Kapitel 4
Zögernd stand Shaye vor dem Polizeirevier. Die vormittägliche Menschenmenge schob sich den Gehweg entlang, um noch rechtzeitig bei der Arbeit zu sein. Künstler waren mit ihren Exponaten auf dem Weg zum Jackson Square, wo sie auf das Geld der Touristen hofften. Alles war völlig normal, abgesehen von der Tatsache, dass sie vor dem Polizeirevier stand.
Vor neun Jahren war sie zum letzten Mal in diesem Gebäude gewesen. Und eigentlich wollte sie es am liebsten überhaupt nicht betreten. Doch wie sie zugeben musste, hatte sie bereits vor langer Zeit akzeptiert, dass eine Privatdetektivin mit hoher Wahrscheinlichkeit öfters mal bei der Polizei vorbeischauen musste. Bevor sie einen Grund finden konnte, die Angelegenheit auf später zu verschieben, riss Shaye die Tür auf und trat ein.
Auf der linken Seite stand eine Bank an der Wand. Die rechte Seite wurde von einem Anmeldeschalter eingenommen, der den winzigen Eingangsbereich von dem Meer an Schreibtischen mit Polizisten dahinter trennte. Der Raum surrte bereits vor Betriebsamkeit. Vor einem Schreibtisch saßen drei junge, betrunkene Männer. Auf ihren Hemden trugen sie das Abzeichen ihrer Studentenbruderschaft. Einer von ihnen erblickte Shaye und stieß die anderen an. Sofort begannen alle drei zu singen: „You’ve Lost That Lovin’ Feelin’“. Ganz offensichtlich hatten die drei zu oft „Top Gun“ geschaut.
Vor einem anderen Schreibtisch saßen zwei Frauen, die, ihrem Aussehen nach zu urteilen, entweder Prostituierte oder exotische Tänzerinnen waren. Ihre Mienen drückten eine Mischung aus Ärger und Langeweile aus. An einigen Schreibtischen sprachen die Leute sehr laut, brüllten fast, und an anderen beugten sie sich vor, flüsterten und wirkten peinlich berührt.
Shaye suchte in der Menge nach dem Polizisten, dessentwegen sie hergekommen war, doch sie fand ihn nicht.
Vom Anmeldeschalter her warf ihr ein älterer Mann mit silbergrauem Haar, beziehungsweise dem, was davon noch übrig war, einen Blick zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Äh, ja“, bestätigte Shaye. „Ich möchte gern mit Detective Beaumont sprechen.“
„Das würden viele gern, aber er ist letztes Jahr in Rente gegangen.“
„Oh.“ Shaye war verblüfft, rief sich jedoch schnell zur Ordnung. Schon vor neun Jahren waren Detective Beaumonts Haare vollständig ergraut gewesen. Dass er inzwischen in Rente war, sollte sie eigentlich nicht überraschen. Leider kannte sie außer ihm niemanden hier, mit dem sie reden konnte. Jedenfalls niemanden, dem sie vertraute.
„Möchten Sie vielleicht mit einem anderen Kollegen sprechen?“, fragte der Sergeant.
„Okay. Ich würde gern mit jemandem über den Tod von David Grange reden.“
Der Mann kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Kommen Sie von der Zeitung? Wir geben nämlich nicht einfach so Informationen an Reporter raus.“
„Nein. Ich bin private Ermittlerin. Die Ehefrau des Verstorbenen hat mich engagiert.“
Der Sergeant zog eine Braue hoch. Seine Miene drückte sehr deutlich „Blödsinn“ aus.
Shaye zog ihre Brieftasche hervor und kramte nach ihrem Ausweis. Schließlich hatte sie die Karte hervorgeholt und zeigte sie dem Mann. Der Sergeant inspizierte sie genau und musterte dann Shaye.
„Sind Sie nicht ein bisschen jung?“, fragte er.
