Kapitel 24

Jackson verließ den Platz am Einwegspiegel und ging zurück zu seinem Schreibtisch, doch er war viel zu unruhig, um zu arbeiten. Er tigerte auf und ab, bis Vincent ihn anbrüllte, er solle sich entweder hinsetzen oder nach draußen gehen. Er behauptete, dass Jackson ihn ermüdete. Das war vermutlich sogar die Wahrheit. Der Mann war so träge, dass es ihn schon erschöpfte, jemand anderem beim Sich-Bewegen zuzusehen. Jackson wollte gerade einmal um den Block laufen, als er hörte, wie Detective Reynolds einen Anruf wegen Ron Duhon annahm.

Er lungerte am Schreibtisch des Detectives herum, bis dieser auflegte. „War das ein Tipp zu Ron Duhon?“, fragte Jackson.

„Ja.“ Detective Reynolds nahm seinen Schlüssel vom Schreibtisch. „Nimmt Murphy immer noch die Aussage von der Frederick auf?“

Jackson nickte.

Reynolds musterte ihn einige Sekunden lang nachdenklich, dann blickte er hinüber zu Vincent. „Hey, kann ich mir Lamotte für diese Überprüfung mal ausborgen? Murphy hat noch mit einer Befragung zu tun.“

Vincent machte eine abwehrende Handbewegung. „Klar. Schaff ihn bloß hier raus.“

„Danke“, sagte Jackson, als sie das Gebäude verließen. „Und was für ein Tipp war das?“

„Wir haben heute Morgen bei unseren Kontakten auf der Straße Bilder von Ron rumgezeigt. Einer von ihnen hat angerufen und gesagt, dass ein Hausmeister Ron im Midnight Moon Motel gesehen hätte. Vermutlich falscher Alarm, aber man kann nie wissen.“

Jackson nickte. Einem Schuss ins Blaue nachzugehen war immer noch besser, als am Schreibtisch herumzusitzen.

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Shaye hatte Mühe, die Fassung zu bewahren, was sich sicherlich in ihrer Miene widerspiegelte. „Aber … im Bericht stand, es wäre ein Unfall gewesen.“

Sissy nickte. „Kommen Sie mit. Ich brauche einen Bourbon. Vielleicht auch zwei.“

Shaye folgte Sissy in die Küche. Wie in allen anderen Räumen war auch hier die Zeit stehen geblieben. Sissy ging auf einen abgeschlossenen Schrank am hinteren Ende zu und zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche. Sie nahm eine Flasche Bourbon heraus und stellte sie zusammen mit zwei Gläsern auf die Arbeitsplatte.

„Wir müssen den Alkohol wegschließen, damit sich Abigail nicht bedient“, erklärte sie beim Einschenken. „Einmal hat sie sich mit Wodka fast umgebracht. Danach haben Mina und ich alles weggesperrt. Ganz wegschütten wollten wir es nicht. Manchmal tun wir ihr abends ein bisschen was in den Tee, damit sie besser schlafen kann.“ Sie stellte die Gläser auf den Tisch und setzte sich. Shaye nahm ihr gegenüber Platz und erkannte, dass Sissys Hand immer noch zitterte, als sie das Glas zum Mund führte.

„Jonathon und Nathan Bourg waren Zwillinge“, erklärte Sissy. „Sie haben mit ihrer Mama Helen im Sumpf um Hamet gelebt. Die Kinder sollen eigentlich alle in Port Sulphur zur Schule gehen, aber die beiden tauchten meistens gar nicht erst dort auf. Ich weiß, dass das eigentlich illegal ist und so, aber ich glaube, die Lehrer waren ganz froh darüber.“

„Warum?“

„Die beiden waren das, was höfliche Menschen ‚schwierig‘ nennen, aber ich glaube, das Problem lag viel tiefer.“ Sissy trank erneut von ihrem Bourbon. „Sie kamen oft in die Stadt und saßen dann auf der Bank vor dem Gemischtwarenladen. Geld hatten sie meist keins, also waren sie nicht zum Einkaufen da. Sie saßen einfach dort und starrten die Leute aus ihren schwarzen Augen an. Man traute sich kaum, den Blick zu erwidern. Jedenfalls nicht, wenn man nachts ruhig schlafen wollte. Es war, als ob man einer Schlange in die Augen blickt. Kalt. Unmenschlich.“

