die auf die Heuproduktion angewiesen waren, wurde es zum Verhängnis. Wie wir noch genauer erfahren werden, trug der Beginn der kleinen Eiszeit wesentlich zum Niedergang von NormannischGrönland bei. Aber der Klimawandel von der mittelalterlichen Warmperiode zur kleinen Eiszeit spielte sich nicht einfach so ab, dass »es kälter wurde und die Normannen starben«, sondern die Sache war wesentlich komplizierter. Auch vor 1300 hatte es bereits vereinzelt kältere Phasen gegeben, und die Wikinger hatten dennoch überlebt; andererseits brachten vereinzelte wärmere Abschnitte nach 1400 keine Rettung mehr. Vor allem aber bleibt die drängende Frage: Warum lernten die Wikinger nicht, mit der kleinen Eiszeit umzugehen, wo sie doch nur die Inuit beobachten mussten, die vor der gleichen Herausforderung standen?
Um unsere Betrachtung der ökologischen Verhältnisse in Grönland zu vervollständigen, sollten wir noch die einheimischen Tiere und Pflanzen erwähnen. Eine gut entwickelte Vegetation gibt es nur in Regionen mit mildem Klima, die vor der Salzgischt geschützt sind - das heißt im oberen Teil der langen Fjorde an der Südwestküste, wo sich auch die Westliche und Östliche Siedlung befanden. Dort ist die Vegetation in Gebieten, wo keine Tiere weiden, von Ort zu Ort unterschiedlich. In den kälteren Höhenlagen und am äußeren Teil der Fjorde in Meeresnähe, wo Kälte, Nebel und Salzgischt das Pflanzenwachstum behindern, sind Seggen die beherrschenden Arten - diese sind kürzer als Gräser und haben für Tiere einen geringeren Nährwert. Seggen können an solchen ungünstigen Orten wachsen, weil sie gegenüber der Austrocknung widerstandsfähiger sind als Gräser, sodass sie sich auch auf Kiesböden ansiedeln können, die kaum Wasser zurückhalten. Weiter landeinwärts sind steile Berghänge und kalte, windige Orte in der Nähe von Gletschern selbst dann, wenn sie vor der Salzgischt geschützt sind, praktisch nacktes Gestein ohne Pflanzenbewuchs. Die weniger unwirtlichen Regionen des Landesinneren bringen vorwiegend eine heideähnliche Vegetation aus Zwergsträuchern hervor. Die besten Regionen - das heißt solche in geringer Höhe und mit gutem Boden, die windgeschützt liegen, gut bewässert werden und durch ihre Südlage viel Sonnenlicht abbekommen - tragen offene Gehölze aus Zwergbirken und Weiden sowie einigen Wacholderbäumen und Erlen. Die meisten Bäume sind höchstens fünf Meter hoch, in den allerbesten Lagen erreichen die Birken auch bis zu neun Metern.
In Regionen, wo heute Schafe und Pferde weiden, bietet die Vegetation ein ganz anderes Bild, und ähnlich muss es auch zur Wikingerzeit gewesen sein. Auf feuchten Wiesen an sanften Abhängen, wie man sie beispielsweise rund um Gardar und Brattahlid findet, gedeiht üppiges, bis zu 30 Zentimeter hohes Gras mit vielen Blumen. Zwergweiden und Birken, die an manchen Stellen wachsen, werden von den Schafen kurz gehalten und erreichen eine Höhe von höchstens 50 Zentimetern. Auf trockenen, steileren und stärker dem Wetter ausgesetzten Feldern werden Gras und Zwergweiden nur wenige Zentimeter hoch. Nur wo Schafe und Pferde fern gehalten werden, wie beispielsweise innerhalb des Begrenzungszaunes rund um den Flughafen von Narsarsuaq, sieht man auch Zwergweiden und Birken von bis zu zwei Metern Höhe, die durch den kalten Wind von einem nahe gelegenen Gletscher verkrüppelt sind.
Wie steht es mit den Wildtieren auf Grönland? Am wichtigsten für Wikinger und Inuit waren Land- und Meeressäugetiere sowie Vögel, Fische und wirbellose Tiere aus dem Ozean. Der einzige große landlebende Pflanzenfresser im früheren Wikingergebiet (wenn man von den Moschusochsen im hohen Norden absieht) ist das Karibu, das von den Lappen und anderen Ureinwohnern des eurasischen Kontinents als Rentier domestiziert wurde, nicht jedoch von Wikingern und Inuit. Eisbären und Wölfe beschränkten sich in Grönland praktisch vollständig auf Gebiete weit nördlich von den Wikingersiedlungen. Kleinere Wildtiere waren Hasen, Füchse, Landvögel (darunter als größte die Alpenschneehühner, Verwandte der Raufußhühner), Süßwasservögel (mit Schwänen und Gänsen als größten Arten) und Seevögel (insbesondere Eiderenten und Alke). Die wichtigsten Meeressäuger waren sechs verschiedene Robbenarten, die für Wikinger und Inuit wegen unterschiedlicher Verbreitung und Verhaltensweisen, die ich später noch genauer erläutern werde, von unterschiedlicher Bedeutung waren.
Die größte dieser sechs Arten ist das Walross. An der Küste kommen auch verschiedene Walarten vor, die von den Inuit gejagt wurden, nicht aber von den Wikingern. In Flüssen, Seen und im Meer wimmelte es von Fischen, und die wertvollsten essbaren wirbellosen Tiere aus dem Ozean waren Krebse und Muscheln.
Glaubt man den Sagas und mittelalterlichen historischen Aufzeichnungen, so wurde der schon mehrfach erwähnte heißblütige Norweger namens Erik der Rote um das Jahr 980 des Mordes angeklagt und gezwungen, nach Island auszuwandern. Dort tötete er bald darauf nochmals einige Menschen, und man vertrieb ihn in einen anderen Teil der Insel. Nachdem er abermals Streit angefangen und wiederum Menschen getötet hatte, wurde er ungefähr 982 für drei Jahre völlig aus Island verbannt.