„Ich bin vierundzwanzig. Manche finden das vielleicht jung, aber ich bin die, für die ich mich ausgegeben habe.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „So ein hübsches Mädchen wie Sie … Warum wollen Sie als Privatdetektivin arbeiten? Hinter fremdgehenden Ehemännern und Versicherungsbetrügern herjagen? Das ist ein undankbarer Job.“
„Ich bin nicht auf der Suche nach Dankbarkeit. Ich bin auf der Suche nach der Wahrheit.“
Er schnaubte. „Mädchen, Sie müssen noch viel lernen, und ich wette, das werden ein paar schmerzhafte Lektionen. Aber was zum Teufel weiß ich schon? Ich mache diesen Job jetzt seit zweiunddreißig Jahren, und trotzdem stehe ich jeden Tag auf und fahre zur Arbeit. Ich hole Ihnen jemanden.“
Er drehte sich um und rief: „Vincent! Hier ist jemand, der mit dir reden möchte.“
Ein stämmiger Mann mit kurzen silbergrauen Haaren und Brille sah herüber und runzelte die Stirn. „Schick sie her.“
Der Sergeant wandte sich wieder an Shaye. „Das ist Detective Vincent. Er war der leitende Ermittler im Fall Grange. Er wird Ihnen weiterhelfen können.“ Allerdings erfüllte der Ton, in dem er den letzten Satz sagte, Shaye nicht unbedingt mit Zuversicht.
Sie holte tief Luft und ging am Anmeldeschalter vorbei in das Meer aus Polizisten und Kriminellen. Innerlich wappnete sie sich für die Zeitverschwendung, als die sich das Gespräch mit Detective Vincent höchstwahrscheinlich herausstellen würde.
Als sie auf seinen Schreibtisch zuging, nahm er einen Stapel Akten aus einem der Metallstühle und schob ihn auf die einzige freie Ecke auf seinem Schreibtisch. Dann bedeutete er ihr, Platz zu nehmen, und ließ sich selbst zurück auf seinen Stuhl sinken. Er sah auf seine Uhr und dann auf den Computerbildschirm.
„Ich bin Detective Vincent. Was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Shaye Archer. Ich bin Privatdetektivin und wurde vor Kurzem von Emma Frederick engagiert. Es geht um einige Dinge in Bezug auf ihren verstorbenen Ehemann David Grange.“
Die Augen des Detectives wurden bei dem Wort „Privatdetektivin“ ein wenig größer, doch gleich darauf setzte er wieder eine gelangweilte Miene auf. „Keine Ahnung, was Sie oder Ms Frederick wissen wollen. Der Mann ist tot. Sie hat ihn umgebracht. So wie ich das sehe, geschah ihm das recht. Was gibt es da noch zu ermitteln?“
„Ms Frederick glaubt, dass sie verfolgt wird.“
Seufzend lehnte sich Vincent zurück. „Schon wieder?“
„Sind Sie der Beamte, mit dem sie vor ein paar Tagen gesprochen hat?“
„Ja. Hören Sie, ich hab mir alles angehört, bin zu ihrem Haus gefahren und habe mit meinem Partner jeden Quadratzentimeter abgesucht. Es gab keinerlei Anzeichen für gewaltsames Eindringen, und Ms Frederick hat mir erzählt, dass sie nach dem anderen Vorfall die Schlösser ausgetauscht hat. Ich kann wegen nichts keine Ermittlung einleiten.“
Shaye kämpfte darum, die Kontrolle zu behalten. „Ms Frederick hat jemanden in ihrem Haus gesehen. Wie können Sie das als nichts bezeichnen?“
Vincent schüttelte den Kopf. „Emma Frederick ist eine nette Frau, die Schreckliches durchgemacht hat. Normale Menschen sind nicht auf einen Angriff vorbereitet, und noch weniger darauf, ihren Angreifer zu töten. Erst recht nicht, wenn sie mit ihm verheiratet sind. Ich würde mir deutlich mehr Sorgen machen, wenn sie nicht irgendeine Form von Trauma nach den Ereignissen hätte.“
„Sie denken, sie hat sich das eingebildet.“ Kein Wunder, dass Emma befürchtet hatte, Shaye würde ihr nicht glauben. Jemand verfolgte diese Frau, und der Cop, der herausfinden sollte, wer das sein könnte, war nicht einmal davon überzeugt, dass es überhaupt etwas zu ermitteln gab.
