Kapitel 11
Corrine klopfte an die Apartmenttür und lauschte auf Geräusche aus dem Inneren. Der Anruf war spät am Nachmittag eingegangen, und weil der Mann so panisch geklungen hatte und entfernt ein schreiendes Kind zu hören gewesen war, hatte sich Corrine genauso viel Sorgen gemacht wie der Anrufer. Der Mann hatte sich geweigert, seinen Namen zu nennen, doch er gab an, bei einer Freundin zu Besuch zu sein, und das Baby würde seit mehr als einer Stunde so brüllen.
Dass Anrufer auf Anonymität bestanden, war keine Seltenheit. Anschwärzen wurde in manchen der Gegenden, in denen Corrine arbeitete, mit harten Konsequenzen bestraft. Sie klopfte erneut, aber wieder war kein Laut zu hören. Vielleicht war die Mutter zurückgekommen und hatte das Baby mitgenommen. Vielleicht hatte sie es aber auch erstickt und versteckte sich jetzt in der Wohnung. Corrine seufzte. Beides hatte sie schon erlebt.
Versuchsweise drehte sie am Griff und stellte überrascht fest, dass die Tür sich mühelos öffnen ließ. Sie schob sie ein kleines Stückchen auf. „Hallo? Ist jemand hier? Mein Name ist Corrine. Ich muss mit den Mietern dieser Wohnung reden.“
Sie wartete einige Sekunden, doch niemand antwortete. Sie schob die Tür noch ein paar Zentimeter weiter auf, lugte ins Innere und runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie betrat das Apartment und sah sich um. In den meisten Wohnungen, die sie aufsuchte, befanden sich nur wenige Möbelstücke. Die Leute, mit denen Corrine zu tun hatte, besaßen nicht viel. Aber abgesehen von ein paar ausgeblichenen Lebensmittelverpackungen auf dem Fußboden in Fensternähe war diese Wohnung vollkommen leer.
Sie ging in die Küche und strich mit dem Finger über die dichte Staubschicht auf der Arbeitsplatte. So viel Staub sammelte sich erst nach Wochen oder sogar Monaten an. Sie holte ihr Handy heraus und überprüfte die Adresse. Die Anschrift stimmte, und die Zahl an der Tür entsprach genau der Wohnungsnummer, die ihr der Anrufer genannt hatte. Allerdings war sich Corrine sicher, dass hier schon seit längerer Zeit niemand mehr lebte.
Im gleichen Stockwerk gab es noch fünf weitere Wohnungen, also ging sie über den Flur und klopfte an der Tür gegenüber. Stille. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie, und als sie die Tür öffnete, lag ein weiteres verlassenes Apartment vor ihr. Ein Schauer rann ihr den Rücken hinab. Sie wirbelte herum.
Am Ende des Flurs, gegenüber vom Treppenhaus, wurde eine Tür einen Spaltbreit geöffnet. Corrine bekam kaum noch Luft. Das Gebäude hatte keine Feuertreppe, und im dritten Stock konnte sie auch keinen Sprung aus dem Fenster riskieren. Der einzige Weg nach draußen war der über die Treppe. Sie zog Pfefferspray aus ihrer Handtasche und eilte darauf zu, den Blick fest auf das Apartment mit der leicht geöffneten Tür gerichtet. Inzwischen rannte sie fast.
Sie war so konzentriert auf die Wohnung gegenüber dem Treppenhaus, dass sie den Mann nicht aus dem Apartment daneben kommen sah. Beim Tritt auf die erste Stufe traf sie ein Schlag gegen die Schultern und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stürzte die halbe Treppe hinunter, versuchte noch, sich festzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie knallte mit der rechten Schulter und dem Kopf gegen die alten Holzstufen, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich zusammengekrümmt auf dem Treppenabsatz in der zweiten Etage liegen. Heftiger Schmerz schoss durch ihren rechten Arm und ihre Schultern, und ihr Knöchel pochte. Als ein Schatten auf sie fiel, hob sie den Kopf, doch sie sah alles wie durch einen Schleier. Blinzelnd versuchte sie, etwas zu erkennen, und tastete gleichzeitig mit dem linken Arm hektisch auf dem Boden nach dem Pfefferspray, das ihr beim Sturz aus der Hand gefallen war.