Da fiel Erik ein, dass ein gewisser Gunnbjörn Ulfsson viele Jahrzehnte zuvor auf einer Fahrt nach Island weit nach Westen vom Kurs abgekommen war und einige verlassene kleine Inseln ausgemacht hatte, die, wie wir heute wissen, unmittelbar vor der Südostküste Grönlands liegen. Auf den gleichen Inseln war um 978 auch ein entfernter Verwandter von Erik namens Snaebjörn Galti gewesen, der ebenfalls Streit mit seinen Schiffskameraden bekommen hatte und daraufhin ermordet wurde. Erik machte sich auf, um auf diesen Inseln sein Glück zu versuchen; in den folgenden drei Jahren erkundete er große Teile der grönländischen Küste, und dabei entdeckte er am oberen Teil der tief eingeschnittenen Fjorde gutes Weideland. Nach Island zurückgekehrt, zog er erneut in einem Streit den Kürzeren, und nun war er gezwungen, sich als Anführer einer Flotte von 25 Schiffen zur Besiedlung des neu entdeckten Landes aufzumachen, das er widersinnigerweise auf den Namen Grönland getauft hatte. Als man in Island erfuhr, dass jeder auf Wunsch in Grönland eine gute Heimat finden konnte, machten sich während der nächsten zehn Jahre drei weitere Flotten mit Siedlern von Island auf den Weg. Um das Jahr 1000 waren dann praktisch alle Regionen um die Westliche und Östliche Siedlung, die sich für die Landwirtschaft eigneten, bereist, und die Wikingerbevölkerung bestand aus schätzungsweise 5000 Menschen: 1000 in der Westlichen und 4000 in der Östlichen Siedlung.
Von diesen Siedlungen aus unternahmen die Normannen Erkundungsfahrten und jährliche Jagdausflüge nach Norden entlang der Westküste, und dabei drangen sie bis weit nördlich des Polarkreises vor. Einmal dürften sie bis auf 79 Grad nördlicher Breite gelangt sein, womit sie nur noch gut 1100 Kilometer vom Nordpol entfernt waren; auf dieser Höhe entdeckte man an einer archäologischen Stätte der Inuit zahlreiche Gegenstände der Wikinger, darunter Stücke von einem Kettenhemd, einen Zimmermannshobel und Schiffsnieten. Ein besser gesicherter Beleg für die Erkundung des Nordens ist ein Steinhaufen auf 73 Grad nördlicher Breite, der einen Runenstein (also einen Stein mit einer Inschrift in der Runenschrift der Wikinger) enthielt; dieser besagt, der Steinhaufen sei von Erling Sighvatsson, Bjarni Thordarson und Einridi Oddson am Samstag vor dem »Großen Bitttag« (dem 25. April) errichtet worden, und zwar wahrscheinlich um 1300.
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Normannen in Grönland mit einer Kombination aus Weidewirtschaft (Viehhaltung) und der Jagd auf wilde Tiere. Erik der Rote hatte bereits Tiere aus Island mitgebracht, im weiteren Verlauf wurden die Wikinger in Grönland aber auch in viel stärkerem Umfang von wild vorkommenden Lebensmitteln abhängig als in Norwegen und Island, wo die Menschen ihren Nahrungsbedarf wegen des milderen Klimas zum größten Teil durch Weidewirtschaft und (in Norwegen) auch durch Ackerbau decken konnten.
Anfangs stützten sich die Siedler in Grönland mit ihren Bestrebungen auf die Tiere, die auch die wohlhabenden Häuptlinge in Norwegen hielten: zahlreiche Kühe und Schweine, weniger Schafe und noch weniger Ziegen sowie einige Pferde, Enten und Gänse. Wie man aus der Zahl der Tierknochen schließen kann, die man in Abfallhaufen aus verschiedenen Jahrhunderten der normannischen Besiedlung identifiziert und mit der Radiokarbonmethode datiert hat, stellte sich offenbar schnell heraus, dass diese hergebrachte Mischung sich für das kältere Klima in Grönland nicht sonderlich gut eignete. Zahme Enten und Gänse starben sofort, möglicherweise schon auf der Reise nach Grönland: Es gibt keine archäologischen Belege, dass sie dort überhaupt gehalten wurden. Schweine fanden in den Wäldern Norwegens zwar reichlich Nüsse als Nahrung, und die Wikinger zogen das Schweinefleisch allen anderen Fleischsorten vor, aber im locker bewaldeten Grönland erwiesen sich die Borstentiere als schreckliche, unprofitable Zerstörer, die den Boden mit seinen empfindlichen Pflanzen durchwühlten. Sie wurden schon nach kurzer Zeit stark dezimiert oder fast ganz abgeschafft. Packsättel und Schlitten aus archäologischen Fundstätten zeigen, dass Pferde als Arbeitstiere gehalten wurden, aber wegen eines christlichen Verbots wurden sie nicht gegessen, und deshalb gelangten ihre Knochen nur selten in die Abfallhaufen. Kühe waren im Klima Grönlands nur mit wesentlich größerem Aufwand zu halten als Schafe oder Ziegen, denn sie fanden nur in den drei schneefreien Sommermonaten ihr Futter auf der Weide. Während des restlichen Jahres musste man sie in Ställen halten und mit Heu oder anderem Futter versorgen, dessen Beschaffung im Sommer zur Hauptaufgabe der grönländischen Bauern wurde. Besser hätten die Grönländer ihre arbeitsintensiven Kühe aufgegeben, und im Lauf der Jahrhunderte ging ihre Zahl darum zurück, aber sie waren als Statussymbole so beliebt, dass man nicht völlig darauf verzichten wollte.