„Natürlich hat sie sich das eingebildet. Welche Erklärung sollte es sonst geben?“
„Keine Ahnung. Vielleicht war jemand in ihrem Haus, und Sie haben einfach nicht herausgefunden, wie er hineingekommen ist.“
„Oh, die macht dir aber Feuer unterm Hintern, Vincent“, sagte ein junger Polizist vom benachbarten Schreibtisch aus. Grinsend sah er zu einem anderen Polizisten hinüber, der neben ihm stand.
Vincent warf beiden einen gelangweilten Blick zu. „Ich habe nichts gefunden, weil es nichts zu finden gab.“
„Vielleicht. Aber ich werde dafür bezahlt, sicherzugehen.“
„Dann tun Sie das. Ist ja nicht mein Geld.“
Sein abfälliger Ton brachte das Fass zum Überlaufen. Seit wann standen denn die Opfer in der Beweispflicht? „Und wenn ich etwas finde, das Sie übersehen haben?“
Vincents Miene wurde abweisend. „Hören Sie, Sie wirken wie ein nettes Mädchen. Sie sollten eigentlich unten im Quarter sein, auf einer Party mit Ihren Freundinnen und auf der Suche nach einem Ehemann, der Ihnen ein gutes Leben bieten kann.“
Obwohl sie wusste, dass er das sagte, um sie zu provozieren, reagierte Shaye gereizt. „An dem Tag, an dem ich einen Mann brauche, gehe ich ins Kloster.“
Vincent grinste. „Aber Sie sind hier, weil Sie etwas brauchen. Und ich bin ein Mann.“
Shaye lächelte. „Ihrer ersten Aussage stimme ich zu. Von der zweiten bin ich nicht überzeugt.“
„Ooooh“, machten die beiden anderen Cops unisono, als Shaye aufstand.
„Vielen Dank für Ihre Zeit, Detective Vincent. Mehr hab ich ja nicht von Ihnen bekommen.“ Sie schlang sich ihre Handtasche über die Schulter und ging Richtung Ausgang.
„Gut gemacht, Mädchen“, sagte eine der Prostituierten, als Shaye an ihr vorbeikam. „Lass dir von den Männern nichts gefallen, sonst endest du noch so wie ich.“
Shaye nickte ihr zu, beschleunigte ihre Schritte und ließ die Tür zum Polizeirevier hinter sich ins Schloss fallen. Zum Teufel mit den Cops. Sie hatte ohnehin kaum Hoffnung gehabt, dass ihr Detective Beaumont helfen würde. Dass ein Cop, der sie nicht mal kannte, ihr Informationen liefern würde, war schon gar nicht zu erwarten gewesen. Sie hatte von Anfang an damit gerechnet, dass Detective Vincent sie verspotten würde, doch so viel Hohn gegenüber ihrer Klientin hätte sie nicht vermutet. Ganz offensichtlich hatte Vincent Probleme mit Frauen, und noch viel größere Probleme hatte er damit, dass ihm jemand womöglich einen Irrtum nachweisen konnte.
Shaye hatte fest vor, aus diesem potenziellen Problem Realität werden zu lassen.