Als sich der Schatten über sie beugte, schrie sie auf. Ein Stiefeltritt traf ihre Schläfe, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr der Kopf explodieren. Dann wurde alles schwarz.
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Ron Duhon arbeitete immer sieben Tage, dann hatte er sieben Tage frei. Shaye hatte Glück, denn als sie ihn anrief, hatte er gerade frei. Er schlug vor, sich mit ihr in einem Café zu treffen. Angeblich war seine Freundin krank und er wollte sie durch Shayes Besuch nicht stören. Shaye schrieb sich die Adresse auf, dankte Greta für ihre Hilfe und verließ, ihre Notizen unterm Arm, die Ölfirma.
Sie hatte sich noch mit fünf anderen Mitarbeitern unterhalten, die oft mit David zusammengearbeitet hatten, doch keiner von ihnen hatte ihr irgendetwas Neues erzählen können. Zwar empfanden sie nicht so viel Abneigung gegenüber David wie Charlie, aber sie waren sich alle einig, dass David sehr aufbrausend gewesen und man ihm besser aus dem Weg gegangen war, wenn er schlechte Laune hatte. Ein paar von ihnen fanden es überraschend, dass er seine Wut an Emma ausgelassen hatte, weil sie den Eindruck gehabt hatten, dass David sie wirklich liebte. Allerdings war Wut auch immer unberechenbar. Alle fünf waren schockiert darüber, was passiert war, trotzdem waren sie sich einig, dass Emma in Notwehr gehandelt hatte, und hatten Mitleid mit ihr.
Auf dem Weg zum Café überlegte Shaye, was für ein Mensch David Grange wirklich gewesen war. Erlebte Gräueltaten veränderten einen Menschen. Selbst wenn man nur Zeuge gewesen war. Posttraumatische Belastungsstörungen waren bei ehemaligen Soldaten keine Seltenheit. Doch Shaye hatte immer noch Schwierigkeiten, Emmas Beschreibung von David vor seinem Irakeinsatz mit der Person in Einklang zu bringen, die aus dem Krieg zurückgekehrt war. Was war dort passiert, dass sich sein Charakter so völlig verändert hatte?
Eigentlich müsste sie unbedingt mit Davids Armeekameraden reden, aber Emma kannte ihre Namen nicht und das Militär würde ihr ganz sicher keine Liste zur Verfügung stellen, die letztendlich eine Aufstellung von Verdächtigen wäre. Falls dieser Ron tatsächlich Davids Cousin war, dann brachte er sie vielleicht auf eine weitere Spur, die sie verfolgen konnte.
Das Café befand sich in Tremé, versteckt zwischen einem Apartmentgebäude und einer Kunstgalerie. Shaye ging hinein und sah sich um. Sie traute ihren Augen nicht, als sie in einer Ecke einen Mann entdeckte, der David zum Verwechseln ähnlich sah. Kein Zweifel, das musste Ron sein. Er sah auf, sie winkte ihm zu und ging zu ihm hinüber. Je näher sie kam, desto deutlicher wurden jedoch die Unterschiede zwischen ihm und David. Rons Wangenknochen waren nicht so ausgeprägt wie die von David und sein Kinn nicht so kantig, doch sie sahen sich ähnlich genug, dass Ron als David durchgehen konnte, vor allem im Mondschein. Sie hatten eine ähnliche Statur, und Schnitt und Farbe seiner Haare entsprachen den Fotos, die Shaye von David gesehen hatte.
„Ron Duhon?“, fragte sie, als sie an den Tisch trat.