Zu den Lieferanten für Grundnahrungsmittel wurden dagegen widerstandsfähige Schaf- und Ziegenrassen, die sich viel besser auf das kalte Klima einstellen konnten als die Rinder. Außerdem hatten sie den Vorteil, dass sie im Gegensatz zu Kühen auch im Winter selbständig unter dem Schnee noch Gras zum Fressen fanden. Heute lässt man Schafe in Grönland jedes Jahr neun Monate im Freien, und nur in den drei Monaten mit der größten Schneehöhe muss man sie in Unterkünfte bringen und füttern. An archäologischen Fundstätten aus der Frühzeit findet man Schafe und Ziegen zusammen in ungefähr ebenso großer Zahl wie Rinder, ihr Anteil nahm aber im Lauf der Zeit zu und lag am Ende bei bis zu acht Schafen oder Ziegen je Kuh. Die Isländer hielten ungefähr sechs Mal so viele Schafe wie Ziegen, und das gleiche Verhältnis herrschte auch auf den besten Bauernhöfen Grönlands in den ersten Jahren der Besiedlung, aber im Lauf der Zeit veränderte sich die Relation, bis die Ziegen ungefähr ebenso zahlreich waren wie die Schafe. Im Gegensatz zu Schafen können Ziegen nämlich auch die harten Zweige, Sträucher und Zwergbäume verdauen, die auf schlechteren Weideflächen in Grönland vorherrschen. Während also Kühe bei der Ankunft der Wikinger in Grönland auf der Beliebtheitsskala vor Schafen und diese wiederum vor den Ziegen rangierten, war die Reihenfolge ihrer Eignung für die Verhältnisse in Grönland genau umgekehrt. Die meisten Bauern (insbesondere jene in der weiter nördlich gelegenen und deshalb weniger produktiven Westlichen Siedlung) mussten sich schließlich mit einer größeren Zahl der zuvor verachteten Ziegen und weniger Kühen zufrieden geben; nur die produktivsten Höfe in der Östlichen Siedlung konnten es sich leisten, ihrer Vorliebe für Kühe nachzugeben und die Ziegen zu verschmähen.
Die Ruinen der Ställe, in denen die Wikinger auf Grönland ihre Kühe neun Monate im Jahr hielten, sind noch heute zu sehen. Es waren lange, schmale Gebäude mit Mauern aus Stein und Rasen, die mehrere Meter dick waren, damit es im Inneren im Winter warm blieb - im Gegensatz zu den grönländischen Schaf- und Ziegenrassen konnten die Kühe keine Kälte vertragen. Jede Kuh wurde in ihrem eigenen, rechteckigen Verschlag gehalten; die steinernen Trennwände zwischen diesen Verschlägen sind in vielen Ruinen bis heute erhalten. Aus der Größe der Verschläge, der Höhe der Türen, durch die man die Kühe in den Stall und wieder hinaustrieb, sowie natürlich aus den ausgegrabenen Skeletten der Kühe selbst kann man berechnen, dass die grönländischen Rinder die kleinsten waren, die man in der Neuzeit kennt: Ihre Schulterhöhe war nicht größer als 1,20 Meter. Im Winter blieben sie ständig im Stall, und der Dung, den sie fallen ließen, sammelte sich als wachsende Schicht bis zum Frühjahr um sie herum an; erst dann wurde der Mist hinaustransportiert. Die Tiere bekamen im Winter das im Sommer geerntete Heu zu fressen, und wenn das nicht ausreichte, kam Seetang hinzu, den man ins Landesinnere transportierte. Den Tang mochten die Kühe aber offensichtlich nicht, sodass Arbeitskräfte den ganzen Winter über zwischen der steigenden Dungschicht im Stall bleiben mussten, um die Kühe, die allmählich immer kleiner und schwächer wurden, gegebenenfalls mit Gewalt zu füttern. Ungefähr im Mai, wenn der Schnee taute und neues Gras heranwuchs, konnte man die Kühe endlich ins Freie bringen und auf den Weiden sich selbst überlassen, aber mittlerweile waren sie so schwach, dass sie nicht mehr gehen konnten - man musste sie nach draußen tragen. Wenn Heu und Seetang in einem besonders harten Winter ausgingen, bevor das Wachstum des Grases wieder einsetzte, sammelten die Bauern im Frühjahr die ersten Weiden- und Birkenzweige, um ihre Tiere notdürftig zu füttern.
Kühe, Schafe und Ziegen dienten in Grönland vor allem zur Milchproduktion und nicht in erster Linie als Fleischlieferanten. Milch lieferten die Tiere nur in den wenigen Sommermonaten, nachdem sie im Mai oder Juni ihre Jungen zur Welt gebracht hatte. Die Wikinger verarbeiteten die Milch dann zu Käse, Butter und dem Joghurtähnlichen skyr. Die Produkte wurden in großen Fässern gelagert, die man zur Kühlung entweder in Bergbäche legte oder in grasgedeckten Häusern aufbewahrte, und im Winter wurden die Milchprodukte verzehrt. Ziegen hielt man auch wegen der Felle und Schafe wegen der Wolle, die von besonders guter Qualität war, weil Schafe in kaltem Klima eine fettige, von Natur aus Wasser abweisende Wolle hervorbringen. Fleisch von den Haustieren gab es nur, wenn die Bestände ausgedünnt wurden, insbesondere im Herbst - dann berechneten die Bauern, wie viele Tiere sie mit dem Heu, das sie in dem betreffenden Jahr eingebracht hatten, über den Winter bringen konnten. Alle übrigen Tiere wurden geschlachtet. Entsprechend knapp war das Fleisch der Haustiere, und deshalb waren die Knochen geschlachteter Tiere in Grönland im Gegensatz zu anderen Ländern der Wikinger fast immer aufgebrochen, weil man noch den letzten Rest Knochenmark verwendet hatte. An archäologischen Stätten der grönländischen Inuit, die als geübte Jäger wesentlich mehr Wild erlegten als die Normannen, findet man zahlreiche Fliegenlarven, die sich von verfaultem Knochenmark und Fett ernähren; an den Stätten der Wikinger dagegen war für diese Fliegen kaum etwas zu holen.