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Als die Tür hinter Shaye Archer zugeknallt war, beobachtete Detective Jackson Lamotte von seinem Schreibtisch aus, wie die beiden jungen Cops Vincent aufzogen. Das war nicht besonders klug. Vincent hatte einen hohen Rang und konnte ihnen das Leben zur Hölle machen. Das wusste er nur allzu gut, da er ihm vor einem Jahr als Partner zugeteilt worden war. Trotzdem konnte er ihnen ihre Schadenfreude nicht verübeln. Vincent war ein sexistisches Arschloch und ein fauler Cop dazu. In der Vergangenheit hatte er zwar eine Menge böser Jungs hochgenommen, doch inzwischen schien er sich lieber auf den Lorbeeren früherer Erfolge auszuruhen und gemächlich auf seine Pensionierung zu warten.
Jackson hatte schon von dem Moment an, als Shaye an Vincents Schreibtisch Platz nahm, gewusst, wie die Sache ablaufen würde. Zumindest hatte er genau gewusst, wie Vincent reagieren würde. Shaye hatte ihn mit ihrer Gelassenheit und den schlagfertigen Antworten überrascht. Für eine so junge Frau war sie nicht leicht einzuschüchtern.
Er sah zum Fenster hinaus und beobachtete, wie sie die Straße überquerte und ein Café betrat. Hinter ihm ertönte Vincents gereizte Stimme. Er diskutierte mit den Jungspunden. Jackson ging davon aus, dass dieser Streit vermutlich eine Weile andauern würde, und danach würde Vincent eine Pause brauchen, um sich von seinem anstrengenden Vormittag zu erholen. Vincent brauchte immer eine Pause, und in letzter Zeit war jeder Vormittag anstrengend. Solange die Zentrale Vincent nicht von seinem Schreibtisch wegholte, würde Jackson weder gebraucht noch vermisst werden. Vielleicht würde Jackson nach Vincents Pensionierung endlich wieder seinen Job richtig machen können. Wenn man immer nur Papiere auf dem Schreibtisch herumschob, wurde das schnell langweilig.
Er stand auf und holte sein Handy und die Brieftasche aus der Schreibtischschublade. Niemand sah auch nur in seine Richtung, als er zwischen den Schreibtischen hindurchging und das Revier verließ.
Es war zu spät für die Berufstätigen und zu früh für die Touristen, deshalb entdeckte er Shaye problemlos an einem Tisch in der hinteren Ecke, wo sie an einem Latte nippte. Nur ein weiterer Tisch war besetzt. Dort stritten sich zwei alte Männer über die Benzinpreise und den besten Friseur. Sie hoben kaum den Kopf, als er an ihnen vorbeiging. Bei Shaye lag der Fall jedoch anders. Sobald er das Café betreten hatte, fing sie seinen Blick auf und ließ ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Als er an ihrem Tisch stehen blieb, wurden ihre Augen einen Moment lang groß, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie.
„Nein. Aber ich glaube, ich kann etwas für Sie tun.“
Sie sah ihn angewidert an. „Verschwinde, du Perversling.“
Jackson lachte. „Shit. Nein, Sie missverstehen mich.“ Er zeigte ihr seine Marke. „Ich bin Polizist.“
„Pech für Sie.“
„An manchen Tagen sehe ich das genauso. Ich hab Ihr Gespräch mit Vincent gehört. Darf ich mich setzen?“
Sie musterte ihn einen Moment lang und deutete dann auf den Stuhl. „Bitte.“
Jackson setzte sich. Die Kellnerin kam lächelnd zu ihm herüber. „Wie immer, Detective?“
„Das wäre nett“, sagte er. „Danke, Christi.“
„Sie kennen sich?“, fragte Shaye.
„Café … Polizeirevier. Eine Art natürliche Symbiose.“
„Sieht so aus.“
Christi kehrte mit einer großen Tasse schwarzem Kaffee zurück und stellte sie vor ihn hin. Er rührte ein Päckchen Süßstoff hinein. „Was Vincent betrifft, ich würde mich ja für sein Verhalten entschuldigen, aber ich gehe davon aus, dass Ihnen das egal ist, und außerdem bin ich nicht für ihn verantwortlich.“
Shaye zog eine Braue hoch. „Ehrlich und direkt. Das findet man nicht allzu oft.“
„Ja, genau genommen bin ich einfach faul, und Lügen sind mir zu anstrengend.“
Shayes Unterlippe zitterte. Er konnte sehen, dass sie gerne gelächelt hätte, allerdings hatte er ihren Verteidigungswall noch nicht komplett durchdrungen.