„Ja. Sind Sie die Privatdetektivin?“
Sie setzte sich ihm gegenüber. „Ich bin Shaye. Danke, dass Sie sich mit mir treffen.“
„Kein Problem. Es geht um David, haben Sie gesagt?“
„Ja. Ich versuche, ein wenig über ihn herauszufinden – über seine Freunde, seine Familie, seine Vergangenheit. Wie ich gehört habe, war er Ihr Cousin.“
Ron schüttelte den Kopf. „Ach wo. Ich meine, das habe ich nur behauptet, damit er das Vorstellungsgespräch kriegt, aber ich kannte den Typen gar nicht.“
„Und warum haben Sie dann so getan, als wäre er ein Familienmitglied?“
„Viele Menschen sind auf Arbeitssuche, vor allem, seit immer mehr Soldaten nach Hause kommen. Einer meiner Kumpel von der Highschool hat mit David gedient. Er hat mir erzählt, dass David in New Orleans auf Jobsuche ist, und gefragt, ob ich ihm helfen könnte.“
„Das war aber ziemlich riskant.“
Er runzelte die Stirn. „Das fand ich damals nicht. Ich meine, mein Kumpel hat gesagt, er legt für ihn die Hand ins Feuer. David war beim Militär, und seine Frau war eine Krankenschwester. Ich hab selbst acht Jahre lang gedient. Ich dachte, das ist ein guter Kerl, der verdient eine Chance.“
„Aha, und wie ist das für Sie gelaufen?“
„Nicht so gut. Ich hab mir von den anderen wegen Davids Verhalten ganz schön was anhören müssen. Manchmal war er cool, aber an anderen Tagen war er ein richtiges Arschloch. Sorry für den Ausdruck, aber mir fällt kein besseres Wort dafür ein.“
„Ist schon gut. Ich hab diese Beschreibung heute schon ein- oder zweimal gehört.“
„Da wette ich drauf.“
„Hat David jemals ein anderes Familienmitglied außer Emma erwähnt?“
Ron schüttelte den Kopf. „Er hat nicht besonders viel über Privates geredet, nur manchmal über Autos. Wenn ihm nach Gesellschaft war.“
„Können Sie mir sagen, wie ich Ihren Highschoolfreund erreichen kann?“
„Ich weiß nicht … Ich will nicht, dass er Ärger kriegt. Er hat nur versucht, dem Mann zu helfen. Dass David so durchdrehen würde, konnte er ja nicht wissen.“
„Das konnte niemand wissen, und außer David selbst ist niemand für seine Taten verantwortlich.“
„Kann sein. Sein Name ist Paul Schaffer. Eine Handynummer hab ich nicht. Er hat mich vom Stützpunkt aus angerufen. Ich glaube aber, dass er wieder in Übersee ist.“
„Stammt er aus New Orleans?“
„Natchez.“
„Wohnt er auf dem Stützpunkt, wenn er in den Staaten ist?“
Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Das hab ich nicht gefragt. So eng befreundet sind wir nicht. Er ruft mich einfach an, wenn er in der Stadt ist, und dann trinken wir ein paar Bier zusammen.“
Shaye tippte den Namen in ihr Handy. „Wissen Sie zufällig, ob er so eine Bierverabredung in nächster Zeit plant?“
„Das bezweifle ich. Wie gesagt, ich glaube, er ist wieder weg. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich mich überhaupt noch mal mit ihm treffen würde.“
„Warum denn nicht?“
„David hat so ein paar Sachen gesagt … über das, was sie im Irak gemacht haben.“
„Was denn genau?“
„Keine Einzelheiten. Aber seine Andeutungen waren schlimm genug. Ich hatte den Eindruck, dass die anderen Soldaten in der Einheit froh waren, als der Einsatz vorbei war und David zurückflog.“
Shaye runzelte die Stirn. Von Emma wusste sie, dass David von seinem letzten Einsatz verändert zurückgekommen war, also musste das, was seine Persönlichkeitsänderung verursacht hatte, im Irak passiert sein. Ron schien das zu bestätigen. Vielleicht hatte dieser Paul ihn in Dinge verwickelt, mit denen er nicht mehr klarkam, nachdem sich der Staub verzogen hatte und keine Bomben mehr explodierten.
