Kapitel 25
Emma spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich mit einem Papierhandtuch ab. Eine Aussage zu machen war schwieriger gewesen, als sie gedacht hatte. Das taube Gefühl vom Vormittag war verschwunden und mit jedem Satz hatte sie das Gefühl gehabt, den Albtraum noch mal zu durchleben.
Es ist vorbei. Du kannst jetzt aus der Stadt verschwinden.
Das musste sie sich immer wieder sagen. Sie verließ die Toilette und ging zum Anmeldeschalter des Reviers. Dort stand bereits ihr Gepäck aus dem Hotel, und der SUV war aufgetankt. Nichts konnte sie jetzt mehr aufhalten. Vielleicht würde sie in Kalifornien sogar ein Flugzeug besteigen und das Land verlassen.
Ohne Pass.
Shit. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte sich so auf die Flucht konzentriert, dass sie keine Sekunde lang darüber nachgedacht hatte, was für Papiere sie brauchte, um sich in einem anderen Bundesstaat niederzulassen. Ihren Führerschein und ihre Kreditkarten hatte sie bei sich, aber ihr Pass und ihr Sozialversicherungsausweis befanden sich in dem Schmuckkästchen in ihrem Schlafzimmer. Zusammen mit den Eheringen ihrer Eltern.
Sie wandte sich an den Officer hinter dem Schalter. „Ich bin Emma Frederick. Ist Jackson Lamotte zu sprechen?“
„Nein, Ma’am. Er ist vor ein paar Minuten gegangen. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Sind noch immer Officers bei Mrs Pearsons Haus? Ich muss ein paar Sachen aus meinem Haus gegenüber abholen und mir wäre wohler, wenn noch jemand dort wäre.“
„Einen Moment.“ Er machte einen Anruf. „Zwei Einheiten sind immer noch vor Ort und sichern Spuren. Ich vermute, damit werden sie noch ungefähr eine halbe Stunde beschäftigt sein.“
Emma biss sich auf die Unterlippe. Sie könnte genauso gut ihren Schlüssel bei dem Officer hinterlegen und Shaye bitten, ihr die Sachen später zu holen. Aber sie wollte sie nicht schon wieder um einen Gefallen bitten, und außerdem bestand immer die Gefahr, dass jemand einbrach. Einen neuen Pass oder Sozialversicherungsausweis konnte sie zwar jederzeit beantragen, doch die Eheringe ihrer Eltern waren für sie von unschätzbarem Wert.
Verdammt! Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Wenn sie nicht so fertig gewesen wäre, hätte sie alles schon an dem Tag mitnehmen können, als sie mit Shaye beim Haus gewesen war.
Die Polizei ist direkt gegenüber. Es ist helllichter Tag. Du kannst unterwegs Shaye anrufen und ihr Bescheid geben.
„Danke.“ Sie schnappte sich ihr Gepäck und ging zum Auto, ehe sie ihre Meinung ändern konnte.
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Der Motelmanager durchsuchte seinen Schlüsselbund und war sichtlich verärgert. „Keine Ahnung, warum ihr Cops nichts Besseres zu tun habt, als einen ehrlichen Geschäftsmann zu belästigen.“
Jackson sah sich grinsend in der Absteige um. „Ich würde darauf wetten, dass das einzig Ehrliche hier während der vergangenen vierundzwanzig Stunden unser Auftauchen war.“
Der Manager warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich müsste eigentlich einen Durchsuchungsbeschluss verlangen.“
„Nur zu“, sagte Reynolds, „aber wenn wir den beantragen, bringen wir auch gleich ein Forensikteam mit, das jeden Quadratzentimeter hier untersuchen wird. Einschließlich Ihrer Buchhaltung.“
Der Manager stürmte die Treppe hinauf bis zu einem Zimmer am hinteren Ende des Gebäudes. „Der Mann hat für drei Tage im Voraus bezahlt. Er hat gesagt, dass er danach die Stadt verlässt.“ Er klopfte an die Tür. „Hier ist der Motelmanager. Machen Sie auf.“
Sie warteten, doch aus dem Zimmer drang kein Laut.
„Gibt es ein Fenster oder eine Tür nach hinten raus?“, fragte Reynolds.
„Nein.“ Der Manager deutete auf die Tür und das Fenster. „Das sind die beiden einzigen Eingänge.“
„Schließen Sie auf“, sagte Reynolds und zog seine Pistole. Er bedeutete Jackson, das Gleiche zu tun.
Der Manager tat wie geheißen und rannte danach geradezu davon. Reynolds schob die Tür mit der Schulter auf und betrat das Zimmer, die Waffe im Anschlag. Jackson war unmittelbar hinter ihm.
Der Gestank schlug ihnen sofort entgegen, und beide hielten sich die Hände vor Nase und Mund. Reynolds warf einen Blick ins Badezimmer.