„Ich bin froh, dass Sie nur über die Straße gegangen sind“, fuhr er fort. „Weiter als einen Häuserblock wäre ich Ihnen vermutlich nicht gefolgt. Vielleicht sogar noch weniger.“
Das Lächeln brach sich schließlich Bahn. „Und warum verschwenden Sie dann so viel von Ihrer wertvollen Energie darauf, mir in ein Café zu folgen?“
„Emma Frederick hat Sie engagiert?“
„Ja.“
„Können Sie mir sagen, wofür genau?“
Normalerweise hätte Shaye niemals einfach so Informationen über einen Fall preisgegeben, aber Detective Lamotte war nicht einfach irgendwer. Und da er ihr Gespräch mit Vincent mit angehört hatte, kannte er den Großteil der Geschichte sowieso schon. Zumindest, was den Fall betraf.
„Sie wird gestalkt.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“
„Weil sie es sagt. Hören Sie, Detective Lamotte …“
„Nennen Sie mich Jackson.“
„Okay, Jackson, ich weiß nicht, wann sich die Regeln bei der Polizei geändert haben und seit wann man Opfern nicht mehr hilft, sondern sich über sie lustig macht. Aber es gefällt mir überhaupt nicht. Emma Frederick ist eine nette Frau, die Todesangst aussteht, und Ihr Verein will ihr einreden, dass sie sich die ganze Sache nur einbildet.“
Er verstand ihre Wut, aber er glaubte auch, dass sie sich irrte. Jedenfalls zum Teil. „In meinem Job hab ich nicht den Luxus, zu glauben, was ich will. Nur das, was ich auch beweisen kann.“
„Was natürlich eine tolle Strategie ist, wenn es darum geht, Beweise für eine Mordverurteilung zu beschaffen, aber mein Ziel ist es, Emma vor einem Mord zu schützen! Sehen Sie meine Leistung als eine Art Präventivmaßnahme.“
„Im Gegensatz zur Polizei, die erst auftaucht, wenn die Party bereits vorbei ist.“
Sie neigte den Kopf. „Sie sagen es.“
Und leider lag in ihren Worten ein großes Körnchen Wahrheit. Cops konnten Verbrechen so gut wie nie verhindern. Sie ermittelten im Nachgang. Wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen war. Doch wenn jemand die finanziellen Möglichkeiten besaß, einen Privatdetektiv anzuheuern, dann konnte er in die Offensive gehen. „Ich gebe zu, wenn jemand der Sache nachgeht, verschafft das Ms Frederick einen Vorteil, den viele nicht haben. Allerdings weiß ich auch mehr über die Situation als Sie. Detective Vincent ist nämlich mein Partner.“
„Und trotzdem sitzen Sie hier bei mir. Wollen Sie ihn ärgern?“
„Nicht direkt, aber wenn das ein Nebenprodukt unseres Gesprächs ist, dann hab ich nichts dagegen.“
Sie grinste. „Da bin ich dabei. Sind Sie schon lange Partner?“
„Ein Jahr, aber es kommt mir eher vor wie eine zehnjährige Reise durch die Hölle.“
„Das kann ich mir vorstellen. Haben Sie an dem Mordfall David Grange mitgearbeitet?“
Jackson nickte. „Und ich habe das Haus von Ms Frederick überprüft, nachdem sie angerufen und uns berichtet hat, jemand wäre am Vorabend bei ihr eingebrochen.“
Shaye rutschte auf ihrem Stuhl herum und Jackson konnte ihr ansehen, dass sie gerne eine Million Fragen auf ihn abgefeuert hätte, doch sie gab sich immer noch unbeteiligt. Das musste man ihr lassen. Darin war sie ziemlich überzeugend.