„Haben Sie sonst noch Fragen?“, erkundigte sich Ron. „Ich muss meiner Freundin noch Hustensaft kaufen …“
„Nein, das war’s. Vielen Dank, dass Sie sich mit mir getroffen haben.“ Sie reichte ihm ihre Visitenkarte. „Falls Ihnen noch irgendetwas einfällt, oder irgendjemand, der mehr über David wissen könnte, dann rufen Sie mich bitte an.“
„Klar.“ Er schob die Karte in seine Hosentasche und verließ das Café.
Shaye beobachtete, wie er am Schaufenster vorbeiging, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, die Schultern hängend, leicht mit dem linken Bein humpelnd. Er war der Einzige, der bisher nicht von ihr hatte wissen wollen, warum sie Informationen über David brauchte. Das war merkwürdig, aber vermutlich hatte ihn jemand von der Ölfirma vorgewarnt.
Sie legte ein paar Dollarscheine auf den Tisch und schnappte sich ihre Sachen. Zu Hause würde sie mit der Suche nach Paul Schaffer beginnen. Das war bisher der einzige Name in Verbindung mit Davids Zeit beim Militär. Hoffentlich befand sich Schaffer nicht im Auslandseinsatz und konnte ihr einige Antworten liefern.
Als sie gerade das Café verließ, klingelte ihr Handy. Die Nummer erkannte sie nicht.
„Shaye Archer.“
„Ms Archer, hier spricht Sergeant Boyd vom New Orleans Police Department.“
Shaye umklammerte das Telefon. Emma war etwas passiert. Shaye war nicht schnell genug gewesen und jetzt hatte der Stalker sie erwischt.
„Was ist los? Geht es Emma gut?“
„Ich weiß nichts von einer Emma, Ms Archer. Ihre Mutter hatte einen Unfall. Sie ist im Krankenhaus. New Orleans General.“
Shaye war wie gelähmt. „Wie geht es ihr? Was ist passiert?“
„Sie wird gerade untersucht. Ich würde das lieber persönlich mit Ihnen besprechen.“
„Natürlich. Ich komme sofort.“
Sie sprintete zu ihrem Auto und fuhr mit quietschenden Reifen los. Geschwindigkeitsbegrenzungen und rote Ampeln wurden plötzlich zu reinen Vorschlägen. Auch wenn Shaye darauf achtete, niemanden in Gefahr zu bringen, brach sie mindestens zehn Verkehrsregeln, bevor sie abrupt auf dem Parkplatz der Notaufnahme anhielt. Sie rannte durch die Doppeltür und kam rutschend vor dem Empfangstresen zum Stehen.
„Mein Name ist Shaye Archer. Meine Mutter Corrine hatte einen Unfall.“
Ein großer, stämmiger Mann in einer Polizeiuniform kam aus dem Zugang zur Notaufnahme auf sie zu. „Ms Archer? Ich bin Sergeant Boyd.“
„Wo ist meine Mutter?“
„Hier entlang.“ Er deutete auf den Flur und sie betraten einen Raum.
Corrine lag mit einer Injektionsnadel im Arm in einem Krankenhausbett. Ihr Gesicht war von Kratzern übersät und geschwollen, und auf ihren Wangen prangten mehrere Blutergüsse. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und am Kinn klebte getrocknetes Blut. Ihre Augen waren geschlossen und sie atmete so flach, dass Shaye davon überzeugt gewesen wäre, dass sie überhaupt nicht mehr atmete, hätte sie nicht die Anzeige auf den Monitoren gesehen.