Um eine Kuh über einen durchschnittlichen grönländischen Winter zu bringen, waren mehrere Tonnen Heu erforderlich; ein Schaf war mit viel weniger zufrieden. Im Spätsommer bestand die Hauptbeschäftigung der meisten Wikinger in Grönland deshalb darin, Gras zu mähen, zu trocknen und als Heu zu lagern. Welche Mengen dabei zusammenkamen, war von großer Bedeutung, denn sie bestimmten darüber, wie viele Tiere man während des nachfolgenden Winters füttern konnte; dies hing aber auch von der Länge des Winters ab, die nicht genau abzusehen war. Je nach der verfügbaren Futtermenge und der mutmaßlichen Länge des bevorstehenden Winters mussten die Normannen also in jedem September eine schwierige Entscheidung treffen: Wie viele ihrer kostbaren Tiere sollten sie schlachten? Töteten sie zu viele Tiere, war im Mai noch Heu übrig, und sie hatten nur eine kleine Herde; dann ärgerten sie sich unter Umständen, weil sie nicht das Risiko auf sich genommen hatten, mehr Tiere durchzufüttern. Wurden im September aber zu wenige Tiere getötet, ging ihnen das Heu vielleicht schon vor dem Mai aus, und sie liefen Gefahr, dass die ganze Herde hungerte.
Zur Heuproduktion dienten dreierlei Felder. Am produktivsten waren jene, die in der Nähe des Haupthauses lagen und durch einen Zaun vor dem Vieh geschützt waren; hier wurde das Gras mit Mist gedüngt, und sie dienten ausschließlich zur Heuproduktion. Auf dem landwirtschaftlichen Anwesen der Kathedrale von Gardar und den Anwesen einiger weiterer normannischer Bauernhofruinen kann man noch heute die Überreste von Bewässerungssystemen sehen: Um die Produktivität weiter zu steigern, leitete man das Wasser aus Gebirgsbächen mit einem System von Dämmen und Kanälen auf die Felder. Die zweite Zone der Heuproduktion, die so genannten Außenfelder, waren weiter vom Haupthaus entfernt und befanden sich außerhalb des eingezäunten Gebietes. Und schließlich übernahmen die Wikinger in Grönland ein als saeters (»Hütten«) bezeichnetes System, das auch in Norwegen und Island gebräuchlich war: Man errichtete Bauwerke in abgelegenen Gebieten des Hochlandes, die sich im Sommer für die Heuproduktion und als Weide für die Tiere eigneten, im Winter aber so kalt waren, dass man das Vieh dort nicht lassen konnte. Die größten saeters waren eigentlich kleine Bauernhöfe mit Wohnhäusern für die Arbeiter, die während des Sommers für die Tiere sorgten und Heu ernteten, im Winter aber zu dem eigentlichen Hof zurückkehrten. Die Schneeschmelze und das Wachstum des Grases begannen jedes Jahr zunächst in geringerer Höhe, und dann folgten die Höhenlagen, aber frisches Gras ist besonders nährstoffreich und enthält weniger schwer verdauliche Ballaststoffe. Die Hütten waren also eine raffinierte Methode: Mit ihrer Hilfe lösten die normannischen Bauern das Problem, dass die Ressourcen in Grönland so begrenzt und auf einzelne Flecken beschränkt sind. Sie konnten die nur vorübergehend nützlichen Stellen im Gebirge ausnutzen und wanderten mit ihren Tieren allmählich bergauf, um sich den Vorteil des frischen Grases zu sichern, das mit fortschreitendem Sommer in immer größeren Höhen heranwuchs.
Wie bereits erwähnt, hatte Christian Keller mir bereits vor unserer gemeinsamen Reise nach Grönland erklärt, das Leben bestehe in Grönland darin, »die besten Stellen zu finden«. Jetzt war mir klar, was er damit gemeint hatte: Selbst an den beiden Fjorden, die als einzige Gebiete in Grönland gute Voraussetzungen für Weideland boten, waren die wenigen guten Stellen weit verstreut. Wenn ich an Grönlands Fjorden auf und ab ging oder fuhr, bekam ich selbst als naiver Stadtbewohner allmählich einen immer besseren Blick für die Kriterien, nach denen die Normannen erkannten, welche Orte sich für die Anlage von Bauernhöfen eigneten. Die Siedler, die damals aus Island und Norwegen kamen, hatten mir gegenüber den großen Vorteil, dass sie bereits erfahrene Bauern waren, aber dafür hatte ich den Vorteil, die Sache rückblickend betrachten zu können: Im Gegensatz zu ihnen wusste ich, an welchen Stellen die Wikinger es mit der Landwirtschaft versucht und sie dann wegen schlechter Bedingungen wieder aufgegeben hatten. Für die Wikinger selbst muss es Jahre oder sogar Generationen gedauert haben, bis sie täuschend gut aussehende Stellen, die sich später als ungeeignet erweisen sollten, von vornherein aussortieren konnten. Der Stadtbewohner Jared Diamond stellt für einen Ort, der gute Voraussetzungen für einen mittelalterlichen normannischen Bauernhof bietet, folgende Kriterien auf:
1. Es sollte sich um eine große, ebene oder leicht ansteigende Fläche in den Niederungen (zwischen Meereshöhe und einer Höhe von 200 Metern) handeln, aus der man ein produktives Innenfeld machen kann. In den Niederungen ist das Klima am mildesten, die schneefreie Wachstumssaison ist am längsten, und das Gras wächst besser als an steilen Abhängen. Unter allen normannischen Anwesen in Grönland besaß das der Kathedrale von Gardar die größten niedrig gelegenen Ebenen; an zweiter Stelle folgten einige Höfe von Vatnahverfi.