„War es so, wie Vincent behauptet hat?“, fragte sie schließlich.
„Ja. Obwohl er das natürlich nicht aus erster Hand weiß. Sein Anteil war damit erschöpft, im Wohnzimmer herumzustehen und zu nicken. Ich habe die Schlösser untersucht.“
„Und Ihrer Meinung nach kann niemand ins Haus gelangt sein?“
„Möglich ist immer alles. Türschlösser können aufgebrochen werden. Mit dem richtigen Handwerkszeug kann ein Experte sie innerhalb von Sekunden knacken. Aber …“
„Es wurde nichts gestohlen, was einen Profidieb ausschließt, und Schlosser verschaffen sich in der Regel nicht einfach Zugang zum Haus von Fremden, nur um sie zu schikanieren.“
„So ungefähr. Keins der Fenster war beschädigt und ich konnte auch an den Türschlössern kein Anzeichen für gewaltsames Eindringen feststellen. Ein Profi würde natürlich keine Spuren hinterlassen, aber die meisten Einbrüche werden nicht von Profis ausgeführt. Im Garten gab es keine Fußspuren und am Vorabend hatte es stark geregnet. Der Garten steht voller Bäume, die Schatten spenden, deshalb ist das Gras im Bestzustand. Es gibt keine Möglichkeit, durch die Hintertür zu kommen, ohne Fußabdrücke auf dem Rasen zu hinterlassen.“
„Also ist er durch die Haustür hineingelangt.“
„Falls er im Haus war, ist das meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit. Doch da wird es knifflig. Die Veranda vor dem Haus ist von mindestens acht Häusern aus einsehbar, und Emma hat selbst gesagt, dass sie das Verandalicht immer eingeschaltet lässt.“
Shaye seufzte. „Sie glauben ihr auch nicht.“
„Ich glaube, dass Emma denkt, dass in dieser Nacht jemand in ihrem Haus war. Ich glaube, dass sie das Gefühl hat, verfolgt zu werden, und dass sie möglicherweise recht hat.“
„Aber?“
„Aber falls sie einen Stalker hat, kann es unmöglich ihr Ehemann sein. David Grange ist tot. Ich habe die Leiche selbst gesehen. Mit einer durchschnittenen Halsschlagader steht niemand mehr von den Toten auf. Nicht, wenn man so viel Blut verloren hat wie er. Ich verstehe, dass Sie Emma die Stalkergeschichte glauben. Sie ist Ihre Klientin und es ist Ihre Aufgabe, ihre Worte für bare Münze zu nehmen, sofern Sie keinen guten Grund haben, sie anzuzweifeln. Aber angesichts der Beweise können Sie doch unmöglich glauben, dass David Grange der Stalker ist.“
„Das hab ich auch nie behauptet. Die entsprechenden Telefonate habe ich gestern erledigt. Jeder hat mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass David schon tot war, ehe die Sanitäter eintrafen. Niemand zweifelt daran, dass es sich bei der Leiche tatsächlich um David Grange handelte. Ehrlich gesagt, glaubt vermutlich nicht mal Emma selbst, dass David der Stalker ist, aber ich glaube ihr, dass sie verfolgt wird. Und der Betreffende stellt es sehr geschickt an, denn solange sie keine Beweise hat, gewährt man ihr auch keinen Schutz. Allerdings sind ihr schon viel zu viele ungewöhnliche Dinge passiert, und ich bin keine große Freundin von Zufällen.“
Jackson klopfte mit einem Finger auf den Tisch. Manchmal war es ihm zuwider, dass ihm das Gesetz und die Vorschriften die Hände banden, wenn er nicht genügend Beweise für seine Theorien finden konnte. Fakt war, Emma Fredericks Fall war ihm unter die Haut gegangen. Tief in seinem Inneren war er davon überzeugt, dass sie jemand beobachtete. Obwohl sie ganz offensichtlich verängstigt war, kam sie ihm klar und vernünftig vor. Vielleicht ließ sich eben doch nicht jeder merkwürdige Vorfall aus den vergangenen Monaten einer posttraumatischen Belastungsstörung oder simplem Zufall zuschreiben. Genau wie Shaye glaubte er nicht wirklich an Zufälle.