Neben dem Bett stand ein Arzt mit einer Patientenakte in der Hand. Bei ihrem Eintreten sah er auf. „Sie müssen Ms Archers Tochter sein. Ich bin Dr. Stabler.“
„Ja.“ Shaye eilte hinüber zum Bett. Aus der Nähe sahen Corrines Verletzungen noch schlimmer aus. „Wie geht es ihr? Was ist passiert?“
„Das wissen wir nicht genau“, gab Dr. Stabler zu. „Wir wissen nur, dass sie in einem verlassenen Gebäude eine Treppe hinabgestürzt ist. Ihre Verletzungen passen auch zu solch einem Sturz. Einige Rippen sind geprellt und sie hat eine leichte Gehirnerschütterung. Einige Tage lang wird sie das deutlich spüren, und die Rippen brauchen sogar noch ein wenig länger zum Heilen, aber sie wird wieder gesund.“
Shaye wurden die Knie weich. Sie klammerte sich an das Bettgestell. „Ist sie bewusstlos?“
„Nein. Sie schläft. So verarbeitet ihr Körper vermutlich die Schmerzen. Ich möchte sie zur Sicherheit heute Nacht hierbehalten und morgen noch einige Tests durchführen. Dann kann ich Ihnen sagen, wann sie entlassen werden kann.“
„Kann ich bei ihr bleiben?“
Dr. Stabler sah hinüber zu Sergeant Boyd, dann wieder zu Shaye. „In der Notaufnahme gestatten wir eigentlich keine Übernachtungsbesuche, aber in diesem Fall können wir sicherlich eine Ausnahme machen.“
„Vielen Dank.“ Erleichterung spülte über Shaye hinweg. Hätte er ihr die Übernachtung in Corrines Zimmer nicht erlaubt, hätte sie im Warteraum der Notaufnahme kampiert. Vielleicht war eine Ausnahme die einfachste Lösung für alle Beteiligten.
„Ich mache jetzt meine Visite“, erklärte Dr. Stabler, „aber ich sehe vor dem Ende meiner Schicht noch mal nach ihr.“
Shaye nickte. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wirbelte Shaye zu Sergeant Boyd herum. „Was zum Teufel geht hier vor sich? Die Polizei ist nicht bei Stürzen zuständig.“
„Nein, Ma’am. Wir haben einen Anruf von den Sanitätern vor Ort bekommen. Sie gaben an, dass Ihre Mutter Blutergüsse auf den Schultern hatte, und vermuteten, dass sie womöglich jemand die Treppe hinuntergestoßen hat.“
„Wer hat sie gefunden?“
„Ein paar Maler, die nächste Woche in dem Gebäude die Arbeit aufnehmen sollten. Sie kamen vorbei, um ihren Materialbedarf abzuschätzen. Jemand schoss beim Betreten des Gebäudes an ihnen vorbei und hat einen von ihnen umgerannt. Sie hörten ein Stöhnen und haben Ihre Mutter auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock gefunden. Wir durchsuchen gerade das Gebäude, aber bisher haben wir nichts weiter gefunden als die Fußabdrücke Ihrer Mutter und Stiefelabdrücke im Staub.“
„Konnten die Maler den Mann gut erkennen?“
„Leider nicht. Der Eingang geht in Richtung Osten, deshalb war es zu dämmrig. Sie haben ihn auf etwa einen Meter fünfundachtzig geschätzt, und kräftig soll er sein, aber mehr konnten sie uns nicht sagen. Den Namen Ihrer Mutter haben wir aus ihrem Führerschein, und in ihrem Portemonnaie war außerdem eine Notfallkarte mit Ihrem Namen und Ihrer Telefonnummer.“
„Moment mal.“ Shaye starrte den Polizisten an. „Er hat ihr nicht die Geldbörse gestohlen?“
„Nein. Darin waren ihr Führerschein, die Notfallkarte, eine Kreditkarte und vierzig Dollar in bar. In der Handtasche befanden sich die Brieftasche, ein Handy, der Autoschlüssel, Lippenbalsam und eins dieser Brillenputztücher. Glauben Sie, es fehlt was?“
Shaye versuchte, sich auf die Worte des Polizisten zu konzentrieren. „Tagsüber hatte sie immer nur sehr wenig bei sich, aber auf jeden Fall müsste noch eine Dose Pfefferspray in der Handtasche gewesen sein.“
Sergeant Boyd nickte. „Meine Kollegen haben eine auf der Treppe gefunden, aber sie war unbenutzt.“