Zwillinge! Shaye versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Dass Ron nicht Jonathons Zwillingsbruder sein konnte, wusste sie. Seine Identität war leicht zu bestätigen gewesen, aber wenn Jonathon einen Bruder hatte, konnte der womöglich Emmas Stalker sein. Waren sie hinter dem falschen Mann her? „Was ist mit ihrem Vater?“

„Keiner kannte ihn, aber es gab Gerüchte.“ Sissy sah Shaye in die Augen. „Was ich Ihnen jetzt sage, habe ich zuvor noch keiner Menschenseele erzählt. Hatte es auch nie vor.“ Sie holte tief Luft. „Eines Abends bin ich von Mrs Godeaux gekommen. Das war die Mama von Mrs Grange. Mrs Grange war damals neunzehn und hatte sich gerade mit Mr Grange verlobt.“ Sie stärkte sich mit einem weiteren Schluck.

„An den Abenden, wenn der Mond nicht schien“, fuhr Sissy fort, „bin ich immer die Hauptstraße entlang nach Hause gegangen. Das liegt ungefähr eine Meile von der Stadt entfernt. Aber bei Vollmond hab ich manchmal den Pfad neben dem Bayou genommen. Der Mondschein auf der Wasseroberfläche hat etwas Beruhigendes nach einem langen Arbeitstag, und Mrs Godeaux war keine einfache Arbeitgeberin. Ich hatte also gerade die Stadtgrenze hinter mir gelassen, als ich einen Mann und eine Frau vor mir streiten hörte. Die Frau brüllte den Mann an, dass er nicht mit ihr schlafen und Kinder zeugen könnte und dann so tun, als wäre das nie passiert. Was er antwortete, konnte ich nicht verstehen, weil er sehr leise sprach, aber was auch immer es war, sie war damit nicht glücklich. Sie hat ihm gesagt, dass sie sein Geld nicht will und dass er eines Tages dafür bezahlen würde, dass er sie wie Dreck behandelt hat.“

„Haben Sie die Stimme der Frau erkannt?“

„Nein, aber das musste ich auch nicht. Ich hörte, wie jemand geradewegs auf mich zugerannt kam. Der Mann rief ihr zwar hinterher, sie solle warten, aber sie lief einfach weiter. Keine Ahnung, warum ich das getan hab, aber ich hab mich in die Büsche gekauert, bis sie vorbei war. Es war Helen Bourg.“

„Glauben Sie, der Mann war jemand aus Port Sulphur?“

„Ich weiß, wer der Mann war. Als er ihr hinterherrief, hab ich seine Stimme erkannt. Es war Mr Grange.“

„Oh nein! Glauben Sie, dass Mrs Grange davon wusste?“

„Ich denke nicht, dass Mr Grange es ihr jemals erzählt hat, falls Sie das wissen wollten, aber es wurde viel gemunkelt. Helen war nicht wirklich als Lady bekannt. In ihrer Teenagerzeit haben sich die meisten Jungs aus der Stadt mit ihr vergnügt. Es hieß, dass sie Mr Grange eines Abends bei einem Lagerfeuer betrunken gemacht hat, als Mrs Grange die Grippe hatte.“

„Sie glauben, sie wollte absichtlich von Mr Grange schwanger werden?“

Sissy zog die Brauen hoch. „So hab ich das bisher noch gar nicht gesehen, aber möglich wäre es. Immerhin war sie vorher auch nicht schwanger geworden, also hat sie vielleicht nach einem Retter gesucht. Die Granges waren die reichste Familie in der Gegend.“

„Was ist mit Helens Eltern? Wo waren denn die während der wilden Jahre ihrer Tochter?“