2. Eine wichtige Ergänzung zu solchen großen, niedrig gelegenen Innenfeldern sind große Außenfelder in mittlerer Höhe (bis zu 450 Meter über dem Meeresspiegel), die zusätzliches Heu produzieren. Berechnungen zufolge hätten die Wikingerhöfe in den Niederungen allein nicht genügend Heu produzieren können, um Tiere in der Zahl zu versorgen, die man anhand der Anzahl der Ställe oder der Vermessung ihrer Ruinen abschätzen kann. Besonders große nutzbare Flächen im Hochland besaß der Hof Eriks des Roten bei Brattahlid.
3. Auf der nördlichen Erdhalbkugel fällt auf Böschungen, die nach Süden weisen, das meiste Sonnenlicht. Das ist wichtig, denn dann schmilzt der Schnee im Frühjahr schneller, die Wachstumssaison für die Heuproduktion umfasst mehr Monate, und die tägliche Sonnenscheindauer ist länger. Alle guten Wikingerhöfe auf Grönland - Gardar, Brattahlid, Hvalsey und Sandnes - besaßen solche Südhänge.
4. Eine ausreichende Versorgung mit Wasserläufen ist wichtig, damit die Weideflächen entweder durch natürliche Fließgewässer oder Bewässerungssysteme bewässert werden und mehr Heu produzieren.
5. Den Hof in der Nähe eines Gletschertales oder gegenüber davon anzulegen, ist ein sicheres Rezept für Armut. Aus einem solchen Tal kommt starker Wind, der das Graswachstum vermindert und die Bodenerosion auf Weideflächen verstärkt. Der Fluch der Gletscherwinde verdammte die Höfe in Narssaq und am Sermilikfjord zur Armut und zwang die Bewohner schließlich dazu, die Höfe am oberen Ende des Qoroq-Thales sowie in den Höhenlagen der Gegend von Vatnahverfi aufzugeben.
6. Wenn möglich, sollte man den Hof unmittelbar an einem Fjord mit einem guten Hafen errichten, damit man Waren mit dem Boot an- und abtransportieren kann.
Milchprodukte allein reichten nicht aus, um die 5000 normannischen Bewohner Grönlands zu ernähren. Auch mit Ackerbau war die Lücke nicht zu füllen, denn Getreide wurde in Grönland mit seinem kalten Klima und der kurzen Wachstumssaison kaum angebaut. In zeitgenössischen norwegischen Berichten ist davon die Rede, die grönländischen Wikinger hätten während ihres ganzen Lebens nie Weizen, ein Stück Brot oder Bier (das aus Gerste hergestellt wird) gesehen. Heute, wo das Klima in Grönland dem zur Zeit der ersten Wikinger ähnelt, sah ich bei Gardar, dem Ort des damals besten landwirtschaftlichen Anwesens, zwei kleine Felder. Darauf bauten die heutigen Bewohner einige kälteresistente Nutzpflanzen an: Kohl, Rüben, Rhabarber und Kopfsalat, die auch im mittelalterlichen Norwegen gediehen, sowie Kartoffeln, die in Europa erst nach dem Untergang der grönländischen Wikingerkolonie heimisch wurden. Vermutlich konnten auch die Wikinger die gleichen Pflanzen (mit Ausnahme der Kartoffeln) auf einigen Feldern anbauen, außerdem vielleicht auch in besonders milden Jahren ein wenig Gerste. In Gardar und auf zwei anderen Höfen der Östlichen Siedlung sah ich kleine Felder an Stellen, die den Wikingern möglicherweise zu dem gleichen Zweck gedient hatten: Sie lagen unterhalb von Klippen, welche die Sonnenwärme festhalten konnten, und Mauern hielten sowohl Schafe als auch den Wind fern. Der einzige direkte Beleg, dass die Normannen in Grönland auch Ackerbau betrieben, sind jedoch einige Pollenkörner und Samen des Flachses, einer mittelalterlichen europäischen Nutzpflanze, die in Grönland nicht heimisch war und demnach von den Wikingern eingeführt worden sein muss; sie diente zur Herstellung von Leinenstoff und Leinöl. Wenn die Wikinger auch andere Pflanzen anbauten, können diese zur Ernährung nur einen äußerst kleinen Beitrag geleistet haben; vermutlich dienten sie nur wenigen Adligen und Geistlichen gelegentlich als besondere Luxusspeise.
Der zweite wichtige Nahrungsbestandteil der Wikinger in Grönland war das Fleisch wilder Tiere, insbesondere von Karibus und Robben, das in viel größerem Umfang verzehrt wurde als in Norwegen oder Island. Karibus leben während des Sommers in großen Herden in den Bergen und kommen im Winter auf geringere Höhen herab. Funde von Karibuzähnen in normannischen Abfallhaufen beweisen, dass die Tiere im Herbst gejagt wurden; vermutlich veranstaltete man eine gemeinsame Treibjagd mit Hunden, bei der die Tiere mit Pfeil und Bogen erlegt wurden (die Abfallhaufen enthalten auch die Knochen großer skandinavischer Elchhunde). Bei den drei wichtigsten Robbenarten, auf die Jagd gemacht wurde, handelte es sich um den gemeinen Seehund, der das ganze Jahr über in Grönland zu Hause ist und im Frühjahr an den Stränden im oberen Teil der Fjorde seine Jungen zur Welt bringt, sodass man die Tiere von Booten aus leicht mit Netzen fangen oder einfach mit Knüppeln erschlagen kann, sowie um die Sattelrobbe und die Klappenmütze, zwei wandernde Robbenarten, die sich in Neufundland paaren, aber ungefähr im Mai in großen Rudeln an die grönländische Küste kommen, ohne sich aber in den oberen Teil der Fjorde und in die Nähe der meisten Wikingerhöfe zu begeben. Um diese Wanderrobben zu jagen, richteten die Wikinger am äußeren Teil der Fjorde, viele Dutzend Kilometer vom nächsten Bauernhof entfernt, jahreszeitliche Stützpunkte ein. Die Ankunft der Sattelrobben und Klappenmützen im Mai war für die Wikinger lebenswichtig, denn um diese Jahreszeit gingen sowohl die Vorräte der Milchprodukte aus dem vorangegangenen Sommer als auch das Fleisch der Karibus, das man im vorangegangenen Herbst gejagt hatte, allmählich zur Neige, andererseits war aber der Schnee auf den Höfen noch nicht so weit getaut, dass man das Vieh hätte auf die Weide treiben können; entsprechend hatten die Tiere auch noch keine Jungen zur Welt gebracht und produzierten noch keine Milch. Wie wir noch genauer erfahren werden, drohte bei Ausbleiben der Robbenwanderung eine Hungersnot, und den gleichen Effekt hatte auch jedes Hindernis (beispielsweise Eis in den Fjorden und entlang der Küste oder feindselige Inuit), das ihnen den Zugang zu den wandernden Robben versperrte. Entsprechende Eisverhältnisse herrschten vor allem in kalten Jahren, wenn die Wikinger nach einem kalten Sommer mit entsprechend geringer Heuproduktion ohnehin bereits gefährdet waren.