„Er hat sie überrascht.“
„Sieht ganz so aus.“
Shaye fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Was hatte meine Mutter in einem leer stehenden Gebäude zu suchen?“
„Von ihrem Büro haben wir erfahren, dass sie heute am späten Nachmittag einen Anruf erhalten hat. Im Hintergrund schrie ein Baby, und der Anrufer hat behauptet, dass das schon seit Stunden so ginge. Sie wollte nachsehen, was da los war.“
„Hat sie sich die Adresse falsch aufgeschrieben?“
„Angeblich nicht. Ich hab nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus kurz mit Ihrer Mutter gesprochen. An einige Details konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, aber sie wusste noch, dass die Adresse in ihrem Handy stand. Ich hab mir die Notiz angesehen, und sie stimmte mit dem Fundort überein. Alle Anrufe bei der Behörde werden aufgezeichnet. Man hat das entsprechende Band abgehört und bestätigt, dass sie sich die korrekte Anschrift notiert hat.“
Shaye zog scharf den Atem ein. „Dann bedeutet das …“
„Jemand hat sie in das Gebäude gelockt, um sie dort zu überfallen.“
„Oh Gott.“ Shaye ließ sich zitternd auf einen Stuhl neben dem Bett fallen. „Konnten Sie den Anruf zurückverfolgen?“
Er nickte. „Er wurde von einem Wegwerfhandy gemacht, das in so einem kleinen Laden ohne Sicherheitskameras gekauft und bar bezahlt wurde.“
„Also haben Sie gar nichts in der Hand.“
„Ich habe bereits ihren Vorgesetzten kontaktiert und um eine Liste mit Namen von Leuten gebeten, die möglicherweise nicht gut auf Ihre Mutter zu sprechen sind, aber angesichts ihrer Arbeit wird die wohl recht lang werden. Fällt Ihnen sonst noch jemand ein? Vielleicht hat sie zu Hause jemanden erwähnt? Hatte sie vor jemandem Angst?“
Shaye schüttelte den Kopf. „Nichts Außergewöhnliches. Es war immer irgendjemand sauer auf sie. Leute, die davon überzeugt sind, dass man ihnen etwas anhängen will, obwohl sie fürchterliche Eltern abgeben. Doch sie hat keinen speziellen Namen erwähnt. Jedenfalls seit einer Weile nicht.“
„Kam sie Ihnen in letzter Zeit verändert vor? Wachsamer? Besorgt?“
Sie zögerte einen Moment mit der Antwort. „Nein.“
„Besonders überzeugt klingen Sie aber nicht.“
Verdammt. Dem Sergeant entging offenbar nicht viel.
„Neuerdings wirkte sie schon besorgter, aber das hat wohl mehr damit zu tun, dass ich diese Woche in eine eigene Wohnung gezogen bin.“
Sergeant Boyds Miene drückte jetzt nicht mehr berufliches Interesse, sondern Verständnis aus. „Mein Jüngster ist vor zwei Wochen ausgezogen. Meine Frau war tagelang untröstlich. Vermutlich hat sie schon in der ersten Woche seine gesamten Freiminuten fürs Handy aufgebraucht.“
Shaye brachte ein Lächeln zustande. „Das soll dann also wohl heißen, dass so etwas normal ist? Wie lange hält das an?“
„Bis einer von Ihnen stirbt.“ Sergeant Boyd runzelte die Stirn. „Es tut mir leid. Angesichts der Situation war das vermutlich nicht gerade die beste Antwort.“
„Machen Sie sich keine Gedanken. Kann ich irgendwie helfen?“
„Passen Sie einfach nur gut auf sich und Ihre Mutter auf. Mein Chef lässt einen Polizisten als Wache abstellen, bis wir wissen, was hier gespielt wird. Ich bin noch etwa eine Stunde lang hier, dann übernimmt Deputy Crocker bis morgen früh.“
„Danke.“ Shayes Erleichterung, dass die Polizei das Zimmer ihrer Mutter bewachte, hatte einen Beigeschmack. Bei jedem anderen wäre man wohl nicht so sehr um die Sicherheit besorgt. Doch die Erbin von Archer Manufacturing und Tochter eines Senators bekam eine Sonderbehandlung. Obwohl sie nicht mal darum gebeten hatte.