„Das ist unser Mann“, erklärte er. Er ging zur Tür und zog dabei sein Handy aus der Tasche.
Jackson drückte den Arm fester über Nase und Mund und betrat das winzige Bad. Er wollte ganz sichergehen, aber es bestand kein Zweifel. Die Leiche in der Badewanne war definitiv Ron Duhon. Jackson war dem Mann zwar nie begegnet, aber zu Lebzeiten hatte er sicher besser ausgesehen. Sein Körper lag seitlich in der Wanne, die Beine hingen über den Rand. Die Manschette um seinen Bizeps und die Kanüle in seinem Arm verrieten Jackson fast alles, was er wissen musste.
Mit immer noch angehaltenem Atem nahm er einen Waschlappen vom Becken und ging zur Wanne. Er umfasste die Hand des Mannes mit dem Waschlappen und bewegte Finger und Handgelenk. Sie ließen sich beugen, was bedeutete, dass die Totenstarre bereits eingetreten und danach wieder verschwunden war.
„Was zum Teufel machen Sie da?“, dröhnte Reynolds’ Stimme hinter ihm.
Jackson ließ den Lappen fallen und lief aus dem Motelzimmer. Als er den Balkon erreichte, stieß er den Atem aus und nahm rasch einen tiefen Luftzug. „Wir haben uns geirrt“, keuchte er.
„Geirrt? Sind Sie verrückt? Das ist Ron Duhon. Darauf würde ich meine Marke verwetten.“
Jackson nickte. „Es ist Ron Duhon, aber er ist seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot.“
„Und?“
„Das heißt, dass er den Sanitäter gestern Abend im Krankenhaus nicht ermordet haben kann. Er ist nicht Emma Fredericks Stalker.“
„Fuck“, sagte Reynolds.
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Emma übertrat auf dem Weg zu ihrem Haus mehrere Geschwindigkeitsbegrenzungen, aber das war ihr egal. Sobald sie diese Angelegenheit erledigt hatte, würde sie sogar noch viel mehr Gesetze brechen. Sie würde nicht mal im Traum an die Einhaltung der Verkehrsregeln denken, ehe sie nicht die Grenze von Louisiana nach Texas hinter sich gelassen hatte. Dann erst würde sie langsamer fahren. Vielleicht.
Sie hielt vor Pattys Haus und hastete zur Tür. Als Emma zum Polizeirevier gefahren war, hatte Patty immer noch mit einem Officer gesprochen. Sie hatte keine Ahnung, ob man die Immobilienmaklerin inzwischen ins Krankenhaus oder nach Hause geschickt hatte, aber sie hatte sich bereits entschlossen, den Schlüssel durch den Briefschlitz zu werfen. Sie wollte Patty nicht stören, falls sie sich ausruhte. Durch ihre Krankheit hatte sie große Atemprobleme und der ganze Stress hatte vermutlich ihre Muskeln total verspannt.
Emma steckte den Schlüssel durch den Schlitz und hörte das Ping des Aufschlags auf dem Fliesenboden. Dann lief sie zurück zu ihrem Auto und umrundete den Block bis zu ihrem eigenen Haus. Vor Mrs Pearsons Haus standen immer noch zwei Polizeiautos, aber in eins davon stiegen gerade zwei Polizisten ein. Die Officers aus dem zweiten Auto waren nirgendwo zu sehen, also ging Emma davon aus, dass sie immer noch im Haus waren.
Sie rannte zur Haustür und schloss auf. Wild entschlossen, alles zu holen und wieder zu verschwinden, ehe die Polizisten abfuhren, sprintete sie hoch ins Schlafzimmer und zog ihre Nachttischschublade auf. Der Ordner darin enthielt alle wichtigen Dokumente. Eigentlich hatte sie schon längst eine Sicherheitskassette für die Unterlagen beschaffen wollen, aber irgendwie war sie nie dazu gekommen. Schnell sah sie hinein. Ihr Sozialversicherungsausweis, ihre Geburtsurkunde und ihr Pass steckten darin. Sie legte den Ordner auf den Nachttisch und nahm eine samtbezogene Ringschachtel aus der Schublade. Darin glitzerten die Eheringe. Sie schob das Kästchen in die Tasche und schnappte sich den Ordner.
Drei blinde Mäuse. Schau, wie sie rennen.
Das Pfeifen kam aus der Türöffnung hinter ihr.
Ihr stockte der Atem, und ein Schmerz schoss ihr durch den Brustkorb, als wäre sie angeschossen worden. Das war nicht möglich. Die Polizei war unmittelbar vor der Tür. Er würde es nicht riskieren, ihr hier aufzulauern. Nicht jetzt.
Das Pfeifen verklang. „Ich wusste, dass du zurück nach Hause kommen würdest.“
Emma wirbelte herum und schnappte nach Luft.
Drei blinde Mäuse.