Durch chemische Analyse der Knochen (so genannte Kohlenstoff-Isotopenanalysen) kann man feststellen, in welchem Verhältnis das betreffende Tier oder auch ein Mensch im Lauf seines Lebens Nahrungsmittel aus dem Meer und vom Land zu sich genommen hat. Wendet man diese Methode auf die Wikingerskelette aus grönländischen Friedhöfen an, so stellt sich heraus, dass Nahrung aus dem Meer (insbesondere Robben) in der Östlichen Siedlung zur Zeit ihrer Gründung nur 20 Prozent der Ernährung ausmachten, aber dieser Anteil stieg in den letzten Jahren der Kolonie bis auf 80 Prozent an: Vermutlich war die Heuproduktion zur winterlichen Fütterung des Viehs zurückgegangen, und die gewachsene Bevölkerung brauchte mehr Lebensmittel, als die eigenen Tiere liefern konnten. Außerdem wurden in der Westlichen Siedlung stets mehr Meerestiere verbraucht als in der Südlichen, weil die weiter im Norden gelegene Siedlung weniger Heu produzierte. Möglicherweise verzehrten die Wikinger sogar noch mehr Robbenfleisch, als man aufgrund der Messungen vermutet, denn die Archäologen graben aus nachvollziehbaren Gründen eher reiche Höfe als ärmere Betriebe aus, und die verfügbaren Untersuchungen weisen daraufhin, dass die Menschen auf den kleinen, ärmeren Höfen, die nur eine einzige Kuh besaßen, mehr Robbenfleisch aßen als die reichen Bauern. Auf einem armen Bauernhof der Westlichen Siedlung stammten erstaunliche 70 Prozent aller Tierknochen in den Abfallhaufen von Robben.
Neben diesen großen Mengen von Robben und Karibus bezogen die Wikinger in geringerem Umfang auch Fleisch von kleinen Säugetieren (insbesondere Hasen), Seevögeln, Schneehühnern, Schwänen, Eiderenten, Muscheln und Walen, Letzteres wahrscheinlich nur dann, wenn hin und wieder einmal ein solches Tier strandete; Harpunen oder andere Gerätschaften zum Walfang findet man an den Ausgrabungsstätten der Wikinger nicht. Fleisch von Vieh oder Wildtieren, das nicht sofort verzehrt wurde, trocknete man in skemmur, Lagerhäusern aus Steinen, die man an besonders windigen Stellen in exponierter Lage ohne Mörtel zusammensetzte, damit der Wind hindurchpfeifen und das Fleisch trocknen konnte.
Auffällig ist, dass Fische an den archäologischen Stätten der Wikinger fast völlig fehlen, und das, obwohl sie von Norwegern und Isländern abstammten, die viel Zeit auf die Fischerei verwendeten und gerne Fisch aßen. An den archäologischen Fundstätten von Normannisch-Grönland machen Fischknochen weniger als 0,1 Prozent aller Tierknochen aus, im Gegensatz zu 50 bis 95 Prozent, die man in Island, Nordnorwegen und auf den Shetlandinseln zu jener Zeit findet. Der Archäologe Thomas McGovern fand beispielsweise in einem Abfallhaufen an den altnordischen Höfen von Vatnahverfi insgesamt nicht mehr als drei Fischknochen, und das, obwohl es in den Seen gleich nebenan von Fischen wimmelt; und an dem Wikingerhof Ö34 entdeckte Georg Nygaard unter insgesamt 35 000 Tierknochen nur zwei, die von Fischen stammten. Selbst an der Ausgrabungsstätte GUS, wo man die größte Zahl von Fischknochen fand - 166 oder 0,7 Prozent aller Tierknochen, die dort ausgegraben wurden -, stammen sechsundzwanzig davon aus dem Schwanz eines einzigen Kabeljaus, und die Knochen aller Fischarten zusammen sind immer noch im Verhältnis drei zu eins in der Minderzahl gegenüber den Knochen einer einzigen Vogelart (des Schneehuhns); das Zahlenverhältnis von Fisch- zum Säugetierknochen beträgt 1 zu 144.
Wenn man bedenkt, dass es in Grönland Fische in Hülle und Fülle gibt und dass Salzwasserfische (insbesondere Schellfisch und Kabeljau) heute die bei weitem wichtigsten grönländischen Exportgüter sind, erscheint diese geringe Anzahl von Fischknochen völlig unglaublich. Forellen und die lachsähnlichen Saiblinge sind in den Flüssen und Seen Grönlands wirklich zahlreich: Eine dänische Touristin, mit der ich am ersten Abend in der Jugendherberge von Brattahlid die Küche teilte, kochte sich zwei große Saiblinge; die beiden Fische, jeder rund ein Kilo schwer und 50 Zentimeter lang, hatte sie mit bloßen Händen in einem kleinen Tümpel gefangen, in den sie sich verirrt hatten. Die Wikinger hatten mit Sicherheit ebenso geschickte Hände wie diese Touristin, und sie hätten die Fische in den Fjorden auch wie die Robben mit Netzen fangen können. Und selbst wenn sie diese so leicht erhältlichen Fische nicht selbst essen mochten, hätten sie damit zumindest ihre Hunde füttern können, sodass diese weniger Fleisch von Robben und anderen Tieren brauchten und mehr davon für die Menschen zur Verfügung stand.