Nachdem Sergeant Boyd das Zimmer verlassen hatte, stand Shaye auf und stellte sich neben das Bett. Corrines Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und die Blutergüsse stachen auf ihrer blassen Haut wie Neonzeichen hervor. Shaye schob ihr sanft den Pony aus dem Gesicht. Die Beule an der Stirn war sehr groß und bereits dunkelviolett. Shaye hoffte inständig, dass Dr. Stabler mit seiner Diagnose richtiglag. Die Beule sah übel aus. Ihre Mutter würde beim Aufwachen ganz sicher wahnsinnige Kopfschmerzen haben.
Corrine regte sich und schlug die Augen auf. Panisch flog ihr Blick umher, bevor sie Shaye bemerkte und ruhiger wurde. „Shaye. Gott sei Dank! Einen Moment lang hatte ich keine Ahnung, wo ich bin.“ Corrine hob eine Hand, ließ sie jedoch stöhnend wieder aufs Bett fallen.
„Bleib ganz ruhig liegen“, bat Shaye. „Deine Rippen sind geprellt, deshalb wird jede Bewegung wehtun.“ Shaye drückte den Rufknopf für die Krankenschwester. „Kannst du mir erzählen, was passiert ist?“
„Ich glaube ja. Ein Polizist hat mich das vorhin auch schon gefragt, aber da war vieles noch nicht so klar.“
„Das liegt an der Gehirnerschütterung. Kannst du dich jetzt an mehr erinnern?“
„Ich wollte einen Hinweis überprüfen, aber als ich dort ankam, war alles irgendwie merkwürdig. Das Apartment stand leer. Alle Wohnungen waren leer. Dann hab ich gesehen, wie sich die Wohnungstür am Ende des Flurs gegenüber vom Treppenhaus geöffnet hat, und da wusste ich, dass noch jemand im Gebäude war.“
Corrine griff nach Shayes Hand. „Mit dem Pfefferspray in der Hand bin ich zur Treppe gerannt. Ich dachte, ich hätte ihn ausgetrickst, aber leider war es andersherum. Er war gar nicht in dem Apartment mit der offenen Tür. Er war in dem gegenüber. Er hat mich die Treppe runtergestoßen. Ich hab mir den Kopf angeschlagen und konnte nur noch verschwommen sehen. Dann stand er plötzlich über mir. Ich glaube, er hat mich getreten. Dann wurde alles schwarz.“
Während des Redens drückte Corrine Shayes Hand immer fester, und Shaye spürte eine große Wut in sich aufsteigen, dass jemand ihrer Mutter das angetan hatte. „Kannst du ihn beschreiben?“
„Nein.“ Corrine verzog frustriert das Gesicht. „Verdammt. Es war alles zu verschwommen. Er war groß, kräftig, mit einem Hoodie, mehr weiß ich nicht, alles war so grau und schwammig.“
„Setz dich nicht unter Druck. Davon kriegst du nur noch mehr Kopfschmerzen. Die Polizei ermittelt schon. Sie werden ihn kriegen.“
Eine Schwester betrat das Zimmer, und Shaye machte ihr Platz, damit sie nach Corrine sehen konnte. „Alles in allem sieht es gut aus, Ms Archer“, sagte sie. „Haben Sie Kopfschmerzen? Was ist mit Ihren Rippen?“
„Um ehrlich zu sein, gibt es momentan wohl keine Stelle an meinem Körper, die mir nicht wehtut“, sagte Corrine. „Ich bin zu alt, um Treppen hinunterzustürzen.“