„Können Sie mir mehr über David Grange erzählen?“, fragte Shaye.
„Er hat sie misshandelt. Ms Frederick hat eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt. Er hat sie ignoriert und seine Frau angegriffen, und sie hat ihn in Notwehr getötet. Ein Nachbar hat bestätigt, dass Grange seine Frau geschlagen hat.“
„Wirklich? Davon hat sie mir gar nichts erzählt.“
„Sie weiß vielleicht gar nichts davon. Die für die Misshandlungsanzeige zuständigen Kollegen haben die Nachbarn befragt. Ein älterer Herr im Ruhestand, der nebenan wohnt, hat gerade seine Rosenbüsche geschnitten und dabei durch Emmas Küchenfenster einen Streit beobachtet. Er hat ausgesagt, dass er gesehen habe, wie David sie geschlagen hat.“
„Beim Schneiden der Rosenbüsche, ja?“
„Ha. Vermutlich hat er nur so getan, damit er herumschnüffeln konnte, aber für Ms Frederick war das gut. Aufgrund des Augenzeugenberichts und ihrer Patientenakte aus dem Krankenhaus gab es keinen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und deshalb wurde sie auch nicht wegen Granges Tod angeklagt. Der Staatsanwalt hat nur einen Blick in die Akte geworfen und gesagt: ‚Dankt ihr für den Dienst, den sie der Gesellschaft erwiesen hat, und lasst sie gehen.‘“
„Also haben Sie gar nicht weiter ermittelt? Mehr Informationen zu David eingeholt?“
„Warum hätten wir das tun sollen?“
Sie seufzte. „Natürlich. Ihr Fall war abgeschlossen.“
Jackson runzelte die Stirn. „Warum wollen Sie mehr über David erfahren? Sie haben doch eben zugegeben, dass er unmöglich der Stalker sein kann.“
„Ja, aber es muss jemand sein, der bestimmte Dinge über David wusste, und vor seinem Tod ist Emma nicht verfolgt worden.“
„Okay. Das mit den privaten Dingen kann ich nachvollziehen. Und auch, dass das Timing suspekt ist, falls wir davon ausgehen, dass das Stalking erst vor Kurzem begonnen hat. Aber vielleicht hat schon vor Granges Tod jemand Ms Frederick verfolgt und sie hat es bloß nicht bemerkt, weil sie durch ihre Eheprobleme abgelenkt war.“
„Gut, das kann sein“, stimmte Shaye zu. Jackson konnte ihr ansehen, dass ihr dieses Zugeständnis nicht leichtfiel. „Aber wenn wir davon ausgehen, dass schon vor Davids Rückkehr aus dem Irak jemand Emma verfolgt hat, dann ist die große Frage, warum. Sie wirkt auf mich nicht wie die Sorte Frau, die sich überall Feinde macht.“
„Das sehe ich genauso. Ich glaube nicht, dass Ms Frederick absichtlich Ärger macht, doch schon allein durch ihre Arbeit könnte sie jemanden aufgeregt haben, der vielleicht mental nicht ganz stabil ist. Sagen wir mal, jemanden, der einen geliebten Menschen verloren hat, den sie gepflegt hat, und der jetzt nach einem Sündenbock sucht.“
Shaye runzelte die Stirn.
„Sie fragen sich, ob jemand wegen so etwas wirklich so weit gehen würde“, sagte er.