Wenn Archäologen zu Ausgrabungen nach Grönland kommen, mögen sie anfangs regelmäßig nicht glauben, dass die Wikinger hier keine Fische aßen, und dann entwickeln sie immer neue Ideen zur Beantwortung der Frage, wo sich die fehlenden Fischknochen verstecken könnten. Nahmen die Normannen ihre Fischmahlzeiten ausschließlich in wenigen Metern Abstand von der Küste ein, an Stellen, die heute unter Wasser liegen, weil das Land abgesunken ist? Sammelten sie sorgfältig alle Fischknochen, um sie als Dünger, Brennstoff oder Futter für die Kühe zu verwenden? Liefen ihre Hunde vielleicht mit den Fischkarkassen davon und ließen die Knochen auf den Feldern fallen, die man in weiser Voraussicht so ausgewählt hatte, dass zukünftige Archäologen sich dort vermutlich nicht die Mühe des Grabens machen würden, und vermied man gleichzeitig geflissentlich, die Reste zu den Häusern zu bringen oder auf die Abfallhaufen zu werfen, damit Archäologen sie später nicht fanden? Hatten die Wikinger so viel Fleisch, dass sie die Fische nicht brauchten? Aber warum brachen sie dann noch die Knochen auf, um das letzte bisschen Knochenmark herauszuholen? Waren die vielen kleinen Fischknochen im Boden vielleicht völlig verrottet? Aber in den Abfallhaufen von Grönland herrschen so gute Bedingungen, dass sogar die Läuse und Exkremente von Schafen erhalten geblieben sind. Alle diese Ausreden für das Fehlen der Fischknochen an den Ausgrabungsstätten der grönländischen Wikinger haben die gleiche Schwäche: Sie würden genauso für die grönländischen Inuit wie für die Wikinger in Island und Norwegen zutreffen, wo man aber stets eine Fülle von Fischknochen findet. Außerdem erklären sie auch nicht, warum die Ausgrabungsstätten der grönländischen Wikinger fast keine Angelhaken, Angelleinengewichte oder Netzgewichte enthalten, die in den Wikinger-Ausgrabungsstätten anderer Länder häufig vorkommen.
Ich neige stattdessen dazu, die Tatsachen für bare Münze zu nehmen: Obwohl die grönländischen Wikinger von einer Gesellschaft der Fischesser abstammten, dürfte sich bei ihnen vermutlich ein Tabu gegen den Verzehr von Fisch entwickelt haben. lede Gesellschaft hat ihre eigenen, willkürlich gewählten Nahrungstabus - sie sind eines der vielen Mittel, um sich von anderen Gesellschaften zu unterscheiden: Wir tugendhaft - sauberen Menschen verabscheuen jene ekelhaften Dinge, die irgendwelche anderen seltsamen Gestalten offensichtlich schätzen. Der bei weitem höchste Anteil dieser Tabus betrifft Fleisch und Fisch. Die Franzosen essen beispielsweise Schnecken, Frösche und Pferde, in Neuguinea schätzt man Ratten, Spinnen und Käferlarven, in Mexiko werden Ziegen verzehrt, und in Polynesien bevorzugt man Ringelwürmer aus dem Meer; alle diese Tiere sind nährstoffreich und (wenn man es schafft, sie zu probieren) köstlich, aber die meisten Amerikaner würden schon vor dem Gedanken, so etwas zu essen, zurückschrecken.
Dass Fleisch und Fisch so häufig besonderen Tabus unterliegen, dürfte letztlich darin begründet sein, dass sich in ihnen viel schneller als in pflanzlichen Lebensmitteln Bakterien oder andere Einzeller vermehren, die uns eine Lebensmittelvergiftung oder Parasitenerkrankung einbringen, wenn wir sie zu uns nehmen. Besonders groß ist diese Gefahr in Island und Skandinavien, wo man stinkenden (Nichtskandinavier würden sagen: verfaulten) Fisch mit verschiedenen Gärungsverfahren langfristig haltbar macht:
Bei manchen dieser Methoden verwendet man Bakterien, die auch den tödlichen Botulismus verursachen können. Die unangenehmste Krankheit meines Lebens - schlimmer noch als die Malaria - zog ich mir durch eine Lebensmittelvergiftung zu: Ich hatte Krabben gegessen, die ich im englischen Cambridge auf einem Markt gekauft hatte und die offensichtlich nicht frisch waren. Danach war ich mehrere Tage mit Erbrechen, Durchfall, heftigen Gliederschmerzen und Kopfschmerzen ans Bett gefesselt. Diese Erfahrung legt für mich ein Szenario aus Normannisch-Grönland nahe: Vielleicht litt Erik der Rote in den ersten Jahren der Besiedlung Grönlands nach einer Fischmahlzeit an einer ähnlich entsetzlichen Lebensmittelvergiftung. Nachdem er wieder genesen war, erzählte er allen, die es hören wollten oder auch nicht, wie schädlich Fische sind und warum das saubere, stolze Volk der Grönländer sich niemals zu den ungesunden Gewohnheiten der entsetzlich schmierigen, Fische essenden Isländer und Norweger herablassen solle.
Da die Viehhaltung in Grönland so schwierig war, mussten die Wikinger dort zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse eine vielschichtige, integrierte Wirtschaft entwickeln. Diese Integration hatte räumliche und zeitliche Aspekte: Die einzelnen Tätigkeiten wurden auf verschiedene Jahreszeiten verteilt, und die Bauernhöfe spezialisierten sich auf die Produktion unterschiedlicher Waren, die sie mit den anderen Höfen austauschten.