„Ihre Mama ist gestorben, als Helen noch ein kleines Mädchen war, vielleicht drei oder so. Ihr Daddy …“ Sissy schluckte und bekreuzigte sich. „Ich sage normalerweise nichts Schlimmes über Tote, aber an Randal Bourg war nichts Liebenswertes. Ich hab zwar keine Beweise, aber es hieß, dass er sich an seinem Mädchen vergriffen und sie auch als Bezahlung für seine Spielschulden anderen Männern überlassen hat.“

Shaye kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. „Wie alt war sie damals?“

„Zehn, vielleicht noch jünger.“

„Warum hat niemand etwas dagegen unternommen?“

„Einige von uns haben das Sozialamt angerufen, aber wir hatten keine Beweise. Sie sind den Hinweisen zwar nachgegangen, aber das Mädchen hat alles abgestritten. Und Gerüchte haben vermutlich nicht ausgereicht, um eine medizinische Untersuchung anzuordnen.“

„Vermutlich nicht“, stimmte Shaye zu, aber innerlich kochte sie. Kein Wunder, dass Helen anders gewesen war. Kein Wunder, dass ihre Jungs in Schwierigkeiten gerieten. „Ich nehme an, dass Mrs Grange so getan hat, als hätte sie nichts von den Gerüchten gehört, und gehofft hat, dass Helen Bourg verschwindet. War es so?“

„Mehr oder weniger. Helen hat nie eine Szene gemacht oder so. Ist einfach in den Sumpf verschwunden. Jeden Monat ist sie in die Stadt gekommen, um ihren Sozialhilfescheck abzuholen und Lebensmittel einzukaufen, aber das war’s. Als die Jungs ungefähr zehn waren, hat sie die geschickt. Und dann ist Nathan gestorben.“

Schuldbewusste Erleichterung überflutete Shaye bei diesen Worten. Jonathons Zwillingsbruder konnte nicht der Stalker sein. Sie hatten den Richtigen. Ron war der Täter. „Wie denn?“

„Ertrunken. Er hatte entlang des Bayous Krebsfallen aufgestellt. Die Krebse hat er an den Lebensmittelladen verkauft. Die Leute hier mögen sie frisch. Es war direkt nach einem dieser tropischen Stürme, die in Gewittern enden. Die Flut kam schnell und hoch. Man hat angenommen, dass er vom Ufer gerutscht ist, sich in seinen Netzen verfangen hat und nicht mehr rauskonnte. Als Jonathon ihn gefunden hat, war es schon zu spät.“

„Dann ist Helen aber wohl danach in die Stadt gekommen.“

„Nur einmal. Sie hat einen Blick auf die Leiche geworfen, sich wortlos umgedreht und ist zurück nach Hamet gegangen. Und seither hat sie niemand mehr gesehen. Die Leute sagen, dass Jonathon verschwunden ist, als er achtzehn war. Nachdem er nicht mehr hier war, um ihre Schecks einzulösen, haben wir eigentlich erwartet, sie wieder zu sehen, aber sie ist nie mehr aufgetaucht.“

„Vielleicht ist sie tot.“

Sissy nickte. „Tot oder fort. Glaube nicht, dass es für die Menschen hier einen Unterschied macht, erst recht nicht nach dem, was Jonathon getan hat.“

„Erzählen Sie es mir.“

„Jonathon war wegen Nathans Tod völlig außer sich. Er ist schnurstracks in den Lebensmittelladen gegangen, immer noch tropfnass, nachdem er Nathan aus dem Wasser gezogen hatte, und hat sich Mr Grange vorgeknöpft. Hat ihm gesagt, dass das alles seine Schuld wäre. Dass Nathan nicht für ein paar Dollar im Sturm Krebse hätte fangen müssen, wenn Mr Grange Verantwortung für seine Taten übernommen hätte. Er hat ihm gesagt, dafür würde er bezahlen.“

„Und was hat Mr Grange getan?“

„Ich war nicht dabei, aber meine Freundin schon, und die sagt, Mr Grange hat einfach dagestanden. Völlig entsetzt. Vielleicht, weil Jonathon seine schmutzige Wäsche mitten im Laden wusch. Vielleicht, weil er Angst hatte, was die Leute wohl Mrs Grange erzählen würden. Vielleicht hatte er Schuldgefühle, weil die Jungs so leben mussten. Das weiß niemand genau.“