„Nein, überhaupt nicht. Mein Glauben an die Menschheit ist nicht sehr ausgeprägt, und ich kann mir so einen armseligen und verrückten Menschen nur allzu gut vorstellen.“
Jackson war beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie so ein abartiges Hirn verarbeitete. „Sie haben eine sehr tröstliche Art, Ms Archer.“
„Wer Trost sucht, kann sich an seine Freunde, die Mutter oder einen Priester wenden. Das gehört nicht zu meinem Job. Aber bei meinem nächsten Treffen mit Emma werde ich sie nach ihren Patienten fragen.“
„Obwohl Sie immer noch glauben, dass da ein Zusammenhang mit David besteht?“
„Ja. Der Zeitpunkt, das Wissen um private Details und die ganze Sache mit den Zufällen. Sie wissen schon.“
Jackson stimmte ihr insgeheim zu. Wenn Emma Frederick tatsächlich verfolgt wurde, dann vermutlich eher wegen ihres toten Mannes als wegen eines Patienten. Doch der Gedanke, dass diese junge, unerfahrene Frau es mit der Art Mensch aufnahm, die wegen eines Arschlochs wie David Grange einen Rachefeldzug starten würde, verschaffte ihm ein sehr ungutes Gefühl.
„Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Warum möchten Sie das wissen?“
„Nun ja. Weil Sie viel zu jung aussehen, um eine Privatdetektivlizenz zu besitzen. Und das ist als Kompliment gemeint, nicht als Beleidigung.“
„Ich bin vierundzwanzig und eine Streberin.“
„Alle Achtung. Bei wem haben Sie Ihr Praktikum gemacht?“
„Breaux Investigations.“
Jackson kannte den Ruf der Agentur. Sie führten ein sauberes Geschäft und hatten hauptsächlich mit Versicherungsbetrug und Erwerbsunfähigkeitsfällen zu tun. Dass sie sich mit der Aufklärung von Straftaten befassten, war ihm neu.
„Was?“, fragte Shaye. „Sie haben diesen gewissen Blick drauf.“
„Was für einen Blick?“
„Den, bei dem Sie eigentlich etwas sagen wollen, aber schon wissen, dass meine Antwort ‚Das geht Sie nichts an‘ lauten wird.“
„Oder etwas weniger Höfliches, angesichts Ihrer Vorliebe für ehrliche und direkte Antworten. Dann verzichte ich auf die Große-Bruder-Rede und begnüge mich einfach mit ‚Bitte seien Sie bei Ihren Ermittlungen vorsichtig‘.“
„Natürlich, aber warum halten Sie die Warnung für nötig?“
„Wenn jemand hinter Emma Frederick her ist und Sie sich dazwischenstellen, dann sind Sie für ihn einfach nur ein Hindernis auf dem Weg zu seinem Ziel.“
Ihre Miene verdüsterte sich ein wenig, aber er konnte sehen, dass sie schon selbst zu dieser Schlussfolgerung gelangt war. Sie war jung, aber offenbar nicht so naiv, wie er erwartet hatte.
Er stand auf und legte für Christi ein paar Dollar auf den Tisch. Dann zog er eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und gab sie Shaye. „Da steht meine Handynummer drauf. Falls Sie in Schwierigkeiten geraten oder Beweise finden, mit denen wir arbeiten können, rufen Sie mich an.“
Nickend nahm sie die Karte an. „Danke.“
„Keine Ursache.“ Er ging zum Ausgang. Als er sich umdrehte, sah er, wie sie seine Karte in die Handtasche steckte. Vielleicht würde alles gut gehen. Ein Stalker gegen eine junge, hübsche und unerfahrene Privatdetektivin erschien ihm nicht gerade fair, doch Shaye Archer vermittelte ihm den Eindruck, dass sie um einiges taffer war, als sie auf den ersten Blick wirkte.
Hoffentlich irrte er sich da nicht. Denn wenn es den Stalker wirklich gab, würde sie unvermeidlich ins Visier eines geistig instabilen Menschen geraten.