Kapitel 29
Emma sah lächelnd von ihrem Rührei auf, als Shaye ihr Krankenzimmer betrat. „Sie sind aber früh auf den Beinen.“
Shaye trat ans Bett und stellte einen Blumenstrauß auf den Nachttisch. „Das könnte ich genauso gut über Sie sagen, bis auf den Teil mit den Beinen.“
„Keine Sorge. Das dauert nicht mehr lang. Ich bin eine total schwierige Patientin. Die werfen mich hier raus, sobald sie können.“
„Wie fühlen Sie sich?“
„Als wäre ich angeschossen worden. Gott, ich kann kaum glauben, was ich da sage. Die ganze Sache war so surreal. Ich hab das immer noch nicht alles verarbeitet.“ Emma schüttelte den Kopf. Von dem Moment an, als die Sanitäter sie in den Rettungswagen verfrachtet hatten, bis zu dem Zeitpunkt, als der Arzt ihr schließlich ein Schlafmittel gegeben hatte, hatten ihre Gedanken immer wieder um das gekreist, was Patty gesagt und Shaye ihr über Hamet und Port Sulphur erzählt hatte. Wäre es nicht tatsächlich passiert, hätte Emma geschworen, es wäre unmöglich. Es war einfach alles so unglaublich. So schrecklich. So böse.
Und so traurig.
„Mir geht es genauso“, gab Shaye zu. „Es ist eine ganze Menge, was man verdauen muss.“
Emma nickte. „Ich hab mich bereits entschieden. Ich darf so lange darüber nachgrübeln, bis ich das Krankenhaus verlasse, und keine Sekunde länger. Wir kennen den groben Rahmen, aber all die kleinen Dinge … die Dinge, die diese Kinder zu Monstern gemacht haben. Ich glaube, das will ich alles gar nicht wissen.“
„Ich halte das für eine kluge Entscheidung. Wie sehen Ihre Pläne aus, nachdem Sie dieses Bett auf Rädern losgeworden sind?“
„Ich möchte New Orleans immer noch verlassen. Vermutlich werde ich nicht so schnell aus der Stadt rasen, wie ich gestern noch dachte, aber ich muss woandershin. Irgendwo neu anfangen, wo mich nichts an die Vergangenheit erinnert.“
„Wo Ihnen niemand mitleidige Blicke zuwirft, niemand tuschelt und Sie nicht immer glauben werden, es ginge womöglich um Sie.“
Emma griff nach Shayes Hand. Sie wusste zwar nicht viel über Shaye, dennoch war sich Emma sicher, dass sie nicht halb so viel durchgemacht hatte wie die andere Frau. Und was noch wichtiger war, Emma hatte Antworten erhalten und die Gewissheit, dass die Menschen, die ihr das angetan hatten, niemals wieder jemandem wehtun würden. Shaye konnte das von sich nicht behaupten.
Ein ernster Ausdruck trat in Emmas Gesicht. „Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so beeindruckt von jemandem wie von Ihnen. Sie sind unglaublich, Shaye. Ich verdanke Ihnen mein Leben, und das werde ich keinen einzigen Tag vergessen, der mir hier auf dieser Erde noch bleibt.“
Shaye wurde rot und sah hinunter auf die Decke. „Danke“, erwiderte sie leise.
„Sie werden große Dinge bewirken.“
Lächelnd hob Shaye den Blick. „Das hoffe ich.“
Schniefend entschied Emma, dass ein Themenwechsel angebracht war. „So, wie es aussieht, brauche ich eine neue Immobilienmaklerin.“
Shaye lachte. „Da kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen. Corrine hat da eine Freundin. Sie wird Sie zwar wegen frischer Blumen und Raumsprays nerven, aber sie erzielt für Sie sicher einen Top-Preis. Und am besten daran ist, dass sie und Corrine sich schon seit dem Kindergarten kennen. Vermutlich hatten sie Sport zusammen, also besteht eine sehr reale Chance, dass sie einander sogar nackt gesehen haben.“
„Engagiert!“
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Shaye traf vor Jackson im Café ein. Schon bevor er den Laden betrat, standen ein schwarzer Kaffee und ein Päckchen Süßstoff für ihn auf dem Tisch. Lächelnd nahm er Platz. „Wir müssen aufhören, uns so zu treffen.“
Sie lachte und freute sich darüber, wie sehr ihr der Klang dieses Geräuschs gefiel. So gut wie in diesem Moment hatte sie sich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Keine Ahnung, bis wann dieser Moment ungetrübter Freude anhalten würde, aber sie würde ihn ganz bestimmt so lange genießen, wie sie konnte. Die harsche Realität würde sich schon schnell genug zurückmelden.
„Haben Sie Emma besucht?“, fragte Jackson.
„Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Es geht ihr gut. Großartig sogar, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat. Die Ärzte haben die Kugel aus ihrer Schulter entfernt. Sie hat in einem Muskel festgesteckt. Eine ganze Weile lang wird es höllisch wehtun, und sie muss gut aufpassen, dass es sich nicht entzündet, aber Emma hat ja das nötige Fachwissen.“
„Jetzt muss sie die Stadt nicht mehr verlassen.“
„Sie muss nicht, aber sie möchte. Sie will neu anfangen.“
„Kann man ihr nicht verübeln.“
„Das sehe ich genauso.“
„Wie hat es Ihre Mutter aufgenommen, dass der Angriff auf sie etwas mit Ihrem Fall zu tun hatte?“, fragte er.