Sissy schniefte und wischte sich mit der Hand über die Nase. „Etwa zwei Wochen später ist David junior ertrunken. Er ist angeln gegangen, so wie immer, und als er nicht nach Hause kam, haben Mr Grange und ein Nachbar ihn gesucht. Ein bisschen unterhalb seines üblichen Angelplatzes haben sie ihn aus dem Bayou gezogen. Als sie die Leiche herbrachten, stand die ganze Hauptstraße voller Menschen. Ich hatte an diesem Tag frei und kam gerade aus der Drogerie. Ich hab zugeschaut, wie sie ihn in die Arztpraxis trugen. Und da hab ich ihn gesehen. Jonathon stand auf der anderen Straßenseite und hat sie beobachtet. Als er lächelte, wusste ich, dass er es gewesen war. Ich wusste es einfach.“

„Was hat der Arzt gesagt?“

„Dass es nach einem Unfall aussähe. Es gab keine Beule an seinem Kopf oder so, keine Hinweise darauf, dass ihn jemand niedergeschlagen hatte, aber ich frage Sie, wie schwierig kann es sein, einen fünfundzwanzig Kilo schweren Jungen lange genug unter Wasser zu drücken? Jonathon war groß und stark, und David war genauso zierlich wie seine Mutter.“

Shaye lehnte sich zurück und stieß den Atem aus. Sissy hatte Antworten auf sehr viele Fragen geliefert, aber eine blieb – hatte Jonathons Kindheit ihn zu einem Monster gemacht oder war er als Soziopath geboren? Hatte er es geschafft, Emma so lange etwas vorzuspielen, bis er es nicht mehr hatte kontrollieren können? Oder hatte er Hamet und alle bösen Gedanken hinter sich gelassen, als er den Militärdienst angetreten hatte, und erst Ron Duhon hatte erkannt, was er wirklich war, und dadurch das Monster zurückgebracht?

„Wissen Sie eventuell, wo sie gewohnt haben?“, fragte Shaye. Vielleicht hatte jemand in Hamet Helen gekannt. Und wusste mehr über die Kindheit der Jungen.

Sissy riss die Augen auf. „Sie denken doch wohl hoffentlich nicht daran, in den Sumpf zu gehen. Nein, Ma’am. Das kann ich nicht zulassen. Da draußen steht die Wiege des Bösen. Es kann nichts Gutes dabei rauskommen, wenn man an Dinge rührt, die man besser in Ruhe lässt.“

„Wenn ich keine Antworten für meine Klientin finde, dann wird sie keine Ruhe finden.“ Shaye beugte sich vor und musterte Sissy eindringlich. „Meine Klientin hat Jonathon getötet. Der Mann, den sie geheiratet hatte, hat sich als jemand völlig anderes entpuppt. Ich möchte ihr gern genau sagen, wer dieser Jemand war, damit sie besser verstehen kann, was ihn geprägt hat. Der Mann hat es geschafft, eine intelligente Krankenschwester davon zu überzeugen, dass er normal und zurechnungsfähig ist, nur dass er das plötzlich nicht mehr war.“

Sissys Miene wandelte sich von Furcht zu Mitgefühl. „Oh, die arme Frau. Dass sie ihn getötet hat, war richtig, aber das sage ich nur, weil ich die Wahrheit über Jonathon kenne. Ihre Klientin nicht.“

Sissy war sichtlich hin- und hergerissen. Schließlich schien sie sich entschieden zu haben. „Ich war vor langer Zeit einmal mit ein paar Frauen von der Kirche bei dem Haus. Wir wollten Ms Bourg etwas zu essen und ein paar Kleidungsstücke für die Jungs bringen. Bevor wir überhaupt aus dem Auto steigen konnten, hat sie schon mit einer Schrotflinte auf uns gezielt. Aber ich glaube, ich weiß noch, wo das war. Vielleicht nicht ganz genau, aber ich kann Sie in die Nähe lotsen.“

Sissy legte Shaye die Hand auf den Arm. „Und ich werde für Sie beten. Sie werden es brauchen.“