Die Betrachtung der jahreszeitlichen Reihenfolge möchte ich mit dem Frühjahr beginnen. Ende Mai und Anfang Juni, wenn die Sattelrobben und Klappenmützen in großen Herden an den Fjordmündungen vorüberzogen, kam die kurze, aber lebenswichtige Phase der Robbenjagd; gleichzeitig kamen auch die ortsfesten Gemeinen Seehunde an die Strände und brachten ihre Jungen zur Welt, wobei sie einfach zu fangen waren. Besonders arbeitsreich waren die Sommermonate von Juni bis August: Jetzt brachte man das Vieh zum Weiden ins Freie, die Tiere lieferten Milch, die man zu lagerfähigen Milchprodukten verarbeitete, einige Männer machten sich in Schiffen nach Labrador auf, um Holz zu fällen, andere Schiffe gingen in nördlicher Richtung auf Walrossjagd, und aus Island oder Europa trafen Frachtschiffe mit Handelsgütern ein. Im August und Anfang September folgten die hektischen Wochen, in denen man Gras schneiden, trocknen und als Heu einlagern musste; im September führte man die Kühe wieder von den Weiden in die Ställe, Schafe und Ziegen wurden näher zu den Unterkünften gebracht. September und Oktober waren die Karibu-Jagdsaison, und in den Wintermonaten von November bis April musste man die Tiere in den Ställen versorgen, Stoffe weben, mit Holz Gebäude errichten, Möbel bauen und reparieren, die Zähne der im Sommer erlegten Walrosse verarbeiten - und beten, dass die Vorräte an Milchprodukten und Trockenfleisch zur Ernährung der Menschen, das Heu als Tierfutter sowie die Brennstoffe zum Heizen und Kochen nicht vor dem Ende des Winters zur Neige gingen.
Neben dieser zeitlichen Abstimmung war aber auch eine räumliche wirtschaftliche Integration erforderlich: Selbst die reichsten Bauernhöfe in Grönland konnten nicht alles, was sie zum Überleben im Lauf des Jahres brauchten, selbst produzieren. Diese Integration umfasste den Warenverkehr zwischen dem oberen und unteren Teil der Fjorde, zwischen Höfen in den Niederungen und im Hochland, zwischen der Westlichen und Östlichen Siedlung sowie zwischen reicheren und ärmeren Höfen. Die besten Weidegründe befanden sich beispielsweise in den Niederungen am oberen Ende der Fjorde, die Karibujagd fand im Hochland auf Höfen statt, die sich wegen der kühleren Temperaturen und der kürzeren Wachstumssaison nicht sonderlich für die Weidewirtschaft eigneten, und die Robbenjagd konzentrierte sich auf den unteren Teil der Fjorde, wo Salzgischt, Nebel und kaltes Wetter schlechte Voraussetzungen für die Landwirtschaft boten. Diese Jagdreviere am äußeren Teil der Fjorde waren von den Bauernhöfen im Landesinneren nicht mehr zu erreichen, wenn die Fjorde zufroren oder sich mit Eisbergen füllten. Solche geographischen Probleme lösten die Wikinger, indem sie tote Robben und Seevögel vom unteren in den oberen Teil der Fjorde transportierten, und erlegte Karibus wurden aus dem Hochland zu den Höfen in den Niederungen gebracht. Robbenknochen kommen beispielsweise auch in den Abfällen der am höchsten gelegenen Höfe im Landesinneren häufig vor, das heißt, die Tiere müssen über viele Dutzend Kilometer von der Mündung des Fjordes dorthin transportiert worden sein. Auf den Vatnahverfi-Höfen weit im Landesinneren sind Robbenknochen im Abfall ebenso zahlreich wie die Knochen von Schafen und Ziegen. Umgekehrt kommen Karibuknochen in den reichen Höfen der Niederungen sogar häufiger vor als in den höher gelegenen, ärmeren Anwesen, wo die Tiere erlegt wurden.
Da die Westliche Siedlung fast 500 Kilometer weiter nördlich liegt als die Östliche, erreichte sie beim Heuertrag je Hektar nur ein knappes Drittel dessen, was die Östliche Siedlung produzierte. Andererseits lag die Westliche Siedlung näher an den Jagdrevieren für Walrosse und Eisbären, die, wie ich noch genauer erläutern werde, Grönlands wichtigste Exportgüter für Europa darstellten. Dennoch hat man Walrosselfenbein an den meisten archäologischen Fundstätten der Östlichen Siedlung gefunden: Dort wurde es offensichtlich während des Winters weiterverarbeitet, und auch der Schiffsverkehr (einschließlich des Elfenbeinexports) nach Europa spielte sich vorwiegend in Gardar und den anderen großen Anwesen der Östlichen Siedlung ab. Demnach war die Westliche Siedlung für die Wikingerwirtschaft von entscheidender Bedeutung, obwohl sie viel kleiner war als die Östliche.
Die Integration von ärmeren und reicheren Höfen war auch deshalb notwendig, weil Graswachstum und Heuproduktion insbesondere von zwei Faktoren abhängen: Temperatur und Sonnenscheindauer. Höhere Temperaturen und mehr Sonnenstunden oder -tage während der sommerlichen Wachstumssaison hatte zur Folge, dass ein Hof mehr Gras oder Heu produzieren und damit auch mehr Tiere füttern konnte, einerseits weil das Vieh selbst das Gras im Sommer abweidete, und andererseits weil im Winter mehr Heu zur Verfügung stand. Die besten Höfe, die sich in den Niederungen am oberen Ende der Fjorde befanden oder über Südhanglagen verfügten, produzierten deshalb in guten Jahren weit mehr Heu und Tiere, als ihre Bewohner selbst zum Überleben brauchten, bei den ärmeren Anwesen in höheren Lagen, am unteren Ende der Fjorde oder ohne nach Süden gerichtete Flächen war dieser Überschuss dagegen wesentlich geringer. In schlechten (kälteren und/oder nebligen) Jahren ging die Heuproduktion zwar überall zurück, die besten Höfe dürften aber auch dann noch einen