Shaye seufzte. Sie mochte nicht mal an die Diskussion denken, die sie mit Corrine deswegen geführt hatte. Ihre Mutter wollte nicht, dass Shaye noch weiter als Privatdetektivin arbeitete. Sie war davon überzeugt, dass dann etwas ganz Fürchterliches passieren würde. Womöglich würde Shaye sterben, die Welt aus den Fugen geraten oder das Kabelfernsehen eingestellt werden. Auf jeden Fall konnte nichts Gutes dabei herauskommen.
„Sagen wir mal so, sie hat dadurch eine Menge frischer Energie für den Versuch gefunden, mich zu einem Berufswechsel zu überreden“, sagte Shaye.
„Und, funktioniert es?“
„Ich hab ihr gesagt, dass ich meinen gefährlichen Job an den Nagel hängen würde, wenn sie das auch tut.“
„Ha! Das kam sicher gut an.“
„Ja. Haben Sie irgendwas von Helen Bourg gehört?“, fragte Shaye, um das Thema zu wechseln.
Jackson nickte. „Ich habe heute Morgen mit dem Sheriff gesprochen. Ihr Anruf gestern hat eine Menge losgetreten. Die haben so was zuvor noch nie erlebt und hoffen, dass sie es nie wieder müssen. Er hat gesagt, sogar in ihrem geschwächten Zustand musste man sie erst ruhigstellen, ehe man sie aus dem Haus schaffen konnte. Sie hat die Cops angeschrien und versucht, sie zu kratzen und beißen.“
„Sie ist total gestört, aber ich glaube, dass sie trotz ihrer Schimpftirade die Wahrheit gesagt hat.“
„Das Einsatzteam hat alle Dokumente mitgenommen, die es finden konnte. Vielleicht können sie rekonstruieren, wie lange Patty sie schon ans Bett gefesselt hatte.“
Shaye schüttelte den Kopf. „Ich hab darüber nachgedacht, was Patty Emma erzählt hat, dass Nathan immer der Liebling war. Glauben Sie, Patty hat ihn getötet? Um ihre Mutter zu bestrafen, oder weil er nicht misshandelt wurde wie sie oder Jonathon?“
„Das ist auf jeden Fall möglich. Detective Reynolds hat versucht, ihre Bewegungen nachzuvollziehen, seit sie Port Sulphur verlassen hat. Er hat sich anhand von Arbeitsunterlagen mit dem Namen, den sie Emma genannt hat, rückwärts vorgearbeitet. Bisher hat er drei Städte gefunden, in denen sie gelebt hat. In allen dreien gibt es ungeklärte Mordfälle, bei denen den Opfern die Augen ausgestochen wurden.“
Shaye schüttelte erneut den Kopf. „Ist es schlimm, dass ich froh bin, dass Sie sie getötet haben?“
„Auf keinen Fall! Sie hätte niemals mit Emma aufgehört. Wer weiß, wie viele Leichen ihren Weg sonst noch gepflastert hätten.“
Shaye rührte in ihrem Latte macchiato. „Bis zu einem gewissen Grad kann ich sogar verstehen, was in so einem Menschen vorgeht. Ich glaube, dass alle Empathie verschwindet, wenn man keine Hoffnung mehr verspürt. Dann wünscht man sich nichts weiter, als dass der Rest der Welt genauso leidet wie man selbst.“
Sie sah auf zu Jackson und erwartete Kritik in seiner Miene. Stattdessen hatte er die Stirn gerunzelt und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Einen Moment lang glaubte sie, er würde nicht antworten, doch schließlich räusperte er sich.
„Ich kann mir nicht mal ansatzweise das Leben vorstellen, das Helen und Patty geführt haben müssen, oder Jonathon“, sagte er. „Selbst nach allem, was ich weiß, mit allen medizinischen Fakten, mag ich mir so viel Grauen nicht vorstellen. Oberflächlich kann ich es nachvollziehen, sonst wäre ich ein schlechter Polizist. Aber tiefes Verständnis geht mir hier völlig ab. Genauso gut könnte ich einen van Gogh betrachten.“
„Manchmal schön. Manchmal schrecklich.“
Er nickte. „Manchmal ist das Bild deutlich und man erkennt den Sinn. Ein anderes Mal ist es verwirrend, und schon der Versuch, es zu entschlüsseln, bereitet mir Kopfschmerzen.“ Er blickte ihr fest in die Augen. „Es gibt keine allgemeingültige Erklärung, warum Menschen wie Helen, Patty und Jonathon existieren. Jeder Mensch hat eine andere Belastungsgrenze. Jeder Mensch ist unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Manche Menschen erhalten mehr Unterstützung, manche weniger.“
„Oder gar keine“, sagte Shaye leise. Sie fragte sich, was wohl mit ihr geschehen wäre, hätte Corrine sie nicht aufgenommen. Jackson schien zu glauben, dass sie taff war und gut zurechtkam, aber er kannte sie auch nicht wirklich. Selbst nach neun Jahren in Eleonores Behandlung war sich Shaye nicht sicher, ob sie sich überhaupt selbst kannte. Nicht vollständig. Und sie wusste, warum.
Weil ihr ein Teil ihrer Vergangenheit fehlte.
Sie konnte das Unbekannte nicht entschlüsseln, doch es war immer präsent. Es lauerte dicht unter der Oberfläche, zwang sie auf eine Art und Weise zum Denken und Handeln, für die es keine logische Erklärung gab. Zwang sie, die Symptome zu behandeln, statt die Ursache anzugehen.
„Sie haben angeboten, mir zu helfen“, sagte Shaye. „Falls ich jemals wissen will …“
„Und das werde ich auch. Ich werde Sie bei jedem Schritt begleiten.“