Die Krankenschwester lächelte. „Sie sind immer noch jung und dynamisch. Glauben Sie mir, keiner von uns ist für so einen Sturz gemacht. Dr. Stabler hat mich angewiesen, Ihnen ein Schmerzmittel zu geben, wenn Sie aufgewacht sind.“ Sie zog eine Flasche aus der Tasche, reichte Corrine eine weiße Tablette und schenkte ihr ein Glas Wasser ein. „Damit sollten Sie sich besser fühlen und ein wenig schlafen können.“
Corrine schluckte die Pille hinunter und schloss die Augen. Die Schwester wandte sich an Shaye. „Sie wird jetzt ziemlich schnell einschlafen. Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn sie wieder aufwacht.“
Shaye nickte und rückte wieder näher ans Bett, nachdem die Schwester gegangen war. Corrine schlug die Augen auf. „Ich bin zwar müde, aber ich fürchte mich vor dem Einschlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen aufmache, hab ich Angst, ihn wieder über mir stehen zu sehen.“
„Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe hier sitzen, und Sergeant Boyd steht vor der Tür. Außer mir und dem Krankenhauspersonal wird sich niemand über dich beugen.“
Corrine zwang sich zu einem Lächeln, doch wegen der geschwollenen Lippen sah es eher nach einer Grimasse aus. „Hab ich dir schon gesagt, was für eine tolle Tochter du bist?“
„Höchstes ein- oder zweimal.“ Shaye beugte sich vor und küsste Corrine auf die Stirn. „Ruh dich aus. Ich bleibe hier.“
Corrine schloss die Augen. Innerhalb kürzester Zeit wurden ihre Atemzüge tiefer. Shaye sah ihr beim Schlafen zu und dachte über alles nach, was ihr Corrine und Sergeant Boyd erzählt hatten. Irgendetwas stimmte an der ganzen Geschichte nicht, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Der Anruf, das leere Gebäude, die Maler … die Handtasche!
Das war’s.
Sie eilte hinüber zum Tisch an der Wand, öffnete Corrines Handtasche und kippte den Inhalt aus. Brieftasche, Handy, Lippenbalsam, Schlüssel … wo war es? Sie stülpte die Handtasche um und tastete hinein, öffnete sogar die kleine Seitentasche. Und dort fand sie es. Es war kein Brillenputztuch, wie Sergeant Boyd vermutet hatte, denn Corrine trug gar keine Brille.
Es war ein Stoffmuster, wie es Innenarchitekten benutzten.
Shaye umklammerte das Tuch. Nicht ihr Job hatte Corrine in Gefahr gebracht, sondern Shayes Auftrag. Ihre Tarnung hatte den Stalker nicht täuschen können, und nun machte er deutlich, dass er nicht nur genau wusste, wer sie war, sondern auch, wie er sie treffen konnte.
Angst, Wut und Schuldgefühle überwältigten sie. Als sie diesen Fall angenommen hatte, hätte sie sich niemals träumen lassen, dass er ihre Familie und ihre Freunde in Gefahr bringen könnte. Nicht mal, als sie mehr über die Fixierung des Stalkers erfuhr. Wie hatte er ihre Identität aufgedeckt? War er Shaye zu ihrem Apartment gefolgt? Seit ihrem ersten Treffen mit Emma war Shaye immer besonders vorsichtig gewesen und hatte sorgfältig auf ihre Umgebung und mögliche Verfolger geachtet.
Sie schüttelte den Kopf. Er hätte ihr nur nach Hause folgen können, wenn er sich unsichtbar gemacht hätte. Was bedeutete, dass er ihren Namen auf anderem Weg herausgefunden haben musste. Was wusste er noch?
Und wie sollte sie ihrer Mutter erklären, dass der Unfall ihre Schuld war?